VIERTES KAPITEL
DAS FELD VON CORMALLEN
Rings um die Hügel wüteten die Heere von Mordor. Die Heerführer des
Westens wurden überflutet von einem anschwellenden Meer. Die Sonne
glühte rot, und unter den Schwingen der Nazgûl fielen die Schatten des
Todes dunkel auf die Erde. Aragorn stand unter seinem Banner, stumm
und unbeugsam, wie einer, der vertieft ist in Gedanken an längst vergan-
gene oder weit entfernte Dinge; doch seine Augen glänzten wie Sterne,
die um so heller scheinen, je dunkler die Nacht wird. Auf der Kuppe des
Hügels stand Gandalf, und er war weiß und kalt, und kein Schatten fiel
auf ihn. Der Angriff von Mordor brandete wie eine Woge gegen die be-
lagerten Hügel, Stimmen brausten wie eine Flut inmitten der Zerstörung
und des Waffengeklirrs.
Als ob seinen Augen ein plötzliches Sehvermögen verliehen worden
sei, rührte sich Gandalf; und er wandte sich um und schaute zurück gen
Norden, wo der Himmel fahl und klar war. Dann hob er die Hände und
rief mit lauter Stimme, die den Kampfeslärm übertönte: Die Adler kom-
men! Und viele Stimmen antworteten und riefen: Die Adler kommen!
Die Adler kommen! Die Heere von Mordor blickten auf und fragten sich,
was dieses Zeichen wohl bedeuten möge.
Da kam Gwaihir, der Herr der Winde, und Landroval, sein Bruder, der
größte aller Adler des Nordens, der gewaltigste unter den Abkömmlin-
gen des alten Thorondor, der seine Horste auf den unzugänglichen Gip-
feln des Umgebenden Gebirges gebaut hatte, als Mittelerde jung war.
Hinter ihnen kamen auf den Flügeln eines aufkommenden Windes, in lan-
gen, raschen Reihen alle ihre Untertanen aus den nördlichen Gebirgen.
Genau auf die Nazgûl hielten sie zu, stießen plötzlich aus großer Höhe
herab, und das Rauschen ihrer breiten Schwingen, als sie vorüberzogen,
war wie ein Sturm.
Doch die Nazgûl wandten sich ab und flohen und verschwanden in
Mordors Schatten, denn sie hörten plötzlich einen Schreckensruf aus dem
Dunklen Turm; und in eben diesem Augenblick erschauerten alle Heere
von Mordor, Zweifel nagte an ihren Herzen, ihr Gelächter verstummte,
ihre Hände zitterten, ihre Glieder wurden schlaff. Die Macht, die sie an-
trieb und mit Haß und Wut erfüllte, wankte, ihr Wille war von ihnen ab-
gezogen; und als sie jetzt ihren Feinden ins Auge blickten, sahen sie ein
tödliches Funkeln und fürchteten sich.
Dann stießen alle Heerführer des Westens einen lauten Ruf aus, denn
inmitten der Dunkelheit waren ihre Herzen von neuer Hoffnung erfüllt.
Und Ritter von Gondor, Reiter von Rohan und Dúnedain des Nordens
drängten von den belagerten Hügeln aus in dicht geschlossenen Reihen
auf ihre wankenden Feinde ein und durchbrachen das Kampfgewühl mit
scharfen Speeren. Aber Gandalf hob die Arme und rief noch einmal mit
klarer Stimme:
»Bleibt stehen, Menschen des Westens! Bleibt stehen und wartet ab!
Dies ist die Stunde des Schicksals.«
Und während er noch sprach, schwankte die Erde unter ihren Füßen.
Dann schwang sich, weit über den Türmen des Schwarzen Tors, hoch
über dem Gebirge, rasch steigend eine gewaltige, hochfliegende Dunkel-
heit mit flackerndem Feuer zum Himmel empor. Die Erde stöhnte und
bebte. Die Türme der Wehr wankten, neigten sich und stürzten ein; der
mächtige Festungswall zerbarst; das Schwarze Tor wurde herausgeschleu-
dert und brach auseinander; und aus weiter Ferne, bald undeutlich, bald
anschwellend, bald zu den Wolken aufsteigend, kam ein dröhnendes Grol-
len, ein Donnern, ein lange widerhallender tosender Lärm der Zerstörung.
