NEUNTES KAPITEL
DIE GRAUEN ANFURTEN

Das Aufräumen erforderte gewiß eine Menge Arbeit, aber es kostete
weniger Zeit, als Sam gefürchtet hatte. Am Tag nach der Schlacht ritt
Frodo nach Michelbinge und befreite die Gefangenen aus dem Loch. Einer
der ersten, die sie fanden, war der arme Fredegar Bolger, auf den der
Name Dick nicht mehr paßte. Er war verhaftet worden, als die Strauch-
diebe eine Schar Aufrührer, die er anführte, in ihrem Versteck oben in
den Dachsbauten bei der Bergen von Schären ausräucherten.
»Du hättest schließlich besser dran getan, doch mit uns mitzukommen,
armer Fredegar«, sagte Pippin, als sie ihn heraustrugen, weil er zu
schwach war, um zu gehen.
Er blinzelte mit einem Auge und versuchte tapfer zu lächeln. »Wer ist
dieser junge Riese mit der lauten Stimme?« flüsterte er. »Doch nicht der
kleine Pippin? Welche Hutgröße hast du denn jetzt?«
Dann war Lobelia da. Das arme Wesen sah sehr alt und dünn aus, als
man sie aus einer dunklen und engen Zelle herausholte. Sie bestand dar-
auf, auf ihren eigenen Füßen hinauszuhumpeln; und sie hatte einen sol-
chen Empfang und es gab so viel Klatschen und Beifall, als sie erschien,
auf Frodos Arm gestützt, aber ihren Regenschirm noch fest umklam-
mernd, daß sie ganz ergriffen war und in Tränen wegfuhr. Ihr Lebtag war
sie nicht beliebt gewesen. Aber sie war niedergeschmettert, als sie von
Lothos Ermordung hörte, und sie wollte nicht nach Beutelsend zurückkeh-
ren. Sie gab es Frodo zurück und ging zu ihrer eigenen Familie, den
Straffgürtels in Steinbüttel.
Als das arme Geschöpf im nächsten Frühjahr starb — immerhin war
sie nun über hundert Jahre alt — war Frodo überrascht und sehr gerührt:
alles, was von ihrem und Lothos Geld geblieben war, hatte sie ihm hinter-
lassen, und er sollte es dafür verwenden, den Hobbits zu helfen, die bei
den Unruhen ihre Heime verloren hatten. So war dieser Familienzwist be-
endet.
Der alte Willi Weißfuß war länger im Loch gewesen als alle anderen,
und obwohl er vielleicht weniger grob behandelt worden war als manche,
so mußte er doch gehörig aufgepäppelt werden, ehe er wieder wie ein
Bürgermeister aussah; deshalb erklärte Frodo sich bereit, als sein Stellver-
treter tätig zu sein, bis Herr Weißfuß wieder in Form war. Das einzige,
was er als stellvertretender Bürgermeister tat, war, die Obliegenheiten
und die Anzahl der Landbüttel wieder auf ihr angemessenes Maß herab-
zusetzen. Die Aufgabe, die letzten übriggebliebenen Strolche davonzuja-
gen, wurde Merry und Pippin überlassen, und sie war bald ausgeführt.
Nachdem die Banden im Süden von der Schlacht von Wasserau erfahren
hatten, flohen sie aus dem Land und setzten dem Thain wenig Widerstand
entgegen. Vor Jahresende wurden die wenigen Überlebenden in den Wäl-
dern zusammengetrieben, und diejenigen, die sich ergaben, wurden über
die Grenze abgeschoben.
Derweil gingen die Wiederherstellungsarbeiten geschwind voran, und
Sam war sehr beschäftigt. Hobbits können bienenfleißig sein, wenn ihnen
der Sinn danach steht und es not tut. Jetzt gab es Tausende williger
Hände jeden Alters, von den kleinen, aber geschickten der Hobbitjungen
und -mädchen bis zu den abgearbeiteten und schwieligen der Gevatter
und Gevatterinnen. Bis zum Julfest stand kein Stein mehr von den neuen
Büttelhäusem oder irgendeinem Gebäude, das »Scharrers Menschen« er-
richtet hatten; aber die Backsteine wurden dazu benutzt, so manche alte
Höhle auszubessern und wohnlicher und trockner zu machen. Große
Warenlager und Lebensmittelvorräte wurden gefunden, die die Strolche in
Hütten und Scheunen und verlassenen Höhlen versteckt hatten, vor allem
in den Stollen von Michelbinge und den alten Steinbrüchen von Schären;
so daß sie an diesem Julfest erheblich besser schmausen konnten, als
irgend jemand gehofft hatte.
