SECHSTES BUCH

ERSTES KAPITEL
DER TURM VON CIRITH UNGOL

Sam rappelte sich mühsam vom Boden auf. Im ersten Augenblick
wußte er gar nicht, wo er war, und dann fiel ihm all das Elend und die
Hoffnungslosigkeit wieder ein. Er war in der tiefen Dunkelheit draußen
vor dem unteren Tor der Orkfestung; seine ehernen Türflügel waren ge-
schlossen. Er mußte bewußtlos hingefallen sein, als er sich dagegenge-
worfen hatte; aber wie lange er dort gelegen hatte, ahnte er nicht. Vorher
war ihm in seiner Verzweiflung und Wut glühend heiß gewesen; jetzt zit-
terte er und fror. Er kroch zu dem Tor und preßte das Ohr dagegen.
Weit drinnen hörte er undeutlich Orkstimmen schreien, aber bald hör-
ten sie auf oder waren außer Hörweite, und alles war still. Sein Kopf tat
ihm weh, und vor seinen Augen tanzten in der Dunkelheit gespenstische
Lichter, doch er bemühte sich, ruhiger zu werden und nachzudenken.
Jedenfalls war klar, daß keine Hoffnung bestand, durch dieses Tor in die
Orkfestung zu kommen; tagelang könnte er warten, bis es geöffnet
wurde, aber warten konnte er nicht: Zeit war verzweifelt kostbar. Er hatte
keinen Zweifel mehr über seine Pflicht: er mußte seinen Herrn retten oder
bei dem Versuch sterben.
»Das Sterben ist wahrscheinlicher und wird jedenfalls erheblich einfa-
cher sein«, sagte er grimmig zu sich selbst, als er Stich in die Scheide
steckte und den ehernen Türen den Rücken kehrte. Langsam tastete er
sich in der Dunkelheit durch den unterirdischen Gang und wagte nicht,
das Elbenlicht zu benutzen; und während er ging, versuchte er, die Ereig-
nisse aneinanderzureihen, seit Frodo und er den Scheideweg verlassen
hatten. Er hätte gern gewußt, wie spät es war. Irgendwie zwischen einem
Tag und dem nächsten, nahm er an; aber sogar die Tage konnte er nicht
mehr nachrechnen. Er war in einem Land der Dunkelheit, wo die Tage der
Welt vergessen waren und wo alle, die hierher kamen, auch vergessen
waren.
»Ich möchte mal wissen, ob sie überhaupt an uns denken«, sagte er,
»und was mit ihnen allen da drüben geschieht.« Er deutete etwa in die
Richtung vor ihm, aber in Wirklichkeit ging er nun, da er wieder zu Kan-
kras Lauer zurückkam, nach Süden, nicht nach Westen. Draußen in der
Welt, im Westen, ging es auf den Mittag des 14. März nach der Auen-
land-Zeitrechnung zu, und eben jetzt brachte Aragorn die schwarze
Flotte aus Pelargir heran, und Merry ritt mit den Rohirrim durch das
Steinkarrental, während in Minas Tirith Brände aufloderten und Pippin
beobachtete, wie der Wahnsinn in Denethors Augen zunahm. Doch bei
all ihren Sorgen und Ängsten kehrten die Gedanken ihrer Freunde immer
wieder zu Frodo und Sam zurück. Sie waren nicht vergessen. Aber man
konnte ihnen nicht beistehen, und kein Gedenken konnte Samweis, Ham-
fasts Sohn, Hilfe bringen; er war völlig allein.
Schließlich kam er wieder zu der Steintür des Orkganges, und da er
immer noch weder Klinke noch Riegel entdecken konnte, kletterte er wie
zuvor drüber weg und ließ sich sanft hinunterfallen. Dann schlich er be-
hutsam zu dem Ausgang von Kankras Lauer, wo die Fetzen ihres großen
Netzes immer noch in der kalten Luft hin- und herwehten. Denn kalt er-
schien Sam die Luft nach der stinkigen Dunkelheit weiter hinten; aber die
leichte Brise belebte ihn wieder. Vorsichtig kroch er hinaus.
Alles war unheimlich still. Es war nicht heller als während der Däm-
merung am Ende eines düsteren Tages. Die gewaltigen Dämpfe, die in
Mordor aufstiegen, zogen niedrig über ihn hinweg nach Westen, dicht ge-
ballte Wolken und Rauch, die jetzt von unten wieder von einer dunkelro-
ten Glut beleuchtet wurden.
Sam blickte hinauf zu dem Orkturm, und plötzlich starrten aus dessen
schmalen Fenstern Lichter heraus wie kleine rote Augen. Er fragte sich,
ob das irgendwelche Zeichen seien. Seine Angst vor den Orks, die er in
seinem Zorn und seiner Verzweiflung eine Weile vergessen hatte, kehrte
jetzt zurück. Soweit er sehen konnte, gab es für ihn nur eine Möglich-
keit: er mußte weitergehen und versuchen, den Haupteingang zu diesem
entsetzlichen Turm zu finden; aber seine Knie waren weich, und er
merkte, daß er zitterte. Er wandte seinen Blick von dem Turm und den
Hörnern der Schlucht vor ihm ab und zwang seine unwilligen Füße, ihm
zu gehorchen, und langsam, mit beiden Ohren lauschend und in die dich-
ten Schatten der Felsen neben dem Weg starrend, ging er wieder zurück,
vorbei an der Stelle, wo Frodo gestürzt war und Kankras Gestank immer
noch in der Luft hing, und dann weiter hinauf, bis er wieder in jener
Schlucht stand, wo er den Ring aufgesetzt und Schagrats Rotte hatte vor-
beigehen sehen.
Dort hielt er an und setzte sich hin. Im Augenblick konnte er sich
nicht dazu bringen, weiterzugehen. Er ahnte, daß, wenn er den Paß an der
höchsten Stelle überquerte und auch nur einen Schritt hinunter in das
Land Mordor tat, dieser Schritt unwiderruflich sein würde. Er konnte nie-
mals zurückkommen. Ohne eine klare Absicht zog er den Ring heraus und
setzte ihn wieder auf. Sofort spürte er die schwere Last seines Gewichts
und empfand von neuem, aber jetzt stärker und drängender denn je, die
Bosheit des Auges von Mordor, das suchte und sich bemühte, die Schat-
ten zu durchdringen, die es zu seiner eigenen Verteidigung erzeugt hatte,
die es aber nun in seiner Unruhe und seinem Zweifel behinderten.