»Saurons Reich hat geendet!« sagte Gandalf. »Der Ringträger hat
seine Aufgabe erfüllt.« Und als die Heerführer nach Süden blickten in
das Land Mordor, schien es ihnen, daß dort schwarz gegen die Wol-
kendecke ein riesiges Schattengebilde, undurchdringlich, blitzgekrönt,
aufstieg und den ganzen Himmel erfüllte. Gewaltig erhob es sich über die
Welt und streckte ihnen eine große, drohende Hand entgegen, schrecken-
erregend, aber machtlos, denn während es noch über ihnen schwebte,
wurde es von einem starken Wind erfaßt, und es wurde weggeblasen und
verging; und Stille trat ein.
Die Heerführer senkten die Köpfe; und als sie wieder aufblickten,
siehe! da flohen ihre Feinde und die Streitmacht von Mordor zerstreute
sich wie Staub im Wind. Wie Ameisen, wenn der Tod das geschwollene,
brütende Wesen ereilt, das ihren wimmelnden Hügel bewohnt und sie alle
beherrscht, kopflos und zwecklos umherwandern und dann kraftlos zu-
grunde gehen, so rannten Saurons Geschöpfe, Ork oder Troll oder Tier,
durch Zauber geknechtet, sinnlos hierhin und dorthin; und manche er-
schlugen sich gegenseitig oder stürzten sich in Gräben oder flohen jam-
mernd, um sich in Löchern und an dunklen, lichtlosen Orten fern jeder
Hoffnung zu verstecken. Doch die Menschen aus Rhûn und Harad, Ost-
linge und Südländer, erkannten, daß der Krieg verloren war, und sahen
die königliche Würde und die Macht der Heerführer des Westens. Und
jene, die am tiefsten und längsten in böser Knechtschaft gewesen waren,
die den Westen haßten und doch stolze und kühne Männer waren, sam-
melten sich nun ihrerseits, um sich einem letzten, verzweifelten Kampf zu
stellen. Aber der größte Teil floh, soweit möglich, nach Osten; und
einige warfen ihre Waffen fort und flehten um Gnade.
Dann überließ Gandalf Aragorn und den anderen Heerführern all diese
Fragen der Schlacht und des Oberbefehls, und er stand auf der Kuppe des
Hügels und rief; und herab zu ihm kam der große Adler, Gwaihir, der
Herr der Winde, und stand vor ihm.
»Zweimal hast du mich getragen, Gwaihir, mein Freund«, sagte Gan-
dalf. »Aller guten Dinge sind drei, wenn du willst. Du wirst merken, daß
ich nicht eine viel größere Last bin als damals, als du mich von Zirak-
zigil davongetragen hast, wo mein altes Leben ausbrannte.«
»Ich würde dich tragen«, antwortete Gwaihir, »wohin du willst, und
wärest du auch aus Stein.«
»Dann komm, und laß deinen Bruder mit uns gehen, und irgendeinen
anderen deines Volkes, der sehr geschwind ist. Denn wir müssen schneller
sein als jeder Wind und die Nazgûl überflügeln.«
»Der Nordwind weht, aber wir werden schneller fliegen als er«, sagte
Gwaihir. Und er hob Gandalf hoch und eilte nach Süden, und mit ihm
flogen Landroval und der junge und schnelle Meneldor. Und sie flogen
über Udûn und Gorgoroth und sahen unter sich das ganze Land, verheert
und in Aufruhr, und vor sich den lodernden Schicksalsberg, der sein
Feuer ausspie.
»Ich bin froh, daß du hier bei mir bist. Hier am Ende aller Dinge,
Sam.«
»Ja, ich bin bei dir, Herr«, sagte Sam und legte Frodos verwundete
Hand sanft an seine Brust. »Und du bist bei mir. Und die Fahrt ist zu
Ende. Aber nachdem ich den ganzen Weg hergekommen bin, will ich
noch nicht aufgeben. Das ist nicht meine Art, wenn du mich verstehst.«
»Vielleicht nicht, Sam«, sagte Frodo. »Aber so sind die Dinge nun mal
in der Welt. Hoffnungen täuschen. Es kommt ein Ende. Wir brauchen
jetzt nur noch kurze Zeit zu warten. Wir sind umringt von Zerstörung
und Untergang, und es gibt kein Entkommen.«
»Nun, Herr, wenigstens könnten wir ein bißchen weiter weggehen von
diesem gefährlichen Ort, von diesen Schicksalsklüften, wenn das ihr
Name ist. Können wir das nicht? Komm, Herr Frodo, laß uns jedenfalls
den Pfad hinuntergehen.«
»Gut, Sam. Wenn du gehen willst, komme ich mit«, sagte Frodo; und
sie standen auf und gingen langsam die sich schlängelnde Straße hinun-
ter; und als sie gerade zu dem bebenden Fuß des Berges kamen, stießen
die Sammath Naur einen großen Rauch und Dampf aus, die Wand des
Kegels riß auf, und ein gewaltiger feuriger Auswurf floß langsam, aber
wie ein Wasserfall donnernd, an der östlichen Bergseite hinab.
