ACHTES KAPITEL
DIE BEFREIUNG DES AUENLANDS

Die Nacht war schon hereingebrochen, als die Reisenden, naß und
müde, endlich am Brandywein anlangten und feststellten, daß der Weg
versperrt war. An jedem Ende der Brücke war ein mit Eisenspitzen verse-
henes Tor; und jenseits des Flusses waren, wie man sehen konnte, einige
neue Häuser gebaut worden: zweistöckig mit schmalen, rechteckigen Fen-
stern, trübe erleuchtet, alles sehr düster und ganz un-auenländisch.
Sie hämmerten an das äußere Tor und riefen, aber zuerst kam keine
Antwort; und dann blies zu ihrer Überraschung jemand ein Horn, und
die Lichter in den Fenstern gingen aus. Eine Stimme schrie im Dunkeln:
»Wer ist da? Geht weg! Ihr könnt nicht hereinkommen. Könnt ihr den
Anschlag nicht lesen: Kein Zugang zwischen Sonnenuntergang und Son-
nenaufgang?"

»Natürlich können wir den Anschlag im Dunklen nicht lesen!« schrie
Sam zurück. »Und wenn Hobbits aus dem Auenland in einer solchen
Nacht im Nassen bleiben sollen, dann werde ich euren Anschlag abrei-
ßen, wenn ich ihn finde.«
Darauf wurde ein Fenster zugeschlagen, und eine Schar Hobbits mit
Laternen kam aus dem Haus zur Linken. Sie öffneten das Tor drüben, und
einige kamen auf die Brücke. Als sie die Reisenden sahen, schienen sie
erschreckt.
»Nun kommt schon«, sagte Merry, der einen der Hobbits erkannte.
»Wenn du mich auch nicht erkennst, Hugo Feldhüter, so solltest du mich
jedenfalls kennen. Ich bin Merry Brandybock und möchte mal wissen,
was das alles soll und was ein Bockländer wie du hier tut. Du warst doch
früher am Heutor.«
»Du meine Güte! Es ist Herr Merry, freilich, und ganz zum Kämpfen
angezogen!« sagte der alte Hugo. »Es hieß doch, du bist tot! Verirrt im
Alten Wald, wie man hörte. Ich freue mich, dich noch am Leben zu
sehen!«
»Dann hör auf, mich durch das Gitter anzustarren, und öffne das Tor!«
sagte Merry.
»Es tut mir leid, Herr Merry, aber wir haben Befehle.«
»Befehle von wem?«
»Vom Oberst oben in Beutelsend.«
»Oberst? Oberst? Meinst du Herrn Lotho?« fragte Frodo.
»Ich nehme an, Herr Beutlin; aber wir müssen heutzutage einfach >der
Oberst< sagen.«
»Ach wirklich!« sagte Frodo. »Na, ich bin froh, daß er jedenfalls den
Namen Beutlin abgelegt hat. Aber offenbar ist es höchste Zeit, daß sich
die Familie mit ihm befaßt und ihn in seine Schranken verweist.«
Die Hobbits hinter dem Tor schwiegen betreten. »Es kommt nichts
Gutes dabei raus, wenn man so redet«, sagte einer. »Er wird davon hören.
Und wenn ihr so viel Krach macht, werdet ihr den Großen Menschen vom
Oberst aufwecken.«
»Wir werden ihn auf eine Weise aufwecken, die ihn überrascht«, sagte
Merry. »Wenn ihr damit sagen wollt, daß euer feiner Oberst Strolche aus
der Wildnis angeheuert hat, dann sind wir nicht zu früh zurückgekom-
men.« Er sprang vom Pony, und als er im Schein der Laternen den An-
schlag sah, riß er ihn herunter und warf ihn über das Tor. Die Hobbits
wichen zurück und machten keine Anstalten zu öffnen. »Komm, los, Pip-
pin«, sagte Merry. »Zwei reichen.«
Merry und Pippin kletterten über das Tor, und die Hobbits flohen.
Wieder erklang ein Horn. Aus dem größeren Haus auf der rechten Seite
trat eine große, schwere Gestalt in den Lichtschein der Tür.
»Was soll das heißen?« fauchte er, als er näherkam. »Das Tor aufbre-
chen? Macht, daß ihr wegkommt, sonst breche ich eure dreckigen kleinen
Hälse!« Dann blieb er stehen, denn er sah Schwerter blitzen.
»Lutz Farning«, sagte Merry, »wenn du nicht in zehn Sekunden das
Tor aufmachst, wirst du es bereuen. Du wirst mein Schwert zu kosten be-
kommen, wenn du nicht gehorchst. Und wenn du das Tor aufgemacht
hast, wirst du hindurchgehen und niemals zurückkommen. Du bist ein
Strolch und Straßenräuber.«
Lutz Farning fuhr zurück und schlurfte zum Tor und schloß es auf.
»Gib mir den Schlüssel!« sagte Merry. Aber der Unmensch warf ihn ihm
an den Kopf und machte einen Satz in die Dunkelheit. Als er zu den
Ponies kam, schlug eins aus und traf ihn, als er vorbeirannte. Jaulend
verschwand er in der Nacht, und man hat nie wieder von ihm gehört.
»Saubere Arbeit, Lutz«, sagte Sam und meinte das Pony.
»So, mit eurem Großen Menschen wären wir fertig«, sagte Merry.
»Den Oberst nehmen wir uns später vor. Inzwischen wollen wir eine Un-
terkunft für die Nacht, und da ihr offenbar das Brückenwirtshaus abgeris-
sen und stattdessen dieses häßliche Gebäude hingestellt habt, werdet ihr
uns beherbergen müssen.«
»Tut mir leid, Herr Merry«, sagte Hugo, »aber das ist nicht erlaubt.»
»Was ist nicht erlaubt?«
»Leute so ohne weiteres aufnehmen, die zusätzlich ernährt werden
müssen, und all das«, sagte Hugo.
»Was ist denn eigentlich hier los?« fragte Merry. »War es ein schlech-
tes Jahr, oder was? Ich dachte, es sei ein schöner Sommer gewesen und
eine gute Ernte.«
»Ach nein, das Jahr war ganz gut«, sagte Hugo. »Wir bauen eine
Menge Nahrungsmittel an, aber wir wissen nicht so recht, was daraus
wird. Es sind alle diese >Sammler< und >Verteiler<, nehme ich an, die her-
umgehen und zählen und abmessen und das Zeug ins Lager bringen. Sie
sammeln mehr ein, als sie verteilen, und das meiste von der Ernte sehen
wir nicht wieder.«
»Ach, komm!« sagte Pippin gähnend. »Das ist für mich alles zu ermü-
dend heute abend. Wir haben in unseren Beuteln zu essen. Gebt uns nur
einen Raum, wo wir uns hinlegen können. Er wird besser sein als manche
Orte, die ich gesehen habe.«
Den Hobbits am Tor war offenbar immer noch nicht wohl in ihrer
Haut, wahrscheinlich wurde gegen die eine oder andere Vorschrift versto-
ßen; aber vier so gebieterischen Reisenden, alle bewaffnet und zwei von
ihnen ungewöhnlich groß und kräftig aussehend, konnte man sich nicht
widersetzen. Frodo befahl, die Tore wieder zu schließen. Es war jeden-
falls vernünftig, eine Wache aufzustellen, solange sich noch Strolche her-
umtrieben. Dann gingen die vier Gefährten in das Hobbit-Wachhaus und
machten es sich so gemütlich, wie sie konnten. Es war ein kahler und
häßlicher Raum mit einer kümmerlichen kleinen Feuerstelle, die man
nicht ordentlich heizen konnte. In den oberen Zimmern waren schmale
Reihen harter Betten, und an jeder Wand war ein Anschlag und eine
Liste der Vorschriften. Pippin riß sie ab. Es gab kein Bier und sehr wenig
zu essen, aber mit dem, was die Reisenden mitgebracht hatten und nun
verteilten, hatten sie alle eine recht ordentliche Mahlzeit; und Pippin ver-
stieß gegen die Vorschrift Nr. 4, indem er den größten Teil des für den
nächsten Tag bestimmten Holzvorrats auf das Feuer warf.
»So, wie wär's jetzt mit einer Pfeife, während ihr uns erzählt, was im
Auenland geschehen ist?« sagte er.
»Es gibt jetzt kein Pfeifenkraut«, sagte Hugo. »Zumindest nur für die
Menschen vom Oberst. Alle Vorräte scheinen weg zu sein. Wir haben ge-
hört, ganze Wagenladungen sind über die alte Straße aus dem Südviertel
weggebracht worden, über die Sarnfurt. Das muß Ende vorigen Jahres ge-
wesen sein, nachdem ihr weggegangen seid. Aber vorher ist in aller Stille
und in bescheidenem Maße auch etwas weggegangen. Dieser Lotho ...«
»Nun halt aber den Mund, Hugo Feldhüter«, riefen verschiedene von
den anderen. »Du weißt, daß Reden dieser Art nicht erlaubt sind. Der
Oberst wird davon hören, und dann kriegen wir alle Ärger.«
»Er würde nichts hören, wenn nicht einige von euch hier Petzer
wären«, erwiderte Hugo hitzig.
»Schon gut, schon gut«, sagte Sam. »Das reicht völlig. Ich will nichts
mehr hören. Kein Willkommen, kein Bier, nichts zu rauchen und stattdes-
sen ein Haufen Vorschriften und Orkgerede. Ich hatte gehofft, ich könnte
mich ausruhen, aber ich sehe, daß es Arbeit und Ärger geben wird. Laßt
uns schlafen und es bis morgen vergessen!«
Der neue »Oberst« besaß offenbar Mittel und Wege, Nachrichten zu er-
halten. Es waren gut und gerne vierzig Meilen von der Brücke bis Beutels-
end, aber irgend jemand hatte die Strecke sehr rasch zurückgelegt. Das
merkten Frodo und seine Freunde bald.
Sie hatten noch keine endgültigen Pläne gemacht, aber immerhin erwo-
gen, zuerst nach Krickloch zu gehen und sich ein wenig auszuruhen.
Doch jetzt, da sie sahen, wie die Dinge standen, beschlossen sie, gleich
nach Hobbingen zu gehen. Also machten sie sich am nächsten Tag auf
den Weg und trabten beharrlich die Straße entlang. Der Wind hatte sich
gelegt, aber der Himmel war grau. Das Land sah ziemlich traurig und
verlassen aus; schließlich war es der i. November, und der Herbst ging
seinem Ende zu. Immerhin waren ungewöhnlich viele Brände im Gange,
und ringsum stieg an vielen Stellen Rauch auf. Eine dicke Rauchwolke
stand in der Ferne in Richtung Waldende.
