FÜNFTES KAPITEL
DER TRUCHSESS UND DER KÖNIG
Zweifel und große Furcht lasteten auf der Stadt von Gondor. Das
schöne Wetter und die klare Sonne erschienen den Menschen nur als ein
Hohn, denn ihre Tage waren wenig hoffnungsvoll, und jeden Morgen er-
warteten sie Unglücksbotschaften. Ihr Herr war tot und verbrannt, tot lag
der König von Rohan in ihrer Veste, und der neue König, der in der
Nacht zu ihnen gekommen war, war wieder in den Krieg gezogen gegen
Mächte, die zu dunkel und zu entsetzlich waren, als daß Kraft oder Tap-
ferkeit sie besiegen könnten. Und es kamen keine Nachrichten. Nachdem
das Heer das Morgultal verlassen und die Straße nach Norden unter dem
Schatten des Gebirges eingeschlagen hatte, war kein Bote gekommen und
kein Gerücht über das, was in dem Unheil ausbrütenden Osten geschah.
Als die Heerführer erst zwei Tage fort waren, bat Frau Éowyn die
Frauen, die sie pflegten, ihr ihre Kleider zu bringen, und sie ließ es sich
nicht ausreden, sondern stand auf; und als die Frauen sie angezogen und
ihren Arm in eine leinene Armschlinge gelegt hatten, ging sie zu dem
Vorsteher der Häuser der Heilung.
»Herr«, sagte sie, »ich bin in großer Unrast, und ich kann nicht länger
untätig liegen.«
»Herrin«, antwortete er, »Ihr seid nicht geheilt, und mir wurde befoh-
len, Euch mit besonderer Sorgfalt zu pflegen. Ihr hättet noch sieben Tage
Euer Bett nicht verlassen dürfen, so wurde mir geheißen. Ich bitte Euch,
wieder zurückzugehen.«
»Ich bin geheilt«, sagte sie, »zumindest körperlich geheilt, abgesehen
von meinem linken Arm, der ruhiggestellt ist. Aber ich werde hier von
neuem krank werden, wenn es nichts gibt, das ich tun kann. Sind keine
Nachrichten vom Krieg gekommen? Die Frauen können mir nichts
sagen.«
»Es sind keine Nachrichten gekommen«, sagte der Vorsteher, »außer
daß die Herren zum Morgultal geritten sind; und die Leute sagen, daß der
neue Heerführer aus dem Norden ihr Anführer ist. Ein großer Mann ist
er, und ein Heiler; und es kommt mir seltsam vor, daß die heilende Hand
auch das Schwert führen soll. So ist es heute nicht in Gondor, obwohl es
einst so war, wenn die alten Erzählungen die Wahrheit berichten. Aber
seit langen Jahren haben wir Heiler uns nur bemüht, die Schmisse zu flik-
ken, die die Männer des Schwertes geschlagen hatten. Obwohl wir immer
noch genug zu tun haben ohne sie: in der Welt gibt es genug Wunden
und Leid ohne Kriege, die sie vervielfältigen.«
»Es braucht nur einen Feind, um einen Krieg herbeizuführen, nicht
zwei, Herr Vorsteher«, antwortete Éowyn. »Und jene, die keine Schwerter
haben, können doch durch sie sterben. Möchtet Ihr, daß das Volk von
Gondor nur Kräuter sammelt, wenn der Dunkle Herrscher Heere sam-
melt? Es ist nicht immer gut, körperlich geheilt zu werden, und nicht immer
schlecht, in der Schlacht zu sterben, selbst in bitterer Qual. Wenn ich
dürfte, würde ich in dieser dunklen Stunde das letztere wählen.«
Der Vorsteher sah sie an. Aufrecht stand sie da, ihre Augen leuchte-
ten in ihrem bleichen Gesicht, ihre Hand ballte sich, als sie sich um-
wandte und aus dem Fenster starrte, das nach Osten ging. Er seufzte und
schüttelte den Kopf. Nach einer Pause drehte sie sich wieder um.
»Ist keine Tat zu vollbringen?« fragte sie. »Wer befiehlt in dieser
Stadt?«
»Ich weiß es nicht genau«, antwortete er. »Um solche Dinge kümmere
ich mich nicht. Da ist ein Marschall der Reiter von Rohan; und der Herr
Húrin hat, wie ich höre, den Befehl über die Mannen von Gondor. Aber
von Rechts wegen ist Herr Faramir der Truchseß der Stadt.«
»Wo kann ich ihn finden?«
»In diesem Hause, Herrin. Er war schwer verwundet, ist aber jetzt auf
dem Wege der Besserung. Doch weiß ich nicht...«
»Wollt Ihr mich zu ihm bringen? Dann werdet Ihr es wissen.«
Herr Faramir ging allein im Garten der Häuser der Heilung spazieren,
und das Sonnenlicht wärmte ihn, und er spürte neues Leben in seinen
Adern; doch das Herz war ihm schwer, und er blickte über die Wälle gen
Osten. Und als sie kamen, sprach der Vorsteher seinen Namen, und er
wandte sich um und sah Frau Éowyn von Rohan; und er wurde von Mit-
leid ergriffen, denn er sah, daß sie verwundet war, und sein scharfer
Blick erkannte ihren Kummer und ihre Unrast.
»Herr«, sagte der Vorsteher, »hier ist Frau Éowyn von Rohan. Sie ritt
mit dem König und wurde schwer verwundet und ist nun in meiner Ob-
hut. Aber sie ist nicht zufrieden und wünscht mit dem Truchseß der
Stadt zu sprechen.«
»Mißversteht ihn nicht, Herr«, sagte Éowyn. »Nicht mangelnde Pflege
bekümmert mich. Keine Häuser könnten schöner sein für jene, die Hei-
lung begehren. Aber ich kann nicht träge daliegen, untätig, eingesperrt.
Ich suchte den Tod in der Schlacht. Aber ich bin nicht gestorben, und die
Schlacht geht weiter.«
Auf ein Zeichen von Faramir verbeugte sich der Vorsteher und zog
sich zurück. »Was möchtet Ihr, daß ich tue, Herrin?« fragte Faramir.
»Auch ich bin ein Gefangener der Heiler.« Er schaute sie an, und da er
ein Mann war, den Jammer zutiefst rührte, schien es ihm, daß ihre Schön-
heit bei all ihrem Kummer ihm das Herz durchbohrte. Und sie blickte ihn
an und sah die ernste Weichheit in seinem Blick und wußte dennoch,
denn sie war unter Kriegern aufgewachsen, daß hier einer war, den kein
Reiter der Mark in der Schlacht übertreffen würde.