Frodo und Sam konnten nicht weitergehen. Ihre letzte seelische und
körperliche Kraft nahm rasch ab. Sie hatten einen niedrigen Aschenhügel
erreicht, der sich am Fuß des Berges angesammelt hatte; aber von hier
gab es kein Entkommen. Er war jetzt eine Insel, die nicht lange bestehen-
bleiben würde inmitten der Folterung des Orodruin. Ringsum klaffte die
Erde, und aus tiefen Rissen und Gräben quollen Rauch und Dämpfe hervor.
Hinter ihnen wurde der Berg erschüttert. Große Spalten hatten sich an
seiner Flanke aufgetan. Langsame Ströme von Feuer flössen über die lan-
gen Hänge auf sie zu. Bald würden sie unter ihnen begraben sein. Ein
Regen von heißer Asche fiel auf sie nieder.
Jetzt standen sie; und Sam hielt immer noch die Hand seines Herrn und
streichelte sie. Er seufzte. »In was für einer Geschichte sind wir gewesen,
Herr Frodo, nicht wahr?« sagte er. »Ich wünschte, ich könnte es hören,
wenn sie erzählt wird! Glaubst du, sie werden sagen: Jetzt kommt die Ge-
schichte von dem neunfingrigen Frodo und dem Ring des Schicksals? Und
dann werden alle still sein, wie wir es waren, als sie uns in Bruchtal die
Geschichte von Beren, dem Einhändigen, und dem Großen Edelstein er-
zählten. Ich wünschte, ich könnte es hören! Und ich wüßte gern, wie sie
nach unserem Teil weitergeht.«
Aber während er noch so sprach, um bis ganz zuletzt die Angst fern-
zuhalten, schweiften seine Augen nach Norden, nach Norden in das
Auge des Windes, dorthin, wo der Himmel in der Feme klar war, als die
kalte Böe zu einem Sturm anschwoll und die Dunkelheit und die Über-
reste der Wolken zurücktrieb.
Und so sah Gwaihir sie mit seinen scharfen, weit sehenden Augen, als
er mit dem wilden Wind heranbrauste und, der großen Gefahr des Him-
mels trotzend, in der Luft kreiste: zwei kleine dunkle Gestalten, verlassen,
Hand in Hand auf einem kleinen Hügel, während die Welt unter ihnen
bebte und keuchte und Ströme von Feuer näherkrochen. Und als er sie ge-
rade erspähte und hinabstieß, sah er sie hinfallen, erschöpft oder erstickt
von Qualm und Hitze, oder schließlich von Verzweiflung übermannt und
die Augen vor dem Tode verschließend.
Seite an Seite lagen sie; und herab stürzte sich Gwaihir, und herab
kamen Landroval und Meneldor der Schnelle; und in einem Traum, nicht
ahnend, welches Schicksal ihnen widerfuhr, wurden die Wanderer empor-
gehoben und davongetragen aus der Dunkelheit und dem Feuer.
Als Sam erwachte, merkte er, daß er auf einem weichen Bett lag, aber
über ihm wiegten sich sanft breite Buchenzweige, und durch ihre jungen
Blätter schimmerte Sonnenlicht, grün und golden. Und die ganze Luft war
erfüllt von mannigfachen süßen Düften.
Er erinnerte sich dieses Dufts: der Wohlgeruch von Ithilien. »Du meine
Güte«, grübelte er. »Wie lange habe ich geschlafen?« Denn der Duft hatte
ihn zurückversetzt zu dem Tag, als er unter der sonnigen Böschung sein
kleines Feuer entfacht hatte; und nun, da er wach war, hatte er für einen
Augenblick alles, was dazwischen lag, vergessen. Er streckte sich und
holte tief Luft. »Nein, was für einen Traum ich gehabt habe!« murmelte
er. »Ich bin froh, daß ich aufgewacht bin!« Er setzte sich auf, und dann
sah er, daß Frodo neben ihm lag und friedlich schlief, eine Hand unter
dem Kopf, die andere auf der Decke. Es war die rechte Hand, und der
dritte Finger fehlte.
