SIEBTES KAPITEL
AUF DER HEIMFAHRT

Endlich wandten nun die Hobbits den Blick der Heimat zu. Sie waren
jetzt begierig, das Auenland wiederzusehen; aber zuerst ritten sie lang-
sam, denn Frodo fühlte sich nicht wohl. Als sie zur Furt des Bruinen
kamen, hielt er an, und es schien ihm zu widerstreben, in den Fluß hin-
einzureiten; und sie bemerkten, daß seine Augen sie und die Dinge um
ihn eine Zeitlang nicht zu sehen schienen. Den ganzen Tag war er
schweigsam. Es war der sechste Oktober.
»Hast du Schmerzen, Frodo?« fragte Gandalf leise, als er neben Frodo
ritt.
»Nun ja«, sagte Frodo. »Es ist meine Schulter. Die Wunde schmerzt,
und die Erinnerung an die Dunkelheit lastet schwer auf mir. Heute vor
einem Jahr war es.«
»Ach, leider gibt es Wunden, die nicht völlig geheilt werden können«,
sagte Gandalf.
»Ich fürchte, so könnte es mit meiner sein«, sagte Frodo. »Es ist keine
wirkliche Rückkehr. Obwohl ich vielleicht ins Auenland komme, wird es
mir nicht als dasselbe erscheinen; denn ich werde nicht derselbe sein. Ich
bin verwundet durch Dolch, Stich und Zahn und eine schwere Bürde. Wo
werde ich Ruhe finden?«
Gandalf antwortete nicht.
Am Ende des nächsten Tages waren die Schmerzen und Beschwerden
vergangen, und Frodo war wieder fröhlich, so fröhlich, als erinnere er
sich gar nicht der Düsternis des vorigen Tages. Danach ging die Fahrt gut
vonstatten, und die Tage vergingen rasch; denn sie ritten mit Muße und
machten oft halt in dem schönen Waldland, wo die Blätter in der Herbst-
sonne rot und gelb leuchteten. Schließlich kamen sie zur Wetterspitze;
und es ging schon auf den Abend zu, und der Schatten des Bergs lag
dunkel auf der Straße. Da bat Frodo sie, schneller zu reiten, und er wollte
den Berg nicht anschauen, sondern ritt mit gesenktem Kopf, den Mantel
fest um sich gezogen, durch seinen Schatten. In jener Nacht schlug das
Wetter um, und ein Wind kam von Westen und brachte Regen mit, und
er wehte heftig und kalt, und die gelben Blätter wirbelten wie Vögel
durch die Luft. Als sie zum Chetwald kamen, waren die Zweige schon
fast kahl, und ein großer Regenvorhang verhüllte den Breeberg vor ihrem
Blick.
So kam es, daß gegen Ende eines stürmischen und nassen Abends in
den letzten Oktobertagen die fünf Reisenden die ansteigende Straße hin-
auf ritten und zum Südtor von Bree kamen. Es war fest verschlossen; und
der Regen klatschte ihnen ins Gesicht, am dunklen Himmel jagten tief-
hängende Wolken vorbei, und der Mut sank ihnen ein wenig, denn sie
hatten auf einen besseren Empfang gehofft,
Nachdem sie mehrere Male gerufen hatten, kam der Torhüter endlich
heraus, und sie sahen, daß er einen großen Knüppel in der Hand hatte. Er
betrachtete sie ängstlich und mißtrauisch, aber als er Gandalf erkannte
und sah, daß seine Gefährten trotz ihrer seltsamen Aufmachung Hobbits
waren, da wurde er freundlicher und hieß sie willkommen.
»Kommt herein«, sagte er und schloß das Tor auf. »Wir wollen nicht
an einem so abscheulichen Abend hier draußen in der Kälte und Nässe
stehenbleiben und Neuigkeiten austauschen. Aber der alte Gersten wird
Euch gewiß im Pony willkommen heißen, und da werdet Ihr alles hören,
was es zu hören gibt.«
»Und da werdet Ihr dann später alles hören, was wir sagen, und noch
mehr«, lachte Gandalf. »Wie geht's Heinrich?«
Der Torhüter blickte finster drein. »Weg«, sagte er. »Aber Ihr fragt
am besten Gerstenmann. Guten Abend.«
»Guten Abend«, sagten sie und gingen durch; und dann bemerkten
sie, daß am Straßenrand hinter der Hecke eine lange, niedrige Hütte ge-
baut worden war, und eine Reihe von Männern war herausgekommen
und starrte sie über den Zaun an. Als sie zu Lutz Farnings Haus kamen,
sahen sie, daß die Hecke dort verwildert und ungepflegt war, und alle
Fenster waren mit Brettern vernagelt.