Als es Abend wurde, näherten sie sich Froschmoorstetten, einem Dorf
unmittelbar an der Straße, etwa zweiundzwanzig Meilen von der Brücke.
Dort wollten sie über Nacht bleiben; der Schwimmende Balken war ein
gutes Wirtshaus. Aber als sie zum Ostende des Dorfes kamen, stießen sie
auf eine Schranke mit einem großen Schild: KEIN DURCHGANG ; dahinter stand
mit Stöcken in den Händen und Federn an den Mützen eine ganze Schar
Landbüttel, die gleichzeitig wichtigtuerisch und verängstigt aussahen.
»Was bedeutet das alles?« fragte Frodo, dem nach Lachen zumute war.
»Folgendes, Herr Beutlin«, sagte der Führer der Landbüttel, ein Zwei-
Feder-Hobbit. »Du bist verhaftet wegen Tor-Aufbrechens, Herunter-
reißens von Vorschriften, Angreifens der Torhüter, unbefugten Ein-
dringens, Schlafens in Auenland-Gebäuden und Bestechens der Wächter
mit Lebensmitteln.«
»Und was noch?« fragte Frodo.
»Das reicht für den Anfang«, sagte der Führer der Landbüttel.
»Ich kann noch was hinzufügen, wenn du willst«, sagte Sam. »Be-
schimpfen Eures Obersts, Wünschen, ihm in sein pickliges Gesicht zu
schlagen, und Denken, daß ihr Landbüttel wie ein Haufen Einfaltspinsel
ausseht.«
»So, Herr, das reicht. Es ist der Befehl vom Oberst, daß ihr friedlich
mitkommen sollt. Wir werden euch nach Wasserau bringen und euch den
Menschen des Obersts übergeben; und wenn er euren Fall behandelt,
dann könnt ihr eure Meinung sagen. Aber wenn ihr nicht länger im Loch
bleiben wollt als nötig, dann würde ich es an eurer Stelle kurz machen,
was ihr zu sagen habt.«
Zur Verwirrung der Landbüttel brüllten Frodo und seine Gefährten vor
Lachen. »Sei doch nicht albern!« sagte Frodo. »Ich gehe hin, wohin ich
will, und wann es mir paßt. Jetzt gehe ich zufällig in geschäftlichen An-
gelegenheiten nach Beutelsend, aber wenn du darauf bestehst, auch dahin
zu gehen, dann ist das deine Sache.«
»Sehr wohl, Herr Beutlin«, sagte der Führer und schob die Schranke
beiseite. »Aber vergiß nicht, daß ich dich verhaftet habe.«
»Das werde ich nicht vergessen«, sagte Frodo. »Niemals. Aber viel-
leicht werde ich dir verzeihen. Jetzt gehe ich für heute nicht weiter, also
wenn du mich freundlicherweise zum Schwimmenden Balken begleiten
willst, wäre ich dir sehr verbunden.«
»Das kann ich nicht, Herr Beutlin. Das Gasthaus ist geschlossen. Es
gibt ein Landbüttelhaus am anderen Ende des Dorfes. Da werde ich euch
hinbringen.
»Gut«, sagte Frodo. »Geh voraus, und wir kommen nach.«
Sam hatte sich die Landbüttel genau angesehen und einen entdeckt, den
er kannte. »He, komm her, Rudi Kleinbau!« rief er. »Ich will mit dir
reden.«
Mit einem ängstlichen Blick auf seinen Führer, der wütend aussah, aber
nicht einzugreifen wagte, blieb Landbüttel Kleinbau zurück und ging
dann neben Sam, der von seinem Pony abgesessen war.
»Hör mal, Rudolf, mein Junge«, sagte Sam. »Du bist in Hobbingen
groß geworden und solltest mehr Verstand haben als daherzukommen
und Herrn Frodo aufzulauern und das alles. Und was hat das zu bedeuten,
daß das Wirtshaus geschlossen ist?«
»Sie sind alle geschlossen«, sagte Rudi. »Der Oberst hält nichts von
Bier. Zumindest fing es so an. Aber jetzt, nehme ich an, kriegen seine
Menschen das, was da ist. Und er hält nichts davon, wenn Leute unter-
wegs sind; wenn sie also irgendwohin wollen oder müssen, dann müssen
sie zum Landbüttelhaus gehen und erklären, warum.«
»Du solltest dich schämen, daß du bei solchem Unsinn mitmachst«,
sagte Sam. »Du hast doch früher ein Wirtshaus lieber von innen als von
außen gesehen. Du kamst immer mal rein, ob du Dienst hattest oder
nicht.«
»Und das würde ich immer noch tun, Sam, wenn ich könnte. Aber sei
nicht so streng mit mir. Was kann ich schon tun? Du weißt, daß ich vor
sieben Jahren Landbüttel wurde, ehe all das begann. War eine Gelegen-
heit, im Land herumzuwandern und Leute zu sehen und Neuigkeiten zu
hören und zu erfahren, wo es gutes Bier gab. Aber jetzt ist es anders.«
»Aber du kannst es aufgeben, kannst mit dem Bütteln aufhören, wenn
es kein ehrenwerter Beruf mehr ist«, sagte Sam.
»Das wird uns nicht erlaubt«, sagte Rudi.
»Wenn ich nicht erlaubt noch öfter höre«, sagte Sam, »werde ich
wütend werden.«
»Kann nicht behaupten, daß mir das leid tun würde«, sagte Rudi und
senkte seine Stimme. »Wenn wir alle zusammen wütend würden, könnte
etwas getan werden. Aber es sind diese Menschen, Sam, die Menschen
vom Oberst. Er schickt sie überall hin, und wenn irgendeiner von uns
kleinen Leuten für unsere Rechte eintritt, dann sperren sie ihn ins Loch.
Zuerst haben sie den alten Mehlkloß geholt, den alten Willi Weißfuß, den
Bürgermeister, und dann noch eine Menge andere. In letzter Zeit wird's
immer schlimmer. Sie schlagen sie jetzt oft.«
»Warum arbeitest du dann für sie?« sagte Sam ärgerlich. »Wer hat
euch nach Froschmoorstetten geschickt?«
»Keiner. Wir sind hier in dem großen Landbüttelhaus untergebracht.
Wir sind jetzt die Erste Ostviertel-Schar. Es gibt insgesamt Hunderte von
Landbütteln, und sie wollen noch mehr haben bei all diesen neuen Vor-
schriften. Die meisten sind gegen ihren Willen dabei, aber nicht alle.
Selbst im Auenland gibt es welche, die sich gern in anderer Leute Ange-
legenheiten mischen und große Reden führen. Und noch schlimmer: es
gibt ein paar, die für den Oberst und seine Menschen Späherdienste lei-
sten.«
»Aha! So bekamt ihr also Nachrichten über uns, nicht wahr?«
»So ist es. Wir dürfen ihn nicht mehr benutzen, aber sie haben den
alten Post-Schnelldienst noch in Betrieb, und halten an verschiedenen
Stellen Meldegänger bereit. Einer kam gestern abend von Weißfurchen
mit einer »Geheimmeldung«, und ein anderer brachte sie von hier aus
weiter. Und heute nachmittag kam eine Anweisung zurück, daß ihr ver-
haftet und nach Wasserau gebracht werden sollt, nicht gleich ins Loch.
Der Oberst will euch offenbar sofort sehen.«
»Er wird nicht mehr so begierig darauf sein, wenn Herr Frodo mit ihm
fertig ist«, sagte Sam.
Das Landbüttelhaus in Froschmoorstetten war ebenso schlecht wie das
Brückenhaus. Es hatte nur ein Stockwerk, aber dieselben schmalen Fen-
ster, und es war aus häßlichen gelben Ziegelsteinen erbaut, die schlecht
vermauert waren. Drinnen war es feucht und freudlos, und das Abend-
essen wurde auf einem langen, kahlen Tisch angerichtet, der seit Wochen
nicht gescheuert worden war. Das Essen verdiente nicht, besser angerich-
tet zu werden. Die Reisenden waren froh, diesen Ort zu verlassen. Es
waren ungefähr achtzehn Meilen nach Wasserau, und um zehn Uhr mor-
gens machten sie sich auf den Weg. Sie wären auch schon früher aufge-
brochen, nur ärgerte die Verzögerung den Führer der Landbüttel so offen-
sichtlich. Der Westwind hatte auf Norden gedreht, und es wurde kälter,
aber der Regen hatte aufgehört.
Es war ein ziemlich komischer Reiterzug, der das Dorf verließ, obwohl
die wenigen Leute, die herauskamen, um sich die »Aufmachung« der
Reisenden anzusehen, nicht sicher zu sein schienen, ob Lachen erlaubt sei.
Ein Dutzend Landbüttel war abgestellt worden, um die »Gefangenen« zu
begleiten; aber Merry ließ sie vorangehen, während Frodo und seine
Freunde hinterherritten. Merry, Pippin und Sam saßen behaglich auf
ihren Ponies und lachten und redeten und sangen, während die Landbüttel
schwerfällig dahinstapften und versuchten, ernst und gewichtig auszuse-
hen. Frodo hingegen war still und sah eher traurig und nachdenklich aus.
Der letzte, an dem sie vorbeikamen, war ein rüstiger Alter, der eine
Hecke schnitt. »Nanu, nanu«, spottete er, »wer hat nun wen verhaftet?<
Zwei von den Landbütteln verließen sofort die Gruppe und gingen auf
ihn zu. »Führer!« sagte Merry. »Befiehl den beiden, sofort wieder in der
Reihe zu gehen, wenn du nicht willst, daß ich mich mit ihnen befasse!«
Auf ein scharfes Wort des Führers kamen die beiden Hobbits mürrisch
wieder zurück. »Nun geht weiter«, sagte Merry, und von nun an sorgten
die Reisenden dafür, daß ihre Ponies rasch genug ausschritten, um die
Landbüttel so schnell voranzutreiben, wie sie nur gehen konnten. Die
Sonne kam heraus, und trotz des eisigen Winds schnauften und schwitz-
ten sie bald.
Am Drei-Viertel-Stein gaben sie es auf. Sie hatten fast vierzehn Mei-
len mit nur einer Rast am Mittag hinter sich gebracht. Jetzt war es drei
Uhr. Sie waren hungrig und sehr fußwund, und konnten mit den Ponies
nicht Schritt halten.