Jetzt kehrte die ganze Erinnerung zurück, und Sam rief laut: »Es war
kein Traum! Aber wo sind wir?«
Und eine Stimme sprach leise hinter ihm: »Im Land Ithilien und in der
Obhut des Königs; und er erwartet euch.« Und da stand Gandalf vor ihm,
in Weiß gekleidet, und sein Bart schimmerte in dem durch die Blätter
flimmernden Sonnenlicht wie reiner Schnee.
»Nun, Meister Samweis, wie fühlst du dich?« fragte er.
Aber Sam legte sich wieder hin und starrte mit offenem Munde, und
einen Augenblick konnte er nicht antworten, zwischen Bestürzung und
Freude hin und hergerissen. Endlich stieß er hervor: »Gandalf! Ich
glaubte, du seiest tot! Aber dann glaubte ich, ich sei auch tot. Stellt sich
alles Traurige als falsch heraus? Was ist mit der Welt geschehen?«
»Ein großer Schatten ist dahingegangen«, sagte Gandalf, und dann
lachte er, und es klang wie Musik oder wie Wasser in einem verdorrten
Land; und als Sam lauschte, kam ihm der Gedanke, daß er seit unzähligen
Tagen kein Lachen gehört hatte, den reinen Klang von Fröhlichkeit. Es
drang an sein Ohr wie der Widerhall aller Freuden, die er je erlebt hatte.
Aber er brach in Tränen aus. Doch wie ein sanfter Regen auf einen Früh-
lingswind folgt und die Sonne dann um so heller scheint, so versiegten
seine Tränen, und sein Gelächter sprudelte hervor, und lachend sprang er
aus dem Bett.
»Wie ich mich fühle?« rief er. »Na, ich weiß nicht, wie ich es sagen
soll. Ich fühle mich, ich fühle mich ...« — er fuhr mit dem Arm durch
die Luft —, »ich fühle mich wie Frühling nach dem Winter, wie Sonne auf
den Blättern; und wie Trompeten und Harfen und alle Lieder, die ich je
gehört habe!« Er hielt inne und wandte sich zu seinem Herrn. »Aber wie
geht's Herrn Frodo?« fragte er. »Ist es nicht eine Schande mit seiner
armen Hand? Aber ich hoffe, er ist sonst in Ordnung. Er hat eine grau-
same Zeit gehabt.«
»Ja, sonst bin ich in Ordnung«, sagte Frodo, setzte sich auf und lachte
seinerseits. »Ich bin wieder eingeschlafen, als ich auf dich wartete, Sam,
du Schlafmütze. Ich war heute morgen früh wach, und jetzt muß es bald
Mittag sein.«
»Mittag?« sagte Sam und versuchte nachzurechnen. »Mittag von wel-
chem Tag?«
»Dem vierzehnten des Neuen Jahres«, sagte Gandalf, »oder, wenn du
willst, der achte April nach der Auenland-Zeitrechnung *. Aber in Gon-
dor wird das Neue Jahr jetzt immer am fünfundzwanzigsten März begin-
nen, als Sauron stürzte und ihr aus dem Feuer zum König gebracht wur-
det. Er hat euch gepflegt, und jetzt erwartet er euch. Ihr sollt mit ihm
essen und trinken. Wenn ihr bereit seid, bringe ich euch zu ihm.«
»Zum König?« fragte Sam. »Was für ein König, und wer ist das?«
»Der König von Gondor und der Herr der Westlichen Lande«, sagte
Gandalf. »Und er hat sein ganzes altes Reich zurückgewonnen. Er wird
bald zu seiner Krönung reiten, aber er wartet auf euch.«
»Was sollen wir anziehen?« fragte Sam; denn er sah nichts als die
alten und zerfetzten Kleider, in denen sie gewandert waren. Sie lagen zu-
sammengefaltet neben ihren Betten.