»Was wünscht Ihr?« fragte er noch einmal. »Wenn es in meiner Macht
liegt, will ich es tun.«
»Ich wollte. Ihr würdet diesem Vorsteher befehlen, mich gehen zu las-
sen«, sagte sie. Aber obwohl ihre Worte noch stolz klangen, wurde ihr
Herz unsicher, und zum ersten Mal zweifelte sie an sich selbst. Sie
glaubte, dieser kühne Mann, der streng und zugleich gütig war, könne
sie für launisch halten, wie ein Kind, das nicht beharrlich genug ist, um
eine langweilige Aufgabe zu Ende zu führen.
»Ich selbst bin in der Obhut des Vorstehers«, antwortete Faramir.
»Auch habe ich mein Amt in der Stadt noch nicht übernommen. Doch
hätte ich es getan, so würde ich immer noch auf seinen Rat hören und
mich in Fragen seiner Heilkunst seinem Wunsch nicht widersetzen, es sei
denn in einer Notlage.«
»Aber ich möchte nicht geheilt werden«, sagte sie. »Ich will in den
Krieg reiten wie mein Bruder Eomer, oder besser wie König Théoden,
denn er starb und hat nun Ehre und Frieden.«
»Es ist zu spät, Herrin, den Heerführern zu folgen, selbst wenn Ihr die
Kraft hättet«, sagte Faramir. »Doch der Tod in der Schlacht mag uns alle
noch ereilen, ob wir wollen oder nicht. Ihr werdet besser darauf vorberei-
tet sein, ihm auf Eure Weise ins Angesicht zu sehen, wenn Ihr tut, was
die Heiler befahlen, solange noch Zeit ist. Ihr und ich, wir müssen die
Stunden des Wartens in Geduld ertragen.«
Sie antwortete nicht, aber als er sie anschaute, schien ihm, daß etwas in
ihr weich wurde, als ob ein bitterer Frost von der ersten schwachen Vor-
ahnung des Frühlings zurückwich. Eine Träne trat in ihr Auge und rann
ihr über die Wange wie ein schimmernder Regentropfen. Ihr stolzer Kopf
senkte sich ein wenig. Dann leise, als ob sie mehr zu sich als zu ihm sprä-
che: »Aber die Heiler wollen, daß ich noch sieben Tage im Bett liege«,
sagte sie. »Und mein Fenster geht nicht nach Osten.« Ihre Stimme war
jetzt die eines jungen und traurigen Mädchens.
Faramir lächelte, obwohl sein Herz von Mitleid erfüllt war. »Euer Fen-
ster geht nicht nach Osten?« sagte er. »Das kann geändert werden. Dar-
über werde ich dem Vorsteher einen Befehl erteilen. Wenn Ihr in diesem
Haus bleibt in unserer Pflege, Herrin, und Euch ausruht, dann sollt Ihr in
diesem Garten in der Sonne Spazierengehen,. wenn Ihr mögt; und Ihr sollt
nach Osten schauen, wohin all Eure Hoffnungen gegangen sind. Und hier
werdet Ihr mich finden, und ich werde auch Spazierengehen und warten
und nach Osten schauen. Es würde meine Sorgen erleichtern, wenn Ihr
mit mir reden oder zuweilen mit mir Spazierengehen wolltet.«
Da hob sie den Kopf und blickte ihm wieder in die Augen; und ihr
bleiches Gesicht rötete sich. »Wie könnte ich Eure Sorgen erleichtern,
Herr?« fragte sie. »Und ich begehre kein Gespräch mit lebenden Men-
schen.«
»Möchtet Ihr eine offene Antwort von mir haben?« fragte er.
»Ja, das möchte ich.«
»Dann, Éowyn von Rohan, sage ich Euch, daß Ihr schön seid. In den
Tälern unserer Berge gibt es schöne und leuchtende Blumen und noch
schönere Maiden; doch weder Blume noch Maid habe ich bis jetzt in Gon-
dor gesehen, die so lieblich und so traurig war. Es mag sein, daß nur noch
wenige Tage bleiben, bis sich die Dunkelheit auf unsere Welt senkt, und
wenn sie kommt, hoffe ich ihr standhaft ins Auge zu sehen; doch würde
es mein Herz erleichtern, wenn ich Euch sehen könnte, solange die Sonne
scheint. Denn Ihr und ich, wir beide sind unter die Schwingen des Schat-
tens geraten und dieselbe Hand zog uns zurück.«
»Ach, mich nicht, Herr«, sagte sie. »Auf mir liegt der Schatten noch.
Erwartet nicht Heilung von mir! Ich bin eine Schildmaid, und meine
Hand ist unsanft. Doch danke ich Euch zumindest dafür, daß ich nicht in
meiner Kammer zu bleiben brauche. Ich werde draußen spazierengehen
dank der Güte des Truchsessen der Stadt.« Und sie verneigte sich vor ihm
und ging zurück zum Haus. Aber lange Zeit erging sich Faramir noch
allein im Garten, und sein Blick wanderte jetzt eher zum Haus als zu den
östlichen Wällen.
Als er in seine Kammer zurückkam, rief er nach dem Vorsteher und
hörte sich alles an, was er ihm von der Herrin von Rohan berichten
konnte.
»Doch ich zweifle nicht, Herr«, sagte der Vorsteher, »daß Ihr von dem
Halbling mehr erfahren würdet, der bei uns ist; denn er ritt mit dem
König und war bis zuletzt bei der Herrin, heißt es.«
Und so wurde Merry zu Faramir geschickt, und solange der Tag
währte, sprachen sie miteinander, und Faramir erfuhr viel, sogar mehr,
als Merry in Worten ausdrückte; und er glaubte, daß er jetzt einiges von
dem Kummer und der Unrast von Éowyn von Rohan verstand. Und an
dem schönen Abend gingen Faramir und Merry im Garten spazieren,
aber sie kam nicht.
Doch am Morgen, als Faramir aus dem Haus trat, sah er sie auf den
Wällen stehen; und sie war ganz in Weiß gekleidet und schimmerte in
der Sonne. Und er rief sie, und sie kam herab, und sie gingen über das
Gras oder saßen zusammen unter einem grünen Baum, bald schweigend,
bald im Gespräch. Und jeden Tag danach machten sie es genauso. Und
der Vorsteher, der sie vom Fenster aus sah, war froh in seinem Herzen,
denn er war ein Heiler, und seine Sorge war erleichtert; und so schwer die
Angst und die Vorahnung jener Tage auf den Herzen der Menschen
lastete, so gewiß war es, daß diese beiden unter seinen Pflegebefohlenen
gesundeten und täglich kräftiger wurden.
Und so kam der fünfte Tag, seit Frau Éowyn zum erstenmal zu Faramir
gegangen war; und jetzt standen sie wieder einmal auf den Wällen der
Stadt und schauten hinaus. Keine Nachricht war gekommen, und alle
Herzen waren verdüstert. Auch das Wetter war nicht länger schön. Es
war kalt. Ein Wind war in der Nacht aufgekommen und wehte heftig von
Norden, und er nahm noch zu; die Lande sahen grau und trostlos aus.