»Na, kommt nach, wie es euch paßt«, sagte Merry. »Wir reiten weiter.«
»Auf Wiedersehen, Rudi«, sagte Sam. »Ich warte vor dem Grünen Dra-
chen
auf dich, wenn du nicht vergessen hast, wo das ist. Trödele nicht
unterwegs!«
»Ihr widersetzt euch der Verhaftung, das ist es, was ihr tut«, sagte der
Führer kläglich, »ich kann nicht dafür verantwortlich gemacht werden.«
»Wir werden uns noch allem möglichen widersetzen und nicht von dir
verlangen, daß du die Verantwortung übernimmst«, sagte Pippin. »Ich
wünsch dir alles Gute!«
Die Reisenden trabten weiter, und als die Sonne auf die Weißen Höhen
fern am westlichen Horizont herabzusinken begann, kamen sie nach Was-
serau an seinem großen See; und dort bekamen sie zum ersten Mal einen
wirklich gewaltigen Schreck. Das hier war Frodos und Sams Heimat, und
jetzt merkten sie, daß ihnen die Gegend mehr am Herzen lag als jede an-
dere in der Welt. Viele der Häuser, die sie gekannt hatten, fehlten. Man-
che schienen niedergebrannt worden zu sein. Die hübsche Reihe alter
Hobbithöhlen am Steilufer an der Nordseite des Sees war verlassen, und
die kleinen Gärten, die sich bis zum Wasser hinunterzogen, waren von
Unkraut überwuchert. Schlimmer noch war, daß eine ganze Kette häß-
licher neuer Häuser an der Teichseite gebaut worden war, wo die Hobbin-
ger Straße dicht am Ufer verlief. Dort hatten früher zu beiden Seiten
Bäume gestanden. Sie waren alle weg. Und als sie bestürzt die Straße
nach Beutelsend hinaufblickten, sahen sie einen hohen Ziegelschornstein
in der Ferne. Er stieß schwarzen Rauch in die Abendluft aus.
Sam war außer sich. »Ich gehe gleich weiter, Herr Frodo!« rief er. »Ich
will sehen, was los ist. Ich will den Ohm suchen.«
»Wir sollten erst herausfinden, was uns eigentlich blüht, Sam«, sagte
Merry. »Ich vermute, der >Oberst< wird eine Bande Strauchdiebe bei der
Hand haben. Am besten wäre es, wir würden jemanden finden, der uns
sagt, wie die Dinge hier stehen.«
Doch im Dorf Wasserau waren alle Häuser und Höhlen verrammelt,
und keiner begrüßte sie. Sie wunderten sich darüber, aber bald entdeckten
sie den Grund. Als sie zum Grünen Drachen kamen, dem letzten Haus in
Richtung Hobbingen, das jetzt verödet und mit zerbrochenen Fenstern
dastand, waren sie sehr bestürzt, als sie ein Dutzend großer, häßlicher
Menschen sahen, die sich an der Wirtshausmauer herumdrückten; sie
schielten und hatten eine fahle Gesichtsfarbe.
»Wie dieser Freund von Lutz Farning in Bree«, sagte Sam.
»Wie viele, die ich in Isengart sah«, murmelte Merry.
Die Strolche hatten Prügel in den Händen und Hörner an den Gürteln
hängen, aber keine anderen Waffen, soweit man sehen konnte. Als die
Reisenden heranritten, verließen sie die Mauer, gingen auf die Straße und
versperrten den Weg.
»Wo wollt ihr eigentlich hin?« sagte einer, der größte und am übelsten
aussehende der Bande. »Für euch ist hier der Durchgang gesperrt. Und wo
sind diese prachtvollen Landbüttel?«
»Die kommen hübsch hinterher«, sagte Merry. »Ein wenig fußwund,
vielleicht. Wir haben versprochen, hier auf sie zu warten.«
»Verflixt, was habe ich gesagt?« sagte der Strolch zu seinen Genossen.
»Ich habe Scharrer gesagt, es hat keinen Zweck, diesen kleinen Narren zu
trauen. Ein paar von unseren Leuten hätten hingeschickt werden sollen.«
»Und was für einen Unterschied hätte das gemacht, bitte schön?« sagte
Merry. »Wir sind in diesem Land nicht an Straßenräuber gewöhnt, aber
wir wissen, wie man mit ihnen umgeht.«
»Straßenräuber, wie?« sagte der Mensch. »Das ist also euer Ton, wie?
Ändert ihn, sonst ändern wir ihn für euch. Ihr kleines Volk werdet zu
frech. Vertraut nicht zu sehr auf das gute Herz vom Baas. Scharrer ist
jetzt gekommen, und er wird tun, was Scharrer sagt.«
»Und was mag das sein?« fragte Frodo ruhig.
»Dieses Land hat's nötig, aufzuwachen und in Ordnung gebracht zu
werden«, sagte der Unmensch, »und Scharrer wird das tun; und er wird
streng sein, wenn ihr ihn dazu treibt. Ihr braucht einen härteren Baas.
Und ihr werdet einen kriegen, ehe das Jahr um ist, wenn's noch mehr
Ärger gibt. Dann werdet ihr das eine oder andere lernen, ihr kleines Rat-
tenvolk.«
»Allerdings. Ich freue mich, von euren Plänen zu hören«, sagte Frodo,
»ich bin gerade auf dem Weg, um Herrn Lotho zu besuchen, und es wird
ihm vielleicht daran liegen, auch davon zu erfahren.«
Der Strolch lachte. »Lotho! Der kennt sie genau. Mach dir darüber
keine Sorgen. Er wird tun, was Scharrer sagt. Denn wenn ein Baas Ärger
macht, kann man ihn ablösen. Verstehst du? Und wenn das kleine Volk
sich da reindrängelt, wo es nicht erwünscht ist, bringen wir es dorthin,
wo es kein Unheil stiften kann. Verstehste?«
»Ja, ich verstehe«, sagte Frodo. »Erstens verstehe ich, daß ihr hier rück-
ständig und nicht auf dem laufenden seid. Viel ist geschehen, seit ihr den
Süden verlassen habt. Eure Zeit ist vorbei, und die aller anderen Strolche ;
auch. Der Dunkle Turm ist gefallen, und es gibt einen König in Gondor.
Und Isengart ist zerstört, und euer prachtvoller Herr ist ein Bettler in der
Wildnis. Ich habe ihn unterwegs überholt. Die Boten des Königs werden
jetzt den Grünweg heraufreiten, keine Räuber aus Isengart.«
Der Mensch starrte ihn an und lächelte. »Ein Bettler in der Wildnis!«
höhnte er. »Ach, wirklich? Prahl nur, prahl nur, mein kleiner Angeber.
Aber das wird uns nicht abhalten, in diesem fruchtbaren kleinen Land zu
leben, wo ihr lange genug gefaulenzt habt. Und — «, er schnalzte vor Fro-
dos Gesicht mit den Fingern, »Boten des Königs! Soviel gebe ich darauf.
Wenn ich einen sehe, werde ich ihn vielleicht zur Kenntnis nehmen.«
Das war zu viel für Pippin. Er dachte an das Feld von Cormallen, und
hier war ein schielender Schurke, der den Ringträger »kleiner Angeber«
nannte. Er schlug seinen Mantel zurück, zog sein Schwert, und das Silber
und Schwarz von Gondor glänzte, als er vorritt.
»Ich bin ein Bote des Königs«, sagte er. »Du sprichst mit dem Freund
des Königs und einem der Ruhmreichsten in allen Landen des Westens.
Du bist ein Strolch und ein Narr. Auf die Knie mit dir hier auf der
Straße, und bitte um Verzeihung, sonst bekommst du diesen Trollfluch zu
kosten!«
Das Schwert schimmerte in der untergehenden Sonne. Auch Merry und
Sam zogen ihre Schwerter und ritten vor, um Pippin zu unterstützen;
aber Frodo rührte sich nicht. Die Strolche wichen zurück. Bauern in Bree-
land erschrecken und verwirrte Hobbits einschüchtern, das war ihre
Sache. Furchtlose Hobbits mit blitzenden Schwertern und grimmigen Ge-
sichtern waren eine große Überraschung. Und in den Stimmen dieser
Neuankömmlinge schwang ein Ton mit, den sie bisher nicht gehört hat-
ten. Es erfüllte sie mit Furcht.
»Geht!« sagte Merry. »Wenn ihr dieses Dorf noch einmal belästigt,
werdet ihr es bereuen.« Die drei Hobbits gingen vor, und die Strolche
drehten sich um und flohen und rannten die Hobbinger Straße hinauf;
aber während sie rannten, bliesen sie ihre Hörner.
»Na, wir sind nicht zu früh zurückgekommen«, sagte Merry.
»Nicht einen Tag zu früh. Vielleicht zu spät, jedenfalls um Lotho zu
retten«, sagte Frodo. »Ein erbärmlicher Narr, aber er tut mir leid.«
»Lotho retten? Was meinst du damit?« fragte Pippin. »Ihn umbringen,
würde ich sagen.«
»Ich glaube, du verstehst die Dinge nicht ganz, Pippin«, sagte Frodo.
»Lotho wollte es niemals so weit kommen lassen. Er ist ein boshafter
Dummkopf gewesen, aber jetzt ist er in der Schlinge gefangen. Die Strol-
che haben die Oberhand, sie sammeln ein, rauben, unterdrücken und
machen oder zerstören alles, wie sie wollen, aber in seinem Namen. Und
nicht einmal mehr sehr lange in seinem Namen. Er ist jetzt ein Gefange-
ner in Beutelsend, nehme ich an, und sehr verängstigt. Wir sollten versu-
chen, ihn zu retten.«
»Na, da bin ich erschüttert!« sagte Pippin. »Von allen Beendigungen
unserer Fahrt ist das die letzte, an die ich gedacht hätte: daß wir mit hal-
ben Orks und Strolchen im Auenland selbst kämpfen müssen — um
Lotho Pickel zu retten!«
»Kämpfen?« sagte Frodo. »Ja, ich vermute, es mag dazu kommen.
Aber denkt daran: es dürfen keine Hobbits umgebracht werden, nicht
einmal, wenn sie zur anderen Seite übergegangen sind. Wirklich überge-
gangen, meine ich; nicht bloß, daß sie die Befehle der Strolche befolgen,
weil sie Angst haben. Kein Hobbit hat je im Auenland einen anderen ab-
sichtlich getötet, und das soll auch jetzt nicht anfangen. Und es soll über-
haupt niemand getötet werden, wenn es geht. Bleibt ruhig und haltet euch
von Tätlichkeiten zurück bis zum letztmöglichen Augenblick!«
»Aber wenn viele von diesen Strolchen da sind«, sagte Merry, »bedeu-
tet das bestimmt Kampf. Du wirst Lotho oder das Auenland nicht retten,
wenn du bloß empört und traurig bist, mein lieber Frodo.«
»Nein«, sagte Pippin. »Ein zweites Mal wird es nicht so einfach sein,
ihnen Angst einzujagen. Sie waren überrascht. Habt ihr das Hörnerbla-
sen gehört? Offenbar sind noch mehr Strolche in der Nähe. Sie werden
viel mutiger sein, wenn sie zu mehreren sind. Wir müssen daran denken,
irgendwo für die Nacht in Deckung zu gehen. Schließlich sind wir nur
vier, wenn auch bewaffnet.«
»Ich habe einen Gedanken«, sagte Sam. »Laßt uns zum alten Tom Hüt-
tinger unten in der Südgasse gehen. Er war immer ein tapferer Kerl. Und
er hat einen Haufen Jungs, die alle meine Freunde waren.«
»Nein!« sagte Merry. »Es hat keinen Zweck >in Deckung zu gehen<.