»Glaubst du, du hast ihn damals mit dem Apfel getötet, Sam?« fragte
Pippin.
»So hoffnungsvoll bin ich nicht, Herr Pippin«, sagte Sam. »Aber ich
würde gern wissen, was aus dem armen Pony geworden ist. Daran habe
ich so manches Mal gedacht, und an das Wolfsgeheul und all das.«
Schließlich kamen sie Zum Tänzelnden Pony, und das sah wenigstens
äußerlich unverändert aus; und es brannte Licht hinter den roten Vorhän-
gen der unteren Fenster. Sie läuteten, und Kunz kam an die Tür, öffnete
einen Spalt und schaute hinaus; und als er sie da unter der Lampe ste-
hen sah, stieß er einen Überraschungsschrei aus.
»Herr Butterblume! Herr!« brüllte er. »Sie sind zurückgekommen!«
»Ach, wirklich? Ich werd sie lehren!« ertönte Butterblumes Stimme,
und er kam herausgestürzt mit einem Prügel in der Hand. Aber als er
sah, wer sie waren, hielt er inne, und der finstere Ausdruck seines Ge-
sichts verwandelte sich in Staunen und Freude.
»Kunz, du wollköpfiger Trottel!« rief er. »Kannst du alte Freunde nicht
mit ihren Namen nennen? Du solltest mich nicht so erschrecken, wo die
Zeiten so sind. Na, schon gut. Und wo kommt Ihr her? Ich habe nie er-
wartet, einen von Euch wiederzusehen, und das ist eine Tatsache: in die
Wildnis zu gehen mit diesem Streicher, und wo alle diese Schwarzen
Menschen unterwegs waren. Aber ich bin wirklich froh, Euch zu sehen,
und keinen mehr als Gandalf. Kommt herein! Kommt herein! Dieselben
Zimmer wie früher? Sie sind frei. Tatsächlich sind heutzutage die meisten
Zimmer frei, wie ich Euch nicht verheimlichen will, denn Ihr werdet es
bald genug selbst herausfinden. Und ich werde sehen, was sich mit dem
Abendessen machen läßt, so bald als möglich; aber ich bin knapp an
Arbeitskräften zur Zeit. He, Kunz, du Faulpelz! Sage Hinz Bescheid! Ach,
das vergesse ich immer, Hinz ist ja weg: er geht jetzt bei Einbruch der
Nacht immer zu seinen Leuten nach Hause. Na, dann bringe du die Ponies
der Gäste in den Stall, Kunz! Und Ihr werdet ja Euer Pferd wohl be-
stimmt selbst in den Stall bringen, Gandalf. Ein schönes Tier, wie ich
schon sagte, als ich es zum ersten Mal sah. So, nun kommt herein. Tut
ganz, als ob Ihr hier zu Hause wärt!«
Herr Butterblume hatte jedenfalls seine Redeweise nicht geändert und
schien immer noch in seiner alten, atemlosen Geschäftigkeit zu leben.
Und dabei war kaum jemand da, und alles war still; aus der großen
Wirtsstube kam ein leises Gemurmel von nicht mehr als zwei oder drei
Stimmen. Und im Schein der zwei Kerzen, die er anzündete und vor ihnen
hertrug, sah das Gesicht des Wirts bei genauer Betrachtung ziemlich fal-
tig und abgehärmt aus.
Er führte sie über den Gang in die kleine Gaststube, in der sie an jenem
seltsamen Abend vor mehr als einem Jahr gesessen hatten; und sie folg-
ten ihm, ein wenig beunruhigt, denn es schien klar zu sein, daß er irgend-
einer Schwierigkeit mit Tapferkeit begegnete. Die Dinge waren nicht, wie
sie einst waren. Aber sie sagten nichts und warteten ab.