Sie waren warm angezogen und hatten dicke Mäntel an, und darüber
trug Frau Éowyn einen Umhang in der Farbe einer tiefen Sommernacht,
und am Saum und um den Hals war er mit silbernen Sternen besetzt.
Faramir hatte nach diesem Gewand geschickt und sie darin eingehüllt;
und er fand, daß sie wahrlich schön und königlich aussah, wie sie da an
seiner Seite stand. Der Umhang war für seine Mutter gearbeitet worden,
Finduilas vor. Amroth, die frühzeitig gestorben und für ihn nur eine Er-
innerung war an Lieblichkeit in fernen Tagen und an seinen ersten Kum-
mer; und ihr Gewand erschien ihm als eine Kleidung, die Éowyns Schön-
heit und Traurigkeit angemessen war.
Doch sie erschauerte jetzt unter dem gestirnten Umhang, und sie
blickte nach Norden, über die grauen diesseitigen Lande in das Auge des
kalten Windes, wo in weiter Ferner der Himmel hart und klar war.
»Wonach schaut Ihr, Éowyn?« fragte Faramir.
»Liegt nicht das Schwarze Tor dort drüben?« sagte sie. »Und muß er
dort nicht hinkommen? Es sind sieben Tage, seit er von dannen ritt.«
»Sieben Tage«, sagte Faramir. »Aber denkt nicht schlecht von mir,
wenn ich zu Euch sage: sie haben mir sowohl eine Freude als auch eine
Qual gebracht, die ich niemals zu erleben geglaubt hatte. Freude, Euch zu
sehen; aber Qual, weil jetzt die Angst und der Zweifel dieser bösen Zeit
wahrlich düster geworden sind. Éowyn, ich möchte nicht haben, daß diese
Welt jetzt endet oder ich so bald verliere, was ich gefunden habe.«
»Verlieren, was Ihr gefunden habt, Herr?« antwortete sie; aber sie sah
ihn ernst an, und ihre Augen waren gütig. »Ich weiß nicht, was
Ihr in diesen Tagen gefunden habt, das Ihr verlieren könntet. Doch
kommt, mein Freund, laßt uns nicht davon sprechen. Laßt uns überhaupt
nicht sprechen! Ich stehe an irgendeinem entsetzlichen Rand, und in dem
Abgrund vor meinen Füßen ist es völlig dunkel, aber ob hinter mir Licht
ist, kann ich nicht sagen. Denn ich kann mich noch nicht umwenden. Ich
warte auf irgendeinen Schicksalsschlag.«
»Ja, wir warten auf den Schicksalsschlag«, sagte Faramir. Und sie spra-
chen nicht mehr; und es schien ihnen, als sie auf dem Wall standen, daß
der Wind sich legte und das Licht schwächer und die Sonne trübe wurde
und alle Geräusche in der Stadt und in den Landen erstarben: weder
Wind noch Stimme, weder Vogelruf noch Blätterrauschen waren zu
hören; selbst das Schlagen ihrer Herzen hörte auf. Die Zeit stand still.
Und als sie so dastanden, berührten sich ihre Hände und umschlossen
einander, ohne daß sie es wußten. Und immer noch warteten sie und
wußten nicht, worauf. Dann plötzlich schien es ihnen, daß über den Gra-
ten des fernen Gebirges noch ein dunkles Gebirge aufstieg und sich auf-
türmte wie eine Woge, die die Welt überfluten wollte, und darüber flak-
kerten Blitze; und dann lief ein Beben durch die Erde, und sie spürten,
wie die Wälle der Stadt erzitterten. Ein Geräusch wie ein Seufzer stieg
ringsum von allen Landen auf; und ihre Herzen schlugen plötzlich wie-
der.
»Es erinnert mich an Númenor«, sagte Faramir und wunderte sich
selbst, als er sich sprechen hörte.
»An Númenor?« fragte Éowyn.
»Ja«, sagte Faramir, »an das Land Westernis, das unterging, und an die
große dunkle Woge, die über die grünen Lande stieg und über die Berge
und weiterzog, unentrinnbare Dunkelheit. Ich träume oft davon.«
»Dann glaubt Ihr, daß die Dunkelheit kommt?« fragte Éowyn. »Unent-
rinnbare Dunkelheit?« Und plötzlich schmiegte sie sich an ihn.
»Nein«, sagte Faramir und sah ihr ins Gesicht. »Es war nur ein Bild im
Geist. Ich weiß nicht, was sich ereignet. Die Vernunft meines wachen
Sinns sagt mir, daß großes Unheil geschehen ist und wir am Ende der
Tage stehen. Aber mein Herz sagt nein; und alle meine Glieder sind un-
beschwert, und eine Hoffnung und Freude erfüllen mich, die keine Ver-
nunft widerlegen kann. Éowyn, Éowyn, Weiße Herrin von Rohan, in die-
ser Stunde glaube ich nicht, daß irgendeine Dunkelheit andauern wird.«
Und er beugte sich herab und küßte sie auf die Stirn.
Und so standen sie auf den Wällen der Stadt von Gondor, und ein star-
ker Wind erhob sich und wehte, und ihre Haare, rabenschwarz und gol-
den, flatterten und vermengten sich in der Luft. Und der Schatten ver-
schwand, und die Sonne wurde entschleiert und das Licht brach hervor;
und das Wasser des Anduin schimmerte wie Silber, und in allen Häusern
der Stadt sangen die Menschen vor Freude, und aus welcher Quelle sie
sich in ihre Herzen ergoß, konnten sie nicht sagen.
Und ehe die Sonne den Mittagspunkt weit überschritten hatte, kam aus
dem Osten ein großer Adler geflogen, und er brachte Nachrichten von
den Herren des Westens, die alle Hoffnungen überstiegen und er rief:
Singe nun, Volk des Turmes von Anor,
Zu Ende für immer ist Saurons Herrschaft,
Darnieder liegt der Dunkle Turm.
Sing und frohlocke, du Volk vom Turme der Wacht,
Nicht vergeblich habt ihr gewacht!
Das Schwarze Tor ist zerbrochen,
Euer König hat es durchschritten,
Er ist siegreich.
Singet und freut euch, ihr Kinder des Westens,
Euch kehrt der König zurück,
Unter euch wird er weilen
Zeit eures Lebens!
Der Baum, der verdorrte, wird wieder neu,
An hohem Ort wird pflanzen ihn der König,
Segen wird ruhen auf der Stadt.
Und das Volk sang in allen Straßen der Stadt.