Das ist genau das, was die Leute getan haben, und genau das, was die
Strolche gern haben. Sie werden einfach in großer Zahl über uns herfal-
len, uns umzingeln und uns dann entweder hinaustreiben oder drinnen
verbrennen. Nein, wir müssen sofort etwas tun.«
»Was tun?« fragte Pippin.
»Das Auenland zum Widerstand aufrufen!« sagte Merry. »Jetzt! All
unsere Leute aufwecken. Sie hassen das alle, das könnt ihr sehen: alle mit
Ausnahme vielleicht von ein oder zwei Lumpen und ein paar Narren, die
sich wichtig machen wollen, aber überhaupt nicht verstehen, was wirk-
lich vorgeht. Aber das Auenland-Volk hat so lange behaglich gelebt, daß
es nicht weiß, was es tun soll. Dabei brauchen sie bloß ein Zündholz, und
schon stehen sie in Flammen. Die Menschen vom Oberst müssen das wis-
sen. Sie werden versuchen, unser Feuer auszutreten und uns rasch zu
löschen. Wir haben nur sehr wenig Zeit.
Sam, du kannst mal schnell zu Hüttingers Hof flitzen, wenn du willst.
Er ist einer der Wichtigsten hier in der Gegend, und der Standhafteste.
Los, kommt! Ich werde das Horn von Rohan blasen und ihnen allein
einen Klang vorsetzen, den sie noch nie gehört haben.«
Sie ritten zurück in die Mitte des Dorfes. Dort bog Sam ab und galop-
pierte den Feldweg entlang, der nach Süden zu Hüttingers führte. Er war
noch nicht weit gekommen, als er ein plötzliches Hornsignal hörte, das
sich in die Lüfte aufschwang. Weit über Berg und Feld hallte es wider;
und so zwingend war der Aufruf, daß Sam selbst fast umgedreht hätte
und zurückgestürzt wäre. Sein Pony bäumte sich auf und wieherte.
»Weiter, Junge, weiter!« rief er. »Wir gehen bald zurück.«
Dann hörte er, daß Merry die Tonart änderte, und nun erklang das
Hornsignal von Bockland und ließ die Luft erzittern.

Erwacht! Erwacht! Gefahr! Feuer! Feinde!
Erwacht! Feinde! Erwacht!

Hinter sich hörte Sam ein Stimmengewirr und großen Lärm und Türen-
schlagen. Vor ihm tauchten Lichter in der Dämmerung auf; Hunde bell-
ten; Füße kamen angerannt. Ehe er ans Ende des Feldwegs kam, war
Bauer Hüttinger mit dreien seiner Söhne da, dem Jungen Tom, Jupp und
Till, die auf ihn zustürzten. Sie hatten Äxte in den Händen und versperr-
ten ihm den Weg.
»Nein, es ist keiner von den Strolchen«, hörte Sam den Bauern sagen.
»Es ist ein Hobbit, der Größe nach, aber komisch angezogen. He!« rief er.
»Wer bist du, und was soll all der Krach?«
»Ich bin's, Sam, Sam Gamdschie. Ich bin zurückgekommen.«
Bauer Hüttinger kam dicht heran und starrte ihn im Zwielicht an. »Na,
so was!« rief er aus. »Die Stimme ist richtig und dein Gesicht ist nicht
schlechter, als es war, Sam. Aber auf der Straße wäre ich an dir vorbeige-
gangen bei deiner Aufmachung. Offenbar bist du in ausländischen Ge-
genden gewesen. Wir fürchteten, du wärst tot.«
»Das bin ich nicht«, sagte Sam. »Und Herr Frodo auch nicht. Er ist
hier, und seine Freunde. Und das ist der Krach. Sie rufen das Auenland
zum Widerstand auf. Wir wollen diese Strolche raussetzen, und ihren
Oberst auch. Wir fangen jetzt an.«
»Gut, gut!« rief Bauer Hüttinger. »Hat's also endlich begonnen! Mich
hat's schon das ganze Jahr gejuckt, denen Ärger zu machen, aber die
Leute wollten nicht mitmachen. Und ich mußte an die Frau und an Rosie
denken. Diese Strolche schrecken vor nichts zurück. Aber kommt jetzt,
Jungs! In Wasserau ist Aufruhr! Da müssen wir dabei sein!«
»Wie ist es mit Frau Hüttinger und Rosie?« fragte Sam. »Es ist noch
gefährlich für sie, wenn sie allein gelassen werden.«
»Mein Sepp ist bei ihnen. Aber du kannst gehen und ihm helfen, wenn
du Lust hast«, sagte Bauer Hüttinger grinsend. Dann rannten er und seine
Söhne zum Dorf.
Sam eilte zum Haus. An der großen runden Tür oben auf den Stufen,
die von dem großen Hof hinaufführten, standen Frau Hüttinger und
Rosie, und vor ihnen Sepp, der nach einer Heugabel griff.
»Ich bin es«, schrie Sam, als er herantrabte. »Sam Gamdschie! Also er-
stich mich nicht, Sepp. Außerdem habe ich ein Panzerhemd an.«
Er sprang vom Pony ab und ging die Stufen hinauf. Sie starrten ihn
stumm an. »Guten Abend, Frau Hüttinger«, sagte er. »Hallo, Rosie!«
»Hallo, Sam!« sagte Rosie. »Wo bist du gewesen? Es hieß, du wärst
tot; aber ich habe dich schon seit dem Frühling erwartet. Du hast dich
nicht gerade beeilt, nicht wahr?«
»Vielleicht nicht«, sagte Sam verlegen. »Aber jetzt bin ich in Eile. Wir
machen uns an die Strolche ran, und ich muß zu Herrn Frodo zurück.
Aber ich dachte, ich wollte mal gucken, wie es Frau Hüttinger geht, und
dir, Rosie.«
»Uns geht's ganz gut, danke«, sagte Frau Hüttinger. »Oder würde uns
gehen, wenn diese diebischen Strolche nicht wären.«
»Na, nun geh aber!« sagte Rosie. »Wenn du dich die ganze Zeit um
Herrn Frodo gekümmert hast, warum willst du ihn dann allein lassen,
sobald die Lage gefährlich aussieht?«
Das war zu viel für Sam. Es hätte eine wochenlange Antwort erfor-
dert, oder gar keine. Er drehte sich um und stieg auf sein Pony. Aber als
er losreiten wollte, rannte Rosie die Stufen hinunter.
»Ich finde, du siehst gut aus, Sam«, sagte sie. »Aber geh jetzt. Und sei
vorsichtig und komm gleich zurück, sobald ihr den Unmenschen den Gar-
aus gemacht habt!«
Als Sam zurückkam, fand er das ganze Dorf in Aufruhr. Abgesehen
von vielen jüngeren Burschen waren schon mehr als hundert handfeste
Hobbits versammelt mit Äxten und schweren Hämmern und langen Mes-
sern und kräftigen Stöcken; und ein paar hatten Jagdbogen dabei. Weitere
kamen noch von den abseits gelegenen Bauernhöfen.
Einige der Dorfbewohner hatten ein großes Feuer angezündet, um die
Sache ein wenig zu beleben, und außerdem auch, weil es eins der Dinge
war, die der Oberst verboten hatte. Es brannte hell, als die Nacht herein-
brach. Andere errichteten auf Merrys Befehl an jedem Ende des Dorfes
Straßensperren. Als die Landbüttel zu der unteren kamen, waren sie
sprachlos; aber sobald sie sahen, wie die Dinge standen, nahmen die mei-
sten ihre Federn ab und schlössen sich dem Aufstand an. Die anderen
schlichen sich davon.
Sam fand Frodo und seine Freunde am Feuer, und sie unterhielten sich
mit dem alten Tom Hüttinger, während eine bewundernde Schar von
Wasserauern ringsum stand und stierte.
»So, was ist nun der nächste Schritt?« fragte Bauer Hüttinger.
»Ich kann es nicht sagen«, sagte Frodo, »ehe ich mehr weiß. Wie viele
von diesen Strolchen sind hier?«
»Das ist schwer zu sagen«, meinte Hüttinger. »Sie wandern rum und
kommen und gehen. Manchmal sind fünfzig von ihnen in ihren Schuppen
oben bei Hobbingen; aber von da aus streifen sie rum, stehlen oder >sam-
meln<, wie sie es nennen. Immerhin sind selten weniger als zwanzig beim
Baas, wie sie ihn getauft haben. Er ist in Beutelsend, oder war da; aber
jetzt verläßt er das Grundstück nicht mehr. Tatsächlich hat ihn seit ein
oder zwei Wochen keiner mehr gesehen; aber die Menschen lassen nie-
mand hin.«
»Hobbingen ist doch wohl nicht ihr einziger Standort, oder?« fragte
Pippin.
»Nein, es ist schlimmer«, sagte Hüttinger. »Eine ganze Menge ist unten
im Süden in Langgrund und an der Sarnfurt, wie ich höre; und noch ein
paar treiben sich am Waldende herum; und sie haben Schuppen in Weg-
scheid. Und dann ist das Loch da, wie sie es nennen: die alten Vorrats-
stollen in Michelbinge, die sie zum Gefängnis gemacht haben für diejeni-
gen, die sich ihnen widersetzen. Immerhin schätze ich, daß es im Auen-
land insgesamt nicht mehr als dreihundert von ihnen gibt, vielleicht weni-
ger. Wir können mit ihnen fertig werden, wenn wir zusammenhalten.«
»Haben sie irgendwelche Waffen?« fragte Merry.
»Peitschen, Messer und Knüppel, genug für ihre unsauberen Geschäfte:
das ist alles, was sie bisher haben sehen lassen«, sagte Hüttinger. »Aber
ich möchte annehmen, daß sie noch andere Ausrüstung haben, wenn es
zum Kampf kommt. Manche haben jedenfalls Bogen. Sie haben einen oder
zwei von unseren Leuten erschossen.«
»Siehst du, Frodo!« sagte Merry. »Ich wußte, wir würden kämpfen
müssen. Sie haben also mit dem Töten angefangen.«
»Genau genommen nicht«, sagte Hüttinger. »Wenigstens nicht mit dem
Schießen. Die Tuks haben das angefangen. Weißt du, dein Vater, Herr
Peregrin, der hatte nie was mit diesem Lotho im Sinn, von Anfang an
nicht: er sagte, wenn einer hier den Führer spielen solle, dann müsse es
der rechtmäßige Thain des Auenlands sein und kein Emporkömmling.