Wie zuvor merkte Sam, daß sein Gehör geschärft war, daß aber seine
Augen die Dinge dieser Welt nur schwach und undeutlich wahrnahmen.
Die felsigen Wände des Pfades waren fahl, als ob er sie durch einen Nebel
sah, aber aus der Feme hörte er Kankra noch in ihrem Jammer blubbern;
und schrill und klar und sehr nahe anscheinend hörte er Schreie und das
Klirren von Metall. Er sprang auf und drückte sich an die Wand neben
der Straße. Er war froh über den Ring, denn hier kam wieder eine Horde
Orks anmarschiert. Das glaubte er jedenfalls zuerst. Dann merkte er
plötzlich, daß dem nicht so war, daß sein Gehör ihn getäuscht hatte: die
Orkschreie kamen vom Turm, dessen höchstes Horn jetzt genau über ihm
war, linker Hand von der Schlucht.
Sam erschauerte, und er versuchte, sich zum Weitergehen zu zwingen.
Da war eindeutig irgendeine Teufelei im Gange. Vielleicht hatte die Grau-
samkeit der Orks trotz aller Befehle die Oberhand gewonnen, und sie fol-
terten Frodo oder hackten ihn sogar grausam in Stücke. Er lauschte; und
während er das tat, tauchte ein Hoffnungsschimmer auf. Es konnte wohl
kaum ein Zweifel sein: im Turm wurde gekämpft, die Orks mußten un-
tereinander Krieg führen, Schagrat und Gorbag waren sich in die Haare
geraten. Schwach war die Hoffnung, die seine Vermutung ihm brachte,
aber sie reichte, um ihn aufzurütteln. Das könnte eine Gelegenheit sein.
Seine Liebe zu Frodo war über alle anderen Gedanken erhaben, und Sam
vergaß seine Gefahr und rief laut: »Ich komme, Herr Frodo!«
Er rannte los zum höchsten Punkt des ansteigenden Pfades und drüber
hinweg. Sogleich bog die Straße nach links und fiel steil ab. Sam hatte die
Grenze von Mordor überschritten.
Er zog den Ring ab, vielleicht veranlaßt durch eine dunkle Vorahnung
von Gefahr, obwohl er bei sich nur dachte, er wolle besser sehen können.
»Lieber das Schlimmste sehen«, murmelte er. »Hat keinen Zweck, im
Nebel herumzutappen!«
Hart und grausam und bitter war das Land, das sich jetzt seinem Blick
darbot. Zu seinen Füßen fiel der höchste Kamm des Ephel Duath über
große Felsen steil ab in eine dunkle Schlucht, an deren anderer Seite sich
ein weiterer Kamm erhob, der viel niedriger war, und sein Grat war ein-
gekerbt und gezackt von spitzen Felsen, die wie Fänge aussahen und sich
schwarz vor dem roten Leuchten dahinter abhoben: es war der grimmige
Morgai, der innere Ring des Bollwerks des Landes. Weit dahinter, doch
fast geradeaus, jenseits eines ausgedehnten Sees von Dunkelheit, der mit
kleinen Feuern gesprenkelt war, sah Sam einen großen glühenden Brand;
und vor ihm stieg in gewaltigen Säulen ein wirbelnder Rauch auf, dunkel-
rot an seinem Ausgangspunkt und schwarz oben, wo er in die Wolken-
hülle eintauchte, die das ganze verfluchte Land überdachte.
Sam sah den Orodruin, den Feurigen Berg. Dann und wann wurden die
Schlote weit unterhalb seines Aschenkegels heiß und stießen unter gro-
ßem Brodeln und Beben Ströme von geschmolzenem Fels aus Spalten an
seinen Flanken. Einige flössen lodernd in großen Rinnen in Richtung auf
Barad-dûr; einige bahnten sich ihren Weg in die steinige Ebene, bis sie
sich abkühlten und wie verzerrte Drachengestalten liegenblieben, ausge-
spien von der gefolterten Erde. In einer solchen Stunde der Tätigkeit er-
blickte Sam den Schicksalsberg, und sein Leuchten, das für jene, die den
Pfad vom Westen heraufklommen, durch den hohen Rücken des Ephel
Duath verdeckt war, beschien jetzt die kahlen Felswände, so daß sie aus-
sahen, als seien sie mit Blut getränkt.
Diese entsetzliche Beleuchtung machte Sam ganz bestürzt, denn als er
jetzt nach links schaute, erblickte er den Turm von Cirith Ungol in all
seiner Macht. Das Horn, das er von der anderen Seite gesehen hatte, war
nur sein höchster Seitenturm. Seine Ostseite ragte in drei großen Stufen
von einem Felsvorsprung in der Bergwand weit unten auf; in seinem Rük-
ken hatte er eine große Felsklippe, über die er mit spitzen Basteien hin-
ausragte, eine über der anderen, die nach oben kleiner wurden; ihre stei-
len Wände aus listig angelegtem Mauerwerk blickten nach Nordosten und
Südosten. Um die tiefste Stufe, die zweihundert Fuß unter dem Punkt lag,
wo Sam jetzt stand, zog sich eine mit Zinnen versehene Mauer, die einen
schmalen Hof umschloß. Ihr Tor, auf der ihm zugewandten nordöstlichen
Seite, führte auf eine breite Straße mit einer Art Brückenmauer, die am
Rand eines jähen Abgrunds entlanglief, bis die Straße nach Süden abbog
und sich dann durch die Dunkelheit hinzog und sich mit der Straße ver-
einigte, die über den Morgul-Paß kam. Dann ging sie weiter durch eine
gezackte Spalte im Morgai und hinaus in das Tal von Gorgoroth und wei-
ter nach Barad-dûr. Der schmale obere Weg, auf dem Sam stand, führte
über Treppen und steile Pfade hinunter zur Hauptstraße unter den dro-
henden Mauern dicht am Tor zum Turm.