Was sie vermutet hatten, kam Herr Butterblume nach dem
Abendessen in die Gaststube, um zu sehen, ob alles nach ihrem Wunsch
gewesen sei. Das war es allerdings; nichts war schlechter geworden,
weder das Bier noch das Essen, jedenfalls im Pony. »Nun, ich will es
nicht wagen, etwa vorzuschlagen, daß Ihr heute abend in die große
Wirtsstube kommen solltet«, sagte Butterblume. »Ihr werdet müde sein;
und heute sind sowieso nicht viele Leute da. Aber wenn Ihr eine halbe
Stunde für mich erübrigen könnt, ehe Ihr ins Bett geht, dann würde ich
mich sehr gern mit Euch unterhalten, in aller Stille, ganz unter uns.«
»Das ist genau das, was wir auch gern täten«, sagte Gandalf. »Wir
sind nicht müde. Wir haben uns nicht überanstrengt. Wir waren naß, kalt
und hungrig, aber all das habt Ihr geheilt. Kommt, setzt Euch zu uns.
Und wenn Ihr etwas Pfeifenkraut habt, werden wir Euch preisen.«
»Nun, wenn Ihr etwas anderes verlangt hättet, wäre ich glücklicher ge-
wesen«, sagte Butterblume. »Das ist gerade etwas, was bei uns knapp ist,
in Anbetracht dessen, daß wir nämlich nur das haben, was wir selbst an-
bauen, und das reicht nicht. Aus dem Auenland ist in letzter Zeit nichts
zu bekommen. Aber ich werde sehen, was ich tun kann.«
Als er zurückkam, brachte er ihnen genug für ein oder zwei Tage, ein
Bündel ungeschnittener Blätter. »Südhang«, sagte er, »und der beste, den
wir haben, der aber mit dem Südviertel nicht mitkommt, wie ich immer
gesagt habe, obwohl ich bei den meisten Dingen ganz für Bree bin, bitte
um Entschuldigung.«
Sie ließen ihn auf einem großen Sessel am Holzfeuer Platz nehmen.
Gandalf setzte sich auf die andere Seite des Kamins und die Hobbits auf
niedrige Stühle zwischen beiden; und dann unterhielten sie sich viele
halbe Stunden hintereinander und tauschten alle Neuigkeiten aus, die
Herr Butterblume hören oder berichten wollte. Das meiste von dem, was
sie zu erzählen hatten, erregte bei ihrem Gastgeber schieres Staunen und
Bestürzung und ging weit über seine Vorstellungskraft hinaus; und er
äußerte wenig anderes als: »Was Ihr nicht sagt«, oft wiederholt, obwohl
Herr Butterblume es doch mit eigenen Ohren hörte. »Was Ihr nicht sagt,
Herr Beutlin; oder ist es Herr Unterberg? Ich komme ganz durcheinander.
Was Ihr nicht sagt, Herr Gandalf. Nein, so etwas! Wer hätte das gedacht
in unserer Zeit!«
Aber von sich aus sagte er nicht viel. Die Lage sei alles andere als gut,
meinte er zum Beispiel. Das Geschäft sei nicht einmal leidlich, es sei aus-
gesprochen schlecht. »Niemand kommt jetzt von draußen in die Nähe von
Bree«, sagte er. »Und die Leute drinnen bleiben meist zu Hause und hal-
ten ihre Türen verschlossen. Das kommt alles von diesen Fremden und
Herumtreibern, die seit dem letzten Jahr den Grünweg heraufgekommen
sind, wie Ihr Euch vielleicht erinnert; aber später kamen noch mehr.
Einige waren bloß arme Kerle, die vor den Unruhen davonliefen; aber die
meisten waren schlechte Menschen, Diebe und Störenfriede. Und wir hat-
ten sogar Unruhe hier in Bree, böse Unruhe. Einen regelrechten Kampf
gab es, und einige Leute wurden getötet, wirklich getötet! Wenn Ihr mir's
glauben wollt.«
»Das will ich fürwahr«, sagte Gandalf. »Wie viele?«
»Drei und zwei«, sagte Butterblume, womit er das große und das kleine
Volk meinte. »Da war der arme Malte Heidezehen; und Roland Affalter,
und der kleine Tom Stechdom von drüben überm Berg; und Willi Hang
von weiter oben, und einer der Unterberg aus Stadel: alles gute Burschen,
und sie fehlen uns. Und Heinrich Geißblatt, der früher am Westtor war,
und dieser Lutz Farning, die schlugen sich auf die Seite der Fremden, und
sie sind mit ihnen weggegangen; und ich glaube, sie haben sie hereinge-
lassen. An dem Abend der Schlacht, meine ich. Und das war, nachdem
wir ihnen gesagt hatten, wo das Tor ist, und sie rausgesetzt hatten: vor
dem Jahresende war es; und die Schlacht war Anfang des Neuen Jahres,
nachdem wir den schweren Schneefall hatten.
