ZWEITES KAPITEL
DAS LAND DES SCHATTENS
Sam hatte gerade noch genug Verstand, um die Phiole wieder in seine
Brusttasche zu stecken. »Lauf, Herr Frodo!« rief er. »Nein, nicht da lang!
Da geht's steil runter hinter der Mauer. Komm mir nach!«
Vom Tor aus flohen sie die Straße entlang. Als sie sich nach fünfzig
Schritten um eine vorspringende Ausbuchtung des Felsens herumzog,
konnten sie vom Turm nicht mehr gesehen werden. Für den Augenblick
waren sie entkommen. Sie kauerten sich an den Fels und schöpften Luft,
und dann blieb ihnen das Herz stehen. Der Nazgûl hockte jetzt auf der
Mauer neben dem zerstörten Tor und stieß seine gräßlichen Schreie aus.
Alle Felsen hallten davon wider.
Voller Schrecken stolperten sie weiter. Bald bog die Straße wieder
scharf nach Osten ab und setzte sie für einen entsetzlichen Augenblick
der Sicht vom Turm aus. Als sie hinüberflitzten, schauten sie sich um
und sahen die große schwarze Gestalt auf der Festungsmauer; dann ge-
langten sie in einen Durchstich zwischen hohen Felswänden, der steil zu
der Morgul-Straße hinunterführte. Sie kamen zur Wegkreuzung. Es war
immer noch keine Spur von Orks zu sehen, noch kam eine Antwort auf
den Schrei des Nazgûl; aber sie wußten, daß die Stille nicht lange anhal-
ten würde. Jeden Augenblick konnte die Jagd jetzt beginnen.
»So geht es nicht, Sam«, sagte Frodo. »Wenn wir wirklich Orks wären,
müßten wir jetzt zum Turm zurückstürzen, nicht wegrennen. Der erste
Feind, den wir treffen, wird uns erkennen. Wir müssen irgendwie von
dieser Straße runter.«
»Aber das können wir nicht«, sagte Sam, »nicht ohne Flügel.«
Die östlichen Hänge des Ephel Dúath waren steil und fielen in Klippen
und Felswänden zu der schwarzen Schlucht ab, die zwischen ihnen und
dem inneren Kamm lag. Ein kurzes Stück hinter der Wegkreuzung, nach
einem weiteren jähen Gefälle, übersprang eine Behelfsbrücke den Ab-
grund, und über sie gelangte die Straße zu den zerklüfteten Hängen und
engen Tälern des Morgai. Mit einer verzweifelten Anstrengung eilten
Frodo und Sam über die Brücke; aber kaum hatten sie das andere Ende er-
reicht, da hörten sie, daß die Verfolgung begann. Weit hinter ihnen, jetzt
hoch über dem Berghang, ragte der Turm von Cirith Ungol auf, seine
Steine glühten dunkel. Plötzlich schlug wiederum seine mißtönende
Glocke an und ließ dann ein schmetterndes Geläute erschallen. Hörner
bliesen. Und von jenseits der Brücke kamen nun Antwortschreie. Tief in
der dunklen Schlucht, abgeschnitten von dem ersterbenden Schein des
Orodruin, konnten Frodo und Sam nicht nach vom sehen, aber schon
hörten sie das Trampeln eisenbeschlagener Füße und auf der Straße das
rasche Klappern von Hufen.
»Schnell, Sam!« rief Frodo. »Runter von der Straße!« Sie krabbelten
weiter zu dem niedrigen Brückengeländer. Zum Glück ging es nicht mehr
sehr tief hinunter in den Abgrund, denn die Hänge des Morgai waren
schon fast bis zur Höhe der Straße aufgestiegen; aber es war zu dunkel,
um die Tiefe des Falls zu erraten.
»Ich wage es, Herr Frodo«, sagte Sam. »Auf Wiedersehen!«
Er ließ los. Frodo folgte ihm. Und während sie noch fielen, hörten sie
das Dröhnen von Reitern, die über die Brücke fegten, und das Trappeln
von Orkfüßen, die hinterherliefen. Aber Sam hätte gelacht, wenn er es
gewagt hätte. Halb hatten sie gefürchtet, einen halsbrecherischen Sturz
auf unsichtbare Felsen zu tun, aber die Hobbits landeten, nach einem Fall
von nicht mehr als ein Dutzend Fuß, mit einem dumpfen Aufschlag und
Knirschen in etwas, was sie am wenigsten erwartet hatten; in einem dich-
ten Dornengestrüpp. Da lag Sam nun ganz still und saugte leise an seiner
zerkratzten Hand.
Als das Geräusch der Hufe und Füße vorüber war, wagte er ein Flü-
stern. »Du meine Güte, Herr Frodo, ich wußte gar nicht, daß in Mordor
etwas wächst. Aber wenn ich's gewußt hätte, hätte ich genau das erwar-
tet. Diese Domen müssen einen Fuß lang sein, so wie sie sich anfühlen;
sie haben durch alles durchgestochen, was ich anhabe. Ich wünschte, ich
hätte dieses Panzerhemd angezogen.«
»Orkpanzer halten diese Domen nicht ab«, sagte Frodo. »Nicht einmal
ein Lederwams nützt etwas.«
Es war ein Kampf, aus dem Dickicht herauszukommen. Die Domen
und Ranken waren zäh wie Draht und hielten sie fest wie Klauen. Ihre
Mäntel waren zerrissen und zerfetzt, als sie sich endlich befreit hatten.
»Jetzt gehen wir nach unten, Sam«, flüsterte Frodo. »Schnell hinunter
in das Tal, und dann nach Norden, sobald wir können.«
In der Welt draußen wurde es wieder Tag, und weit jenseits der
Düsternis von Mordor klomm die Sonne über den östlichen Rand von
Mittelerde; aber hier war alles noch dunkel wie die Nacht. Der Berg
schwelte, und sein Feuer ging aus. Der Schein auf den Felswänden ver-
blaßte. Der Ostwind, der immer geweht hatte, seit sie Ithilien verlassen
hatten, schien sich gelegt zu haben. Langsam und mühselig kletterten sie
hinunter, tastend, stolpernd und auf allen Vieren kriechend über Felsen
und Dornensträucher und totes Holz in den undurchsichtigen Schatten,
hinunter und immer weiter, bis sie nicht mehr weitergehen konnten.
Schließlich hielten sie an und setzten sich nebeneinander, den Rücken
an einen Findling gelehnt. Beide schwitzten. »Wenn selbst Schagrat mir
ein Glas Wasser anbieten würde, würde ich ihm die Hand schütteln«,
sagte Sam.
»Sage so etwas nicht«, sagte Frodo. »Das macht es nur schlimmer.«
Dann streckte er sich aus, benommen und müde, und sprach eine Weile
nicht mehr. Schließlich stand er mühsam auf. Zu seiner Überraschung
stellte er fest, daß Sam schlief. »Wach auf, Sam«, sagte er. »Komm wei-
ter. Es ist höchste Zeit, daß wir noch einen Versuch machen.«
Sam rappelte sich auf. »Na, so etwas!« sagte er. »Ich muß eingenickt
sein. Es ist lange her, Herr Frodo, daß ich richtig geschlafen habe, und
mir müssen die Augen einfach von selbst zugefallen sein.«
Frodo ging jetzt voran, so annähernd nach Norden, wie er glaubte, daß
es Norden sein müsse, zwischen Steinen und Findlingen hindurch, die in
Mengen auf dem Grund der großen Schlucht lagen. Aber mit einem Mal
blieb er wieder stehen.