Die Tage, die folgten, waren golden, und Frühling und Sommer verein-
ten sich und ergötzten sich auf den Feldern von Gondor. Und jetzt brach-
ten schnelle Reiter von Cair Andres Nachrichten über alles, was gesche-
hen war, und die Stadt machte sich bereit für die Ankunft des Königs.
Merry wurde zum König gerufen, und er fuhr mit den Wagen, die Vor-
räte nach Osgiliath brachten, und von dort zu Schiff nach Cair Andres;
aber Faramir ging nicht, denn nun, da er geheilt war, hatte er sein Amt
als Truchseß übernommen, wenngleich nur für kurze Zeit, und seine
Aufgabe war es, alles vorzubereiten für einen, der ihn ersetzen sollte.
Und Éowyn ging nicht, obwohl ihr Bruder Botschaft geschickt und sie
gebeten hatte, zum Feld von Cormallen zu kommen. Und Faramir wun-
derte sich darüber, aber er sah sie selten, da er mit vielerlei Dingen be-
schäftigt war; und sie wohnte noch in den Häusern der Heilung und ging
allein im Garten spazieren, und ihr Gesicht wurde wieder bleich, und es
schien, daß in der ganzen Stadt sie allein leidend und kummervoll war.
Und der Vorsteher der Häuser war besorgt und sprach mit Faramir.
Da kam Faramir und suchte sie, und wiederum standen sie zusammen
auf den Wällen; und er sagte zu ihr: »Éowyn, warum verweilt Ihr hier
und geht nicht zu dem Freudenfest in Cormallen jenseits von Cair An-
dros, wo Euer Bruder Euch erwartet?«
Und sie sagte: »Wißt Ihr das nicht?«
Aber er antwortete: »Zwei Gründe mag es geben, aber welcher der
richtige ist, weiß ich nicht.«
Und sie sagte: »Ich will keine Rätsel raten. Sprecht deutlicher.«
»Wenn Ihr es wünscht, Herrin«, sagte er. »Ihr geht nicht, weil nur
Euer Bruder Euch rief, und es Euch jetzt keine Freude bereiten würde,
Herrn Aragorn, Elendils Erben, in seiner Siegerehre zu sehen. Oder weil
ich nicht gehe und Ihr mir noch nahe sein wollt. Und vielleicht aus bei-
den Gründen, und Ihr selbst vermögt Euch nicht zu entscheiden. Éowyn,
liebt Ihr mich nicht oder werdet Ihr mich nicht lieben?«
»Ich wünschte, von einem anderen geliebt zu werden« , antwortete sie,
»und ich will keines Mannes Mitleid.«
»Das weiß ich«, sagte er. »Ihr wünschtet von Herrn Aragorn geliebt
zu werden. Weil er edel und mächtig ist und Ihr nach Ruhm und Glanz
trachtetet und über die gemeinen Wesen, die auf der Erde kriechen, weit
erhaben sein wolltet. Und wie ein großer Hauptmann einem jungen Krie-
ger, so erschien er Euch bewundernswert. Und das ist er auch, ein Herr
unter den Menschen, der größte, den es jetzt gibt. Aber als er nur Ver-
ständnis und Mitleid für Euch hatte, da wolltet Ihr lieber gar nichts
haben, es sei denn einen tapferen Tod in der Schlacht. Schaut mich an,
Éowyn!«
Und Éowyn sah Faramir lange und unverwandt an; und Faramir sagte:
»Verachtet Mitleid nicht, das die Gabe eines gütigen Herzens ist, Éowyn!
Aber ich biete Euch nicht mein Mitleid an. Denn Ihr seid eine edle Frau
und eine tapfere Frau und habt Ruhm errungen, der nicht vergessen wer-
den soll; und Ihr seid eine so schöne Frau, finde ich, daß selbst Worte in
der Elbensprache es nicht auszudrücken vermögen. Und ich liebe Euch.
Einstmals hatte ich Mitleid mit Eurem Kummer. Doch jetzt, wäret Ihr
auch sorgenlos und ohne Furcht und würde es Euch an nichts mangeln,
wäret Ihr die glückliche Königin von Gondor, ich würde Euch dennoch
lieben. Éowyn, liebt Ihr mich nicht?«
Da wandelte sich Éowyns Herz, oder sie verstand es endlich. Und
plötzlich verging ihr Winter, und die Sonne beschien sie.
»Ich stehe in Minas Anor, auf dem Turm der Sonne«, sagte sie, »und
siehe! Der Schatten ist dahingegangen! Ich will nicht länger eine Schild-
maid sein oder mit den großen Reitern wetteifern und mich nicht nur an
den Gesängen des Mordens erfreuen. Ich will ein Heiler sein und alles lie-
ben, was wächst und nicht unfruchtbar ist.« Und wieder schaute sie Fara-
mir an. »Nicht länger wünsche ich eine Königin zu sein«, sagte sie.
Da lachte Faramir fröhlich. »Das ist gut«, sagte er, »denn ich bin kein
König. Dennoch will ich die Weiße Herrin von Rohan ehelichen, wenn es
ihr Wille ist. Und wenn sie will, dann laßt uns den Fluß überqueren und
in glücklicheren Tagen im schönen Ithilien wohnen und dort einen Garten
anlegen. Alles wird da voll Freude wachsen, wenn die Weiße Herrin
kommt.«
»Dann muß ich mein eigenes Volk verlassen, Mann von Gondor?«
fragte sie. »Und möchtet Ihr, daß Euer stolzes Volk von Euch sagt: >Da
geht ein Ritter, der eine wilde Schildmaid aus dem Norden zähmte! Gab
es keine Frau aus dem Geschlecht von Númenor, die er erkiesen
konnte?<«
»Das möchte ich«, sagte Faramir. Und er nahm sie in die Arme und
küßte sie unter dem sonnigen Himmel, und es kümmerte ihn nicht, daß
sie hoch oben auf den Wällen standen und für viele sichtbar waren. Und
tatsächlich sahen viele sie und das Licht, das um sie schien, als sie Hand
in Hand von den Wällen herab zu den Häusern der Heilung gingen.
Und zu dem Vorsteher der Häuser sagte Faramir: »Hier ist Frau Éowyn
von Rohan, und jetzt ist sie geheilt.«
Und der Vorsteher sagte: »Dann entlasse ich sie aus meiner Obhut und
sage ihr Lebewohl, und möge sie nie wieder Verletzungen oder Krankhei-
ten erleiden. Ich übergebe sie der Obhut des Truchsessen der Stadt, bis ihr
Bruder zurückkehrt.«
Aber Éowyn sagte: »Nun, da ich Erlaubnis habe zu gehen, möchte ich
bleiben. Denn dieses Haus ist für mich von allen Behausungen die glück-
lichste geworden.« Und sie blieb dort, bis König Eomer kam.