Als Sam diese Festung betrachtete, begriff er mit einem Mal, und es
war fast ein Schlag für ihn, daß sie nicht gebaut worden war, um Feinde
von Mordor fernzuhalten, sondern um sie drinnen zu behalten. Tatsäch-
lich war sie ein Werk von Gondor vor langer Zeit, ein östlicher Vorposten
der Verteidigungsanlagen von Ithilien, und sie war erbaut worden, als die
Menschen von Westernis nach dem Letzten Bündnis Saurons böses Land
scharf überwachten, wo sich seine Geschöpfe noch immer verborgen hiel-
ten. Aber ebenso wie bei Narchost und Carchost, den Türmen der Wehr,
hatte auch hier die Wachsamkeit versagt, und durch Verrat war der Turm
dem Herrn der Ringgeister ausgeliefert worden, und nun war er schon
seit langen Jahren von bösen Wesen besetzt. Seit Sauron nach Mordor zu-
rückgekehrt war, hatte er ihn nützlich gefunden; denn er hatte wenig
Diener, aber viele, die ihm aus Angst hörig waren, und wie einstmalen
war es noch immer der Hauptzweck des Turms, die Flucht aus Mordor zu
verhindern. Wenn allerdings ein Feind so unbesonnen war zu versuchen,
heimlich in dieses Land zu kommen, dann gab es immer noch eine letzte,
unermüdliche Wache gegen jene, die vielleicht der Wachsamkeit von
Morgul und Kankra entgangen waren.
Nur zu klar erkannte Sam jetzt, wie aussichtslos es für ihn sein würde,
wenn er unter diesen vieläugigen Mauern hinunterkröche und durch das
wachsame Tor ginge. Und selbst wenn er es schaffte, könnte er auf der
bewachten Straße dahinter nicht weit kommen: nicht einmal die schwarzen
Schatten an den tiefen Stellen, zu denen das rote Glühen nicht vordrang,
würden ihn lange vor den nachtäugigen Orks schützen. Aber so hoff-
nungslos diese Straße auch sein mochte, seine Aufgabe war jetzt schlim-
mer: nicht das Tor vermeiden und entfliehen, sondern es durchschreiten,
allein.
Nun dachte er an den Ring, aber auch das war kein Trost, sondern nur
Grauen und Gefahr. Kaum war er in Sichtweite des Schicksalsberges ge-
kommen, da hatte er gemerkt, daß sich seine Bürde veränderte. Als der
Ring sich den großen Schmelzöfen näherte, wo er in grauer Vorzeit ge-
staltet und geschmiedet worden war, wuchs seine Macht, und er wurde
unheimlicher, unzähmbarer außer durch einen starken Willen. Obwohl
Sam den Ring nicht am Finger hatte, sondern ihn an einer Kette um den
Hals trug, kam sich Sam, als er da stand, irgendwie vergrößert vor, als ob
er in einen riesigen, verzerrten Schatten seiner selbst gekleidet sei, eine
auf den Wällen von Mordor innehaltende gewaltige und unheilvolle Dro-
hung. Er spürte, daß er von jetzt an nur zwischen zwei Möglichkeiten
würde wählen können: dem Ring zu entsagen, obwohl ihn das quälen
würde; oder ihn für sich in Anspruch zu nehmen und die Macht heraus-
zufordern, die in ihrer dunklen Feste jenseits des Tals der Schatten saß.
Schon führte ihn der Ring in Versuchung, nagte an seinem Willen und
Verstand. Wilde Hirngespinste tauchten in seinen Gedanken auf; und er
sah Samweis den Großen, den Helden des Zeitalters, der mit flammendem
Schwert durch die verfinsterten Lande zog, und Heere, die auf sein Gebot
hin zusammenströmten, als er losmarschierte, um Barad-dûr zu vernichten.
Und dann verzogen sich alle Wolken, und die weiße Sonne schien, und
auf seinen Befehl würde das Tal von Gorgoroth ein fruchtbarer Garten
mit Blumen und Bäumen. Er brauchte nur den Ring aufzustecken und ihn
als sein Eigentum zu erklären, und all dies könnte geschehen.
In dieser Stunde der Anfechtung war es die Liebe zu seinem Herrn, die
am meisten dazu beitrug, daß er fest blieb; aber tief in seinem Inneren
war auch sein schlichter Hobbitverstand noch unbesiegt: er wußte im
Grunde seines Herzens, daß er nicht Stark genug war, um eine solche Last
zu tragen, selbst wenn derartige Gaukelbilder nicht nur ein bloßer
Schwindel wären, um ihn hereinzulegen. Der eine kleine Garten eines
freien Gärtners war alles, was er brauchte und was ihm zustand, nicht
ein Garten, der zu einem Reich angewachsen war; selbst Hand anzulegen,
nicht den Händen anderer zu befehlen.
»Und all diese Gedanken sind sowieso nur ein Trick«, sagte er zu sich
selbst. »Er würde mich entdecken und mich einschüchtern, ehe ich auch
nur aufschreien könnte. Ganz schön schnell würde er mich entdecken,
wenn ich jetzt hier in Mordor den Ring aufsetzen würde. Na, ich kann
nur sagen: die Sache sieht so hoffnungslos aus wie ein Frost im Frühling.
Gerade wenn es wirklich nützlich wäre, unsichtbar zu sein, kann ich den
Ring nicht verwenden! Und wenn ich überhaupt weiterkomme, dann wird
er bei jedem Schritt nur eine Behinderung und eine Last sein. Was also ist
zu tun?«
In Wirklichkeit bestand für ihn gar kein Zweifel. Er wußte, daß er zum
Tor hinuntergehen mußte und nicht mehr zögern durfte. Mit einem
Schulterzucken, als wolle er die Schatten abschütteln und die Hirngespin-
ste als erledigt ansehen, begann er langsam den Abstieg. Bei jedem
Schritt schien er zu schrumpfen. Er war noch nicht weit gegangen, da war
er wieder zu einem ganz kleinen und verschreckten Hobbit geworden.
Jetzt ging er genau unter den Mauern des Turms vorbei und konnte die
Schreie und Kampfgeräusche nun auch ohne Hilfe des Ringes hören. Im
Augenblick schien der Lärm aus dem Hof hinter der äußeren Mauer zu
kommen.