»Es nützt nichts, Sam«, sagte er. »Ich kann es nicht ertragen. Dieses
Panzerhemd, meine ich. Nicht in meinem jetzigen Zustand. Selbst mein
mithril-Panzer kam mir schwer vor, wenn ich müde war. Dieser hier ist
viel schwerer. Und was für einen Zweck hat er überhaupt? Mit Kämpfen
kommen wir doch nicht ans Ziel.«
»Aber vielleicht werden wir doch ein bißchen kämpfen müssen«, sagte
Sam. »Und dann gibt's Messer und verirrte Pfeile. Dieser Gollum ist nicht
tot, zum Beispiel. Der Gedanke gefällt mir nicht, daß zwischen dir und
einem Dolchstoß im Dunkeln nichts ist als ein bißchen Leder.«
»Schau, Sam, mein lieber Junge«, sagte Frodo, »ich bin müde und er-
schöpft und habe gar keine Hoffnung mehr. Aber ich muß weitergehen
und versuchen, zu diesem Berg zu kommen, solange ich mich noch fort-
bewegen kann. Der Ring ist genug. Dieses zusätzliche Gewicht bringt
mich um. Es muß weg. Aber halte mich nicht für undankbar. Es ist mir
gräßlich, wenn ich daran denke, was für eine widerliche Arbeit du bei
den Leichen hattest, um es für mich zu finden.«
»Rede nicht davon, Herr Frodo. Du lieber Himmel! Ich würde dich auf
dem Rücken tragen, wenn ich könnte. Trenn dich ruhig davon.«
Frodo legte seinen Mantel beiseite, zog den Orkpanzer aus und warf
ihn weg. Er zitterte ein wenig. »Was ich wirklich brauche, ist etwas War-
mes«, sagte er. »Es ist kalt geworden, oder ich habe mir einen Schnupfen
geholt.«
»Du kannst meinen Mantel haben, Herr Frodo«, sagte Sam. Er
schnallte seinen Rucksack ab und nahm den Elbenmantel heraus. »Wie ist
es damit, Herr Frodo?« fragte er. »Du wickelst diesen Orkfetzen ganz fest
um dich und machst den Gürtel nach außen. Dann ziehst du den hier drü-
ber. Er sieht nicht gerade nach Orkkluft aus, aber er hält dich wärmer;
und ich möchte annehmen, er wird dich besser vor Schaden bewahren als
jede andere Kleidung. Die Herrin hat ihn gemacht.«
Frodo nahm den Mantel und befestigte die Brosche. »Das ist besser«,
sagte er. »Ich fühle mich viel leichter. Jetzt kann ich weitergehen. Aber
dieses undurchsichtige Dunkel scheint mir ins Herz zu dringen. Als ich
im Gefängnis lag, Sam, versuchte ich, mir den Brandywein und Waldende
und die Wässer in Erinnerung zu rufen, wie sie durch die Mühle in Hob-
bingen fließt. Aber jetzt kann ich sie nicht sehen.«
»Na, Herr Frodo, diesmal bist du es, der von Wasser redet!« sagte Sam.
»Wenn nur die Herrin uns sehen oder hören könnte, dann würde ich zu
ihr sagen: >Euer Gnaden, alles, was wir wollen, ist Licht und Wasser:
bloß klares Wasser und gewöhnliches Tageslicht, besser als alle Edel-
steine, bitte um Entschuldigung^ Aber es ist ein weiter Weg nach
Lórien.« Sam seufzte und machte eine Handbewegung zum Ephel Dúath,
der sich jetzt nur als eine tiefere Schwärze vor dem schwarzen Himmel
ahnen ließ.
Sie brachen wieder auf. Noch waren sie nicht weit gegangen, als Frodo
anhielt. »Da ist ein Schwarzer Reiter über uns«, sagte er. »Ich spüre ihn.
Wir verhalten uns besser eine Weile still.«
Zusammengekauert unter einem großen Findling saßen sie und blickten
nach Westen und sprachen eine Zeitlang nicht. Dann stieß Frodo einen
Seufzer der Erleichterung aus. »Er ist vorbei«, sagte er. Sie standen auf,
und dann starrten sie beide vor Verwunderung. Weit zu ihrer Linken, im
Süden, vor einem Himmel, der grau wurde, begannen die Gipfel und
hohen Grate der großen Bergkette, dunkel und schwarz, als sichtbare For-
men zu erscheinen. Hinter ihnen wurde es hell. Langsam kroch das Licht
nach Norden. Da war ein Kampf hoch oben in den hohen Luftschichten.
Die sich türmenden Wolken von Mordor wurden hinweggefegt, und ihre
Ränder rissen in Fetzen, als ein Wind aus der lebenden Welt aufkam und
Qualm und Rauch in ihr dunkles Heimatland zurücktrieb. Unter den sich
hebenden Säumen des fürchterlichen Wolkendachs sickerte trübes Licht
nach Mörder wie ein blasser Morgen durch das schmutzige Fenster eines
Gefängnisses.
»Sieh dir das an, Herr Frodo«, sagte Sam. »Sieh dir das an! Der Wind
hat gedreht. Irgend etwas geschieht. Es geht nicht alles so, wie er will.
Seine Dunkelheit löst sich auf da draußen in der Welt. Ich wünschte, ich
könnte sehen, was vor sich geht.«
Es war der Morgen des 15. März, und über dem Tal des Anduin stieg
die Sonne über den östlichen Schatten, und der Südwestwind wehte.
Théoden lag sterbend auf den Pelennor-Feldern.
Als Frodo und Sam dastanden und schauten, breitete sich der Rand des
Lichts über die ganze Kette des Ephel Dúath aus, und dann sahen sie eine
Gestalt, die sich mit großer Geschwindigkeit aus dem Westen näherte, zu-
erst nur ein schwarzer Fleck vor dem schimmernden Streifen über den
Berggipfeln, aber sie wurde größer, bis sie wie ein Pfeil in die dunkle
Wolkendecke eintauchte und hoch über ihnen vorbeizog. Sie stieß einen
langen, schrillen Schrei aus, die Stimme eines Nazgûl; aber dieser Schrei
versetzte sie nicht mehr in Angst und Schrecken: es war ein Schrei des
Leides und der Verzweiflung, eine schlimme Botschaft für den Dunklen
Turm. Den Herrn der Ringgeister hatte sein Schicksal ereilt.
»Was habe ich dir gesagt? Irgend etwas geschieht!« rief Sam. »>Der
Krieg geht gut<, sagte Schagrat; aber Gorbag war nicht so sicher. Und
auch damit hatte er recht. Die Lage bessert sich, Herr Frodo. Hast du
nicht jetzt etwas Hoffnung?«
»Ach nein, nicht viel, Sam«, seufzte Frodo. »Das ist weit jenseits des
Gebirges. Wir gehen nach Osten, nicht nach Westen. Und ich bin so
müde. Und der ist so schwer, Sam. Und ich fange an, ihn die ganze
Zeit im Geist wie ein großes feuriges Rad zu sehen.«
Sams muntere Stimmung sank sofort wieder. Er sah seinen Herrn be-
sorgt an und nahm seine Hand. »Komm, Herr Frodo«, sagte er. »Ich habe
etwas bekommen, was ich wollte: ein bißchen Licht. Genug, um uns wei-
terzuhelfen, und doch ist es, nehme ich an, auch gefährlich. Versuch noch
ein wenig weiterzugehen, und dann legen wir uns dicht beieinander hin
und ruhen uns aus. Aber iß erst einen Happen, ein bißchen Elbennah-
rung; das wird dich vielleicht beleben.«
Frodo und Sam teilten sich eine lembas-Waffel und kauten sie, so gut
sie mit ihren ausgetrockneten Mündern konnten, und schleppten sich wei-
ter. Das Licht war zwar nicht mehr als eine graue Dämmerung, aber es
reichte, um zu sehen, daß sie tief in dem Tal zwischen den beiden Berg-
ketten waren. Es stieg leicht nach Norden an, und auf seinem Grund ver-
lief das Bett eines jetzt ausgetrockneten Bachs. Hinter seinem steinigen
Lauf sahen sie einen ausgetretenen Pfad, der sich unter dem Fuß der west-
lichen Felsen entlangzog. Hätten sie ihn gekannt, dann hätten sie ihn
schneller erreichen können, denn es war ein Weg, der die große Morgul-
Straße am westlichen Brückenende verließ und über eine lange, in den
Fels gehauene Treppe auf die Talsohle führte. Er wurde von Meldegän-
gern und Boten benutzt, die rasch zu kleineren Feldwachen und Festungen
im Norden, zwischen Cirith Ungol und dem Engpaß von Isenmünde, dem
eisernen Schlund von Carach Angren, gelangen mußten.