Und als Lotho seine Menschen hinschickte, kamen sie nicht auf ihre
Kosten. Die Tuks sind glücklich dran, sie haben diese tiefen Höhlen
in den Grünbergen, die Groß-Smials und all das; und die Strolche können
nicht an sie ran; sie lassen die Strolche einfach nicht in ihr Land. Wenn
sie es versuchen, jagen die Tuks sie. Die Tuks haben drei wegen Plün-
derns und Rauhens erschossen. Danach wurden die Strolche noch gehässi-
ger. Und sie bewachen das Tukland ziemlich scharf. Niemand geht da
jetzt rein oder raus.«
»Recht haben die Tuks!« rief Pippin. »Aber einer geht wieder rein,
jetzt gleich. Ich mache mich auf zu den Smials. Kommt jemand mit nach
Buckelstadt?«
Pippin ritt los mit einem halben Dutzend junger Leute auf Ponies. »Bis
bald!« rief er. »Es sind nur ungefähr vierzehn Meilen über die Felder.
Morgen früh bringe ich euch ein Heer von Tuks mit.« Merry schickte
ihnen ein Horngeschmetter hinterher, als sie in die dunkler werdende
Nacht davonritten. Das Volk jubelte.
»Trotzdem«, sagte Frodo zu allen, die in der Nähe standen, »trotzdem
möchte ich, daß nicht getötet wird; nicht mal die Strauchdiebe, es sei
denn, es ist nötig, um zu verhindern, daß Hobbits verletzt werden.«
»Gut«, sagte Merry. »Aber ich glaube, jetzt können wir jeden Augen-
blick Besuch von der Hobbingen-Bande bekommen. Sie werden nicht bloß
kommen, um sich mit uns über die Lage zu unterhalten. Wir werden ver-
suchen, anständig mit ihnen umzugehen, aber wir müssen auf das
Schlimmste vorbereitet sein. Ich habe nun einen Plan.«
»Sehr gut«, sagte Frodo. »Triff du die Vorkehrungen.«
Gerade da kamen einige Hobbits angerannt, die in Richtung Hobbingen
ausgeschickt worden waren. »Sie kommen«, sagten sie. »Zwanzig oder
mehr. Aber zwei sind nach Westen gegangen, über Land.«
»Nach Wegscheid vermutlich«, sagte Hüttinger, »um mehr von der
Bande zu holen. Na, das sind fünfzehn Meilen hin und fünfzehn zurück.
Um die brauchen wir uns vorläufig keine Sorgen zu machen.«
Merry eilte fort, um Befehle zu erteilen. Bauer Hüttinger machte die
Straße frei und schickte alle in die Häuser mit Ausnahme der älteren
Hobbits, die Waffen irgendwelcher Art hatten. Sie brauchten nicht lange
zu warten. Bald hörten sie laute Stimmen und dann das Trampeln schwe-
rer Füße. Plötzlich kam eine ganze Schar von Strauchdieben die Straße
entlang. Sie sahen die Sperre und lachten. Sie konnten sich nicht vorstel-
len, daß es irgend etwas in diesem kleinen Lande gebe, das zwanzig von
ihrer Sorte widerstehen könnte.
Die Hobbits räumten die Straßensperre weg und blieben daneben ste-
hen. »Danke!« höhnten die Menschen. »Jetzt lauft nach Haus ins Bett,
ehe ihr gepeitscht werdet.« Dann marschierten sie die Straße entlang und
schrien: »Macht die Lichter aus! Geht in die Häuser und bleibt da! Sonst
bringen wir fünfzig von euch auf ein Jahr ins Loch. Geht rein. Der Baas
verliert die Geduld.«
Niemand befolgte ihre Befehle; aber als die Strolche vorbeigegangen
waren, kamen die Hobbits leise von hinten heran und folgten ihnen. Als
die Menschen das Feuer erreichten, stand Bauer Hüttinger ganz allein da
und wärmte sich die Hände.
»Wer bist du, und was machst du hier eigentlich?« fragte der Führer
der Strolche.
Bauer Hüttinger sah ihn bedächtig an. »Das wollte ich dich gerade fra-
gen«, sagte er. »Das hier ist unser Land, und ihr seid nicht erwünscht.«
»Na, du bist jedenfalls erwünscht«, sagte der Führer. »Wir wollen dich
haben. Greift ihn, Jungs! Ins Loch mit ihm, und gebt ihm was, damit er
ruhig ist!«
Die Menschen gingen einen Schritt vor und blieben dann wie angewur-
zelt stehen. Ringsum erhob sich ein Stimmengewirr, und plötzlich merk-
ten sie, daß Bauer Hüttinger nicht allein war. Sie waren umzingelt. In der
Dunkelheit am Rand des Feuerscheins stand ein Kreis von Hobbits, die
aus den Schatten herausgekrochen waren. Es waren fast zweihundert, und
alle hielten irgendeine Waffe in der Hand.
Merry trat vor. »Wir sind uns schon einmal begegnet«, sagte er zu dem
Führer, »und ich habe dich davor gewarnt, wieder herzukommen. Ich
warne dich noch einmal: du stehst im Licht, und Bogenschützen zielen
auf dich. Wenn du die Hand an diesen Bauern legst oder an irgendeinen
anderen, wirst du sofort erschossen. Lege alle Waffen nieder, die du
hast.«
Der Führer sah sich um. Er saß in der Falle. Aber er hatte keine
Angst, nicht jetzt, da ihn zwanzig seiner Genossen deckten. Er wußte zu
wenig von Hobbits, um zu begreifen, in welcher Gefahr er war. Törichter-
weise beschloß er zu kämpfen. Es müßte einfach sein, auszubrechen.
»Los, Jungs, auf sie!« schrie er. »Gebt's ihnen!«
Mit einem langen Messer in der linken Hand und einem Knüppel in der
rechten stürzte er auf den Kreis zu und versuchte, durchzubrechen und
nach Hobbingen zu entkommen. Er wollte Merry, der ihm im Weg stand,
gerade einen heftigen Schlag versetzen, als er mit vier Pfeilen im Leib tot
zusammenbrach.
Das war genug für die anderen. Sie gaben klein bei. Ihre Waffen wur-
den ihnen abgenommen, dann wurden sie mit einem Seil aneinanderge-
bunden und in eine leere Hütte abgeführt, die sie selbst gebaut hatten, und
dort wurden sie, an Händen und Füßen gefesselt, unter Bewachung einge-
sperrt. Der tote Führer wurde weggeschleppt und verscharrt.
»Scheint schließlich fast zu leicht zu gehen, nicht wahr?« sagte Hüttin-
ger. »Ich sagte ja, wir könnten ihrer Herr werden. Aber wir brauchten
einen Anstoß. Du bist gerade zur rechten Zeit zurückgekommen, Herr
Merry.«
»Es ist noch mehr zu tun«, sagte Merry. »Wenn du mit deiner Schät-
zung recht hast, haben wir noch nicht mit einem Zehntel von ihnen abge-
rechnet. Aber jetzt ist es dunkel. Ich glaube, mit dem nächsten Streich
müssen wir bis morgen warten. Dann müssen wir dem Oberst einen Be-
such abstatten.«
»Warum nicht jetzt?« fragte Sam. »Es ist nicht viel mehr als sechs Uhr.
Und ich will den Ohm sehen. Weißt du, was aus ihm geworden ist, Herr
Hüttinger?«
»Es geht ihm nicht zu gut und nicht zu schlecht, Sam«, sagte der
Bauer. »Sie haben den Beutelhaldenweg aufgegraben, und das war ein
schwerer Schlag für ihn. Jetzt wohnt er in einem der neuen Häuser, die
die Menschen vom Oberst gebaut haben, als sie noch andere Arbeit taten
als nur niederbrennen und stehlen: nicht mehr als eine Meile vom Ende
von Wasserau. Aber er kommt bei mir vorbei, wenn er eine Gelegenheit
hat, und ich sorge dafür, daß er besser ernährt wird als manche von den
armen Kerlen. Natürlich alles gegen Die Vorschriften. Ich hätte ihn zu
mir genommen, aber das war nicht erlaubt.«
»Vielen Dank, Herr Hüttinger, das werde ich dir nie vergessen«, sagte
Sam. »Aber ich will ihn sehen. Dieser Baas und dieser Scharrer, wie sie
sie nennen, könnten da oben vor dem Morgen noch Unheil anrichten.«
»Gut, Sam«, sagte Hüttinger. »Such dir ein oder zwei von den jungen
Leuten aus und hole ihn in mein Haus. Du brauchst nicht in die Nähe
vom alten Dorf Hobbingen zu gehen. Mein Jupp hier wird dir den Weg
zeigen.«
Sam ging los. Merry sorgte dafür, daß während der Nacht Beobach-
tungsposten rund um das Dorf und Wachen an den Straßensperren aufge-
stellt wurden. Dann gingen er und Frodo mit zu Bauer Hüttinger. Sie
saßen mit der Familie in der warmen Küche, und die Hüttingers stellten
ein paar höfliche Fragen über ihre Fahrten, hörten sich aber die Antwor-
ten kaum an: sie waren weit mehr mit den Ereignissen im Auenland be-
schäftigt.
»Alles begann mit Pickel, wie wir ihn nennen«, sagte Bauer Hüttin-
ger. »Und alles begann, sobald du weggegangen warst, Herr Frodo. Er
hatte komische Vorstellungen, dieser Pickel. Offenbar wollte er alles
selbst besitzen und die Leute dann nach seiner Pfeife tanzen lassen. Bald
zeigte sich, daß er schon erheblich mehr besaß, als gut für ihn war; und
er grapschte immer nach noch mehr, obwohl es ein Rätsel war, wo er
das Geld herhatte: Mühlen und Mälzereien, und Wirtshäuser und
Bauernhöfe und Tabakpflanzungen. Offenbar hatte er Sandigmanns
Mühle schon gekauft, ehe er nach Beutelsend kam.
Natürlich fing er mit einer Menge Besitz im Südviertel an, den er von
seinem Vater hatte; und es scheint, daß er eine Menge Tabak verkauft
und seit ein oder zwei Jahren in aller Stille verschickt hatte. Aber Ende
letzten Jahres begann er, ganze Ladungen von Waren wegzuschaffen,
nicht nur Tabak. Lebensmittel wurden allmählich knapp, und der Win-
ter kam. Die Leute wurden wütend, aber er traf seine Gegenmaßnah-
men. Ein Haufen Menschen, Strolche zumeist, kamen mit großen
Wagen, einige brachten die Waren nach Süden weg, einige blieben. Und
immer mehr kamen. Und ehe wir wußten, wie uns geschah, hatten sie
sich hier und da im ganzen Auenland festgesetzt und fällten Bäume und
gruben und bauten sich Schuppen und Häuser, ganz wie es ihnen gefiel.