Und jetzt haben sie sich aufs Rauben verlegt und leben draußen, ver-
stecken sich in den Wäldern hinter Archet und in der Wildnis im Nor-
den. Es ist ein bißchen wie in den Geschichten aus der schlechten alten
Zeit, würde ich sagen. Es ist nicht mehr sicher auf den Straßen, und nie-
mand geht weit, und die Leute schließen früh zu. Rings um das Gehege
müssen wir Wachen aufstellen und die Tore nachts mit einer Menge Leute
besetzen.«
»Na, uns hat keiner belästigt«, sagte Pippin, »und wir kamen langsam
und stellten keine Wache auf. Wir dachten, wir hätten alle Schwierigkei-
ten hinter uns gelassen.«
»Ach, nein, das habt Ihr nicht, Herr, im Gegenteil«, sagte Butter-
blume. »Aber es ist kein Wunder, daß sie Euch in Frieden gelassen
haben. An bewaffnete Leute mit Schwertern und Helmen und Schilden
gehen sie nicht ran. Das überlegen sie sich zweimal. Und ich muß schon
sagen, ich war auch ein bißchen bestürzt, als ich Euch sah.«
Da wurden sich die Hobbits plötzlich darüber klar, daß die Leute sie
nicht so sehr deshalb verblüfft ansahen, weil sie über ihre Rückkehr ver-
wundert waren, sondern weil sie über ihre Ausrüstung staunten. Sie
selbst waren so an Krieg und das Reiten in wohlgeordneten Scharen ge-
wöhnt und hatten ganz vergessen, daß die unter ihren Mänteln hervor-
schauenden Panzer und die Helme von Gondor und der Mark und die
schönen Wappen auf ihren Schilden in ihrem eigenen Land befremdlich
erscheinen würden. Und auch Gandalf, der nun auf seinem prächtigen
grauen Roß ritt, ganz weiß gekleidet mit einem großen Umhang in Blau
und Silber überall und mit dem Langschwert Glamdring an seiner Seite.
Gandalf lachte. »Gut, gut«, sagte er, »wenn sie schon vor uns fünfen
Angst haben, dann haben wir auf unseren Fahrten schlimmere Feinde ge-
troffen. Aber jedenfalls werden sie Euch nachts in Ruhe lassen, solange
wir hier sind.«
»Wie lange wird das sein?« fragte Butterblume. »Ich will nicht leug-
nen, daß wir froh wären. Euch ein bißchen hier zu haben. Wir sind näm-
lich an solche Unruhen nicht gewöhnt, und die Waldläufer sind alle fort-
gegangen, wie mir die Leute erzählen. Ich glaube, wir haben bis jetzt
nicht richtig verstanden, was sie für uns getan haben. Denn es hat hier
noch Schlimmeres gegeben als Räuber. Im letzten Winter heulten Wölfe
rings um das Gehege. Und es sind dunkle Gestalten in den Wäldern, ent-
setzliche Geschöpfe, die einem das Blut erstarren lassen, wenn man bloß
an sie denkt. Es war sehr beunruhigend, wenn Ihr mich versteht.«
»Das kann ich mir denken«, sagte Gandalf. »Fast alle Lande sind in
diesen Tagen beunruhigt gewesen, sehr beunruhigt. Aber faßt Mut, Ger-
stenmann! Ihr wart an der Schwelle sehr großer Unannehmlichkeiten,
und ich bin wirklich froh zu hören, daß Ihr nicht tiefer drin wart. Aber
bessere Zeiten kommen. Vielleicht bessere, als Ihr je erlebt habt. Die
Waldläufer sind zurückgekehrt. Wir sind mit ihnen gekommen. Und es
gibt wieder einen König, Gerstenmann. Er wird seine Gedanken bald auf
diese Gegend richten.