Es war gefährlich für die Hobbits, einen solchen Pfad zu benutzen, aber
Eile tat not, und Frodo hatte das Gefühl, daß er die Plackerei, zwischen
den Findlingen oder den pfadlosen Bergschluchten des Morgai herumzu-
klettern, nicht würde aushaken können. Und er war der Meinung, daß der
Weg nach Norden vielleicht derjenige war, von dem die Verfolger am
wenigsten erwarteten, daß sie ihn einschlagen würden. Die Straße nach
Osten zur Ebene oder den Paß hinter ihnen im Westen würden sie sicher
zuerst gründlich absuchen. Erst wenn er beträchtlich nördlich des Turms
war, wollte er nach einem Weg forschen, der ihn nach Osten brächte,
nach Osten zum letzten verwegenen Abschnitt seiner Fahrt. So überquer-
ten sie nun das steinige Bett und schlugen den Orkpfad ein und blieben
eine Zeitlang auf ihm. Die Klippen zu ihrer Linken hingen über, und von
oben konnten sie nicht gesehen werden; aber der Weg machte viele Bie-
gungen, und bei jeder Biegung packten sie das Heft ihrer Schwerter und
gingen vorsichtig weiter.
Es wurde nicht heller, denn der Orodruin stieß immer noch dicke
Schwaden aus, die von Gegenwinden aufwärtsgetrieben wurden und
hoch und immer höher stiegen, bis sie eine Luftschicht über dem Wind
erreichten und sich zu einem unermeßlichen Dach ausdehnten, dessen
Mittelpfeiler aus den Schatten aufragte, die für sie nicht sichtbar waren.
Sie waren mehr als eine Stunde gelaufen, als sie ein Geräusch hörten, das
sie anhalten ließ. Unglaublich, aber unmißverständlich. Rieselndes Was-
ser. Aus einer Spalte zur Linken, die so scharf eingeschnitten und schmal
war, daß es aussah, als sei der schwarze Felsen mit irgendeiner riesigen
Axt gespalten worden, tröpfelte Wasser: die letzten Überbleibsel viel-
leicht eines köstlichen Regens, aufgestiegen aus sonnenbeschienenen Mee-
ren, aber dazu verurteilt, schließlich auf die Wälle des Schwarzen Landes
zu fallen und fruchtlos in den Staub zu rinnen. Hier kam er als ein Bäch-
lein aus dem Felsen, floß über den Pfad, wandte sich nach Süden und ver-
lor sich dann rasch zwischen dem toten Gestein.
Sam sprang darauf zu. »Wenn ich je die Herrin wiedersehe, werde ich
es ihr erzählen!« rief er. »Licht, und jetzt Wasser!« Dann hielt er inne.
»Laß mich zuerst trinken, Herr Frodo«, sagte er.
»Gut, aber es ist Platz genug für uns beide.«
»Das meinte ich nicht«, sagte Sam. »Ich meine: wenn es giftig ist oder
irgend etwas, das seine Schädlichkeit bald zeigt, na, dann lieber ich als
du, Herr, wenn du mich verstehst.«
»Das tue ich. Aber ich glaube, wir werden gemeinsam unser Glück
versuchen, Sam, oder auf unser Glück vertrauen. Immerhin, sei vorsich-
tig, wenn es sehr kalt ist.«
Das Wasser war kühl, aber nicht eisig, und es hatte einen unangeneh-
men Geschmack, zugleich bitter und ölig, so hätten sie jedenfalls daheim
gesagt. Hier schien es über alles Lob erhaben zu sein, und über Angst
und Vorsicht. Sie tranken sich satt, und Sam füllte seine Flasche. Danach
fühlte Frodo sich besser. Sie gingen noch mehrere Meilen weiter, bis die
Verbreiterung des Weges und die Anfänge einer rohen Mauer an seinem
Rand sie warnten, daß sie sich einer weiteren Orkfeste näherten.
»Hier biegen wir ab, Sam«, sagte Frodo. »Und zwar nach Osten.« Er
seufzte, als er auf die düsteren Grate jenseits des Tals blickte. »Ich habe
gerade noch genug Kraft, um irgendeine Höhle da oben zu finden. Und
dann muß ich ein wenig ruhen.«
Das Bachbett lag jetzt ein Stück unterhalb des Weges. Sie kletterten
hinunter und begannen es zu durchqueren. Zu ihrer Überraschung stießen
sie auf schwarze Tümpel, gespeist von Wasseradern, die von irgendeiner
Quelle weiter oben im Tal herabtröpfelten. An den äußeren Rändern des
Bachbetts unter den westlichen Bergen war Mordor ein sterbendes Land,
aber es war noch nicht tot. Und hier wuchsen noch Pflanzen, zäh, sich
windend, erbittert um ihr Leben kämpfend. In den Talschluchten des
Morgai auf der anderen Seite des Tals versteckten sich und klebten ver-
krüppelte Bäume, rauhe Grasbüschel wehrten sich gegen die Steine, und
verwelktes Moos kroch über sie; und überall wucherte verschlungenes,
dichtes Dornengestrüpp. Manche Büsche hatten lange, stechende Dornen,
manche gekrümmte Stacheln, die wie Messer schnitten. Die dunklen, ver-
welkten Blätter eines vergangenen Jahres hingen noch an den Ranken und
rasselten und raschelten in den traurigen Lüften, aber die madenzerfresse-
nen Knospen öffneten sich gerade erst. Fliegen, bräunliche, graue oder
schwarze, die wie die Orks mit einem roten, augenförmigen Fleck ge-
zeichnet waren, summten und stachen; und über den Dornendickichten
tanzten und schwirrten ganze Wolken von Mücken.
»Orkkleidung taugt nichts«, sagte Sam und fuchtelte mit den Armen.
»Ich wünschte, ich hätte ein Orkfell.«
Schließlich konnte Frodo nicht weitergehen. Sie hatten eine allmählich
ansteigende Schlucht erklommen, aber noch hatten sie einen weiten Weg
zu gehen, ehe sie den letzten schroffen Grat auch nur würden sehen kön-
nen. »Ich muß jetzt rasten, Sam, und schlafen, wenn ich kann«, sagte
Frodo. Er schaute sich um, aber nichts schien es in diesem trostlosen Land
zu geben, wo auch nur ein Tier hätte hineinkriechen können. Völlig er-
schöpft, schlichen sie sich endlich unter einen Vorhang aus Dornenge-
strüpp, der wie eine Matte über eine niedrige Felswand hing.
Da saßen sie und hielten eine Mahlzeit, so gut es ging. Weil sie die
kostbarsten lembas für die vor ihnen liegenden üblen Tage aufheben
woll-
ten, aßen sie die Hälfte von dem, was in Sams Beutel von Faramirs Vorrä-
ten übriggeblieben war: etwas getrocknete Früchte und eine kleine
Scheibe Pökelfleisch; und sie tranken ein paar Schluck Wasser. Sie hatten
auch aus den Teichen unten im Tal getrunken, aber sie waren wieder sehr
durstig. Es lag ein bitterer Geruch in der Luft von Mordor, der den Mund
austrocknete. Als Sam an Wasser dachte, sank selbst sein hoffnungsvol-
ler Mut. Jenseits des Morgai mußten sie die entsetzliche Ebene von Gor-
goroth überqueren.
»Nun schläfst du zuerst, Herr Frodo«, sagte er. »Es wird wieder dunkel.