Zuerst wurden die Waren und die angerichteten Schäden von Pickel be-
zahlt; aber bald spielten sie sich als Herren auf und nahmen, was sie
wollten.
Dann gab es ein bißchen Aufruhr, aber nicht genug. Der alte Willi,
der Bürgermeister, machte sich nach Beutelsend auf, um Einspruch zu
erheben, aber er kam gar nicht hin. Die Strolche fingen ihn ab und
sperrten ihn in eine Höhle in Michelbinge, und da ist er jetzt noch. Und
danach, es muß kurz nach Neujahr gewesen sein, da gab es keinen Bür-
germeister mehr, und Pickel nannte sich Oberst der Landbüttel oder ein-
fach Oberst und tat, was er wollte; und wenn jemand >frech< wurde,
wie sie es nannten, dann erging es ihm wie Willi. So wurde die Lage
immer schlimmer. Es gab nichts mehr zu rauchen, außer für seine Men-
schen; und der Oberst hielt nichts von Bier, außer für seine Menschen,
und schloß alle Wirtshäuser; und alles außer den Vorschriften wurde
knapper und knapper, es sei denn, man konnte ein bißchen von seinem
Eigentum verstecken, wenn die Strolche herumgingen und Lebensmittel
>zur gerechten Verteilung< einsammelten: was bedeutete, daß sie es be-
kamen und wir nicht, abgesehen von dem Abfall, den man sich in den
Büttelhäusern holen durfte, wenn man ihn verdauen konnte. Alles sehr
schlecht. Aber seit Scharrer kam, ist es schlichtweg verheerend gewor-
den.«
»Wer ist dieser Scharrer?« fragte Merry. »Ich hörte, daß einer der
Strolche von ihm sprach.«
»Der größte Strolch der ganzen Bande, offenbar«, antwortete Hüt-
tinger. »Es war um die Zeit der letzten Ernte, Ende September viel-
leicht, da hörten wir zuerst von ihm. Wir haben ihn nie gesehen, aber er
ist oben in Beutelsend; und er ist jetzt der wahre Oberst, nehme ich an.
All die Strolche tun, was er sagt; und was er sagt, ist meistens abhak-
ken, niederbrennen, zerstören. Und jetzt ist es auch zum Töten gekom-
men. Das Ganze hat keinen Sinn mehr, nicht mal einen schlechten. Sie
fällen Bäume und lassen sie liegen, sie brennen Häuser nieder und bauen
keine neuen.
»Nehmt Sandigmanns Mühle zum Beispiel. Pickel hat sie fast sofort,
als er nach Beutelsend kam, abgerissen. Dann brachte er einen Haufen
übelaussehender Menschen her, damit sie eine größere bauten und sie mit
Rädern und allen möglichen ausländischen Erfindungen vollstopften.
Nur der dumme Timm war froh darüber, und jetzt arbeitet er da und rei-
nigt Räder für die Menschen, wo sein Vater der Müller und sein eigener
Herr gewesen war. Pickels Gedanke war, mehr und schneller zu mahlen,
das sagte er jedenfalls. Er hat noch andere Mühlen wie diese. Aber man
muß Mahlgut haben, ehe man mahlen kann; und für die neuen Mühle
war nicht mehr da als für die alte. Doch seit Scharrer kam, mahlen sie
überhaupt kein Korn mehr. Da ist immer ein Gehämmere und aufstei-
gender Rauch und Gestank, und nicht mal nachts hat man Frieden in
Hobbingen. Und sie gießen absichtlich Unrat aus; die ganze untere Wäs-
ser haben sie verunreinigt, und die fließt ja in den Brandywein. Wenn
sie das Auenland zu einer Wüste machen wollen, dann sind sie auf dem
richtigen Weg. Ich glaube nicht, daß dieser Narr von Pickel hinter alle-
dem steckt. Scharrer ist es, sage ich.«
»Das stimmt«, warf der Junge Tom ein. »Sie haben doch sogar Pickels
alte Mutter verhaftet, diese Lobelia, und er mochte sie gern, wenn auch
sonst keiner. Ein paar von den Leuten in Hobbingen haben es gesehen.
Sie kommt da den Weg herunter mit ihrem alten Regenschirm. Ein paar
von den Strolchen gehen mit einem Wagen hinauf. >Wo geht ihr hin?<
fragt sie. >Nach Beutelsend<, sagen sie. >Wozu?< fragt sie. >Um ein paar
Schuppen für Scharrer zu bauen<, sagen sie. >Wer hat gesagt, daß ihr
dürft?< fragt sie. >Scharrer<, sagen sie. >Also geh aus dem Weg, alte
Hexe!< — >Scharrer ist mir gleichgültig, ihr dreckigen, diebischen Strol-
che!< sagt sie und hebt ihren Schirm und geht auf den Führer los, der
doppelt so groß ist wie sie. Also haben sie sie verhaftet. Schleppten sie
ins Loch, und das in ihrem Alter. Sie haben noch andere verhaftet, die
wir mehr vermissen, aber es läßt sich nicht leugnen, daß sie mehr Mut
bewiesen hat als die meisten.«
Mitten in diese Unterhaltung platzte Sam mit dem Ohm herein. Der
alte Gamdschie sah nicht viel älter aus, aber er war ein bißchen tauber.
»Guten Abend, Herr Beutlin«, sagte er. »Ich freue mich wirklich, dich
heil und gesund wieder hier zu sehen. Aber ich habe sozusagen ein
Hühnchen mit dir zu rupfen, wenn ich so dreist sein darf. Du hättest
Beutelsend niemals verkaufen dürfen, wie ich immer gesagt habe. Damit
hat das ganze Unglück angefangen. Und während du im Ausland her-
umgezogen bist und Schwarze Menschen über die Gebirge gejagt hast,
nach dem, was mein Sam sagt, aber wozu, das hat er nicht klargemacht,
haben sie den Beutelhaldenweg aufgegraben und meine Kartoffeln
kaputtgemacht.«
»Das tut mir sehr leid, Herr Gamdschie«, sagte Frodo. »Aber jetzt bin
ich zurückgekommen und will mein Bestes tun, um alles wiedergutzuma-
chen.«
»Na, du kannst keine schöneren Worte sagen als diese«, sagte der
Ohm. »Herr Frodo Beutlin ist ein wirklicher Edelhobbit, das habe ich
immer gesagt, was immer man von einigen anderen dieses Namens den-
ken mag, bitte um Entschuldigung. Und ich hoffe, mein Sam hat sich gut
benommen, und du warst mit ihm zufrieden?«
»Durchaus zufrieden, Herr Gamdschie«, sagte Frodo. »Wirklich, du
kannst es mir glauben, er ist jetzt einer der Berühmtesten in allen Lan-
den, und sie singen Lieder über seine Taten von hier bis zum Meer und
jenseits des Großen Stroms.« Sam errötete, aber er sah Frodo dankbar
an, denn Rosies Augen strahlten, und sie lächelte ihn an.
»Es ist schwer zu glauben«, sagte der Ohm, »obwohl ich sehen kann,
daß er in einer seltsamen Gesellschaft verkehrt hat. Was ist aus seinem
Wams geworden? Ich halte nichts davon. Eisenwaren zu tragen, ob sie
sich nun gut oder schlecht tragen.«
Bauer Hüttingers Familie und alle seine Gäste waren am nächsten
Morgen früh auf. Nichts war in der Nacht zu hören gewesen, aber
sicherlich würde es noch mehr Schwierigkeiten geben, ehe der Tag alt
war. »Scheint, als ob von den Strolchen keiner mehr oben in Beutelsend
ist«, sagte Hüttinger. »Aber die Bande aus Wegscheid wird jetzt jeden
Augenblick dasein.«
Nach dem Frühstück kam ein Bote aus Tukland angeritten. Er war in
fröhlicher Stimmung. »Der Thain hat unser ganzes Land zum Wider-
stand aufgerufen«, sagte er, »und die Nachricht verbreitet sich überall
wie ein Lauffeuer. Die Strolche, die unser Land bewachten, sind nach
Süden geflohen, soweit sie lebend entkamen. Der Thain setzt ihnen nach,
um die große Bande, die da unten ist, abzufangen; aber er hat Herrn
Peregrin mit allen anderen Leuten, die er entbehren kann, hierher zu-
rückgeschickt.«
Die nächste Nachricht war weniger gut. Merry, der die ganze Nacht
draußen gewesen war, kam etwa um zehn Uhr angeritten. »Da ist eine
große Bande ungefähr vier Meilen entfernt«, sagte er. »Sie kommen auf
der Straße von Wegscheid, aber eine ganze Menge herumstromernde
Strolche haben sich ihnen angeschlossen. Es müssen annähernd hundert
sein; und überall legen sie Brände unterwegs. Verflucht sollen sie sein!«
»Ach! Diese Gesellschaft kommt nicht her, um zu reden, sie werden
töten, wenn sie können«, sagte Bauer Hüttinger. »Wenn die Tuks nicht
früher kommen, gehen wir in Deckung und schießen ohne viel Worte. Es
wird ein bißchen Kampf geben, ehe alles geregelt ist, Herr Frodo.«
Die Tuks kamen früher. Es dauerte nicht lange, da kamen sie anmar-
schiert, hundert an der Zahl, von Buckelstadt und den Grünbergen, mit
Pippin an der Spitze. Merry hatte nun genug handfeste Hobbitkrieger,
um mit den Strolchen abzurechnen. Späher berichteten, daß sie dicht
beisammen blieben. Sie wußten, daß sich das Land gegen sie erhoben
hatte, und waren eindeutig entschlossen, den Aufstand an seinem Aus-
gangspunkt, in Wasserau, erbarmungslos niederzuschlagen. Aber wie er-
grimmt sie auch sein mochten, sie schienen keinen Führer zu haben, der
etwas vom Krieg verstand. Sie kamen ohne irgendwelche Vorsichtsmaß-
nahmen. Merry entwarf seine Pläne rasch.