Dann wird der Grünweg wieder geöffnet, und seine Boten werden nach
Norden reiten, es wird ein ständiges Kommen und Gehen geben, und die
bösen Geschöpfe werden aus den Ödlanden vertrieben werden. Die Ein-
öden werden mit der Zeit keine Einöden mehr sein, Leute werden dort
wohnen und Felder haben, wo einst Wildnis war.«
Herr Butterblume schüttelte den Kopf. »Wenn ein paar anständige, ehr-
bare Leute auf den Straßen sind, das wird nicht schaden«, sagte er. »Aber
wir wollen kein Gesindel und keine Strolche mehr. Und wir wollen keine
Außenseiter in Bree haben, oder überhaupt in der Nähe von Bree. Wir
wollen allein gelassen werden. Ich will nicht, daß eine ganze Horde von
Fremden hier lagert und sich dort ansiedelt und das wilde Land aufteilt.«
»Ihr werdet allein gelassen werden, Gerstenmann«, sagte Gandalf. »Es
können genug Siedlungen angelegt werden zwischen dem Isen und der
Grauflut und in den Uferlanden südlich des Brandywein, ohne daß
jemand näher an Bree wohnt als viele Tagesritte entfernt. Und viel Volk
lebte früher weit im Norden, hundert Meilen oder mehr von hier, am
Ende des Grünwegs: auf den Nordhöhen oder am See Evendim.«
»Oben am Totendeich?« sagte Gerstenmann und sah noch zweifelnder
drein. »Das ist ein Land, wo Gespenster umgehen, heißt es. Niemand
außer einem Räuber würde dort hingehen.«
»Die Waldläufer gehen dort hin«, sagte Gandalf. »Totendeich, sagt Ihr.
So ist es seit langen Jahren genannt worden; aber sein richtiger Name,
Gerstenmann, ist Fornost Erain, Königsnorburg. Und der König wird
eines Tages dort hinkommen; und dann werdet Ihr einige schöne Leute
durchreiten sehen.«
»Na, das klingt hoffnungsvoller, das gebe ich zu«, sagte Butterblume.
»Und es wird zweifellos gut fürs Geschäft sein. Solange er Bree in Frieden
läßt.«
»Das wird er«, sagte Gandalf. »Er kennt es und liebt es.«
»Wirklich?« sagte Butterblume ganz verdutzt. »Obwohl ich bestimmt
nicht weiß, warum er es lieben sollte, wenn er auf einem hohen Stuhl
sitzt in seinem großen Schloß, Hunderte von Meilen entfernt. Und aus
einem goldenen Becher Wein trinkt, das würde mich nicht wundem. Was
bedeutet ihm schon das Pony oder Bierkrüge? Nicht, daß mein Bier nicht
gut wäre, Gandalf. Es ist ungemein gut, seit Ihr im Herbst letzten Jahres
kamt und ein gutes Wort gesprochen habt. Und das war ein Trost bei all
dem Ärger, das muß ich schon sagen.«
»Ach«, sagte Sam. »Aber er sagt. Euer Bier sei immer gut.«
»Er sagt das?«
»Natürlich. Er ist Streicher. Der Anführer der Waldläufer. Will Euch
das denn gar nicht in den Kopf?«
Endlich begriff er es, und Butterblumes verblüfftes Gesicht war sehens-
wert. Die Augen in seinem breiten Gesicht wurden rund, sein Mund
stand weit offen, und er schnappte nach Luft. »Streicher!« rief er aus, als
er wieder bei Atem war. »Er mit einer Krone und alledem und einem gol-
denen Becher! Na, wo kommen wir denn hin?«
»Zu besseren Zeiten, jedenfalls für Bree«, sagte Gandalf.
»Das hoffe ich, bestimmt«, sagte Butterblume. »Na, das war der nette-
ste Schwatz, den ich seit undenklichen Zeiten gehabt habe. Und ich will
nicht leugnen, daß ich heute nacht besser schlafen werde und mit leichte-
rem Herzen. Ihr habt mir mächtig viel zu denken gegeben, aber das werde
ich bis morgen aufschieben. Ich bin bettreif und zweifle nicht, daß Ihr
auch gern zu Bett gehen werdet. He, Kunz!« rief er und ging zur Tür.
»Kunz, du Faultier I«
»Kunz!« sagte er zu sich selbst und schlug sich auf die Stirn. »Woran
erinnert mich denn das?«
»Nicht wieder an einen Brief, den Ihr vergessen habt, hoffe ich, Herr
Butterblume?« sagte Merry.