»Die Kleider, die ihr auf eurem Weg nach Mordor getragen habt«,
sagte Gandalf. »Selbst die Orkfetzen, die du in dem schwarzen Land an-
hattest, Frodo, sollen aufbewahrt werden. Keine Seide und kein Linnen,
keine Rüstung und kein Wappen könnten ehrenvoller sein. Aber später
werde ich vielleicht andere Kleidung für euch finden.«
Dann streckte er ihnen die Hände entgegen, und sie sahen, daß eine
hell schimmerte. »Was hast du da?« rief Frodo. »Kann es sein ...«
»Ja, ich habe eure beiden Schätze mitgebracht. Sie wurden bei Sam ge-
funden, als ihr gerettet wurdet. Die Gaben von Frau Galadriel: dein
Glas, Frodo, und deine Schachtel, Sam. Ihr werdet froh sein, sie wiederzu-
haben.«
* Der März (oder Rethe) hatte nach dem Kalender von Auenland
dreißig Tage.
Als sie gewaschen und angezogen waren und ein leichtes Mahl zu sich
genommen hatten, folgten die Hobbits Gandalf. Sie traten heraus aus dem
Buchenhain, in dem sie gelegen hatten, und kamen auf eine langge-
streckte grüne Wiese, die im Sonnenschein leuchtete und eingefaßt war
von stattlichen Bäumen mit dunklen Blättern und einer Fülle scharlachro-
ter Blüten. Hinter den Bäumen hörte man das Geräusch von fallendem
Wasser, und vor ihnen rann ein Bach zwischen blühenden Ufern, bis er
zu einem Wäldchen am Fuße der Wiese kam und dann unter einem Tor-
bogen aus Bäumen hindurchfloß, durch den sie in der Feme Wasser
schimmern sahen.
Als sie zu der Lichtung im Wald kamen, waren sie überrascht, Ritter
in strahlender Rüstung zu sehen und prächtige Wachtposten in Silber und
Schwarz, die dort standen und sie ehrerbietig grüßten und sich vor ihnen
verneigten. Und dann blies einer ein langes Trompetensignal, und sie gin-
gen weiter auf dem Weg zwischen den Bäumen neben dem plätschernden
Bach. So kamen sie zu einem weiten grünen Land, und dahinter war ein
breiter Fluß in silbernem Dunst, aus dem sich eine bewaldete Insel erhob,
und viele Schiffe lagen an ihren Ufern. Doch auf dem Feld, wo sie jetzt
standen, war ein großes Heer in Reih und Glied angetreten, glitzernd in
der Sonne. Und als die Hobbits sich näherten, wurden Schwerter aus der
Scheide gezogen und Speere erhoben, und Hörner und Trompeten er-
schallten, und Männer riefen mit vielen Stimmen und in vielen Sprachen:
Langes Leben den Halblingen! Rühmt sie mit großem Preis!
Cuio i Pheriain anann! Aglar'ni Pheriannath!
Rühmt sie mit großem Preis, Frodo und Samweis!
Daur a Berhael, Conin en Annûn! Eglerio!
Rühmt sie mit großem Preis, Frodo und Samweis!
Daur a Berhael, Conin en Annûn! Eglerio!
Preist sie!
Eglerio!
A laita te, laita te! Andave laituvalmet!
Preist sie!
Cormacolindor, a laita tárienna!
Preist sie! Die Ringträger, rühmt sie mit großem Preis!
Das rote Blut schoß ihnen ins Gesicht, und mit vor Staunen glänzenden
Augen gingen Frodo und Sam weiter und sahen, daß inmitten des lär-
menden Heers drei Hochsitze aus grünen Rasensoden aufgebaut waren.
Hinter dem Sitz zur Rechten schwebte Weiß auf Grün ein großes Pferd,
das frei lief; auf der Linken war ein Banner, Silber auf Blau, ein Schiff,
den Bug in Gestalt eines Schwans, zur See fahrend; aber hinter dem höch-
sten Thron in der Mitte von allen entfaltete sich in der Brise eine große
Standarte, und dort blühte ein weißer Baum auf einem schwarzen Feld
unter einer schimmernden Krone und sieben glitzernden Sternen. Auf
dem Thron saß ein Mann im Panzerhemd, ein großes Schwert lag auf sei-
nen Knien, aber er trug keinen Helm. Als sie näherkamen, stand er auf.
Und da erkannten sie ihn, so verändert er auch war, mit einem so edlen
und frohen Gesicht, königlich, Herr der Menschen, dunkelhaarig und die
Augen grau.