Die Strolche kamen über die Oststraße angetrampelt, und ohne anzu-
halten, bogen sie in die Wasserauerstraße ein, die sich ein Stück Wegs
zwischen hohen Böschungen, auf denen niedrige Hecken wuchsen, hin-
aufzog. Nach einer Biegung, etwa eine Achtelmeile von der Hauptstraße
entfernt, stießen sie auf eine mächtige Straßensperre aus umgekippten
Bauernkarren. Das brachte sie zum Stehen. Im selben Augenblick merk-
ten sie, daß die Hecken auf beiden Seiten, genau über ihren Köpfen, mit
Hobbits besetzt waren. Hinter ihnen schoben nun andere Hobbits noch
weitere Wagen, die in einem Feld versteckt gewesen waren, auf die
Straße und versperrten ihnen so den Rückweg. Eine Stimme sprach von
oben zu ihnen.
»So, ihr seid in eine Falle geraten«, sagte Merry. »Euren Genossen aus
Hobbingen erging es genauso, und einer ist tot und die übrigen sind Ge-
fangene. Legt eure Waffen nieder! Dann geht zwanzig Schritt zurück
und setzt euch hin. Und wer auszubrechen versucht, wird erschossen.«
Aber die Strolche ließen sich nicht so leicht einschüchtern. Ein paar
von ihnen gehorchten, wurden aber sofort von ihren Genossen wieder
auf die Beine gebracht. Etwa zwanzig oder mehr gingen zurück und
stürmten die Wagen. Sechs wurden erschossen, aber die übrigen brachen
durch, töteten zwei Hobbits und rannten dann einzeln über Land in
Richtung auf Waldende. Zwei weitere fielen, während sie liefen. Merry
blies ein lautes Hornsignal, das aus der Ferne beantwortet wurde.
»Sie werden nicht weit kommen«, sagte Pippin. »Das ganze Land
wimmelt jetzt von unseren Jägern.«
Dahinter versuchten die in der Gasse eingeschlossenen Menschen,
immer noch etwa achtzig, über die Sperre hinweg und die Böschungen
hinauf zu klettern, und die Hobbits mußten viele von ihnen erschießen
oder mit Äxten niederhauen. Doch die stärksten und verwegensten
kamen an der Westseite durch und griffen ihre Feinde heftig an, denn sie
waren jetzt mehr auf Töten als auf Flucht erpicht. Mehrere Hobbits fie-
len, und die übrigen begannen zu weichen, als Merry und Pippin, die
auf der Ostseite waren, herüberkamen und die Strolche angriffen. Merry
selbst erschlug den Führer, ein schielender Rohling wie ein großer Ork.
Dann zog er seine Streitkräfte ab und umzingelte die letzten übrigge-
bliebenen Menschen mit einem großen Kreis von Bogenschützen.
Schließlich war alles vorbei. Fast siebzig Strolche lagen tot auf dem
Schlachtfeld, und ein Dutzend war gefangengenommen. Neunzehn Hob-
bits waren gefallen und einige Dreißig verwundet. Die toten Strolche
wurden auf Wagen geladen, zu einer alten Sandgrube in der Nähe ge-
fahren und dort verscharrt: in der Schlachtgrube, wie sie später genannt
wurde. Die gefallenen Hobbits wurden in ein gemeinsames Grab am
Berghang gelegt, und später wurde dort ein großer Stein aufgestellt und
ein Garten angelegt. So endete die Schlacht von Wasserau, 1419, die
letzte im Auenland ausgetragene Schlacht und die einzige seit der
Schlacht von Grünfeld, 1147, weit oben im Nordviertel. Infolgedessen
erhielt sie, obwohl sie zum Glück sehr wenigen Hobbits das Leben
kostete, ein eigenes Kapitel im Roten Buch, und die Namen aller, die
daran teilgenommen hatten, wurden zu einer Ehrenliste zusammenge-
stellt, die die Geschichtskundigen des Auenlandes auswendig lernten.
Die beträchtliche Zunahme des Ansehens und Vermögens der Hüttingers
geht auf diese Zeit zurück; aber in allen Berichten standen die Namen
der Hauptleute Meriadoc und Peregrin an erster Stelle in der Ehrenliste.
Frodo war bei dem Kampf anwesend, aber er hatte sein Schwert nicht
gezogen. Seine Haupttätigkeit bestand darin, die Hobbits in ihrem Zorn
über ihre Verluste daran zu hindern, diejenigen ihrer Feinde zu erschla-
gen, die ihre Waffen weggeworfen hatten. Als der Kampf vorüber und
die anschließenden Arbeiten angeordnet waren, gesellten sich Merry,
Pippin und Sam zu ihm, und sie ritten mit den Hüttingers zurück. Sie
aßen ein spätes Mittagsmahl, und dann sagte Frodo seufzend: »Ja, jetzt,
nehme ich an, ist es Zeit, daß wir uns den >Oberst< vornehmen.«
»Allerdings; je eher, desto besser«, sagte Merry. »Und sei nicht zu
sanft! Er ist dafür verantwortlich, daß die Strolche hergekommen sind,
und für alles Böse, was sie angerichtet haben.«
Bauer Hüttinger stellte eine Begleitmannschaft von etwa zwei Dut-
zend stämmigen Hobbits zusammen. »Denn es ist nur eine Vermutung,
daß in Beutelsend keine Strolche mehr sind«, sagte er. »Wir wissen es
nicht.« Dann machten sie sich zu Fuß auf den Weg. Frodo, Sam, Merry
und Pippin gingen voraus.
Es war eine der traurigsten Stunden ihres Lebens. Der große Schorn-
stein ragte vor ihnen auf; und als sie sich zwischen Reihen von neuen,
schäbigen Häusern zu beiden Seiten der Straße dem alten Dorf jenseits
der Wässer näherten, sahen sie die neue Mühle in all ihrer finsteren und
schmutzigen Häßlichkeit: ein großes Backsteingebäude, das den Bach
überwölbte und ihn mit einer herausströmenden dampfenden und stin-
kenden Flüssigkeit verunreinigte. Entlang der Wasserauerstraße waren
alle Bäume gefällt.
Als sie die Brücke überquerten und zum Bühl hinaufschauten, stockte
ihnen der Atem. Selbst das, was Sam in dem Spiegel erblickt hatte, hatte
ihn nicht auf das vorbereitet, was sie jetzt sahen. Der Alte Gutshof auf
der Westseite war abgerissen, und an seinem Platz standen Reihen ge-
teerter Hütten. Alle Kastanien waren fort. Die Böschungen und Hecken
waren zerstört. Große Wagen standen unordentlich auf einer Wiese
herum, deren Gras völlig zertrampelt war. Der Beutelhaldenweg war
eine gähnende Sand- und Kiesgrube, Beutelsend dahinter konnte man
wegen einer zusammengedrängten Gruppe großer Hünen nicht sehen.
»Sie haben ihn gefällt!« rief Sam. »Sie haben den Festbaum gefällt!«
Er zeigte auf die Stelle, wo der Baum gestanden hatte, unter dem Bilbo
seine Abschiedsrede gehalten hatte. Er lag welk und tot auf der Wiese.
Als ob das der letzte Schlag gewesen sei, brach Sam in Tränen aus.
Ein Gelächter machte ihnen ein Ende. Ein grobschlächtiger Hobbit
lümmelte sich über die niedrige Mauer des Mühlenhofs. Er hatte ein
schmutzstarrendes Gesicht und schwarze Hände. »Gefällt dir nicht,
Sam?« höhnte er. »Aber du warst immer so weich. Ich dachte, du wärst
weg mit einem von den Schiffen, von denen du immer gefaselt hast,
segeln, segeln. Wozu willst du zurückkommen? Wir haben jetzt Arbeit
im Auenland.«
»Das sehe ich«, sagte Sam. »Keine Zeit, um sich zu waschen, aber
Zeit, um sich an der Mauer rumzudrücken. Aber weißt du, Herr Sandig-
mann, ich habe eine Rechnung zu begleichen in diesem Dorf, und mach
sie nicht länger mit deinem Spott, sonst muß du eine Zeche bezahlen, die
zu groß ist für deinen Geldbeutel.«
Timm Sandigmann spuckte über die Mauer. »Quatsch!« sagte er. »Mir
kannst du nichts anhaben. Ich bin ein Freund vom Baas. Aber dir wird
er was anhaben, wenn ich noch mehr Unverschämtheiten von dir höre.«
»Verschwende keine Worte mehr an diesen Narren, Sam!« sagte
Frodo. »Ich hoffe, es sind nicht noch viele Hobbits so geworden. Es
wäre ein größeres Unglück als aller Schaden, den die Menschen ange-
richtet haben.
»Du bist dreckig und frech, Sandigmann«, sagte Merry. »Und außer-
dem hast du dich verrechnet. Wir gehen gerade hinauf zum Bühl, um
deinen prächtigen Baas abzusetzen. Mit seinen Menschen sind wir schon
fertig.«
Timm blieb der Mund offen, denn in diesem Augenblick sah er zum
ersten Mal die Begleitmannschaft, die auf ein Zeichen von Merry jetzt
über die Brücke marschierte. Er stürzte in die Mühle, kam mit einem
Horn wieder heraus und blies laut.
»Schone deine Lunge!« lachte Merry. »Ich habe ein besseres.« Dann
hob er sein silbernes Horn und setzte es an, und sein klarer Klang er-
schallte über den Bühl; und aus den Höhlen und Schuppen und schäbi-
gen Häusern von Hobbingen antworteten die Hobbits und strömten her-
aus, und mit Beifallsrufen und lautem Geschrei folgten sie der Schar die
Straße nach Beutelsend hinauf.
Oben am Ende des Feldwegs blieb die Begleitmannschaft stehen, und
Frodo und seine Freunde gingen weiter; und endlich kamen sie zu der
einst geliebten Behausung. Der Garten war voller Hütten und Schuppen,
manche standen so dicht an den alten Westfenstern, daß sie ihnen das
ganze Licht nahmen. Überall waren Müllhaufen. Die Tür war zer-
schrammt; die Glockenkette hing lose herab, und die Glocke läutete
nicht. Auf Klopfen kam keine Antwort. Schließlich drückten sie gegen
die Tür, und sie ging auf. Sie gingen hinein. Drinnen stank es, und alles
war voll Dreck und Unordnung: offenbar war Beutelsend seit einiger
Zeit nicht bewohnt.
»Wo versteckt sich dieser elende Lotho?« fragte Merry. Sie hatten alle
Räume abgesucht und kein Lebewesen außer Ratten und Mäusen gefun-
den. »Sollen wir die anderen anstellen, daß sie die Schuppen durchsuchen?«
»Das ist schlimmer als Mordor«, sagte Sam. »Viel schlimmer in einer
Beziehung. Es geht einem nahe, wie man so sagt; es ist die Heimat, und
man erinnert sich daran, wie sie war, ehe alles zerstört wurde.«
»Ja, das ist Mordor«, sagte Frodo. »Eben eins seiner Werke. Saru-
man hat die ganze Zeit für Mordor gearbeitet, auch als er glaubte, für
sich zu arbeiten. Und genauso ist es mit jenen wie Lotho, die Saruman
verführte.«
Merry sah sich voll Entsetzen und Abscheu um. »Laßt uns rausgehen«,
sagte er. »Wenn ich von all dem Unheil gewußt hätte, das er verursacht
hat, dann hätte ich Saruman meinen Tabaksbeutel in den Rachen stop-
fen sollen.«
»Zweifellos, zweifellos! Aber du hast es nicht getan, und so bin ich in
der Lage, dich in der Heimat willkommen zu heißen.« Da an der Tür
stand Saruman selbst, und er sah wohlgenährt und zufrieden aus; seine
Augen funkelten vor Bosheit und Belustigung.