»Nun, nun, Herr Brandybock, erinnert mich nicht daran! Aber nun
habt Ihr meinen Gedanken unterbrochen. Wo war ich? Kunz, Ställe, ach,
ja, das war es. Ich habe etwas, das Euch gehört. Wenn Ihr Euch auf Lutz
Farning besinnt und den Pferdediebstahl: sein Pony, das Ihr ge-
kauft habt, das ist hier. Kam ganz von allein zurück. Aber wo es gewe-
sen war, wißt Ihr wohl besser als ich. Es war struppig wie ein alter Hund
und mager wie ein Kleiderhaken, aber es lebte. Kunz hat es versorgt.«
»Was, mein Lutz!« rief Sam. »Na, ich bin ein Glückskind, was immer
der Ohm sagen mag. Noch ein Wunsch, der in Erfüllung gegangen ist!
Wo ist er?« Sam wollte nicht ins Bett gehen, ehe er Lutz im Stall besucht
hatte.
Die Reisenden blieben den ganzen nächsten Tag in Bree, und Herr But-
terblume konnte sich am nächsten Abend jedenfalls nicht über das Ge-
schäft beklagen. Neugier besiegte alle Ängste, und sein Haus war bre-
chend voll. Aus Höflichkeit gingen die Hobbits am Abend für eine
Weile in die große Wirtsstube und beantworteten eine Menge Fragen.
Da man in Bree ein gutes Gedächtnis hatte, wurde Frodo mehrmals ge-
fragt, ob er sein Buch geschrieben habe.
»Noch nicht«, antwortete er. »Ich gehe jetzt nach Hause, um meine
Aufzeichnungen zu ordnen.« Er versprach, die erstaunlichen Ereignisse
in Bree zu erwähnen und damit sein Buch etwas reizvoller zu gestalten, das
vermutlich im wesentlichen die fernen und weniger wichtigen Angele-
genheiten »unten im Süden« behandeln würde.
Dann schlug einer der jüngeren Leute vor, es solle ein Lied gesungen
werden. Aber da trat Schweigen ein, und er wurde mit finsteren Blicken
bedacht, und der Wunsch wurde nicht wiederholt. Offenbar wollte man in
der Wirtsstube nicht noch einmal so unheimliche Dinge erleben.
Kein Verdruß bei Tage und kein Geräusch bei Nacht störte den Frieden
von Bree, solange die Reisenden dort blieben; aber am nächsten Morgen
standen sie früh auf, denn das Wetter war immer noch regnerisch, und sie
wollten das Auenland vor der Nacht erreichen, und es war immer noch
ein weiter Ritt. Das ganze Bree-Volk war draußen, um sie zu verabschie-
den, und war so fröhlicher Stimmung wie seit einem Jahr nicht mehr;
und diejenigen, die die Fremden noch nicht mit all ihren Waffen gesehen
hatten, starrten sie verwundert an: Gandalf mit seinem weißen Bart und
das Leuchten, das von ihm auszugehen schien, als ob sein blauer Umhang
nur eine Wolke über Sonnenschein sei. Und die vier Hobbits wie fahrende
Ritter aus fast vergessenen Sagen. Selbst jene, die über all das Gerede
vom König gelacht hatten, glaubten nun allmählich, es könne doch etwas
Wahres daran sein.
»Also viel Glück unterwegs und viel Glück bei der Heimkehr!« sagte
Herr Butterblume. »Ich hätte Euch warnen sollen, daß auch im Auenland
nicht alles gut ist, wenn es stimmt, was wir hören. Seltsame Dinge gehen
dort vor, heißt es. Aber eins verdrängt das andere, und ich war ganz er-
füllt von meinen eigenen Schwierigkeiten. Aber wenn ich so dreist sein
darf, es zu sagen. Ihr seid verändert von Eurer Fahrt zurückgekommen,
und Ihr seht jetzt aus wie Leute, die im Handumdrehen mit Schwierigkei-
ten fertig werden können. Ich zweifle nicht, daß Ihr bald alles wieder in
die Reihe bringt. Viel Glück! Und je öfter Ihr zurückkommt, um so er-
freuter werde ich sein.«
Sie sagten ihm Lebewohl und ritten davon durch das Westtor und dann
weiter dem Auenland entgegen. Lutz, das Pony, war bei ihnen und trug,
wie früher auch, ein gut Teil Gepäck, aber er trottete neben Sam her und
schien sehr zufrieden.
»Ich möchte mal wissen, worauf der alte Gerstenmann angespielt hat«,
sagte Frodo.