Sam war etwa auf halber Höhe des Pfades, als aus dem dunklen Tor
zwei Orks in das rote Glühen hinausrannten. Sie kamen nicht auf ihn zu,
sondern schlugen den Weg zur Hauptstraße ein; aber während sie noch
liefen, stolperten sie und stürzten zu Boden und lagen still. Sam hatte
keine Pfeile gesehen, aber er vermutete, daß die Orks von anderen er-
schossen worden waren, die auf der Festungsmauer oder im Schatten des
Tors versteckt waren. Er ging weiter und hielt sich dicht an die Mauer zu
seiner Linken. Ein Blick nach oben hatte ihm gezeigt, daß keine Hoffnung
bestand, dort hinaufzuklettern. Das Mauerwerk stieg dreißig Fuß hoch
ohne Ritze oder Absatz bis zu vorstehenden Mauerschichten, die wie um-
gekehrte Treppenstufen waren. Das Tor war der einzige Weg.
Er kroch weiter; und dabei fragte er sich, wie viele Orks wohl bei Scha-
grat im Turm wohnten und wie viele Gorbag hatte, und worüber sie wohl
stritten, wenn das wirklich der Fall war. Schagrats Rotte schien aus etwa
vierzig zu bestehen, und die von Gorbag war mehr als doppelt so stark;
aber natürlich hatte Schagrat nicht alle seine Leute auf Streife geschickt.
Es schien ihm fast gewiß, daß sie sich um Frodo stritten, und um die
Beute. Eine Sekunde hielt Sam inne, denn plötzlich waren ihm die Dinge
klar, als ob er sie mit eigenen Augen gesehen habe. Das Panzerhemd aus
mithril! Natürlich, Frodo trug es ja, und sie würden es finden. Und nach
dem, was Sam gehört hatte, würde es Gorbag danach gelüsten. Aber die
Befehle vom Dunklen Turm waren zur Zeit Frodos einziger Schutz, und
wenn sie nicht befolgt würden, könnte Frodo jeden Augenblick getötet
werden.
»Weiter, du elender Faulpelz!« schrie er sich selbst an. »Nun los!« Er
zog Stich und rannte auf das offene Tor zu. Aber gerade, als er unter
dem großen Bogen durchgehen wollte, verspürte er einen Schlag: als ob er
gegen irgendein Netz gelaufen wäre, wie das von Kankra, nur unsichtbar.
Er konnte kein Hindernis sehen, aber irgend etwas, das zu stark war, als
daß sein Wille es überwand, versperrte ihm den Weg. Er schaute sich um,
und da sah er im Schatten des Tors die Zwei Wächter.
Sie waren wie große, auf Throne gesetzte Bildwerke. Jeder hatte drei
miteinander verbundene Leiber und drei Köpfe, die nach draußen, nach
drinnen und auf den Torbogen gerichtet waren. Die Köpfe hatten Geier-
gesichter, und auf den Knien der Gestalten lagen klauenartige Hände. Sie
schienen aus riesigen Steinblöcken herausgemeißelt zu sein, unbeweglich,
und doch waren sie auf der Hut: irgendein furchtbarer Geist böser Wach-
samkeit wohnte in ihnen. Sie wußten, wer ein Feind war. Sichtbar oder
unsichtbar, keiner könnte unbemerkt an ihnen vorbei. Sie würden ihm
den Eintritt oder die Flucht verbieten.
Sam stählte seinen Willen, nahm noch einmal einen Anlauf und kam
mit einem Ruck zum Stehen und taumelte, als habe er einen Schlag auf
Brust und Kopf erhalten. Dann wurde er tollkühn, denn ihm fiel nichts
ein, was er sonst hätte tun können, und er führte einen Gedanken aus, der
ihm plötzlich kam: langsam zog er Galadriels Phiole heraus und hielt sie
hoch. Ihr weißes Licht entzündete sich rasch, und die Schatten unter dem
dunklen Torbogen flohen. Die mißgestalteten Wächter saßen kalt und still
da und wurden in all ihrer Häßlichkeit sichtbar. Einen Augenblick sah
Sam ein Glitzern in den schwarzen Steinen ihrer Augen, deren Bosheit
ihn erzittern ließ; aber langsam merkte er, wie ihr Willen ins Wanken ge-
riet und sich in Angst verwandelte.
Er sprang an ihnen vorbei; aber gerade, als er das tat und die Phiole
wieder in die Brusttasche steckte, merkte er, daß sie ihre Wachsamkeit
wiedererlangten. Und aus diesen bösen Köpfen stieg ein lauter schriller
Schrei auf, der an den hohen Mauern vor ihm widerhallte. Als ob es ein
antwortendes Signal sei, tat hoch oben eine schrille Glocke einen einzigen
Schlag.
»Eine schöne Bescherung!« sagte Sam. »Jetzt habe ich an der Haustür
geklingelt! So, nun soll mal jemand kommen!« rief er. »Sagt Hauptmann
Schagrat, daß der große Elbenkrieger da ist, und sein Elbenschwert auch!«
Es kam keine Antwort. Sam ging weiter. Stich schimmerte blau in sei-
ner Hand. Der Hof lag in tiefem Schatten, aber er konnte sehen, daß das
Pflaster mit Leichen übersät war. Unmittelbar vor seinen Füßen lagen
zwei Ork-Bogenschützen, und Messer staken ihnen im Rücken. Dahinter
lagen noch mehr Gestalten; einige einzeln, wie sie niedergehauen oder er-
schossen worden waren; andere paarweise, einander noch umklammernd,
beim Zuhauen, Erwürgen und Beißen vom Tode ereilt. Die Steine waren
glitschig von dunklem Blut.
Sam fiel auf, daß die Orks zwei verschiedene Trachten trugen, die eine
gekennzeichnet durch das Rote Auge, die andere durch einen verzerrten
Mond mit einem abscheulichen Totengesicht; aber er blieb nicht stehen,
um genauer hinzuschauen. Auf der anderen Seite des Hofs stand eine
große Tür am Fuß des Turms halb offen, und ein rotes Licht schien her-
aus; ein großer Ork lag tot auf der Schwelle. Sam sprang über die Leiche
und ging hinein; und dann schaute er sich ratlos um.
Ein breiter und widerhallender Gang führte von der Tür nach hinten
zum Berghang. Er war schwach erleuchtet von Fackeln, die in Wandarmen
flackerten, aber weiter hinten verlor er sich in Düsternis. Viele Türen
und Öffnungen an beiden Seiten waren zu sehen; aber der Gang war leer
bis auf zwei oder drei weitere Leichen, die auf dem Boden lagen. Nach
dem, was er von dem Gerede des Hauptmanns gehört hatte, wußte Sam,
daß Frodo, tot oder lebendig, höchstwahrscheinlich in einem Gemach
hoch oben im Turm zu finden wäre; aber er könnte einen Tag lang
suchen, bis er den Weg dahin fand.