Eins der ersten Dinge, die in Hobbingen getan wurden, sogar ehe die
neue Mühle abgerissen wurde, war die Säuberung von Bühl und Beutels-
end und die Wiederherstellung des Beutelhaldenwegs. Die Vorderseite
der neuen Sandgrube wurde eingeebnet und ein großer, eingefriedeter
Garten daraus gemacht, und in die Südseite nach hinten zum Bühl wur-
den neue Höhlen gegraben und innen mit Backsteinen ausgelegt. Der
Ohm zog wieder in Nummer Drei ein; und er sagte oft, und es war ihm
gleich, wer es hörte:
»Kein Unglück ist groß genug, es trägt nicht niemandem ein Glück im
Schoß, wie ich immer sagte. Und Ende gut, alles besser!«
Es gab einige Meinungsverschiedenheiten über den Namen, den der
neue Weg erhalten sollte. Man erwog Schlachtgärten oder Bessere Smials.
Aber nach verständiger Hobbitart wurde er binnen kurzem einfach Neuer
Weg
genannt. Es war bloß ein Wasserauer Witz, ihn als Scharrers Ende
zu bezeichnen.
Die Bäume waren der schwerste Verlust und Schaden, denn auf Schar-
rers Befehl waren sie weit und breit im Auenland abgeschlagen worden;
und Sam empfand das schmerzlicher als alles andere. Denn zum einen
würde es lange brauchen, bis diese Wunde verheilte, und erst seine Uren-
kel, glaubte er, würden das Auenland wieder so sehen, wie es sein sollte.
Dann plötzlich eines Tages, denn wochenlang war er zu beschäftigt
gewesen, um an seine Abenteuer zu denken, fiel ihm das Geschenk von
Galadriel ein. Er holte die Schachtel heraus und zeigte sie den anderen
Reisenden (denn so wurden sie jetzt von allen genannt) und bat um ihren
Rat.
»Ich fragte mich schon, wann du wohl daran denken würdest«, sagte
Frodo. »Mach sie auf!«
Sie war gefüllt mit einem grauen Staub, weich und fein, und in der
Mitte lag ein Samen wie eine kleine Nuß mit einer silbernen Schale. »Was
kann ich damit machen?« fragte Sam.
»Wirf es an einem windigen Tag in die Luft und warte ab, was dabei
herauskommt,« sagte Pippin.
»Wo?« fragte Sam.
»Such dir eine Stelle als Baumschule aus und sieh, was dort mit den
Pflanzen geschieht«, sagte Merry.
»Aber bestimmt wollte die Herrin nicht, daß ich alles für meinen eige-
nen Garten behalte, wo jetzt so viele Leute Schaden gelitten haben«, sagte
Sam.
»Gebrauche deinen ganzen Verstand und alles Wissen, das du hast,
Sam«, sagte Frodo, »und verwende die Gabe so, daß sie deiner Arbeit
hilft und sie verbessert. Und verwende sie sparsam. Es ist nicht viel, und
ich vermute, daß jedes Körnchen wertvoll ist.«
So pflanzte Sam Schößlinge an allen Stellen, an denen besonders
schöne oder geliebte Bäume vernichtet worden waren, und an die Wurzel
eines jeden legte er ein Körnchen des kostbaren Staubs. Er mühte sich im
ganzen Auenland ab, aber wenn er seine besondere Aufmerksamkeit
Hobbingen und Wasserau schenkte, dann machte ihm niemand daraus
einen Vorwurf. Und zuletzt stellte er fest, daß er noch ein wenig Staub
übrig hatte; also ging er zum Drei-Viertel-Stein, der annähernd der Mit-
telpunkt des Auenlandes war, und warf den Staub mit seinen Segens-
wünschen in die Luft. Die kleine silberne Nuß pflanzte er auf der Fest-
wiese ein, wo einst der Baum gestanden hatte; und er war gespannt, was
da herauskommen würde. Den ganzen Winter hindurch blieb er so gedul-
dig, wie er nur konnte, und versuchte, sich davon abzuhalten, ständig
umherzulaufen und nachzuschauen, ob etwas geschehe.