Frodo rannte ihm entgegen, und Sam kam hinterdrein. »Na, wenn das
nicht allem die Krone aufsetzt!« sagte er. »Streicher, oder ich schlafe
immer noch!«
»Ja, Sam, Streicher«, sagte Aragorn. »Es ist ein weiter Weg, nicht
wahr, von Bree, wo du mich nicht leiden konntest? Ein weiter Weg für
uns alle, aber der eure war der dunkelste.«
Und dann beugte er zu Sams Überraschung und höchster Verwirrung
das Knie vor ihnen; und er nahm sie bei der Hand, Frodo zu seiner Rech-
ten und Sam zu seiner Linken, und führte sie zu dem Thron, setzte sie
darauf, wandte sich zu den Mannen und Hauptleuten um, die nahebei
standen, und sprach, und seine Stimme schallte über das ganze Heer, und
er rief:
»Rühmet und preiset sie!«
Und als der frohe Zuruf angeschwollen und wieder verklungen war,
trat zu Sams höchster und vollkommener Befriedigung und reiner Freude
ein Sänger von Gondor vor, kniete nieder und bat um die Erlaubnis zu
singen. Und siehe! er sagte:
»Ihr Herren und Ritter und Mannen von unbeschämter Tapferkeit,
Könige und Fürsten und das schöne Volk von Gondor und Reiter von
Rohan und ihr Söhne von Elrond und Dúnedain des Nordens und Elb und
Zwerg und ihr Wackeren aus dem Auenland, und alles freie Volk des
Westens, hört nun mein Lied. Denn ich werde singen von Frodo mit den
Neun Fingern und dem Ring des Schicksals.«
Und als Sam das hörte, lachte er laut auf aus reinem Entzücken, und er
stand auf und rief: »O große Pracht und Herrlichkeit! Und alle meine
Wünsche sind in Erfüllung gegangen!« Und dann weinte er.
Und das ganze Heer lachte und weinte, und inmitten ihrer Fröhlichkeit
und Tränen erhob sich die klare Stimme des Sängers wie Silber und Gold,
und alle Mannen waren still. Und er sang bald in der Elbensprache, bald
in der Sprache des Westens, bis ihre Herzen, von süßen Worten verwun-
det, überflossen und ihre Freude wie Schwerter war und sie in Gedanken
in Gefilden weilten, wo Schmerz und Freude ineinander übergehen und
Tränen der Wein der Glückseligkeit sind.
Und als schließlich die Sonne vom Mittagspunkt herabsank und die
Schatten der Bäume länger wurden, endete er. »Rühmet und preiset sie!«
sagte er und kniete nieder. Und dann stand Aragorn auf, und das ganze
Heer erhob sich, und sie gingen hinüber zu vorbereiteten Zelten, um zu
essen und zu trinken und fröhlich zu sein, solange der Tag währte.
Frodo und Sam wurden zu einem Zelt geführt, und dort zogen sie ihre
alten Kleider aus, aber sie wurden zusammengefaltet und in Ehren beisei-
te gelegt; und reines Linnen wurde ihnen gegeben. Dann kam Gandalf,
und zu Frodos Verwunderung hatte er auf dem Arm das Schwert und den
Elbenmantel und den Mithril-Panzer, die ihm in Mordor abgenommen
worden waren. Für Sam brachte er einen vergoldeten Kettenpanzer und
seinen Elbenmantel, von Schmutz und allen Beschädigungen, die er erlit-
ten hatte, befreit; und dann legte er zwei Schwerter vor sie hin.
»Ich möchte kein Schwert haben«, sagte Frodo.
»Wenigstens heute abend solltest du eins tragen«, sagte Gandalf.
Da nahm Frodo das kleine Schwert, das Sam gehört und das er in
Cirith Ungol neben Frodo gelegt hatte. »Stich habe ich dir geschenkt,
Sam.«
»Nein, Herr! Herr Bilbo hat es dir gegeben, und es gehört zu seinem
silbernen Panzer; er würde nicht wollen, daß irgendein anderer es jetzt
trägt.«
Frodo gab nach; und Gandalf, als ob er ihr Knappe sei, kniete nieder
und gürtete sie mit den Schwertgehenken, und er stand auf und setzte
ihnen Stirnreifen aus Silber auf. Und als sie angekleidet waren, gingen sie
zu dem großen Fest; und sie saßen an des Königs Tisch mit Gandalf und
König Eomer von Rohan und dem Fürsten Imrahil und all den großen
Hauptleuten; und auch Gimli und Legolas waren da.