»Es wird in der Nähe der Rückseite sein, nehme ich an«, murmelte
Sam. »Der ganze Turm klettert gleichsam rückwärts. Und jedenfalls wird
es besser sein, wenn ich diesen Lichtem nachgehe.«
Er machte sich auf den Weg, den Gang entlang, aber langsam jetzt,
jeder Schritt zögernder. Von neuem packte ihn Entsetzen. Nichts war zu
hören als seine Fußtritte, die zu einem widerhallenden Geräusch anzu-
schwellen schienen, wie wenn große Hände auf Steine klopften. Die Lei-
chen; die Leere; die feuchten schwarzen Wände, die im Fackellicht aussa-
hen, als tropfe Blut von ihnen herab; die Angst vor einem plötzlichen
Tod, der hinter einer Tür oder im Schatten lauern könnte; und hinter all
seinen Gedanken die abwartende, wachsame Bosheit am Tor: es war fast
mehr, als er glaubte ertragen zu können. Ein Kampf — mit nicht zu vielen
Feinden auf einmal — wäre ihm lieber gewesen als diese häßliche lauernde
Ungewißheit. Er zwang sich, an Frodo zu denken, der gefesselt oder in
Qualen oder tot irgendwo an diesem schrecklichen Ort lag. Er ging weiter.
Er hatte die Fackeln hinter sich gelassen und war fast an einer großen
gewölbten Tür am Ende des Ganges angelangt, der inneren Seite des Un-
teren Tors, wie er richtig vermutete, als von hoch oben ein entsetzlicher,
erstickter Schrei kam. Sam blieb stehen. Dann hörte er Schritte. Irgend
jemand rannte in großer Eile eine widerhallende Treppe über ihm herunter.
Sein Wille war zu schwach und zu langsam, um seine Hand zurückzu-
halten. Sie zog an der Kette und umklammerte den Ring. Aber Sam
setzte ihn nicht auf; denn gerade, als er ihn an die Brust drückte, kam ein
Ork heruntergetrampelt. Er sprang aus der dunklen Öffnung rechter
Hand heraus und rannte auf ihn zu. Er war nicht mehr als sechs Schritte
entfernt, als er den Kopf hob und Sam sah; und Sam hörte seinen keu-
chenden Atem und sah das Funkeln seiner blutunterlaufenen Augen. Der
Ork blieb entsetzt stehen. Denn was er sah, war nicht ein kleiner, veräng-
stigter Hobbit, der versuchte, sein Schwert mit sicherer Hand zu halten:
er sah eine große stumme Gestalt, in grauen Schatten gehüllt, drohend
aufragend vor dem flackernden Licht dahinter; in der einen Hand hielt sie
ein Schwert, dessen Leuchten ein bitterer Schmerz war, die andere hielt
sie an die Brust gepreßt, aber sie verbarg irgendeine namenlose Drohung
von Macht und Unheil.
Einen Augenblick duckte sich der Ork, und dann drehte er sich mit
einem häßlichen Angstschrei um und floh dorthin zurück, wo er herge-
kommen war. Niemals war jemand ermutigter gewesen, wenn sein Feind
Fersengeld gab, als Sam bei dieser unerwarteten Flucht. Mit einem lauten
Ruf nahm er die Verfolgung auf.
»Ja! Der Elbenkrieger läuft frei umher!« rief er. »Ich komme. Zeig du
mir nur den Weg nach oben, sonst bring ich dich um!«
Aber der Ork war hier zu Hause, und er war flink und gut ernährt.
Sam war hier fremd, und er war hungrig und müde. Die Treppen waren
hoch und steil und gewendelt. Sam begann zu keuchen. Der Ork war bald
außer Sicht, und jetzt war nur noch schwach das Tapsen seiner Füße zu
hören, als er hoch und höher stieg. Ab und zu stieß er einen Schrei aus,
dessen Widerhall sich an den Wänden fortpflanzte. Aber langsam erstarb
jedes Geräusch.
Sam schleppte sich weiter. Er spürte, daß er auf dem richtigen Weg
war, und seine Stimmung hob sich beträchtlich. Er steckte den Ring weg
und zog sich den Gürtel fester. »Gut, gut«, sagte er. »Wenn sie nur alle
so viel Abneigung gegen mich und Stich bezeugen, dann mag es besser
gehen, als ich gehofft hatte. Und jedenfalls sieht es so aus, als ob Scha-
grat, Gorbag und Genossen mir fast die ganze Arbeit abgenommen
haben. Abgesehen von dieser kleinen, erschreckten Ratte ist, glaube ich,
hier keiner mehr am Leben!«
Und damit blieb er stehen, plötzlich zum Halten gebracht, als ob er mit
dem Kopf gegen die Steinwand gestoßen sei. Die volle Bedeutung dessen,
was er gesagt hatte, traf ihn wie ein Schlag. Niemand war am Leben! Wer
hatte diesen entsetzlichen Todesschrei ausgestoßen? »Frodo! Frodo!
Herr!« schrie er, halb schluchzend. »Wenn sie dich getötet haben, was
soll ich dann machen? Na, ich komme endlich, bis ganz nach oben, um zu
sehen, was ich sehen muß.«
Hinauf und immer weiter hinauf stieg er. Es war dunkel bis auf eine
Fackel dann und wann, die an einer Kehre flackerte oder neben irgend-
einer Öffnung, die zu den oberen Stockwerken des Turms führte. Sam
versuchte, die Stufen zu zählen, aber als er bei zweihundert angelangt
war, kam er durcheinander. Er ging jetzt ganz leise; denn er glaubte
Stimmen zu hören, die irgendwo oben sprachen. Offenbar ist doch mehr
als eine Ratte am Leben geblieben.