Plötzlich ging Frodo ein Licht auf. »Scharrer!« rief er.
Saruman lachte. »So, du hast den Namen schon gehört? Alle meine
Leute nannten mich so in Isengart, glaube ich. Ein Zeichen von Zunei-
gung, möglicherweise*. Aber offensichtlich hast du nicht erwartet, mich
hier zu sehen.«
»Das nicht«, sagte Frodo. »Aber ich hätte es mir denken können. Ein
wenig Unheil auf kleinliche, gemeine Weise: Gandalf warnte mich, daß
Ihr dazu noch fähig seid.«
»Durchaus fähig«, sagte Saruman, »und mehr als ein wenig. Ihr habt
mich zum Lachen gebracht, ihr Hobbit-Herrchen, wie ihr da mit all die-
sen großen Leuten geritten seid, so sorglos und selbstzufrieden, und dach-
tet, ihr könntet nun einfach zurückschlendern und eine hübsche fried-
liche Zeit auf dem Land verbringen. Sarumans Heim konnte zerstört
und er hinausgeworfen werden, aber niemand würde euer Heim anrüh-
* Es war vermutlich ursprünglich Orkisch: scharku, »alter Mann«.

ren. 0 nein! Gandalf würde sich schon um eure Angelegenheiten küm-
mern.«
Saruman lachte wieder. »Er nicht! Wenn seine Werkzeuge ihren
Zweck erfüllt haben, dann läßt er sie fallen. Aber ihr müßt ja an seinen
Rockschößen hängen, herumtrödeln und reden und doppelt so weit rei-
ten, wie ihr brauchtet. >Na<, dachte ich, >wenn sie solche Narren sind,
dann will ich ihnen zuvorkommen und ihnen einen Denkzettel geben.
Wie du mir, so ich dir.< Der Denkzettel wäre schmerzhafter gewesen,
wenn ihr mir ein wenig mehr Zeit und mehr Menschen gelassen hättet.
Immerhin habe ich schon viel getan, das zu euren Lebzeiten in Ordnung
zu bringen oder rückgängig zu machen euch schwerfallen wird. Und es
wird mir Freude machen, daran zu denken und es mit der mir widerfah-
renen Unbill zu vergleichen.«
»Na, wenn Euch das Freude bereitet«, sagte Frodo, »dann bemitleide
ich Euch. Es wird nur eine Freude der Erinnerung sein, fürchte ich. Geht
sofort und kehrt niemals zurück!«
Die Hobbits aus den Dörfern hatten Saruman aus einer der Hütten
herauskommen sehen und waren sofort bis zur Tür von Beutelsend vor-
gedrungen. Als sie Frodos Befehl hörten, murmelten sie wütend:
»Laß ihn nicht gehen! Töte ihn! Er ist ein Schuft und Mörder. Töte
ihn!«
Saruman blickte ringsum auf ihre feindseligen Gesichter und lächelte.
»Töte ihn!« höhnte er. »Tötet ihn, wenn ihr glaubt, ihr seid zahl-
reich genug, meine tapferen Hobbits!« Er richtete sich auf und starrte
sie mit seinen schwarzen Augen drohend an. »Aber glaubt nicht, wenn
ich all mein Hab und Gut verloren habe, daß ich auch all meine Macht
verloren habe! Wer immer mich angreift, soll verflucht sein. Und wenn
mein Blut das Auenland befleckt, soll es verdorren und sich niemals wie-
der erholen.«
Die Hobbits wichen zurück. Aber Frodo sagte: »Glaubt ihm nicht! Er
hat alle Macht verloren außer seiner Stimme, die euch immer noch ein-
schüchtern und täuschen kann, wenn ihr es zulaßt. Aber ich will nicht,
daß er erschlagen wird. Es ist sinnlos, auf Rache mit Rache zu antwor-
ten: das bringt keine Heilung. Geht, Saruman, auf dem schnellsten
Wege!«
»Schlange! Schlange!« rief Saruman; und aus einer Hütte in der Nähe
kam Schlangenzunge angekrochen, fast wie ein Hund. »Wieder auf die
Straße, Schlange!« sagte Saruman. »Diese feinen Burschen und Herrlein
jagen uns wieder davon. Komm mit!«
Saruman wandte sich zum Gehen, und Schlangenzunge schlurfte hin-
ter ihm her. Aber als Saruman gerade dicht an Frodo vorbeiging, blitzte
ein Messer in seiner Hand, und er stieß rasch zu. Die Klinge prallte an
dem verborgenen Panzerhemd ab und zerbrach. Ein Dutzend Hobbits
unter Führung von Sam sprangen mit einem Aufschrei vor und schleu-
derten den Schuft auf den Boden. Sam zog sein Schwert.
»Nein, Sam«, sagte Frodo. »Nicht einmal jetzt töte ihn. Denn er hat
mich nicht verletzt. Und jedenfalls will ich nicht, daß er im Zorn er-
schlagen wird. Einst war er groß, von einer edlen Art, gegen die wir
nicht wagen sollten, unsere Hand zu erheben. Er ist tief gesunken, und
wir vermögen ihn nicht zu heilen; doch möchte ich ihn schonen in der
Hoffnung, daß er doch noch Heilung findet.«
Saruman stand auf und starrte Frodo an. Ein seltsamer Ausdruck war
in seinen Augen, eine Mischung von Staunen, Achtung und Haß.
»Du bist groß geworden. Halbling«, sagte er. »Ja, du bist sehr groß
geworden. Du bist weise und grausam. Du hast meine Rache der Süße
beraubt, und in Bitterkeit muß ich nun von dannen gehen, ein Schuldner
deiner Barmherzigkeit. Das hasse ich, und dich auch. Gut, ich gehe und
werde dich nicht mehr belästigen. Aber erwarte nicht von mir, daß ich
dir Gesundheit und langes Leben wünsche. Beides wirst du nicht haben.
Aber das ist nicht meine Tat. Ich sage es nur voraus.«
Er ging davon, und die Hobbits machten eine Gasse frei, durch die er
schritt; aber ihre Knöchel wurden weiß, als sie ihre Waffen packten.
Schlangenzunge zögerte, und dann folgte er seinem Herrn.
»Schlangenzunge!« rief Frodo. »Ihr braucht ihm nicht zu folgen. Ich
weiß von nichts Bösem, das Ihr mir getan habt. Ihr könnt hier eine
Weile Ruhe und Essen haben, bis Ihr kräftiger seid und Eurer eigenen
Wege gehen könnt.«
Schlangenzunge blieb stehen und schaute zu ihm zurück, halb bereit
zu bleiben. Saruman wandte sich um. »Nichts Böses?« kicherte er. »O
nein! Selbst wenn er sich nachts hinausschleicht, dann nur, um die Sterne
zu betrachten. Aber habe ich nicht gehört, daß jemand fragte, wo sich
der arme Lotho versteckt? Du weißt es, Schlange, nicht wahr? Willst du
es ihnen sagen?«
Schlangenzunge kauerte sich auf den Boden und wimmerte: »Nein,
nein!«
»Dann werde ich es tun«, sagte Saruman. »Schlange hat euren Oberst!
getötet, den armen kleinen Kerl, euren lieben Baas. Nicht wahr,
Schlange? Ihn im Schlaf erdolcht, glaube ich. Ihn begraben, hoffe ich;
obwohl Schlange in letzter Zeit sehr hungrig war. Nein, Schlange ist
nicht wirklich anständig. Ihr überlaßt ihn besser mir.«
Ein Ausdruck von wildem Haß trat in Schlangenzunges rote Augen.
»Ihr habt es mir befohlen; Ihr habt mich dazu veranlaßt«, zischte er.
Saruman lachte. »Du tust, was Scharrer sagt, immer, nicht wahr,
Schlange? So, und jetzt sagt er: folge mir!« Er trat Schlangenzunge, der
noch auf der Erde lag, ins Gesicht, drehte sich um und ging los. Aber da
zerbrach etwas: plötzlich stand Schlangenzunge auf, zog ein verborgenes
Messer, und, wie ein Hund knurrend, sprang er Saruman auf den Rük-
ken, durchschnitt ihm die Kehle und rannte schreiend den Feldweg hin-
unter. Ehe Frodo sich fassen oder ein Wort sprechen konnte, schwirrten
drei Hobbitbogen, und Schlangenzunge sank tot zu Boden.
Zum Entsetzen jener, die dabeistanden, sammelte sich um Sarumans
Leiche ein grauer Nebel, stieg wie Rauch von einem Feuer langsam zu
großer Höhe auf und schwebte wie eine bleiche, in ein Leichentuch ge-
hüllte Gestalt über dem Bühl. Einen Augenblick schwankte sie, nach
Westen blickend; aber aus dem Westen kam ein kalter Wind, und sie
wandte sich ab und löste sich mit einem Seufzer in Nichts auf.
Frodo blickte voll Mitleid und Entsetzen hinunter auf die Leiche,
denn während er schaute, schien es, daß viele Jahre des Todes plötzlich
in ihr sichtbar wurden, und sie schrumpfte zusammen, und das runzelige
Gesicht wurde zu Hautfetzen auf einem abscheulichen Schädel. Frodo
nahm den Saum des schmutzigen Mantels, der daneben lag, zog ihn über
die Leiche und wandte sich ab.
»Und das ist das Ende«, sagte Sam. »Ein häßliches Ende, und ich
wünschte, ich hätte es nicht zu sehen brauchen; aber ein Glück, daß wir
ihn los sind.«
»Und wirklich das letzte Ende des Krieges, hoffe ich«, sagte Merry.
»Das hoffe ich auch«, sagte Frodo und seufzte. »Der letzte Schlag.
Aber wenn man bedenkt, daß er gerade hier fallen mußte, genau vor der
Tür von Beutelsend! Bei all meinen Hoffnungen und Befürchtungen
habe ich zumindest das niemals erwartet.«
»Ich würde es nicht das Ende nennen, ehe wir diesen Saustall aufge-
räumt haben«, sagte Sam düster. »Und das wird eine ganze Menge Zeit
und Arbeit erfordern.«

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