Ich schätze, dieser Tag ist annähernd vorüber.«
Frodo seufzte und war fast eingeschlafen, ehe diese Worte gesprochen
waren. Sam kämpfte mit seiner eigenen Müdigkeit, und er nahm Frodos
Hand; und so saß er stumm da, bis die tiefe Nacht hereinbrach. Dann
schließlich, um sich wach zu halten, kroch er aus dem Versteck heraus
und schaute sich um. Das Land schien voller knisternder und knackender
und heimlicher Geräusche zu sein, aber weder Stimmen noch Fußtritte
waren zu hören. Hoch über dem Ephel Dúath im Westen war der Nacht-
himmel noch schwach erhellt und bleich. Dort, zwischem dem Gewölk
über einem dunklen Felsen hoch oben im Gebirge, sah Sam eine Weile
einen weißen Stern funkeln. Seine Schönheit griff ihm ans Herz, als er
aufschaute aus dem verlassenen Land, und er schöpfte wieder Hoffnung.
Denn wie ein Pfeil, klar und kalt, durchfuhr ihn der Gedanke, daß letzt-
lich der Schatten nur eine kleine und vorübergehende Sache sei: es gab
Licht und hehre Schönheit, die auf immer außerhalb seiner Reichweite
waren. Sein Lied im Turm war eher Trotz als Hoffnung gewesen; denn da
hatte er an sich gedacht. Jetzt, auf einen Augenblick, bekümmerte ihn
sein Schicksal und auch das seines Herrn nicht mehr. Er kroch zurück in
das Dornengestrüpp und legte sich an Frodos Seite, verbannte alle Ängste
und sank in einen tiefen, ungestörten Schlaf.
Sie wachten zusammen auf, Hand in Hand. Sam war fast frisch, bereit
für einen neuen Tag; aber Frodo seufzte. Sein Schlaf war unruhig gewe-
sen, voller Träume von Feuer, und das Aufwachen brachte ihm keinen
Trost. Dennoch war sein Schlaf nicht ohne heilende Wirkung gewesen: er
war kräftiger, besser imstande, seine Last noch eine Wegstrecke weiterzu-
tragen. Sie wußten nicht, wie spät es war oder wie lange sie geschlafen
hatten; aber nach einem Frühstücksbissen und einem Schluck Wasser gin-
gen sie weiter die Schlucht hinauf, bis sie in einem steilen Hang mit Ge-
röll und rutschendem Gestein endete. Dort gaben die letzten Pflanzen den
Kampf auf; die Gipfel des Morgai waren graslos, kahl, zerklüftet, un-
fruchtbar wie eine Schiefertafel.
Nach vielem Umherwandern und Suchen fanden sie einen Weg, den sie
erklimmen konnten, und nach einer letzten Kletterei auf allen vieren von
hundert Fuß waren sie oben. Sie kamen zu einer Spalte zwischen zwei
dunklen Felsen, und als sie hindurchgingen, befanden sie sich genau am
Rand der letzten Verteidigung von Mordor. Unter ihnen, etwa fünfhun-
dert Fuß tiefer, lag die Binnenebene, und sie erstreckte sich bis zu einer
gestaltlosen Düsternis, deren Ende nicht mehr sichtbar war. Der Wind der
Welt wehte jetzt von Westen, und die großen Wolken stiegen auf und
trieben nach Osten; doch immer noch fiel nur ein graues Licht auf die
trostlosen Felder von Gorgoroth. Dort zogen Rauchfahnen über den
Boden und sammelten sich in Mulden, und Dämpfe quollen aus Erdspal-
ten.
Noch weiter entfernt, mindestens vierzig Meilen, sahen sie den Schick-
salsberg, sein Fuß ruhte in aschgrauen Trümmern, sein gewaltiger Kegel
stieg zu einer großen Höhe auf, und sein qualmender Gipfel war in Wol-
ken gehüllt. Seine Feuer waren jetzt dunkler, und er stand in schwelen-
dem Schlummer da. Hinter ihm hing ein riesiger Schatten, unheilvoll wie
eine Gewitterwolke, die Schleier von Barad-dûr, das sich in weiter Ferne
auf einem langen, von Norden vorstoßenden Ausläufer des Aschengebir-
ges erhob. Die Dunkle Macht war tief in Gedanken, das Auge blickte
nach innen und grübelte über Botschaften, die Zweifel erweckten und
Gefahr beschworen: ein berühmtes Schwert und ein unnachgiebiges und
königliches Gesicht sah es; und seine große Festung, Tor für Tor und
Turm für Turm, war in nachdenkliche Finsternis gehüllt.
In einer Mischung von Abscheu und Staunen blickten Frodo und Sam
auf dieses hassenswerte Land. Zwischen ihnen und dem rauchenden Berg
und nördlich und südlich davon schien alles verheert und tot zu sein, eine
verbrannte und erstickte Wüste. Sie fragten sich, wie der Herr dieses
Reichs wohl seine Heere unterhielt und seine Hörigen ernährte. Denn
Heere hatte er. Soweit das Auge reichte, an den Säumen des Morgai und
weiter im Süden, waren Lager, einige aus Zelten, einige wohlgeordnet wie
kleine Städte. Eines der größten befand sich unmittelbar unter ihnen.
Kaum eine Meile weit in der Ebene lag es da wie ein riesiges Insektennest
mit geraden, öden Straßen, an denen Hütten und lange, niedrige, schmut-
zigbraune Gebäude standen. Ringsum wimmelte es von Leuten, die hier-
hin und dorthin gingen; eine breite Straße führte von hier nach Südosten,
wo sie auf den Morgulweg traf, und auf ihr eilten viele Reihen kleiner
schwarzer Gestalten dahin.
»Das gefällt mir überhaupt nicht«, sagte Sam. »Ziemlich hoffnungslos
nenn ich das — abgesehen davon, daß es dort, wo so viel Leute sind, auch
Brunnen oder Wasser geben muß, ganz zu schweigen von Lebensmitteln.
Und diese da sind Menschen, keine Orks, oder meine Augen sind ganz
verkehrt.«
Weder er noch Frodo wußten etwas von den großen Feldern weit im
Süden dieses ausgedehnten Reichs, die von Hörigen bestellt wurden, jen-
seits des qualmenden Bergs an den dunklen, traurigen Gewässern des
Núrnen-Meers; und sie wußten auch nichts von den großen Straßen, die
nach Osten und Süden in die zinspflichtigen Länder führten, von wo die
Krieger des Turms lange Wagenzüge mit Waren und Beute und neuen
Hörigen brachten. Hier in den nördlichen Bereichen waren die Minen und
Schmieden und die Aufgebote für den lange geplanten Krieg; und hier
sammelte die Dunkle Macht ihre Heere, die sie wie Figuren auf einem
Schachbrett hin- und herschob. Ihren ersten Zügen, den ersten Tastversu-
chen ihrer Stärke, war an ihrem westlichen Wall, nördlich und südlich,
Einhalt geboten worden. Im Augenblick zog sie ihre Heere zurück,
brachte neue Kräfte heran und zog sie bei Cirith Gorgor für einen Vergel-
tungsschlag zusammen. Und wenn es außerdem ihre Absicht gewesen wäre,
den Berg vor jeder Annäherung des Feindes zu schützen, sie hätte kaum mehr
tun können.
»Ja«, fuhr Sam fort, »was immer sie zu essen und trinken haben, wir
können es nicht bekommen. Es gibt keinen Weg nach unten, soweit ich
sehe. Und wir könnten dieses ganze offene Gelände, das von Feinden
wimmelt, auch nicht überqueren, selbst wenn wir hinunter kämen.«
»Trotzdem werden wir es versuchen müssen«, sagte Frodo. »Es ist nicht
schlimmer, als ich erwartet hatte. Ich habe nie die Hoffnung gehabt, hin-
überzukommen. Aber immer noch muß ich es so gut machen, wie ich
kann. Im Augenblick heißt das, solange als möglich zu vermeiden, daß
wir gefangengenommen werden. Deshalb müssen wir weiter nach Norden
gehen und sehen, wie es dort ist, wo die offene Ebene schmaler ist.«
»Ich kann mir vorstellen, wie es dort sein wird«, sagte Sam. »Wo es
schmaler ist, da werden die Orks und Menschen nur dichter zusammenge-
drängt sein. Du wirst es sehen, Herr Frodo.«
»Das werde ich wohl, wenn wir je so weit kommen«, sagte Frodo und
wandte sich ab.