Mit einem Mal, als er merkte, daß ihm der Atem ausging und er seine
Knie nicht mehr zwingen konnte, sich zu beugen, hörte die Treppe auf. Er
blieb stehen. Die Stimmen waren jetzt laut und nahe. Sam schaute sich
um. Er war bis zu dem flachen Dach der dritten und höchsten Stufe des
Turms gekommen: eine offene Fläche, etwa dreißig Ellen breit, mit einer
niedrigen Brustwehr. Hier war die Treppe in der Mine des Dachs durch
eine kleine, mit einer Kuppel versehenen Kammer geschützt, die niedrige
Türen nach Osten und Westen hatte. Im Osten konnte Sam die Ebene von
Mordor sehen, die riesig und dunkel unter ihm lag, und den brennenden
Berg in der Feme. Ein neuer Aufruhr tobte in seinen tiefen Schächten,
und die Feuerströme loderten so grell, daß ihr Schein selbst bei dieser Ent-
fernung von vielen Meilen die Turmspitze rot erglühen ließ. Nach Westen
war die Sicht versperrt durch den Unterbau des großen Turms, der an der
Rückseite dieses oberen Hofs stand und die Gipfel der umliegenden Berge
hoch überragte. Licht schimmerte in einem Fensterschlitz. Seine Tür war
kaum fünfzehn Ellen von Sam entfernt. Sie stand offen, war aber dun-
kel, und gerade aus ihrem Schatten kamen die Stimmen.
Zuerst hörte Sam nicht hin; er tat einen Schritt aus der östlichen Tür
und schaute sich um. Sofort sah er, daß der Kampf hier am heftigsten ge-
wesen war. Der ganze Hof war übersät mit toten Orks oder ihren abge-
schlagenen Köpfen und Gliedern. Der ganze Ort stank nach Tod. Ein
Knurren und dann ein Schlag und ein Schrei veranlaßten ihn, sich schleu-
nigst wieder zu verstecken. Eine Stimme wurde laut vor Wut, und er er-
kannte sie sofort wieder, rauh, roh und kalt. Schagrat war es, der sprach,
der Hauptmann des Turms.
»Du willst nicht wieder gehen, sagst du? Verflucht sollst du sein, Snaga,
du kleiner Wurm! Wenn du glaubst, ich sei so lahm, daß es ungefährlich
ist, mich zu verhöhnen, dann irrst du dich. Komm her, ich drücke dir die
Augen raus, wie gerade bei Radbug. Und wenn ein paar neue Jungs kom-
men, dann rechne ich mit dir ab: zu Kankra werde ich dich schicken.«
»Sie werden nicht kommen, jedenfalls nicht, ehe du tot bist«, antwor-
tete Snaga grob. Ich habe dir schon zweimal gesagt, daß Gorbags
Schweine zuerst zum Tor kamen, und keiner von unseren ist rausgekom-
men. Lagdúf und Muzgasch rannten durch, aber sie wurden erschossen.
Ich habe es vom Fenster aus gesehen, das sage ich dir. Und sie waren die
letzten.«
»Dann mußt du gehen. Ich muß jedenfalls hierbleiben. Aber ich bin
verwundet. Die Schwarzen Verliese sollen diesen dreckigen, aufsässigen
Gorbag holen!« Schagrats Stimme verlor sich in einer Reihe von Schimpf-
namen und Flüchen. »Ich hab's ihm besser gegeben als er mir, aber er hat
mich mit dem Messer verletzt, der Mistkerl, ehe ich ihn erwürgte. Du
mußt gehen, oder ich fresse dich. Die Nachricht muß nach Lugbúrz, oder
wir kommen beide in die Schwarzen Verliese. Ja, du auch. Dem wirst du
nicht dadurch entgehen, daß du dich hier herumdrückst.«
»Diese Treppe gehe ich nicht wieder runter«, brummte Snaga, »ob du
Hauptmann bist oder nicht. Nee! Laß deine Hände vom Messer weg, oder
ich schieß dir einen Pfeil in den Bauch. Du wirst nicht mehr lange Haupt-
mann sein, wenn Sie von all diesen Vorgängen erfahren. Ich habe für den
Turm gegen diese stinkigen Morgul-Ratten gekämpft, aber das ist eine
schöne Schweinerei, die ihr zwei feinen Hauptleute angerichtet habt, als
ihr um die Beute kämpftet.«
»Jetzt reicht's mir aber«, knurrte Schagrat. »Ich hatte meine Befehle.
Gorbag hat angefangen, als er versuchte, das hübsche Hemd zu klauen.«
»Na, du hast ihn auch gereizt, als du dich so aufgespielt hast. Und er
hat jedenfalls mehr Verstand als du. Mehr als einmal hat er dir gesagt,
daß der gefährlichste von diesen Spähern immer noch frei herumläuft,
und du wolltest nicht hören. Und du willst auch jetzt nicht hören. Gorbag
hatte recht, das sage ich dir. Hier ist einer von diesen blutrünstigen Elben
oder einer von den dreckigen tarks. Er kommt her, das sage ich dir. Du
hast die Glocke gehört. Er ist an den Wächtern vorbeigekommen, und das
ist das Werk von tarks. Er ist auf der Treppe. Und ehe er da weg ist, gehe
ich nicht runter. Und wenn ich ein Nazgûl wäre, täte ich's nicht.«
»So ist das also!« kreischte Schagrat. »Dies willst du tun und jenes
willst du nicht tun? Und wenn er kommt, dann haust du ab und läßt mich
hier sitzen? Nein, das wirst du nicht! Erst werde ich dir rote Madenlöcher
in deinen Bauch machen.«
Aus der Turmtür kam ein kleinerer Ork herausgerannt. Hinter ihm
kam Schagrat, ein großer Ork mit langen Armen, die, als er gebückt
rannte, bis auf den Boden reichten. Aber ein Arm hing schlaff herunter
und schien zu bluten; der andere hatte ein großes schwarzes Bündel um-
klammert. In dem roten Schein sah Sam, der hinter der Treppentür
kauerte, flüchtig sein fieses Gesicht, als er vorbeikam: es war zerkratzt,
als sei es von Krallen zerfetzt worden, und blutverschmiert; Geifer tropfte
von seinen vorstehenden Fangzähnen; der Mund fauchte wie ein Tier.
Soweit Sam sehen konnte, jagte Schagrat Snaga über das ganze Dach,
bis der kleinere Ork, sich duckend und ihm entwischend, mit einem
Schrei wieder in den Turm schoß und verschwand. Dann blieb Schagrat
stehen. Von der östlichen Tür aus konnte Sam ihn jetzt an der Brustwehr
sehen, keuchend, seine linke Klaue ballend und schwach wieder öffnend.
Er legte das Bündel auf den Boden und zog mit der rechten Klaue ein lan-
ges rotes Messer heraus und spuckte drauf. Dann ging er zur Brustwehr,
beugte sich drüber und schaute hinunter in den äußeren Hof. Zweimal
rief er, aber es kam keine Antwort.