»Einiges davon kann ich mir denken«, sagte Sam düster. »Was ich in
dem Spiegel gesehen habe: abgeschlagene Bäume und das alles, und der
Ohm aus dem Beutelhaldenweg verjagt. Ich hätte mich auf dem Heimweg
mehr beeilen sollen.«
»Und irgend etwas stimmt offenbar mit dem Südviertel nicht«, sagte
Merry. »Überall ist Pfeifenkraut knapp.«
»Was immer es ist«, sagte Pippin, »Lotho wird dahinterstecken: darauf
könnt ihr euch verlassen.«
»Tief drinnen, aber nicht dahinter«, sagte Gandalf. »Ihr habt Saruman
vergessen. Er hat seine Aufmerksamkeit schon vor Mordor auf das
Auenland gerichtet.«
»Na, wir haben dich ja bei uns«, sagte Merry. »Also werden sich die
Dinge bald klären.«
»Jetzt bin ich bei euch«, sagte Gandalf, »aber bald nicht mehr. Ich
komme nicht mit ins Auenland. Ihr müßt eure Angelegenheiten selbst
regeln; dafür seid ihr geschult worden. Habt ihr es noch nicht begriffen?
Meine Zeit ist vorüber: es ist nicht länger meine Aufgabe, Dinge in Ord-
nung zu bringen oder den Leuten dabei zu helfen. Und was euch betrifft,
meine lieben Freunde, so werdet ihr keine Hilfe brauchen. Ihr seid jetzt
erwachsen; sehr stattlich geworden sogar; zu den Großen gehört ihr jetzt,
und um keinen von euch habe ich mehr Angst.
Aber wenn ihr es wissen wollt, ich biege bald ab. Ich will ein langes
Gespräch mit Bombadil führen; ein Gespräch, wie ich es all mein Lebtag
nicht hatte. Er ist ein Moos-Sammler, und ich war ein Stein, dessen
Schicksal das Rollen war. Aber meine rollenden Tage sind beendet, und
jetzt werden wir einander viel zu sagen haben.«
Nach einer kleinen Weile kamen sie zu der Stelle an der Oststraße, wo
sie von Bombadil Abschied genommen hatten; und sie hofften und er-
warteten halb, ihn dort stehen zu sehen, um sie im Vorbeigehen zu begrü-
ßen. Aber es war keine Spur von ihm zu sehen; und über den Hügelgrä-
bern im Süden hing ein grauer Nebel und über dem Alten Wald in der
Feme ein dichter Schleier.
Sie hielten an, und Frodo schaute sehnsüchtig nach Süden. »Ich würde
den Alten wirklich sehr gerne wiedersehen«, sagte er. »Ich möchte mal
wissen, wie es ihm geht.«
»So gut wie immer, da kannst du beruhigt sein«, sagte Gandalf. »Völ-
lig unberührt; und ich möchte annehmen, daß nichts von alledem, was
wir getan oder gesehen haben, ihn sehr beeindrucken würde, abgesehen
vielleicht von unseren Besuchen bei den Ents. Es mag sich später für euch
eine Gelegenheit ergeben, ihn zu sehen. Aber ich an eurer Stelle würde
mich jetzt eilen, sonst kommt ihr nicht zur Brandyweinbrücke, ehe die
Tore geschlossen werden.«
»Aber da sind gar keine Tore«, sagte Merry, »nicht auf der Straße; das
weißt du doch genau. Natürlich gibt es das Bocklandtor; aber mich lassen
sie jederzeit durch.«
»Da waren keine Tore, meinst du«, sagte Gandalf. »Ich glaube, jetzt
werdet ihr welche finden. Und vielleicht wirst du sogar am Bocklandtor
mehr Schwierigkeiten haben, als du glaubst. Aber ihr werdet es schon
schaffen. Lebt wohl, liebe Freunde! Nicht zum letzten Mal, noch nicht.
Auf Wiedersehen!«
Er lenkte Schattenfell von der Straße herunter, und das große Pferd
sprang über die grüne Böschung, die sie einfaßte; dann rief ihm Gandalf
etwas zu, und da fegte Schattenfell auf die Hügelgräberhöhen zu wie ein
Wind von Norden.
»So, da sind wir nun, eben wir vier, die wir zusammen aufbrachen«,
sagte Merry. »Alle anderen haben wir hinter uns gelassen, einen nach
dem anderen. Es scheint fast wie ein Traum zu sein, der langsam ver-
ging.«
»Für mich nicht«, sagte Frodo. »Mir ist eher, als schliefe ich wieder
ein.«

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