Alles wurde nun in der Stadt bereitgemacht; und es strömte viel Volk
zusammen, denn die Nachricht hatte sich in allen Teilen Gondors verbrei-
tet, von Min-Rimmon bis nach Pinnath Gelin und zu den fernen Meeres-
küsten, und alle, die in die Stadt kommen konnten, eilten sich, zu kom-
men. Und die Stadt war wieder voll von Frauen und schönen Kindern,
die, mit Blumen beladen, in ihre Heime zurückgekehrt waren; und aus
Dol Amroth kamen die Harfner, die im ganzen Land am kunstvollsten
harrten; und es waren Leute da, die Fiedel spielten und auf Flöten und sil-
bernen Hörnern bliesen, und Sänger aus den Tälern des Lebennin.
Schließlich kam ein Abend, da konnte man von den Wällen die Zelte
auf dem Felde sehen, und die ganze Nacht brannten Lichter, denn die
Männer warteten auf die Morgendämmerung. Und als die Sonne an dem
klaren Morgen über dem Gebirge im Osten aufging, auf dem kein Schat-
ten mehr lag, da läuteten alle Glocken, alle Banner entrollten sich und
flatterten im Wind; auf dem Weißen Turm der Veste wurde die Standarte
der Truchsessen, silbern wie Schnee in der Sonne, die kein Wappen und
keinen Wahlspruch trug, zum letzten Mal über Gondor aufgezogen.
Nun führten die Heerführer des Westens ihre Heere zur Stadt, und das
Volk sah sie herankommen, Reihe um Reihe, blitzend und schimmernd im
Sonnenaufgang und wie silberne Wellen wogend. Und so kamen sie zum
Torweg und hielten eine Achtelmeile vor den Mauern an. Bis jetzt waren
noch nicht wieder Tore eingesetzt, sondern nur ein Schlagbaum über den
Eingang zur Stadt gelegt worden, und dort standen Krieger in Silber und
Schwarz mit gezogenen Langschwertern. Vor dem Schlagbaum standen
Faramir, der Truchseß, und Húrin, der Verwahrer der Schlüssel, und die
anderen Hauptleute von Gondor und Frau Éowyn von Rohan mit Elfhelm
dem Marschall und vielen Rittern der Mark; und auf beiden Seiten des
Tors stand eine dichte Menge schönen Volkes in vielfarbigen Gewändern
und mit Blumengewinden.
So war nun ein großer Platz vor den Mauern von Minas Tirith freige-
blieben, und auf allen Seiten war er gesäumt von den Rittern und Krie-
gern von Gondor und Rohan und von dem Volk der Stadt und aus allen
Teilen des Landes. Stille senkte sich auf alle, als aus dem Heer die Düne-
dain in Silber und Grau vortraten; und vor ihnen ging mit langsamen
Schritten Herr Aragorn. Er trug einen schwarzen Panzer, mit Silber gegür-
tet, und einen langen Umhang aus reinem Weiß, und am Hals wurde er
von einem großen grünen Edelstein zusammengehalten, der von weither
leuchtete; doch sein Kopf war unbedeckt bis auf einen Stern auf seiner
Stirn an einem schmalen Silberreif. Mit ihm kamen Eomer von Rohan
und der Fürst Imrahil und Gandalf, ganz in Weiß gekleidet, und vier
kleine Gestalten, über die viele Menschen staunten.
»Nein, Base, das sind keine Knaben«, sagte Ioreth zu ihrer Verwandten
aus Imloth Melui, die neben ihr stand. »Es sind Periannath aus dem fer-
nen Land der Halblinge, wo sie Fürsten von großem Ruhm sind, wie es
heißt. Ich sollte es wissen, denn ich hatte einen in den Häusern zu pfle-
gen. Sie sind klein, aber sehr tapfer. Ja, Base, einer von ihnen ging mit
nur seinem Knappen in das Schwarze Land und kämpfte ganz allein mit
dem Dunklen Herrscher und steckte seinen Turm in Brand, wenn du dir
das vorstellen kannst. Wenigstens wird das in der Stadt erzählt. Das wird
der sein, der neben unserem Elbenstein geht. Sie sind gute Freunde, wie
ich höre. Nun, er ist wirklich wunderbar, der Herr Elbenstein: nicht sehr
sanft in seiner Ausdrucksweise, weißt du, aber er hat ein goldenes Herz,
wie man so sagt; und er hat die heilenden Hände. >Die Hände des Königs
sind die Hände eines Heilers<, sagte ich; und so ist alles entdeckt worden.
Und Mithrandir sagte zu mir: >Ioreth, lange werden sich die Menschen
Eurer Worte erinnern<, und ...«
Aber Ioreth konnte in der Unterrichtung ihrer Verwandten vom Lande
nicht fortfahren, denn eine einzige Trompete erschallte, und eine Toten-
stille trat ein. Dann schritt Faramir mit Húrin von den Schlüsseln, aber
sonst keinem, voran, nur hinter ihnen gingen vier Mannen mit den
hohen Helmen und der Rüstung der Veste, und sie trugen eine kleine
Truhe aus schwarzem lebethron, mit Silber beschlagen.
Faramir traf Aragorn in der Mitte derjenigen, die versammelt waren,
und er kniete nieder und sagte: »Der letzte Truchseß von Gondor bittet
um Erlaubnis, sein Amt zu übergeben.« Und er hielt einen weißen Stab
hoch; aber Aragorn nahm den Stab und gab ihn ihm zurück und sagte:
»Das Amt ist nicht beendet, und es soll deines und deiner Erben sein,
solange mein Haus besteht. Walte nun deines Amtes!«
Da stand Faramir auf und sprach mit heller Stimme: »Menschen von
Gondor, hört jetzt den Truchseß dieses Reiches! Sehet! einer ist gekom-
men und erhebt wieder Anspruch auf die Königswürde. Hier ist Ara-
gom, Arathoms Sohn, Stammeshaupt der Dúnedain von Amor, Heer-
führer des Westens, Träger des Sterns des Nordens und des neu geschmie-
deten Schwerts, siegreich in der Schlacht, dessen Hände Heilung bringen,
der Elbenstein, Elessar aus dem Hause Valandils, Isildurs Sohn, Elendils
Sohn von Númenor. Soll er König sein und die Stadt betreten und hier
wohnen?«
Und das ganze Heer und alles Volk rief einstimmig Ja.
Und Ioreth sagte zu ihrer Verwandten: »Das ist nur eine Feierlichkeit,
wie wir sie in der Stadt haben, Base. Denn er hat die Stadt schon betreten,
wie ich dir erzählte; und er sagte zu mir ...« Und dann mußte sie von
neuem still sein, denn Faramir sprach wieder.