Plötzlich, als Schagrat noch über die Brustwehr gebeugt war und dem
Dach den Rücken kehrte, sah Sam zu seiner Verwunderung, daß sich
einer der liegenden Körper bewegte. Er kroch. Er streckte eine Klaue
aus und packte das Bündel. Er richtete sich taumelnd auf. In der anderen
Hand hielt er einen Speer mit breiter Spitze und einem kurzen, abgebro-
chenen Heft. Er hielt ihn stoßbereit. Aber in eben diesem Augenblick
entfuhr ihm ein Zischen, ein Keuchen vor Schmerz oder Haß. Flink wie
eine Schlange schlüpfte Schagrat zur Seite, drehte sich um und stieß sei-
nem Feind sein Messer in die Kehle.
»Habe ich dich, Gorbag!« schrie er. »Noch nicht ganz tot, wie? Na,
jetzt werde ich dich fertigmachen.« Er sprang auf den liegenden Körper
und stampfte und trampelte in seiner Wut auf ihm herum und bückte sich
ab und zu, um ihn mit seinem Messer zu durchbohren und zu zerfetzen.
Endlich befriedigt, warf er den Kopf zurück und stieß einen entsetzlichen,
gurgelnden Siegesschrei aus. Dann leckte er sein Messer ab, hielt es zwi-
schen den Zähnen, nahm das Bündel auf und kam mit großen Schritten
zu der auf seiner Seite liegenden Treppentür.
Sam hatte keine Zeit zum Nachdenken. Er hätte aus der anderen Tür
hinausschlüpfen können, aber kaum, ohne gesehen zu werden; und er
hätte nicht lange mit diesem abscheulichen Ork Versteck spielen können.
Er tat, was wahrscheinlich das Beste war, was er tun konnte. Mit einem
Schrei sprang er Schagrat entgegen. Er hielt den Ring nicht mehr in der
Hand, aber er war da, eine verborgene Macht, eine entmutigende Bedro-
hung für Mörders Diener; und in der Hand hielt er Stich, und sein
Schimmern durchbohrte die Augen des Orks wie das Glitzern grausamer
Sterne in den schrecklichen Elbenländern, deren Frohsinn alle von seiner
Sorte mit kalter Furcht erfüllte. Und Schagrat konnte nicht gleichzeitig
kämpfen und seinen Schatz festhalten. Er blieb knurrend stehen und ent-
blößte seine Fangzähne. Dann sprang er nach Art der Orks wieder zur
Seite, und als Sam auf ihn losstürzte, benutzte er das schwere Bündel
gleichzeitig als Schild und Waffe und stieß es seinem Feind hart ins Ge-
sicht. Sam taumelte, und ehe er sich wieder fangen konnte, schoß Scha-
grat an ihm vorbei und die Treppe hinunter.
Sam rannte ihm fluchend nach, aber nicht weit. Ihm fiel Frodo nun
wieder ein, und er dachte daran, daß der andere Ork in den Turm zurück-
gegangen war. Hier war wiederum eine entsetzliche Entscheidung zu tref-
fen, und er hatte keine Zeit, darüber nachzudenken. Wenn Schagrat ent-
kam, dann würde er bald Hilfe holen und zurückkommen. Aber wenn
Sam ihn verfolgte, könnte der andere Ork da oben etwas Entsetzliches an-
richten. Und außerdem könnte es sein, daß er Schagrat verfehlte oder von
ihm getötet würde. Er wandte sich rasch um und rannte zurück, die Trep-
pen hinauf. »Wieder falsch gemacht, nehme ich an«, seufzte er. »Aber
meine Aufgabe ist es, zuerst bis ganz nach oben zu gehen, was immer
nachher geschehen mag.«
Weit unten sprang Schagrat mit seiner kostbaren Last die Treppe hin-
unter und hinaus über den Hof und durch das Tor. Wenn Sam ihn haue
sehen können und gewußt hätte, welches Leid seine Flucht bringen würde,
dann hätte er vielleicht den Mut verloren. Aber jetzt war sein Sinn auf
den letzten Abschnitt seiner Suche gerichtet. Vorsichtig kam er zur
Turmtür und trat ein. Sie führte ins Dunkle. Aber bald bemerkten seine
starrenden Augen ein trübes Licht zu seiner Rechten. Es kam von einer
Öffnung, von der aus eine zweite Treppe, dunkel und schmal, ausging:
sie schien sich an der Innenseite der runden Außenmauer des Turms hin-
aufzuwendeln. Eine Fackel schimmerte irgendwo da oben.
Leise begann Sam hinaufzusteigen. Er kam zu der tropfenden Fackel;
sie war an einer Tür zu seiner Linken befestigt, die einem nach Westen
gehenden Fensterschlitz gegenüberlag: einem der roten Augen, die er
und Frodo von unten am Ausgang des unterirdischen Ganges gesehen
hatte. Rasch ging Sam durch die Tür und eilte weiter zum zweiten Stock-
werk und fürchtete, jeden Augenblick von hinten angegriffen zu werden
und würgende Finger an seiner Kehle zu spüren. Als nächstes kam er zu
einem Fenster, das nach Osten ging, und zu einer weiteren Fackel über
der Tür zu einem Gang in der Mitte des Turms. Die Tür stand offen, der
Gang war dunkel bis auf den Schimmer der Fackel und das rote Glühen
draußen, das durch den Fensterschlitz hereindrang. Aber hier hörte die
Treppe auf und ging nicht weiter. Sam schlich in den Gang. Auf beiden
Seiten waren niedrige Türen; beide waren zu und verschlossen. Kein Laut
war zu hören.
»Eine Sackgasse«, murmelte Sam, »und das nach so viel Kletterei! Das
kann doch nicht die Spitze des Turms sein. Aber was mache ich jetzt?«
Er rannte zurück zum unteren Stockwerk und versuchte die Tür. Sie
rührte sich nicht. Er rannte wieder hinauf, und der Schweiß begann ihm
über das Gesicht zu rinnen. Er spürte, daß selbst Minuten kostbar seien,
aber eine nach der anderen verging; und er konnte nichts tun. Er küm-
merte sich nicht mehr um Schagrat oder Snaga oder alle anderen Orks,
die je gezüchtet worden waren. Er sehnte sich jetzt nur nach seinem
Herrn, wollte sein Gesicht sehen, seine Hand berühren.