Der Frühling übertraf seine höchsten Erwartungen. Seine Bäume began-
nen zu sprießen und zu wachsen, als ob die Zeit es eilig hatte und in
einem Jahr so viel schaffen wollte wie sonst in zwanzig. Auf der Fest-
wiese schoß ein schöner, junger Baum empor: er hatte eine silberne Rinde
und lange Blätter und setzte im April goldene Blüten an. Es war tatsäch-
lich ein mallorn, und er erregte das Staunen der Nachbarschaft. In späte-
ren Jahren, als er in Anmut und Schönheit erwuchs, war er landauf,
landab bekannt, und die Leute kamen von weit her, um ihn zu sehen:
den einzigen mallorn westlich des Gebirges und östlich der See, und
einen der prächtigsten der Welt.
1420 war überhaupt ein wunderbares Jahr im Auenland. Es gab nicht
nur herrlichen Sonnenschein und köstlichen Regen, jeweils zur rechten
Zeit und in genau der richtigen Menge, sondern es schien noch etwas
mehr zu sein: ein Hauch von Fülle und Fruchtbarkeit und ein Schimmer
von Schönheit über das Maß sterblicher Sommer hinaus, wie sie über die-
ser Mittelerde aufflackern und vergehen. Alle in jenem Jahr geborenen
oder empfangenen Kinder, und es waren viele, waren schön anzusehen
und kräftig, und die meisten von ihnen hatten blondes Haar, was vorher
unter Hobbits selten gewesen war. Früchte gab es so reichlich, daß junge
Hobbits fast in Erdbeeren und Schlagsahne badeten; und später saßen sie
unter den Pflaumenbäumen auf der Wiese und futterten, bis sie Berge von
Steinen wie kleine Pyramiden oder von einem Sieger angehäufte Schädel
aufgeschichtet hatten, und dann zogen sie zum nächsten Baum. Und nie-
mand war krank, und alle waren froh, außer jenen, die das Gras mähen
mußten.
Im Südviertel waren die Weinstöcke mit Trauben überladen, und der
Ertrag an »Blatt« war erstaunlich, und überall gab es so viel Korn, daß
bei der Ernte alle Scheunen voll waren. Die Gerste im Nordviertel war so
gut, daß man sich lange an das Bier aus dem 1420er Malz erinnerte und
es geradezu ein Inbegriff wurde. Noch ein Lebensalter später konnte man
hören, daß ein alter Gevatter in einem Wirtshaus nach einer Maß wohl-
verdienten Biers seinen Krug absetzte und seufzte: »Ach, das war richti-
ger Vierzehnzwanziger, aber wirklich.«
Sam blieb zuerst mit Frodo bei den Hüttingers; aber als der Neue Weg
fertig war, zog er zum Ohm. Zusätzlich zu all seinen anderen Arbeiten
war er damit beschäftigt, das Säubern und die Wiederherstellung von
Beutelsend zu leiten; aber oft war er im Auenland unterwegs bei seiner
Forstwirtschaft. So war er Anfang März nicht zu Hause und wußte nicht,
daß Frodo krank gewesen war. Am dreizehnten dieses Monats fand Bauer
Hütringer Frodo auf seinem Bett liegend; er hielt einen weißen Edelstein
umklammert, der an einer Kette um seinen Hals hing, und er schien halb
im Traum.
»Er ist fort für immer«, sagte er, »und nun ist alles dunkel und leer.«
Aber der Anfall ging vorüber, und als Sam am fünfundzwanzigsten
zurückkam, hatte Frodo sich erholt und sagte nichts darüber. Mittlerweile
war Beutelsend in Ordnung gebracht worden, und Merry und Pippin
kamen von Krickloch herüber und brachten all die alten Möbel und Ein-
richtungsgegenstände zurück, so daß die alte Höhle bald ganz so aussah,
wie sie immer ausgesehen hatte.
Als schließlich alles fertig war, sagte Frodo: »Wann willst du nun um-
ziehen und bei mir wohnen, Sam?«
Sam sah ein bißchen verlegen aus.
»Es ist nicht nötig, daß du jetzt schon kommst, wenn du nicht willst«,
sagte Frodo. »Aber du weißt, der Ohm ist ganz in der Nähe, und er wird
von der Witwe Kumpel sehr gut versorgt werden.«
»Das ist es nicht, Herr Frodo«, sagte Sam und wurde sehr rot.