»Menschen von Gondor, die Gelehrten sagen, seit alters her sei es Sitte
gewesen, daß der König die Krone von seinem Vater erhielt, ehe er starb;
oder wenn das nicht sein kann, sollte er allein gehen und sie aus den
Händen seines Vaters nehmen in der Gruft, wo er lag. Aber da es nun
anders geschehen muß, habe ich kraft meiner Befugnis als Truchseß heute
von Rath Dínen die Krone von Eärnur, dem letzten König, hierher
gebracht, dessen Tage in der Zeit unserer Vorväter von einst endeten.«
Dann traten die Wachen vor, und Faramir öffnete die Truhe und hielt
eine altertümliche Krone hoch. Sie war geformt wie die Helme der Wache
der Veste, nur war sie höher und ganz weiß, und die Flügel zu beiden Sei-
ten waren aus Perlen und Silber gearbeitet und sahen aus wie Schwingen
eines Seevogels, denn die Krone war das Wahrzeichen der Könige, die
über das Meer gekommen waren; und sieben Edelsteine aus Adamant
waren in den Stirnreif gefaßt, und auf dem Scheitel saß ein einziger Edel-
stein, der wie eine Flamme loderte.
Dann nahm Aragorn die Krone und hielt sie hoch und sagte:
Et Eärello Endorenna utúlien. Sinome maruvan ar Hildinyar tenn'
Ambar-metta!
Und das waren die Worte, die Elendil gesprochen hatte, als er auf den
Flügeln des Windes aus dem Meer heraufkam: »Aus dem Großen Meer
bin ich nach Mittelerde gekommen. An diesem Ort will ich bleiben und
meine Erben bis zum Ende der Welt.«
Zur Verwunderung von vielen setzte sich Aragorn die Krone dann
nicht aufs Haupt, sondern gab sie Faramir zurück und sagte: »Durch die
Mühen und die Tapferkeit vieler bin ich zu meinem Erbe gekommen. Als
ein Zeichen dafür möchte ich, daß mir der Ringträger die Krone bringt
und Mithrandir sie mir aufs Haupt setzt, wenn er will. Denn er ist die
Triebkraft bei allem gewesen, was erreicht wurde, und dies ist sein Sieg.«
Dann trat Frodo vor und nahm von Faramir die Krone und brachte sie
Gandalf; und Aragorn kniete nieder, und Gandalf setzte ihm die Weiße
Krone aufs Haupt und sagte:
»Nun kommen die Tage des Königs und mögen sie glückselig sein,
solange die Throne der Valar bestehen!«
Doch als Aragorn aufstand, starrten ihn alle, die ihn sahen, stumm an,
denn es schien ihnen, daß sie ihn jetzt zum ersten Mal erblickten. Groß
wie die See-Könige von einst, überragte er alle, die um ihn standen.
Hochbetagt erschien er, und doch in der Blüte der Manneskraft; und
Weisheit lag auf seiner Stirn, und Kraft und Heilung waren in seinen
Händen, und ein Licht war um ihn. Und dann rief Faramir:
»Sehet den König!«
Und in diesem Augenblick wurden alle Trompeten geblasen, und
König Elessar schritt voran und kam zu dem Schlagbaum, und Hürin von
den Schlüsseln stieß ihn auf; und begleitet von der Musik von Harfen
und Fiedeln und Flöten und vom Gesang heller Stimmen schritt der König
durch die blumengeschmückten Straßen und kam zur Veste und betrat
sie; und das Banner des Baums und der Sterne wurde am höchsten Turm
aufgezogen, und die Herrschaft von König Elessar begann, von der viele
Lieder berichtet haben.
In seiner Zeit wurde die Stadt schöner gemacht, als sie je gewesen war,
selbst in den Tagen ihrer ersten Blüte; und sie erhielt eine Fülle von Bäu-
men und Springbrunnen, und ihre Tore wurden aus Mithril und Stahl ge-
schmiedet und die Straßen mit weißem Marmor gepflastert; und das Volk
des Berges arbeitete hier, und das Volk des Waldes freute sich herzukom-
men; und alles wurde heil und gut gemacht, und die Häuser wurden mit
Männern und Frauen und dem Lachen von Kindern gefüllt, und kein Fen-
ster war öde und kein Hof verlassen; und nach dem Ende des Dritten
Zeitalters der Welt bewahrte die Stadt bis in das neue Zeitalter hinein
die Erinnerung und den Glanz der Jahre, die vergangen waren.
In den Tagen nach seiner Krönung saß der König auf seinem Thron in
der Halle der Könige und sprach Recht. Und Gesandtschaften kamen aus
vielen Landen und aus vielen Völkern, aus dem Osten und dem Süden
und von den Grenzen des Düsterwald, und aus Dunland im Westen. Und
der König verzieh den Ostlingen, die sich ergeben hatten, und entließ sie
als Freie; und er schloß Frieden mit den Völkern von Harad; und die
Sklaven von Mordor ließ er frei und alle Lande ums Númen-Meer gab er
ihnen zu eigen. Und viele wurden zu ihm gebracht, um Lob und Beloh-
nung für ihre Tapferkeit zu erhalten; und zuletzt brachte der Hauptmann
der Wache Beregond zu ihm, damit das Urteil über ihn gesprochen werde.
Und der König sagte zu Beregond: »Beregond, durch dein Schwert
wurde Blut vergossen an den Weihestätten, was verboten ist. Auch hast
du ohne Erlaubnis des Herrn oder Hauptmanns deinen Posten verlassen.
Einstmals wurden solche Vergehen mit dem Tode bestraft. Daher muß ich
nun dein Urteil sprechen.
Jede Bestrafung entfällt in Anbetracht deiner Tapferkeit in der
Schlacht und vor allem, weil alles, was du getan hast, aus Liebe zu Herrn
Faramir geschah. Dennoch mußt du aus der Wache der Veste ausscheiden
und die Stadt Minas Tirith verlassen.«
Da wich alles Blut aus Beregonds Gesicht, und er war ins Herz getrof-
fen und senkte den Kopf. Doch der König sagte:
»So muß es sein, denn du bist der Weißen Schar zugeteilt, der Wache
von Faramir, des Fürsten von Ithilien, und du sollst ihr Hauptmann sein
und in Ehren und Frieden in Emyn Arnen wohnen und im Dienste dessen
stehen, für den du alles gewagt hast, um ihn vor dem Tode zu retten.«
Und da erkannte Beregond die Gnade und Gerechtigkeit des Königs
und war froh, und er kniete nieder und küßte seine Hand und ging freu-
dig und zufrieden von dannen. Und Aragorn gab Faramir Ithilien als
sein Fürstentum und bat ihn, in den Bergen des Emyn Amen in Sicht-
weite der Stadt zu wohnen.