Bald stellten sie fest, daß es unmöglich war, auf dem Kamm des Morgai
weiterzugehen, oder irgendwo in den höheren Bereichen, die pfadlos
waren und von tiefen Klüften durchschnitten. Zuletzt mußten sie wieder
durch die Schlucht zurückgehen, in der sie heraufgekommen waren, und
nach einem Weg entlang dem Tal suchen. Nach einer Meile oder mehr
sahen sie, in einer Mulde am Fuß der Felswand kauernd, die Orkfeste,
von der sie vermutet hatten, daß sie nahebei sei: eine Mauer und eine
Gruppe von Steinhütten, die an dem dunklen Eingang einer Höhle stan-
den. Es war dort keine Bewegung zu sehen, aber die Hobbits krochen vor-
sichtig vorbei und hielten sich, soweit sie konnten, zwischen den dichten
Domengebüschen, die an diesem Punkt zu beiden Seiten des alten Was-
serlaufs wuchsen.
Sie gingen noch zwei oder drei Meilen weiter, und die Orkfeste hinter
ihnen war dem Blick entzogen; aber kaum hatten sie begonnen, wieder
ruhiger zu atmen, als sie harte und laute Orkstimmen hörten. Rasch
schlichen sie hinter einen braunen, verkrüppelten Busch. Die Stimmen
näherten sich. Plötzlich kamen zwei Orks in Sicht. Der eine war in zer-
fetztes Braun gekleidet und mit einem Bogen aus Horn bewaffnet; er ge-
hörte zu einer kleineren Rasse, schwarzhäutig mit breiten und schnüffeln-
den Nüstern: offenbar ein Fährtenfinder irgendeiner Art. Der andere war
ein großer Kampfork, wie die aus Schagrats Rotte, und trug das Abzei-
chen des Auges. Auch er hatte auf dem Rücken einen Bogen und trug
einen kurzen Speer mit breiter Spitze. Die beiden stritten sich wie ge-
wöhnlich, und da sie von verschiedener Rasse waren, bedienten sie sich
der Gemeinsamen Sprache auf ihre Weise.
Kaum zwanzig Schritt vor dem Versteck der Hobbits blieb der kleinere
Ork stehen. »Nee«, knurrte er, »ich gehe nach Hause.« Er zeigte über das
Tal hinweg auf die Orkfeste. »Keinen Zweck, meine Nase noch weiter auf
Steinen abzunutzen. Es ist keine Spur mehr da, sage ich. Ich habe die
Fährte verloren, weil ich dir nachgegeben habe. Sie ging hinauf in die
Berge, nicht im Tal weiter, das sage ich dir.«
»Ihr seid wohl nicht viel nutze, ihr kleinen Schnüffler?« sagte der
große Ork. »Ich schätze, Augen sind besser als eure Rotznasen.«
»Warum hast du dann nichts gesehen?« knurrte der andere. »Quatsch!
Du weißt nicht mal, was du suchst.«
»Wessen Schuld ist das?« sagte der Kämpfer. »Meine nicht. Das kommt
von höher oben. Erst sagen sie, es ist ein großer Elb in strahlender
Rüstung, dann ist es eine Art Zwergenmensch, dann muß es eine Horde
aufrührerischer Uruk-hai sein; oder vielleicht ist es das alles zusammen.«
»Ach!« sagte der Fährtenfinder. »Sie haben den Kopf verloren, das ist
es. Und einige der Führer wird's auch noch den Kragen kosten, nehme ich
an, wenn das stimmt, was ich gehört habe: Turm überfallen und all das,
und Hunderte von euch Jungs umgelegt, und der Gefangene ist weg.
Wenn das die Art ist, wie ihr Kämpfer vorgeht, dann ist's kein Wunder,
daß die Nachrichten von den Schlachtfeldern schlecht sind.«
»Wer sagt, daß sie schlecht sind?« brüllte der Kämpfer.
»Ach! Wer sagt, daß sie gut sind?«
»Das ist verfluchtes Aufrührer-Gerede, und ich werde dich erstechen,
wenn du nicht die Klappe hältst, verstehst du?«
»Schon gut, schon gut«, sagte der Fährtenfinder. »Ich werde nichts
mehr sagen und mir mein Teil denken. Aber was hat der schwarze
Schnüffler damit zu tun? Der Vielfraß mit den Schlapphänden?«
»Das weiß ich nicht. Nichts, vielleicht. Aber er führt nichts Gutes im
Schilde, da wett ich. Verflucht soll er sein! Kaum war er uns entschlüpft
und weggelaufen, als Bescheid kam, er wird gesucht, lebendig, und zwar
schnell.«
»Na, ich hoffe, sie kriegen ihn und machen ihn fertig«, brummte der
Fährtenfinder. »Da hinten hat er die ganze Fährte verpfuscht, als er das
weggeworfene Panzerhemd geklaut hat, das er gefunden hatte, und über-
all da herumgewatschelt ist, ehe ich hinkommen konnte.«
»Das hat ihm jedenfalls das Leben gerettet«, sagte der Kämpfer. »Ehe
ich wußte, daß er gesucht wird, habe ich auf ihn geschossen, geschickt
wie sonst was, auf fünfzig Schritt genau in den Rücken, aber er ist wei-
tergelaufen.«
»Quatsch! Du hast ihn verfehlt«, sagte der Fährtenfinder. »Erst hast du
danebengeschossen, dann bist du zu langsam gelaufen, und dann hast du
nach den armen Fährtenfindern geschickt. Ich habe genug von dir.« Er
trottete davon.
»Du kommst zurück«, brüllte der Kämpfer, »sonst melde ich dich!«
»Bei wem denn? Doch nicht bei deinem prachtvollen Schagrat? Der
wird nicht länger Hauptmann sein.«
»Ich werde deinen Namen und deine Nummer den Nazgûl angeben«,
sagte der Kämpfer und senkte seine Stimme zu einem Zischen. »Einer von
denen befehligt jetzt auf dem Turm.«
Der andere blieb stehen, und seine Stimme war voll Angst und Wut.
»Du verfluchter petzender Strauchdieb!« brüllte er. »Du kannst deine
Aufgabe nicht erfüllen, und nicht einmal bei deinen eigenen Leuten
kannst du bleiben. Geh zu deinen dreckigen Kreischern, und mögen sie
dir das Fleisch in Streifen abschneiden! Wenn der Feind sie nicht zuerst
holt. Sie haben Nummer Eins umgebracht, wie ich gehört habe, und ich
hoffe, es stimmt!«
Mit dem Speer in der Hand setzte der große Ork ihm nach, aber der
Fährtenfinder sprang hinter einen Stein, jagte ihm einen Pfeil ins Auge,
als er angerannt kam, und er stürzte krachend zu Boden. Der andere
rannte durch das Tal und verschwand.