»Was ist es dann?«
«Es ist Rosie, Rose Hüttinger«, sagte Sam. »Es scheint ihr gar nicht ge-
fallen zu haben, daß ich überhaupt wegging, das arme Mädchen; aber da
ich mich noch nicht erklärt hatte, konnte sie es nicht sagen. Und ich er-
klärte mich nicht, weil ich erst eine Aufgabe zu erfüllen hatte. Aber jetzt
habe ich mich erklärt, und sie sagt: >Na, wenn du ein Jahr verschwendet
hast, warum dann noch länger warten?< — > Verschwendet ?< sage ich. >So
würde ich es nicht nennen.< Immerhin verstehe ich, was sie meint. Ich
fühle mich entzweigerissen, wie man sagen könnte.«
»Ich verstehe«, sagte Frodo. »Du willst heiraten und du willst auch mit
mir in Beutelsend leben? Aber mein lieber Sam, das ist doch ganz ein-
fach! Heirate, so schnell du kannst, und dann zieh mit Rosie ein. Es ist
Platz genug in Beutelsend für eine so große Familie, wie du dir nur wün-
schen kannst.«
Und damit war das geregelt. Sam Gamdschie heiratete Rose Hüttinger
im Frühling des Jahres 1420 (das auch für seine Hochzeiten berühmt
war), und sie kamen nach Beutelsend und lebten dort. Und wenn Sam
glaubte, er habe Glück, so wußte Frodo, daß er selbst noch mehr Glück
hatte; denn es gab keinen Hobbit im Auenland, der so liebevoll betreut
wurde wie er. Als all die Ausbesserungsarbeiten geplant und in Gang ge-
bracht waren, machte er sich ein ruhiges Leben, schrieb viel und ging alle
seine Aufzeichnungen durch. Anläßlich des Freimarkts am Mittsommer-
tag trat er von dem Amt des Stellvertretenden Bürgermeisters zurück,
und der liebe alte Willi Weißruß konnte noch weitere sieben Jahr den
Gastgeber bei Festmählern spielen.
Merry und Pippin lebten eine Zeitlang zusammen in Krickloch, und es
gab viel Gehen und Kommen zwischen Bockland und Beutelsend. Die bei-
den jungen Reisenden erregten beträchtliches Aufsehen im Auenland mit
ihren Liedern und ihren Geschichten, ihrer feinen Aufmachung und den
wundervollen Festen, die sie gaben. »Wie richtige Herren«, sagten die
Leute von ihnen, womit sie nur Gutes meinten; denn alle Herzen schlugen
höher, wenn man sie vorbeireiten sah mit ihren schimmernden Panzer-
hemden und ihren glänzenden Schilden, lachend und Lieder aus fernen
Ländern singend; und wenn sie jetzt auch bedeutend und prächtig waren,
so waren sie ansonsten unverändert, es sei denn, daß sie tatsächlich noch
schöner sprachen und heiterer und lustiger waren denn je zuvor.
Frodo und Sam dagegen kehrten wieder zu ganz gewöhnlicher Kleidung
zurück, abgesehen davon, daß sie beide, wenn es not tat, lange graue
Mäntel trugen, fein gewebt und am Hals mit wundervollen Broschen zu-
sammengehalten; und Herr Frodo trug immer einen weißen Edelstein an
einer Kette, nach dem er oft tastete.
Alles ging nun gut, und es bestand Hoffnung, daß es noch besser
würde, und Sam war so beschäftigt und so voller Freude, wie sich selbst
ein Hobbit nur wünschen konnte. Nichts beeinträchtigte sein Glück das
ganze Jahr, außer einer unbestimmten Sorge um seinen Herrn. Frodo zog
sich unauffällig von dem ganzen Tun und Treiben im Auenland zurück,
und es schmerzte Sam, als er bemerkte, wie wenig Ehre Frodo in seinem
eigenen Land zuteil wurde. Wenige Leute wußten von seinen Taten und
Abenteuern oder wollten auch nur davon wissen; ihre Bewunderung und
Hochachtung galten hauptsächlich Herrn Meriadoc und Herrn Peregrin
und (obwohl Sam es nicht wußte) ihm selbst. Auch zeigte sich im Herbst
ein Schatten der alten Beschwerden.
Eines Abends kam Sam ins Arbeitszimmer und fand, daß sein Herr
sehr seltsam aussah. Er war sehr bleich, und seine Augen schienen Dinge
in weiter Ferne zu sehen.
»Was ist los, Herr Frodo?« fragte Sam.