Doch als nach dem Stillen Gedenken Wein gebracht wurde, kamen zwei
Knappen, um den Königen aufzuwarten; das schienen sie jedenfalls zu
sein: der eine war in das Silber und Schwarz der Wachen von Minas
Tirith gekleidet, und der andere in Weiß und Grün. Aber Sam fragte
sich, was so junge Knaben in einem Heer mächtiger Männer taten. Dann
plötzlich, als sie näher kamen und er sie deutlich sehen konnte, rief er
aus:
»Ach, schau, Herr Frodo! Schau nur! Na, wenn das nicht Pippin ist.
Herr Peregrin Tuk sollte ich sagen, und Herr Merry! Wie sie gewachsen
sind! Du meine Güte! Aber ich sehe, es gibt mehr Geschichten zu erzäh-
len als unsere.«
»Allerdings«, sagte Pippin, zu ihm gewandt. »Und wir werden anfan-
gen, sie zu erzählen, sobald dieses Fest zu Ende ist. Inzwischen kannst du
es bei Gandalf versuchen. Er ist nicht mehr so zugeknöpft wie früher, ob-
wohl er jetzt mehr lacht als redet. Im Augenblick sind Merry und ich be-
schäftigt. Wir sind Ritter der Stadt und der Mark, wie ihr hoffentlich be-
merkt.«
Endlich endete der frohe Tag; und als die Sonne untergegangen war
und der runde Mond langsam über den Nebeln des Anduin aufstieg und
durch die raschelnden Blätter schimmerte, saßen Frodo und Sam unter
den raunenden Bäumen inmitten des Dufts des schönen Ithilien; und sie
unterhielten sich bis tief in die Nacht mit Merry und Pippin und Gandalf,
und nach einer Weile gesellten sich Legolas und Gimli zu ihnen. Da er-
fuhren Frodo und Sam viel von allem, was den Gefährten widerfahren
war, nachdem ihr Bund an dem unheilvollen Tag auf Parth Galen bei den
Fällen des Rauros zerfallen war; und immer noch gab es etwas zu fragen
und zu erzählen.
Orks und sprechende Bäume und meilenweite Grasflächen und galop-
pierende Reiter und glitzernde Höhlen und weiße Türme und goldene
Hallen und Schlachten und große Segelschiffe, all das zog vor Sams Geist
vorüber, bis er ganz verwirrt war. Aber inmitten all dieser Wunder
kam er immer wieder darauf zurück, wie verblüfft er über Merrys und
Pippins Größe war; und sie mußten sich Rücken an Rücken mit Frodo
und ihm stellen. »Kann ich nicht verstehen in eurem Alter!« sagte er.
»Aber tatsächlich, ihr seid drei Zoll größer, als ihr sein solltet, oder ich
bin ein Zwerg.«
»Das bist du gewiß nicht«, sagte Gimli. »Aber was habe ich gesagt?
Sterbliche können nicht einen Ent-Trunk zu sich nehmen und erwarten,
daß nicht mehr dabei herauskommt als bei einem Krug Bier.«
»Ent-Trunk?« fragte Sam. »Da redet ihr schon wieder von Ents; aber
da komme ich nicht mehr mit. 0 je, es wird Wochen dauern, bis wir all
diese Dinge geklärt haben.«
»Allerdings Wochen«, sagte Pippin. »Und dann wird Frodo in einen
Turm in Minas Tirith gesperrt werden müssen, um alles aufzuschreiben.