Eine Weile saßen die Hobbits schweigend da. Schließlich rührte sich
Sam. »Na, das nenne ich saubere Arbeit«, sagte er. »Wenn diese hübsche
Freundlichkeit sich über ganz Mordor verbreiten würde, wäre die Hälfte
unserer Schwierigkeiten ausgestanden.«
»Ruhig, Sam, flüsterte Frodo. »Es könnten noch andere hier sein. Wir
sind offenbar mit knapper Not entkommen, und die Verfolger waren uns
dichter auf der Spur, als wir ahnten. Aber das ist der Geist von Mordor,
Sam; und er hat sich in jeden Winkel verbreitet. Orks verhalten sich
immer so, wenn sie sich selbst überlassen sind, jedenfalls sagen das alle
Erzählungen. Aber daraus kannst du nicht viel Hoffnung schöpfen. Sie
hassen uns weit mehr, allesamt und immerzu. Wenn diese beiden uns ge-
sehen hätten, dann hätten sie mit ihrem Streit aufgehört, bis wir tot ge-
wesen wären.«
Wieder trat ein langes Schweigen ein, und wiederum brach Sam es,
aber diesmal flüsternd. »Hast du gehört, was sie über diesen Vielfraß
sag-
ten, Herr Frodo? Ich sagte dir ja, daß Gollum nicht tot ist, nicht wahr?«
»Ja, ich erinnere mich. Und ich fragte mich, woher du das wußtest«,
sagte Frodo. »Paß mal auf. Ich glaube, wir sollten hier bleiben, bis es ganz
dunkel geworden ist. So kannst du mir erzählen, woher du das weißt, und
alles, was geschehen ist. Wenn du es leise tun kannst.«
»Ich werd's versuchen«, sagte Sam. »Aber wenn ich an diese Stinker
denke, werde ich so wütend, daß ich brüllen könnte.«
Da saßen die Hobbits nun im Schütze des Dornenbusches, während das
trübe Licht von Mordor langsam zu einer tiefen und sternlosen Nacht
verblaßte; und Sam flüsterte Frodo alles ins Ohr, wofür er Worte finden
konnte, von Gollums niederträchtigem Angriff, dem Schrecken von Kan-
kra und seinen eigenen Abenteuern mit den Orks. Als er geendet hatte,
sagte Frodo nichts, sondern nahm Sams Hand und drückte sie. Schließlich
rührte er sich.
»Ja, ich glaube, wir müssen wieder weitergehen«, sagte er. »Ich möchte
mal wissen, wie lange es noch dauert, bis wir wirklich geschnappt werden
und die ganze Plackerei und das Umherschleichen vorbei ist und vergeb-
lich gewesen sein wird.« Er stand auf. »Es ist dunkel, und wir können das
Glas der Herrin nicht verwenden. Hebe es für mich auf, Sam. Ich wüßte
nicht, wo ich es hinstecken sollte, und müßte es in der Hand behalten,
und in dieser undurchdringlichen Nacht werde ich beide Hände brauchen.
Aber Stich schenke ich dir. Ich habe eine Orkklinge, aber ich glaube
nicht, daß es meine Rolle sein wird, je wieder einen Hieb zu führen.«
Es war schwierig und gefährlich, in diesem pfadlosen Land bei Nacht
voranzukommen; aber langsam und mit viel Stolpern quälten sich die
Hobbits Stunde um Stunde am östlichen Rand des steinigen Tals nach
Norden. Als ein graues Licht wieder über die westlichen Höhen kroch,
lange nachdem der Tag in den Landen dahinter gekommen war, versteck-
ten sie sich wieder und schliefen abwechselnd ein wenig. In den Zeiten,
da Sam wach war, beschäftigte er sich mit Ernährungsfragen. Als Frodo
ihn schließlich weckte und davon sprach, daß sie etwas essen und sich für
einen weiteren Versuch bereitmachen sollten, stellte er die Frage, die ihn
am meisten bedrückte.
»Bitte um Entschuldigung, Herr Frodo«, sagte er, »aber hast du irgend-
eine Vorstellung, wie weit wir noch zu gehen haben?«
»Nein, keine klare Vorstellung, Sam«, antwortete Frodo. »In Bruchtal
wurde mir, ehe ich aufbrach, eine Karte von Mordor gezeigt, die gezeich-
net worden war, bevor der Feind wieder hierher zurückkehrte; aber ich
erinnere mich nur undeutlich an sie. Am deutlichsten erinnere ich mich,
daß es im Norden eine Stelle gab, wo sich die Ausläufer der westlichen
und der östlichen Gebirgsketten fast berühren. Das muß mindestens
zwanzig Wegstunden von der Brücke hinten an dem Turm sein. Es könnte
ein guter Punkt zum Überqueren sein. Aber natürlich werden wir, wenn
wir dort hinkommen, weiter von dem Berg entfernt sein als vorher,
sechzig Meilen möchte ich annehmen. Ich schätze, daß wir von der
Brücke aus jetzt zwölf Wegstunden nach Norden gegangen sind. Selbst
wenn alles gut geht, könnte ich den Berg kaum in einer Woche erreichen.
Ich fürchte, Sam, daß die Last sehr schwer werden wird, und ich werde
immer langsamer gehen, je näher wir herankommen.«
Sam seufzte. »Das ist genau, was ich befürchtet hatte«, sagte er. »Ganz
zu schweigen vom Wasser, müssen wir weniger essen, oder aber etwas
schneller vorankommen, jedenfalls solange wir in diesem Tal sind. Noch
ein Bissen, und wir haben nichts mehr außer der Wegzehrung der Elben.«
»Ich werde versuchen, etwas schneller zu sein, Sam«, sagte Frodo und hol-
te tief Luft. »Also komm! Laß uns einen weiteren Marsch beginnen.«
Es war noch nicht wieder ganz dunkel. Sie schleppten sich voran, hin-
ein in die Nacht. Die Stunden vergingen bei diesem mühseligen Marsch
mit wenigen kurzen Unterbrechungen. Bei der ersten Andeutung von
grauem Licht unter den Rändern des Schattendachs versteckten sie sich
wieder in einer dunklen Mulde unter einem überhängenden Fels.
Langsam nahm das Licht zu, bis es klarer wurde, als es bisher je gewe-
sen war. Ein starker Wind von Westen vertrieb nun den Rauch von Mor-
dor aus den höheren Luftschichten. Es dauerte nicht lange, da konnten die
Hobbits die Landschaft im Umkreis von einigen Meilen erkennen. Die
Talmulde zwischen dem Gebirge und dem Morgai war ständig schmaler
geworden, während sie anstieg, und der innere Grat war jetzt nicht mehr
als ein Gesims in den Steilhängen des Ephel Dúath; aber östlich fiel sie so
jäh nach Gorgoroth ab wie immer. Vor ihnen fand der Wasserlauf in un-
terbrochenen Felsstufen ein Ende; denn aus der Hauptkette stieß dort ein
hoher kahler Ausläufer vor und zog sich wie eine Mauer nach Osten.
Ihm entgegen streckte sich aus der grauen und nebligen Nordkette des
Ered Lithui ein langer, vorspringender Arm; und zwischen den beiden
Enden war eine schmale Kluft: Carach Angren, die Isenmünde, hinter der
das tiefe Tal Udûn lag. In diesem Tal hinter dem Morannon waren die
Stollen und tiefen Waffenkammern, die Mordors Diener für die Verteidi-
gung des Schwarzen Tors ihres Landes angelegt hatten; und dort sam-
melte jetzt ihr Herr in großer Eile Streitkräfte, um dem Angriff der Heer-
führer des Westens zu begegnen. Auf den vorgeschobenen Ausläufern
waren Festungen und Türme erbaut, und Wachtfeuer brannten; und über
die ganze Kluft hinweg war ein Erdwall aufgeschüttet und ein tiefer
Graben ausgehoben worden, der nur auf einer einzigen Brücke überquert
werden konnte.
Einige Meilen weiter nördlich, hoch oben in dem Winkel, wo der west-
liche Ausläufer von der Hauptkette abzweigte, stand das alte Schloß
Durthang, jetzt eine der vielen Orkfestungen, die sich über das Udûn-Tal
verteilten. Eine Straße, die in dem zunehmenden Licht schon sichtbar war,
schlängelte sich von Durthang herunter, bis sie, nur eine oder zwei Mei-
len von dem Punkt entfernt, wo die Hobbits lagen, nach Osten abbog und
auf einem in den Hang des Ausläufers eingeschnittenen Gesims entlang-
lief und so hinunter in die Ebene und dann weiter zur Isenmünde führte.