»Ich bin verwundet«, antwortete er, »verwundet, und es wird niemals
richtig heilen.«
Aber dann stand er auf, und der Anfall schien zu vergehen, und am
nächsten Tag war er wieder ganz wohl. Erst später fiel Sam ein, daß es
der sechste Oktober gewesen war. Vor zwei Jahren war es an diesem Tage
dunkel gewesen in der Senke unter der Wetterspitze.
Die Zeit verstrich, und das Jahr 1421 kam. Im März war Frodo wieder
krank, aber mit einer großen Willensanstrengung verheimlichte er es,
denn Sam hatte an andere Dinge zu denken. Das erste von Sams und
Rosies Kindern war am fünfundzwanzigsten März geboren worden, ein
Datum, das Sam vermerkte.
»Ja, Herr Frodo«, sagte er, »ich bin ein bißchen in der Klemme. Rose
und ich waren übereingekommen, ihn Frodo zu nennen, mit deiner Er-
laubnis; aber es ist nicht er, es ist sie. Allerdings ein so hübsches Mäd-
chen, wie man sich nur wünschen kann, schlägt zum Glück Rose mehr
nach als mir. Aber nun wissen wir nicht, was wir tun sollen.«
»Na, Sam«, sagte Frodo, »was ist gegen den alten Brauch einzuwenden?
Such dir einen Blumennamen aus wie Rose. Die Hälfte aller Mädchen im
Auenland hat solche Namen, und was könnte besser sein?«
»Ich glaube, du hast recht, Herr Frodo«, sagte Sam. »Auf meinen Rei-
sen habe ich ein paar schöne Namen gehört, aber ich nehme an, sie sind
ein bißchen zu großartig für den täglichen Gebrauch. Der Ohm sagte:
>Mach ihn kurz, dann brauchst du ihn nicht abzukürzen, ehe du ihn ver-
wenden kannst.< Aber wenn es ein Blumenname sein soll, dann mache
ich mir nicht über die Länge Sorgen: es muß eine schöne Blume sein,
denn, weißt du, ich glaube, sie ist sehr schön und wird noch schöner wer-
den.«
Frodo dachte einen Augenblick nach. »Na, Sam, wie ist es mit elanor,
dem Sonnenstern, du erinnerst dich doch an die kleinen goldenen Blumen
im Gras von Lothlórien?«
»Da hast du wieder recht, Herr Frodo«, sagte Sam erfreut. »Das ist ge-
nau das, was ich wollte.«
Die kleine Elanor war fast sechs Monate alt und der Herbst des Jahres
1421 war gekommen, als Frodo Sam in sein Arbeitszimmer rief.
»Am Donnerstag ist Bilbos Geburtstag, Sam«, sagte er. »Und er wird
den Alten Tuk übertreffen. Er wird hunderteinunddreißig!«
»Das wird er«, sagte Sam. »Er ist erstaunlich!«
»Nun, Sam«, sagte Frodo, »ich möchte, daß du mit Rosie sprichst und
herausfindest, ob sie dich entbehren kann, so daß du und ich zusammen
losgehen können. Natürlich kannst du jetzt nicht weit oder für lange Zeit
fort«, sagte er ein wenig wehmütig.
»Nein, nicht sehr gut, Herr Frodo.«
»Natürlich. Aber mach dir nichts draus. Du kannst mich ein Stück be-
gleiten. Sage Rose, du wirst nicht sehr lange wegbleiben, nicht länger als
vierzehn Tage; und du wirst ungefährdet zurückkommen.«
»Ich wünschte, ich könnte die ganze Strecke bis Bruchtal mit dir gehen,
Herr Frodo, und Herrn Bilbo sehen«, sagte Sam. »Und doch ist der ein-
zige Ort, wo ich wirklich sein möchte, hier. Ich bin so entzweigerissen.«
»Armer Sam! So wirst du es empfinden, fürchte ich«, sagte Frodo.
»Aber du wirst geheilt werden. Dir ist es bestimmt, heil und gesund zu
sein, und du wirst es sein.«
In den nächsten Tagen ging Frodo mit Sam seine Papiere und Schriften
durch und händigte ihm seine Schlüssel aus. Da war ein dickes Buch, in
glattes, rotes Leder gebunden; seine großen Seiten waren jetzt fast ganz
gefüllt. Zu Anfang waren viele Blätter mit Bilbos feiner, unruhiger
Handschrift bedeckt; aber die meisten mit Frodos gleichmäßigen,
schwungvollen Schriftzeichen. Es war in Kapitel eingeteilt, doch Kapitel
80 war unvollendet, und danach kamen einige leere Seiten. Auf der
Kopfseite standen mehrere Titel, die einer nach dem anderen durchgestri-
chen waren, und sie lauteten: Mein Tagebuch. Meine unerwartete Fahrt.