Sonst wird er die Hälfte vergessen, und der arme alte Bilbo wäre furcht-
bar enttäuscht.«
Schließlich stand Gandalf auf. »Die Hände des Königs sind hei-
lende Hände, liebe Freunde«, sagte er. »Aber ihr wart an der Schwelle
des Todes, ehe er euch unter Aufbietung seiner ganzen Kraft zurückrief
und euch in die süße Vergessenheit des Schlafs schickte. Und obwohl ihr
wahrlich lange und selig geschlafen habt, ist es jetzt Zeit, wieder zu
schlafen.«
»Und nicht nur für Sam und Frodo«, sagte Gimli, »sondern auch für
dich, Pippin. Ich mag dich gern, und sei es nur wegen der Mühe, die du
mich gekostet hast und die ich nie vergessen werde. Und ich werde auch
nie vergessen, wie ich dich auf dem Hügel der letzten Schlacht fand. Denn
ohne Gimli den Zwergen wärest du verloren gewesen. Aber wenigstens
weiß ich jetzt, wie eines Hobbits Fuß aussieht, wenn er auch alles ist, was
unter einem Haufen Leichen zu sehen ist. Und als ich diesen großen
Kadaver von dir weggewälzt hatte, war ich sicher, daß du tot seiest. Ich
hätte mir den Bart ausreißen können. Und es ist erst einen Tag her, daß
du zum ersten Mal wieder aufgestanden und herumgelaufen bist. Ins Bett
gehst du jetzt. Und das werde ich auch tun.«
»Und ich«, sagte Legolas, »werde in den Wäldern dieses schönen Lan-
des umherwandern, das ist Ruhe genug. In kommenden Tagen, wenn die
Herren der Elben es erlauben, sollen einige von unserem Volk sich hierher
begeben; und wenn wir kommen, wird das Land glücklich sein für eine
Weile. Für eine Weile: einen Monat, ein Leben, hundert Jahre der Men-
schen. Aber der Anduin ist nahe, und der Anduin fließt hinunter zum
Meer. Zum Meer!«
Zu dem Meer! Zu dem Meer! Dort schäumen die Wellen,
Und die Schreie der weißen Möwen gellen.
Der Sonnenball sinkt im Westen nieder.
Graues Schiff! Graues Schiff! Mich rufen die Brüder
Aus meinem Volke, die vor mir gezogen.
Ich muß ihnen nach über dunkle Wogen,
Den Wald muß ich lassen. Verronnen ist
Unserer Tage und Jahre Frist.
Süß sind die Stimmen der elbischen Rufer,
Ewig grün ist das Letzte Ufer,
Der Insel Eressea, die kein Mensch erreicht hat,
Für immer unser, der Elben Freistatt.
Und so singend, ging Legolas den Berg hinunter.
Dann brachen auch die anderen auf, und Frodo und Sam gingen zu Bett
und schliefen. Und am Morgen standen sie wieder auf voll Hoffnung und
Frieden; und sie verbrachten viele Tage in Ithilien. Denn das Feld von
Cormallen, wo das Heer nun lagerte, war nahe von Henneth Annün, und
den Bach, der von dem Wasserfall herabfloß, hörte man des Nachts, wie
er durch sein felsiges Tor brauste und durch die blühenden Wiesen den
Fluten des Anduin bei der Insel Cair Andres entgegeneilte. Die Hobbits
wanderten hierhin und dorthin und suchten die Gegenden auf, durch die
sie damals gekommen waren; und Sam hoffte immer, daß er in irgend-
einem Schatten der Wälder oder in einem heimlichen Grund vielleicht den
großen Olifant zu sehen bekommen würde. Und als er hörte, daß bei der
Belagerung von Gondor eine große Zahl dieser Tiere gewesen, aber alle
umgekommen waren, fand er das einen bedauerlichen Verlust.
»Na, man kann nicht überall zugleich sein, nehme ich an«, sagte er.
»Aber offenbar habe ich eine Menge versäumt.«
Mittlerweile bereitete das Heer die Rückkehr nach Minas Tirith vor.
Die Müden waren ausgeruht und die Verwundeten geheilt. Denn manche
hatten gearbeitet und heftig mit den übriggebliebenen Ostlingen und Süd-
ländern gekämpft, bis alle unterworfen waren. Und zuallerletzt kehrten
jene zurück, die nach Mordor hineingegangen waren und die Festungen
im Norden des Landes zerstört hatten.
Doch als sich schließlich der Monat Mai näherte, brachen die Heerfüh-
rer des Westens auf; und sie schifften sich mit all ihren Mannen ein und
segelten von Cair Andres den Anduin hinunter nach Osgiliath; und dort
blieben sie einen Tag; und am Tage danach kamen sie zu den grünen Fel-
dern des Pelennor und sahen die weißen Türme unter dem hohen Mindol-
luin wieder, die Stadt der Menschen von Gondor, die letzte Erinnerung an
Westernis, die durch Dunkelheit und Feuer einem neuen Tag entgegenge-
gangen war.
Und dort mitten auf den Feldern schlugen sie ihre Zelte auf und erwar-
teten den Morgen; denn es war der Vorabend des Mai, und bei Sonnen-
aufgang wollte der König in seine Stadt einziehen.
<= =>