Den Hobbits schien es, als sie dort hinblickten, daß ihre ganze Wande-
rung nach Norden nutzlos gewesen sei. Die Ebene zu ihrer Rechten war
düster und rauchig, und sie konnten dort weder Lager noch marschie-
rende Abteilungen sehen; aber das ganze Gebiet wurde von den Festun-
gen von Carach Angren überwacht.
»Wir sind in eine Sackgasse geraten, Sam«, sagte Frodo. »Wenn
wir weitergehen, werden wir nur zu diesem Orkturm kommen, aber der
einzige Weg, den wir einschlagen können, ist die Straße, die von dort her-
unterkommt — es sei denn, wir gehen zurück. Wir können nicht nach
Westen hinauf oder nach Osten hinunterklettern.«
»Dann müssen wir eben auf dieser Straße gehen, Herr Frodo«, sagte
Sam. »Wir müssen auf ihr gehen und unser Glück versuchen, wenn es
überhaupt in Mordor Glück gibt. Wir könnten uns ebensogut dem Feind
ausliefern, wie weiter herumwandern oder versuchen zurückzugehen. Un-
ser Essen wird nicht reichen. Wir müssen jetzt losflitzen.«
»In Ordnung, Sam«, sagte Frodo. »Geh du voraus, solange du noch
etwas Hoffnung hast. Ich habe keine mehr. Aber ich kann nicht flitzen,
Sam. Ich werde mich nur hinter dir herschleppen.«
»Aber ehe du mit dem Hinterherschleppen anfängst, brauchst du etwas
Schlaf und etwas zu essen, Herr Frodo. Tu das erst.«
Er gab Frodo Wasser und eine zusätzliche Waffel von der Wegzehrung,
und aus seinem Mantel machte er ein Kissen für den Kopf seines Herrn.
Frodo war zu erschöpft, um über die Sache zu streiten, und Sam sagte
ihm nicht, daß er den letzten Tropfen Wasser getrunken und Sams Anteil
ebenso wie seinen eigenen gegessen hatte. Als Frodo schlief, beugte sich
Sam über ihn, lauschte auf seinen Atem und betrachtete sein Gesicht for-
schend. Es war zerfurcht und hager, und dennoch sah es im Schlaf zufrie-
den und furchtlos aus. »Na, ich wage es, Herr!« murmelte Sam leise. »Ich
muß dich eine Weile verlassen und vertraue auf mein Glück. Wasser
brauchen wir, oder wir kommen nicht weiter.«
Sam kroch hinaus, und mit mehr als der üblichen Hobbit-Vorsicht von
Stein zu Stein huschend, ging er hinunter und ein Stück an dem nach
Norden ansteigenden Wasserlauf entlang, bis er zu den Felsstufen kam,
wo zweifellos vor langer Zeit dessen Quelle als kleiner Wasserfall herab-
geströmt war. Jetzt schien alles trocken und still zu sein; aber Sam wollte
die Hoffnung nicht aufgeben, er bückte sich und lauschte, und zu seiner
Freude hörte er ein tröpfelndes Geräusch. Er kletterte ein paar Stufen hin-
auf und fand dort ein winziges Rinnsal mit dunklem Wasser, das aus der
Bergwand herauskam und sich in einem kleinen kahlen Tümpel sammelte,
aus dem es dann wieder überlief und unter den öden Felsen verschwand.
Sam kostete das Wasser, und es schien ihm recht gut zu sein. Er trank
sich satt, füllte seine Flasche und wollte wieder gehen. Gerade, als er sich
umdrehte, sah er flüchtig eine schwarze Gestalt, die zwischen den Steinen
dicht bei Frodos Versteck hindurchhuschte. Er unterdrückte einen Auf-
schrei, sprang von der Quelle herunter und rannte, von Stein zu Stein
springend. Es war ein vorsichtiges Geschöpf, kaum zu sehen, aber Sam
hatte wenig Zweifel, wer es sein könnte; es verlangte ihn, ihm den Hals
umzudrehen. Aber es hörte ihn kommen und entschlüpfte rasch. Sam
glaubte, einen letzten flüchtigen Blick von ihm zu erhaschen, ehe es sich
duckte und verschwand.
»Na, das Glück hat mich nicht im Stich gelassen«, murmelte Sam.
»Aber es hätte leicht schiefgehen können. Genügt es denn nicht. Tau-
sende von Orks hier zu haben, ohne daß dieser stinkende Schuft noch
herumschnüffelt? Ich wünschte, er wäre erschossen worden!« Er setzte
sich neben Frodo und weckte ihn nicht; aber er selbst wagte nicht zu
schlafen. Als er schließlich merkte, wie ihm die Augen zufielen, und
wußte, daß er seinen Kampf, wachzubleiben, nicht lange durchhalten
könnte, weckte er Frodo sanft.
»Dieser Gollum ist wieder in der Nähe, fürchte ich, Herr Frodo«, sagte
er. »Wenigstens, wenn er's nicht war, dann gibt's zwei von ihm. Ich war
weggegangen, um etwas Wasser zu suchen, und da sah ich ihn hier her-
umschnüffeln, als ich zurückkam. Ich schätze, es ist gefährlich, wenn wir
beide zusammen schlafen, und bitte um Entschuldigung, aber ich kann
meine Augen nicht mehr offenhalten.«
»Du armer Sam«, sagte Frodo. »Leg dich hin, jetzt bist du an der
Reihe! Aber mir ist Gollum lieber als Orks. Jedenfalls würde er uns nicht
an sie verraten, sofern er nicht selbst geschnappt wird.«
»Aber er könnte für sich selbst ein bißchen rauben und morden«,
brummte Sam. »Halt die Augen offen, Herr Frodo. Da ist eine volle Fla-
sche Wasser. Trink sie aus. Wir können sie wieder füllen, wenn wir wei-
tergehen.« Und damit schlief Sam ein.
Das Licht verblaßte wieder, als er aufwachte. Frodo saß an den Felsen
gelehnt, aber er war eingeschlafen. Die Wasserflasche war leer. Von Gol-
lum war nichts zu sehen.
Die Mordor-Dunkelheit brach wieder herein, und die Wachtfeuer auf
den Höhen brannten grimmig und rot, als die Hobbits zu dem gefährlich-
sten Abschnitt ihrer ganzen Fahrt aufbrachen. Zuerst gingen sie zu der
kleinen Quelle, und dann kletterten sie vorsichtig hinauf und kamen an
der Stelle auf die Straße, wo sie nach Osten abbog zu der zwanzig Meilen
entfernten Isenmünde. Es war keine breite Straße, und es gab keine Mauer
und kein Geländer am Straßenrand, und je weiter die Straße ging, um so
tiefer wurde der jähe Abgrund an ihrer Seite. Die Hobbits hörten nichts,
was sich bewegte, und nachdem sie eine Weile gelauscht hatten, machten
sie sich mit gleichmäßigem Schritt auf den Weg nach Osten.
Nach etwa zwölf Meilen hielten sie an. Ein kleines Stückchen hinter
ihnen war die Straße ein wenig nach Norden abgebogen, und die Strecke,
die sie gegangen waren, war jetzt dem Blick entzogen. Das erwies sich als
verhängnisvoll. Sie rasteten einige Minuten und gingen dann weiter; aber
sie waren noch nicht weit gekommen, als sie plötzlich in der Stille der
Nacht das Geräusch hörten, vor dem sie sich die ganze Zeit insgeheim ge-
fürchtet hatten: marschierende Füße. Das Geräusch war noch ziemlich
weit weg, aber als sie sich umschauten, sahen sie das Flackern von Fak-
keln, die weniger als eine Meile entfernt um die Biegung kamen und sich
schnell bewegten: zu schnell für Frodo, um durch eine Flucht nach vom
auf der Straße zu entkommen.