Hin und wieder zurück. Und was nachher geschah.

Die Abenteuer von Fünf Hobbits. Die Geschichte des Großen Rings,
zusammengestellt von Bilbo Beutlin nach seinen eigenen Beobachtungen
und den Berichten seiner Freunde. Was wir im Ring-Krieg taten.

Hier endete Bilbos Handschrift, und Frodo hatte geschrieben:

DER STURZ
DES
HERRN DER RINGE
UND DIE
RÜCKKEHR DES KÖNIGS
(Mit den Augen des Kleinen Volks gesehen, da es die Erinnerungen
von Bilbo und Frodo aus dem Auenland sind, ergänzt durch die Berichte
ihrer Freunde und die Lehren der Weisen.)
Zusammen mit Auszügen aus den Büchern des Wissens, übersetzt
von Bilbo in Bruchtal.

»Nein, du bist ja fast fertig, Herr Frodo!« rief Sam aus. »Na, du hast
dich aber rangehalten, das muß ich sagen.«
»Ich bin ganz fertig, Sam«, sagte Frodo. »Die letzten Seiten sind für
dich.«
Am einundzwanzigsten September brachen sie zusammen auf, Frodo
auf dem Pony, das ihn den ganzen Weg von Minas Tirith getragen hatte
und das jetzt Streicher genannt wurde; und Sam auf seinem geliebten
Lutz. Es war ein schöner, goldener Morgen, und Sam fragte nicht, wohin
sie gingen: er glaubte, er könne es erraten.
Sie schlugen die Straße nach Stock ein über die Berge in Richtung
Waldende, und sie ließen ihre Ponies gemächlich traben. In den Grünber-
gen schlugen sie ihr Lager auf, und als am zweiundzwanzigsten Septem-
ber der Nachmittag seinem Ende zuging, kamen sie auf dem sanft abfal-
lenden Weg dorthin, wo die Bäume begannen.
»Das ist doch genau der Baum, hinter dem du dich verstecktest, als der
Schwarze Reiter zuerst auftauchte, Herr Frodo!« sagte Sam und zeigte
nach links. »Es kommt mir jetzt wie ein Traum vor.«
Es war Abend, und die Sterne schimmerten am östlichen Himmel, als
sie zu der hohlen Eiche kamen; dort bogen sie ab und ritten weiter, den
Berg hinunter zwischen den Haselnußsträuchem. Sam war schweigsam,
vertieft in seine Erinnerungen. Plötzlich merkte er, daß Frodo leise vor
sich hinsang, und er sang das alte Wanderlied, doch die Worte waren
nicht ganz dieselben.

Doch um die Ecke, kommt uns vor,
Da führt noch ein geheimes Tor
Zu Pfaden, die wir nie gesehn.

Es kommt der Tag, da muß ich gehn
Und ungekannte Wege ziehn,

Wohl mondvorbei und sonnenhin.

Und als ob es eine Antwort sei, die von unten die Straße heraufkam,
sangen Stimmen:

A! Elbereth Gilthoniel!
silivren penna miriel
o menel agiar elenath,
Gilthoniel, A! Elbereth!
Wir leben unter Bäumen, weit
Vom Meere, doch das Sternenlicht
Des Westens — wir vergessen's nicht.

Frodo und Sam hielten an und saßen still in den sanften Schatten, bis
sie einen Schimmer sahen, als die Reisenden auf sie zukamen.
Da waren Gildor und viele des schönen Elbenvolks; und zu Sams Ver-
wunderung ritten auch Elrond und Galadriel mit. Elrond trug einen
grauen Umhang und hatte einen Stern auf der Stirn und eine silberne
Harfe in der Hand, und auf seinem Finger war ein goldener Ring mit
einem großen blauen Stein, Vilya, der Mächtigste der Drei. Doch Gala-
driel saß auf einem weißen Zelter und war in schimmerndes Weiß geklei-
det, wie Wolken um den Mond; denn sie selbst schien mit einem sanften
Licht zu strahlen. An ihrem Finger war Nenya, der aus mithril gearbeitete
Ring; er hatte einen einzigen weißen Stein, der wie ein frostiger Stern
funkelte. Weiter hinten, langsam auf einem kleinen grauen Pony reitend,
kam Bilbo, und er schien im Schlaf mit dem Kopf zu nicken.