»Denn«, sagte er, »Minas Ithil im Morgultal soll völlig zerstört wer-
den, und wenn es auch in späterer Zeit gesäubert werden mag, so kann
doch auf viele lange Jahre kein Mensch dort wohnen.«
Und als letzten von allen empfing Aragorn Éomer von Rohan, und sie
umarmten sich, und Aragorn sagte: »Zwischen uns kann nicht die Rede
sein von Geben oder Nehmen, und auch nicht von Belohnung; denn wir
sind Brüder. In einer guten Stunde ritt Eorl aus dem Norden, und niemals
war ein Bündnis von Völkern glücklicher, so daß keiner den anderen je
im Stich ließ und auch niemals im Stich lassen werden wird. Nun, wie Ihr
wißt, haben wir Théoden den Ruhmreichen in eine Gruft in den Weihe-
stätten gelegt, und dort soll er für immer unter den Königen von Gondor
liegen, wenn Ihr es wollt. Oder wenn Ihr es wünscht, werden wir nach
Rohan kommen und ihn zurückbringen, damit er bei seinem eigenen Volk
ruhe.«
Und Eomer antwortete: »Seit dem Tage, da Ihr vor mir aus dem grünen
Gras der Höhen aufgetaucht seid, habe ich Euch geliebt, und diese Liebe
wird nicht nachlassen. Aber jetzt muß ich für eine Weile in mein eige-
nes Reich gehen, wo viel wiedergutzumachen und in Ordnung zu brin-
gen ist. Doch was den Gefallenen betrifft, so werden wir, wenn alles
vorbereitet ist, zurückkommen und ihn holen; doch laßt ihn hier eine
Weile schlafen.«
Und Éowyn sagte zu Faramir: »Nun muß ich in mein eigenes Land zu-
rückgehen und noch einmal einen Blick darauf werfen und meinem Bru-
der bei seiner Arbeit helfen, aber wenn einer, den ich lange wie einen
Vater geliebt habe, zur letzten Ruhe gebettet ist, werde ich wiederkom-
men.«
So vergingen die frohen Tage; und am 8. Mai machten sich die Reiter
von Rohan bereit und ritten fort über die Nordstraße, und mit ihnen gin-
gen Elronds Söhne. Die ganze Stadt war gesäumt mit Menschen, um
ihnen Ehre zu erweisen, und sie zu rühmen, vom Tor der Stadt bis zu den
Mauern des Pelennor. Dann kehrten alle, die weit weg wohnten, froh zu-
rück zu ihren Heimen. Doch in der Stadt arbeiteten viele willige Hände,
um sie wieder aufzubauen und zu neuem Leben zu erwecken und alle
Narben des Krieges und die Erinnerung an die Dunkelheit zu beseitigen.
Die Hobbits blieben noch in Minas Tirith mit Legolas und Gimli;
denn Aragorn war dagegen, daß sich die Gemeinschaft schon auflöste.
»Einmal müssen alle derartigen Dinge enden«, sagte er, »aber ich hätte
gern, daß ihr noch eine kleine Weile wartet: denn das Ende der Taten, an
denen ihr beteiligt wart, ist noch nicht gekommen. Ein Tag nähert sich,
auf den ich all die Jahre meines Mannesalters gewartet habe, und wenn er
kommt, möchte ich meine Freunde an meiner Seite haben.« Aber mehr
über den Tag wollte er nicht sagen.
In jenen Tagen wohnten die Gefährten des Rings zusammen mit Gan-
dalf in einem schönen Haus, und sie gingen hierhin und dorthin, wie es
ihnen beliebte. Und Frodo sagte zu Gandalf: »Weißt du, was für ein Tag
das ist, von dem Aragorn spricht? Denn wir sind hier glücklich, und ich
habe nicht den Wunsch, wegzugehen; aber die Zeit verrinnt, und Bilbo
wartet; und das Auenland ist meine Heimat.«
»Was Bilbo betrifft«, sagte Gandalf, »so wartet er auf denselben Tag,
und er weiß, was dich zurückhält. Und was das Vergehen der Zeit be-
trifft, so haben wir jetzt erst Mai, und es ist noch nicht Hochsommer;
und obwohl alle Dinge verändert erscheinen mögen, als ob ein Zeitalter
der Welt vergangen sei, so ist es für die Bäume und das Gras doch weni-
ger als ein Jahr, seit du aufbrachst.«
»Pippin«, sagte Frodo, »hast du nicht gesagt, Gandalf sei weniger zuge-
knöpft als früher? Da war er wohl ermattet von seinen Plagen, glaube ich.
Jetzt erholt er sich.«
Und Gandalf sagte: »Viele Leute möchten im vorhinein wissen, was
auf den Tisch gebracht wird; aber diejenigen, die sich abgemüht haben,
um das Festmahl zu bereiten, wahren ihr Geheimnis gern; denn Staunen
macht die Lobesworte lauter. Und Aragorn selbst wartet auf ein Zei-
chen.«
Dann kam ein Tag, an dem Gandalf nicht zu finden war, und die Ge-
fährten fragten sich, was vor sich gehe. Aber Gandalf verließ bei Nacht
mit Aragorn die Stadt, und er brachte ihn auf den südlichen Fuß des
Bergs Mindolluin; und dort fanden sie einen Pfad, der in längst vergange-
nen Zeiten angelegt worden war und den nur wenige jetzt zu betreten
wagten; denn er führte hinauf auf den Berg zu einer hochgelegenen Wei-
hestätte, wo nur die Könige hinzugehen pflegten. Und sie stiegen auf stei-
len Wegen empor, bis sie zu einem hochgelegenen Feld kamen unterhalb
des Schnees, der die hohen Gipfel bedeckte, und von dem Feld aus sah
man hinweg über den Felsen, der sich hinter der Stadt erhob. Und als sie
dort standen, überblickten sie die Lande, denn der Morgen war gekom-
men; und sie sahen die Türme der Stadt tief unter ihnen wie weiße Pinsel,
in Sonnenlicht getaucht, und das ganze Tal des Anduin war wie ein Gar-
ten, und das Schattengebirge war in goldenen Nebel gehüllt. Auf der
einen Seite reichte die Sicht bis zu dem grauen Emyn Muil, und das Glit-
zern des Rauros war wie ein Stern, der fern funkelt; und auf der anderen
Seite sahen sie den Fluß wie ein sich bis Pelargir erstreckendes Band, und
dahinter war ein Schein am Saum des Himmels, der das Meer verriet.