»Das habe ich gefürchtet, Sam«, sagte Frodo. »Wir haben auf unser
Glück vertraut, und es hat uns im Stich gelassen. Wir sitzen in der Falle.«
Er blickte verstört auf die finstere Felswand, die die Straßenbauer von
einst auf viele Klafter über ihren Köpfen senkrecht abgeschlagen hatten.
Er rannte zur anderen Seite und schaute über den Rand in einen dunklen,
finsteren Abgrund. »Nun sitzen wir zuletzt in der Falle«, sagte er. Er
sank auf den Boden und beugte den Kopf.
»Scheint so«, sagte Sam. »Na, wir können nur abwarten und sehen,
was kommt.« Und damit setzte er sich neben Frodo unter den Schatten
der Felswand.
Sie brauchten nicht lange zu warten. Die Orks gingen sehr schnell. Die
in den vordersten Reihen trugen Fackeln. Heran kamen sie, rote Flammen
im Dunkeln, und wurden rasch größer. Jetzt beugte auch Sam den Kopf
und hoffte, dadurch würde sein Gesicht verdeckt, wenn der Fackelschein
sie erreichte; und er stellte ihre Schilde vor ihre Knie, um ihre Füße zu
verdecken.
»Wenn sie bloß in Eile sind und ein paar müde Krieger in Frieden las-
sen und weitergehen!« dachte er.
Und so schien es zuerst. Die vordersten Orks kamen angelaufen, keu-
chend und mit gesenkten Köpfen. Es war eine Rotte von der kleineren
Rasse, die wider ihren Willen in den Krieg ihres Dunklen Herrschers ge-
trieben wurden; ihnen lag nur daran, den Marsch hinter sich zu bringen
und nicht gepeitscht zu werden. Neben ihnen, die Reihen auf und ab lau-
fend, gingen zwei der großen grimmigen uruks, mit den Peitschen knal-
lend und brüllend. Reihe um Reihe zog vorüber, und das verräterische
Fackellicht war schon ein Stück voraus. Sam hielt den Atem an. Jetzt war
schon die Hälfte der Gruppe an ihnen vorbei. Da plötzlich erspähte einer
der Sklavenaufseher die beiden Gestalten am Wegrand. Er schlug mit der
Peitsche nach ihnen und schrie: »He, ihr da, steht auf!« Sie antworteten
nicht, und mit einem Ruf ließ er die ganze Schar anhalten.
»Los, ihr Faulpelze!« schrie er. »Jetzt ist nicht die Zeit, um herumzusit-
zen.« Er machte einen Schritt auf sie zu, und sogar in der Düsternis er-
kannte er die Abzeichen auf ihren Schildern. »Fahnenflüchtig, was?«
knurrte er. »Oder habt es vor? Ihr Leute solltet alle schon vor gestern
abend in Udûn sein. Das wißt ihr ganz genau. Auf mit euch, und tretet
ins Glied, sonst lasse ich mir eure Nummern sagen und melde euch.«
Mühsam kamen sie auf die Beine, hielten sich gebückt, und wie fuß-
wunde Krieger humpelnd, schlurften sie zurück zum letzten Glied. »Nein,
nicht nach hinten!« schrie der Sklavenaufseher. »Drei Reihen weiter nach
vom. Und bleibt da, sonst werdet ihr's spüren, wenn ich die Reihen auf
und ab gehe!« Er ließ seine lange Peitschenschnur über ihren Köpfen
knallen; mit einem weiteren Knall und einem Schrei ließ er dann die
ganze Gruppe in flottem Trab weitergehen.
Es war schlimm genug für den armen Sam, so müde wie er war. Aber
für Frodo war es eine Qual und bald ein Albtraum. Er biß die Zähne zu-
sammen und bemühte sich, nicht mehr zu denken, und stolperte weiter.
Der Gestank der schwitzenden Orks um ihn herum war zum Ersticken,
und er begann vor Durst zu keuchen. Immer weiter und weiter ging es,
und er richtete seine ganze Willenskraft darauf, Luft zu holen und seine
Beine dazu zu bringen, sich zu bewegen; und er wagte nicht daran zu
denken, zu welchem bösen Ende er sich quälte und das alles erduldete. Es
bestand keine Hoffnung, sich unbemerkt zu verdrücken. Immer wieder
kam der Orkaufseher und verhöhnte sie.
»Nun wißt ihr's!« lachte er und schlug ihnen an die Beine. »Wo eine
Peitsche ist, da ist ein Wille, ihr Faulpelze! Haltet euch ran! Ich würde
euch ja jetzt eine nette kleine Auffrischung geben, nur werdet ihr so viel
Hiebe kriegen, wie eure Haut nur aushält, wenn ihr zu spät in euer Lager
kommt. Tut euch gut. Wißt ihr nicht, daß wir Krieg haben?«
Sie waren einige Meilen gegangen, und die Straße führte schließlich
einen langen Abhang hinunter in die Ebene, als Frodos Kraft versagte
und sein Wille nachließ. Er taumelte und stolperte. Verzweifelt versuchte
Sam, ihm zu helfen und ihn aufrecht zu halten, obwohl er das Gefühl
hatte, daß er selbst diese Geschwindigkeit kaum noch länger durchhalten
würde: sein Herr würde ohnmächtig werden oder hinfallen, und alles
würde entdeckt werden und ihre bitteren Mühen wären umsonst gewesen.
»Aber diesen teuflischen Sklavenaufseher werde ich jedenfalls kriegen«,
dachte er.
Dann, als er gerade die Hand auf das Heft seines Schwertes legte, kam
unerwartete Hilfe. Sie waren jetzt schon auf der Ebene und näherten sich
dem Eingang von Udûn. Ein Stück Wegs vor ihnen, vor dem Tor am Ende
der Brücke, lief die von Westen kommende Straße mit anderen von Süden
und von Barad-dûr kommenden zusammen. Auf all diesen Straßen mar-
schierten jetzt Kampf scharen. Denn die Heerführer des Westens rückten
vor, und der Dunkle Herrscher warf seine Streitmacht nach Norden. So
geschah es, daß mehrere Gruppen gleichzeitig zu der dunklen Wegkreu-
zung kamen, die von den Wachtfeuern auf der Mauer nicht erhellt wurde.
Sofort gab es ein großes Gedränge und Fluchen, weil jede Schar ver-
suchte, als erste das Tor und damit das Ende ihres Marschs zu erreichen.
Obwohl die Aufseher schrien und ihre Peitschen gebrauchten, kam es zu
Raufereien, und einige Schwerter wurden gezogen. Eine Schar schwer be-
waffneter uruks aus Barad-dûr stürmte zwischen die Durthang-Gruppe
und richtete Verwirrung unter ihnen an.
Obwohl Sam von Schmerzen und Müdigkeit halb betäubt war, wurde
er hell wach und nahm rasch die Gelegenheit wahr, warf sich auf den
Boden und zog Frodo mit hinunter. Orks fielen über sie, knurrend und
fluchend. Auf Händen und Knien krochen die Hobbits langsam aus dem
Wirrwarr heraus, bis sie sich schließlich unbemerkt über den hinteren
Straßenrand fallen ließen. Die Straße hatte dort eine hohe Bordkante, die
den Scharführern in dunkler Nacht und bei Nebel den Weg wies und
einige Fuß höher aufgeschüttet war als das offene Land.
Dort lagen sie nun eine Weile still. Es war zu dunkel, um nach einem
Versteck zu suchen, wenn es überhaupt eins gab; aber Sam hatte das Ge-
fühl, daß sie wenigstens noch etwas weiter von der Straße weg und
außerhalb des Lichtscheins der Fackeln gehen sollten.
»Komm, Herr Frodo«, flüsterte er. »Wir kriechen noch ein kleines
Stückchen, und dann kannst du liegen bleiben.«
Mit einer letzten verzweifelten Anstrengung stützte sich Frodo auf die
Hände und zog sich vielleicht zwanzig Ellen weiter. Dann fiel er
kopfüber in eine flache Mulde, die sich unerwartet vor ihnen auftat, und
da blieb er liegen wie ein Toter.
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