Elrond begrüßte sie ernst und gütig, und Galadriel lächelte sie an. »Nun,
Meister Samweis«, sagte sie. »Ich höre und sehe, daß du meine Gabe gut
verwendet hast. Das Auenland soll nun gesegneter und geliebter sein
denn je.« Sam verbeugte sich und fand nichts zu sagen. Er hatte verges-
sen, wie schön die Herrin war.
Dann wachte Bilbo auf und öffnete die Augen. »Hallo, Frodo!« sagte
er. »So, heute habe ich den Alten Tuk übertroffen! Das ist also geregelt.
Und jetzt, glaube ich, bin ich bereit, noch einmal auf Fahrt zu gehen.
Kommst du mit?«
»Ja, ich komme mit«, sagte Frodo. »Die Ringträger sollten zusammen
gehen.«
»Wo gehst du hin, Herr?« rief Sam, obwohl er endlich begriffen hatte,
was geschah.
»Zu den Anfurten, Sam«, sagte Frodo.
»Und ich kann nicht mitkommen.«
»Nein, Sam. Jetzt jedenfalls noch nicht, nicht weiter als bis zu den An-
furten. Obwohl auch du ein Ringträger warst, wenn auch nur für eine
kleine Weile. Deine Zeit mag noch kommen. Sei nicht zu traurig, Sam.
Du kannst nicht immer entzweigerissen sein. Du wirst auf viele Jahre
ganz und heil sein müssen. Es gibt noch so viel, woran du dich freuen
und was du sein und tun kannst.«
»Aber«, sagte Sam, und Tränen traten ihm in die Augen, »ich
glaubte, du würdest dich auch noch auf Jahre und Jahre am Auenland er-
freuen, nach allem, was du getan hast.«
»Das habe ich auch einmal geglaubt. Aber ich bin zu schwer verwun-
det worden, Sam. Ich versuchte, das Auenland zu retten, und es ist geret-
tet worden, aber nicht für mich. Das läßt sich oft nicht ändern, Sam, wenn
Dinge in Gefahr sind: manche müssen sie aufgeben, sie verlieren, damit
andere sie behalten können. Aber du bist mein Erbe: alles, was ich hatte
und hätte haben können, hinterlasse ich dir. Und du hast auch Rosie und
Elanor; und der kleine Frodo wird kommen, und die kleine Rosie und
Merry und Goldlöckchen und Pippin; und vielleicht noch mehr, die ich
noch nicht sehen kann. Deine Hände und dein Verstand werden überall
gebraucht werden. Natürlich wirst du Bürgermeister sein, solange wie du
willst, und der berühmteste Gärtner der Geschichte; und du wirst in dem
Roten Buch lesen und die Erinnerung an das Zeitalter, das vergangen ist,
lebendig erhalten, so daß die Leute der Großen Gefahr gedenken und so
ihr geliebtes Land um so mehr lieben. Und dabei wirst du so beschäftigt
und so glücklich sein, wie man nur sein kann, solange dein Teil der Ge-
schichte weitergeht. Komm, reite nun mit mir!«
Dann ritten Elrond und Galadriel weiter; denn das Dritte Zeitalter war
vorüber und die Tage der Ringe vergangen, und das Ende der Geschichte
und des Liedes jener Zeiten war gekommen. Mit ihnen gingen viele Elben
der Hohen Sippe, die nicht länger in Mittelerde bleiben wollten; und un-
ter ihnen, erfüllt von einer Traurigkeit, die zugleich beglückt und ohne
Bitterkeit war, ritten Sam und Frodo und Bilbo, und den Elben war es ein
Vergnügen, sie zu ehren.
Obwohl sie den ganzen Abend und die ganze Nacht mitten durch das
Auenland ritten, sah niemand außer den wilden Tieren sie vorüberzie-
hen; höchstens nahm ein Wanderer hier oder dort in der Dunkelheit einen
raschen Schimmer unter den Bäumen wahr, oder ein Licht und einen
Schatten, die über das Gras glitten, als der Mond im Westen stand. Und
als sie, die südlichen Ausläufer der Weißen Höhen umgehend, das Auen-
land hinter sich gelassen hatten, kamen sie zu den Weiten Höhen und den
Türmen und blickten auf die ferne See; und so ritten sie endlich hinunter
nach Mithlond, zu den Grauen Anfurten im langen Golf von Luhn.