Und Gandalf sagte: »Dies ist dein Reich und das Herz des größeren
Reiches, das sein wird. Das Dritte Zeitalter der Welt ist zu Ende, das neue
Zeitalter hat begonnen; und es ist deine Aufgabe, seinen Beginn zu ord-
nen, und das zu bewahren, was bewahrt werden kann. Denn obwohl vie-
les gerettet worden ist, muß nun vieles vergehen; und auch die Macht der
Drei Ringe ist zu Ende. Und all die Lande, die du siehst, und jene, die
ringsum liegen, werden Wohnstätten der Menschen sein. Denn es kommt
die Zeit der Herrschaft der Menschen, und die Ältere Sippe wird dahin-
schwinden oder von dannen gehen.«
»Ich weiß das sehr wohl, lieber Freund«, sagte Aragorn. »Aber ich
würde immer noch gern deinen Rat haben.«
»Nicht mehr lange jetzt«, sagte Gandalf. »Das Dritte Zeitalter war
meine Zeit. Ich war Saurons Feind; und mein Werk ist vollbracht. Ich
werde bald gehen. Die Bürde liegt nun auf dir und deiner Sippe.«
»Aber ich werde sterben«, sagte Aragorn. »Denn ich bin ein Sterb-
licher, und wenngleich ich, weil ich bin, was ich bin, und dem unver-
mischten Geschlecht des Westens entstamme, ein sehr viel längeres Leben
haben werde als andere Menschen, so ist es dennoch nur eine kurze
Spanne; und wenn jene, die jetzt im Schoß der Frauen sind, geboren und
alt geworden sind, dann werde auch ich alt werden. Und wer soll Gondor
dann beherrschen und jene, die diese Stadt als ihre Königin ansehen,
wenn mir mein Wunsch nicht gewährt wird? Der Baum im Hof des
Springbrunnens ist noch immer verdorrt und unfruchtbar. Wann werde
ich ein Zeichen sehen, daß es jemals anders sein wird?«
»Wende dein Gesicht ab von der grünen Welt und schaue dorthin, wo
alles öde und kalt zu sein scheint«, sagte Gandalf.
Da wandte Aragorn sich um, und hinter ihm war ein felsiger Hang,
der sich herunterzog von den Säumen des Schnees; und als er schaute, be-
merkte er, daß dort in der Ödnis eine einzige lebende Pflanze stand. Und
er kletterte hinauf zu ihr und sah, daß genau am Rande des Schnees ein
Baumschößling wuchs, der nicht mehr als drei Fuß hoch war. Schon hatte
er junge Blätter getrieben, lang und wohlgeformt, dunkel oben und sil-
bern unten, und auf seiner schlanken Krone trug er eine kleine Blüten-
traube, deren weiße Blütenblätter wie sonnenbeschienener Schnee schim-
merten.
Da rief Aragorn: »Yé! utúvienyes! Ich habe ihn gefunden! Siehe! hier
ist ein Reis des Ältesten der Bäume! Aber wie kommt es hierher? Denn
es ist selbst noch keine sieben Jahre alt.«
Und Gandalf kam und schaute es an und sagte: »Fürwahr, das ist ein
Schößling aus dem Stamm von Nimloth dem Schönen; und der war ein
Sämling von Galathilion, und dieser wiederum die Frucht von Telperion,
dem Vielnamigen, dem Ältesten der Bäume. Wer soll sagen, wie er gerade
zur rechten Stunde hierher kommt? Aber dies ist eine alte Weihestätte,
und ehe die Könige vergingen oder der Baum im Hof verdorrte, muß hier
eine Frucht eingepflanzt worden sein. Denn es heißt, obwohl die Früchte
des Baums selten zur Reife gelangen, mag dennoch das Leben viele Jahre
lang schlafend in ihnen liegen, und niemand kann die Zeit voraussagen,
da es erwacht. Denke daran. Denn wann immer eine Frucht reift, sollte sie
eingepflanzt werden, damit der Stamm in der Welt nicht ausstirbt. Hier
hat die Frucht auf dem Berg verborgen gelegen, ebenso wie das Ge-
schlecht von Elendil in den Einöden des Nordens verborgen war. Dennoch
ist der Stamm von Nimloth weit älter als Euer Geschlecht, König Eles-
sar.«
Dann legte Aragorn seine Hand sanft an den Schößling, und siehe da!
er schien nur locker in der Erde zu sitzen und ließ sich ohne Verletzung
herausziehen; und Aragorn trug ihn zurück zur Veste. Dann wurde der
verdorrte Baum ausgegraben, doch mit aller Ehrfurcht; und er wurde
nicht verbrannt, sondern in der Stille von Rath Dínen zur Ruhe gelegt.
Und Aragorn pflanzte im Hof bei dem Springbrunnen den neuen Baum,
und schnell und freudig begann er zu wachsen, und als der Juni kam, war
er mit Blüten überladen.
»Das Zeichen ist gegeben worden«, sagte Aragorn, »und der Tag ist
nicht mehr fern.« Und er stellte Wächter auf die Mauern.
Es war der Tag vor der Sommersonnenwende, als Boten von Amon
Din in die Stadt kamen und berichteten, schönes Volk reite aus dem Nor-
den heran und nähere sich jetzt den Mauern des Pelennor. Und der König
sagte: »Endlich sind sie gekommen. Laßt die ganze Stadt sich bereitma-
chen!«
Genau am Abend vor dem Mittjahrstag, als der Himmel blau war wie
Saphire und weiße Sterne im Osten erschienen, aber der Westen noch gol-
den war und die Luft kühl und duftend, kamen die Reiter den Nordweg
herunter zu den Toren von Minas Tirith. Voran ritten Elrohir und Elladan
mit einem silbernen Banner, und dann kamen Glorfindel und Erestor und
alle Ritter von Bruchtal, und hinter ihnen kamen Frau Galadriel und Cele-
born, der Herr von Lothlórien, auf weißen Rössern, und mit ihnen viel
schönes Volk aus ihrem Land in grauen Mänteln und mit weißen Edelstei-
nen im Haar; und als letzter kam Herr Elrond, mächtig unter Elben und
Menschen, und er trug das Szepter von Annúminas, und neben ihm auf
einem grauen Zelter ritt Arwen, seine Tochter, Abendstern ihres Volkes.
Und als Frodo sie kommen sah, schimmernd im Abend, mit Sternen
auf der Stirn und von einem süßen Duft umgeben, da wurde er von gro-
ßem Staunen ergriffen, und er sagte zu Gandalf: »Endlich verstehe ich,
warum wir gewartet haben. Das ist das Ende. Nun wird nicht nur der Tag
geliebt werden, sondern auch die Nacht wird schön und gesegnet sein,
und all ihre Ängste vergehen!«
Dann begrüßte der König seine Gäste, und sie saßen ab; und Elrond
übergab das Szepter und legte die Hand seiner Tochter in die Hand des
Königs, und zusammen gingen sie hinauf in die Hohe Stadt, und alle
Sterne blühten am Himmel. Und Aragorn, der König Elessar, ehelichte
Arwen Undómiel in der Stadt der Könige am Mittjahrstag, und die Zahl
der Jahre ihres langen Wartens und ihrer Mühen war erfüllt.
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