Als sie an den Toren anlangten, kam Cirdan, der Schiffsbauer, heraus,
um sie zu begrüßen. Sehr groß war er, und sein Bart war lang, und er war
grau und alt, nur seine Augen waren scharf wie Sterne; und er schaute
sie an und verneigte sich und sagte: »Alles ist nun bereit.«
Dann führte Cirdan sie zu den Anfurten, und dort lag ein weißes
Schiff, und an dem Schiffslandeplatz stand neben einem großen grauen
Pferd eine ganz in Weiß gekleidete Gestalt und erwartete sie. Als er sich
umwandte und ihnen entgegenkam, sah Frodo, daß Gandalf jetzt offen
auf seiner Hand den Dritten Ring trug, Narya den Großen, und der Stein
auf ihm war rot wie Feuer. Da waren jene, die gehen sollten, froh, denn
sie wußten, daß Gandalf sich mit ihnen einschiffen würde.
Aber Sam war nun betrübt in seinem Herzen, und es schien ihm, daß
der Abschied bitter sein würde, und noch schmerzlicher würde der lange,
einsame Heimweg sein. Doch gerade, als sie dort standen und die Elben
an Bord gingen und alles zur Abfahrt bereitgemacht wurde, ritten Merry
und Pippin in großer Eile heran. Und unter Tränen lachte Pippin.
»Du hast schon einmal versucht, uns zu entwischen, und es ist dir miß-
lungen, Frodo«, sagte er. »Diesmal wäre es dir fast geglückt, aber es ist
dir wiederum mißlungen. Allerdings war es diesmal nicht Sam, der dich
verriet, sondern Gandalf selbst.«
»Ja«, sagte Gandalf. »Denn es wird besser sein, zu dritt zurückzureiten
als allein. Ja, hier an den Ufern des Meeres kommt nun schließlich das
Ende unserer Gemeinschaft in Mittelerde. Geht in Frieden! Ich will nicht
sagen: weinet nicht; denn nicht alle Tränen sind von Übel.«
Dann küßte Frodo Merry und Pippin und zuletzt Sam, und ging an
Bord; und die Segel wurden gehißt, und der Wind wehte, und langsam
glitt das Schiff den langen, grauen Golf hinunter; und das Licht des Gla-
ses von Galadriel, das Frodo trug, schimmerte und verschwand. Und das
Schiff fuhr hinaus auf die Hohe See und dann in den Westen, bis Frodo
schließlich in einer regnerischen Nacht einen süßen Duft in der Luft roch
und Gesang hörte, der über das Wasser kam. Und da schien es ihm wie in
seinem Traum in Bombadils Haus, daß sich der graue Regenvorhang in
silbernes Glas verwandelte und zurückgerollt wurde, und er erblickte
weiße Strande und dahinter ein fernes grünes Land unter der rasch aufge-
henden Sonne.
Aber für Sam verdunkelte sich der Abend zur Finsternis, als er an den
Anfurten stand; und als er auf das graue Meer schaute, sah er nur einen
Schatten auf dem Wasser, der sich bald im Westen verlor. Dort stand er
bis tief in die Nacht, hörte nur das Seufzen und Murmeln der Wellen auf
den Ufern von Mittelerde, und ihr Klang senkte sich tief in sein Herz.
Neben ihm standen Merry und Pippin, und sie waren stumm.
Schließlich wandten sich die drei Gefährten ab, und ohne auch nur ein
einziges Mal zurückzublicken, ritten sie langsam heimwärts; und sie spra-
chen kein Wort miteinander, bis sie zurück ins Auenland kamen, aber
jeder fand auf der langen grauen Straße Trost in seinen Freunden.
Schließlich ritten sie über die Höhen und schlugen die Oststraße ein,
und dann ritten Merry und Pippin weiter nach Bockland; und unterwegs
sangen sie schon wieder. Aber Sam bog nach Wasserau ein und kam so
zum Bühl zurück, als sich der Tag wiederum neigte. Und er ging weiter,
und drinnen war ein gelbes Licht und Feuer; und das Abendessen war
bereit, und er wurde erwartet. Und Rosie zog ihn herein und setzte ihn
auf seinen Stuhl und gab ihm die kleine Elanor auf den Schoß.
Er holte tief Luft. »Ja, ich bin zurück«, sagte er.