Erschöpft und mit dem Gefühl, endgültig gescheitert zu sein, setzte er
sich schließlich auf eine Stufe unter dem Gang und legte den Kopf in die
Hände. Es war still, entsetzlich still. Die Fackel, die schon ziemlich herun-
tergebrannt war, als er kam, zischte und ging dann aus; und er hatte das
Gefühl, daß ihn die Dunkelheit wie eine Flut überrollte. Und dann, zu sei-
ner eigenen Überraschung, jetzt am vergeblichen Ende seiner langen Fahrt
und in seinem Kummer, ohne sagen zu können, welcher Gedanke in sei-
nem Herzen ihn dazu angeregt hatte, begann Sam leise zu singen.
Seine Stimme klang dünn und zittrig in dem kalten dunklen Turm: die
Stimme eines unglücklichen und müden Hobbits, die kein lauschender
Ork irrtümlich für den klaren Gesang eines Herrn der Elben hätte halten
können. Er murmelte alte kindische Weisen aus dem Auenland und
Bruchstücke von Herrn Bilbos Versen, die ihm in den Sinn kamen, gleich-
sam wie flüchtige Lichtblicke aus seinem Heimatland. Und dann plötzlich
erwuchs eine neue Kraft in ihm, und seine Stimme erschallte laut, wäh-
rend Wörter, die er erfand und die zu der einfachen Weise paßten, sich
ungeheißen einstellten.

Im hellen Westen blüht es schon,
Von Knospen schwillt der Baum,
Die Finken üben ihren Ton,

Der Wildbach quirlt im Schaum.
Vielleicht auch steht die klare Nacht

Den Buchen ins Gezweig,
Hat ihnen Sterne zugedacht

Als elbisches Geschmeid.
Lieg ich auch hier zu guter Letzt
In tiefster Finsternis
Wie ausgeblutet, wie zerfetzt,

Es ist mir doch gewiß:
Die Sonne zieht die hohe Bahn,
Der Stern den milden Lauf,
Solang der Tag noch nicht vertan

Geh ich den Sieg nicht auf.

»Im hellen Westen blüht es schon«, begann er wieder, und dann hielt
er inne. Er glaubte, er habe eine schwache Stimme gehört, die ihm ant-
wortete. Aber jetzt konnte er nichts mehr hören. Ja, er hörte etwas, doch
keine Stimme. Fußtritte näherten sich. Jetzt wurde in dem Gang über ihm
leise eine Tür geöffnet; die Angeln quietschten. Sam duckte sich und
lauschte. Die Tür schloß sich mit einem dumpfen Bums; und dann ertönte
eine knurrige Orkstimme.
20;
»Heda! Du da oben, du Misthaufenratte! Hör auf zu quieken, sonst
komm ich rauf und rechne mit dir ab. Hörst du?«
Es kam keine Antwort.
»Na gut«, brummte Snaga. »Aber ich werde trotzdem kommen und
dich mal angucken und sehen, was du vorhast.«
Die Angeln quietschten wieder, und Sam, der jetzt über die Ecke der
Gangschwelle spähte, sah ein Flackern von Licht in einer offenen Tür und
undeutlich die Gestalt eines herauskommenden Ork. Er schien eine Leiter
zu tragen. Plötzlich wurde ihm die Lösung des Rätsels klar: die oberste
Kammer war durch eine Falltür in der Decke des Ganges zugänglich.
Snaga stieß die Leiter hoch, stellte sie fest hin, kletterte hinauf und war
nicht mehr zu sehen. Sam hörte, wie ein Riegel zurückgeschoben wurde.
Dann hörte er die abscheuliche Stimme wieder.
»Du liegst still, oder du wirst es büßen. Du wirst nicht lange in Frieden
leben, nehme ich an; aber wenn du nicht willst, daß der Spaß gleich be-
ginnt, dann halte deine Klappe, verstanden? Hier hast du einen Denkzet-
tel!« Man hörte ein Geräusch wie einen Peitschenknall.
Da entflammte sich der Zorn in Sams Herzen zu plötzlicher Raserei. Er
sprang auf und kletterte wie eine Katze die Leiter hinauf. Sein Kopf
tauchte in der Mitte des Fußbodens eines großen, runden Gemachs auf.
Eine rote Lampe hing an der Decke; der westliche Fensterschlitz war hoch
und dunkel. Irgend etwas lag auf dem Boden an der Wand unter dem Fen-
ster, und darüber stand mit gespreizten Beinen ein schwarzer Ork. Er hob
eine Peitsche ein zweites Mal, aber der Schlag fiel nie.
Mit einem Schrei sprang Sam über den Fußboden, Stich in der Hand.
Der Ork fuhr herum, aber ehe er eine Bewegung machen konnte, schlug
ihm Sam die Peitschenhand vom Arm ab. Heulend vor Schmerz und
Angst, aber verzweifelt, ging der Ork mit gesenktem Kopf auf ihn los.
Sams nächster Schlag ging daneben, er verlor das Gleichgewicht, fiel nach
hinten und hielt sich an dem Ork fest, der über ihn stolperte. Ehe er sich
aufrappeln konnte, hörte er einen Schrei und einen Bums. In seiner Hast war
der Ork auf dem oberen Ende der Leiter ausgerutscht und durch die Falltür
gestürzt. Sam verlor keinen Gedanken mehr an ihn. Er rannte zu der auf dem
Boden zusammengekauerten Gestalt. Es war Frodo.
Er war nackt und lag wie in einer Ohnmacht auf einem Haufen
schmutziger Lumpen; den einen Arm hatte er erhoben, um seinen Kopf
zu schützen, und über seine Seite lief eine häßliche Peitschenstrieme.
»Frodo! Herr Frodo, mein Lieber!« rief Sam, fast blind vor Tränen. »Ich
bin's, Sam, ich bin gekommen!« Er hob seinen Herrn halb hoch und
drückte ihn an sich. Frodo öffnete die Augen.
»Träume ich noch?« murmelte er. »Aber die anderen Träume waren
entsetzlich.«
»Du träumst ganz und gar nicht, Herr«, sagte Sam. »Es ist wirklich so.
Ich bin es. Ich bin gekommen.«
»Ich kann es kaum glauben«, sagte Frodo und hielt sich an ihm fest.
»Da war ein Ork mit einer Peitsche, und dann verwandelte er sich in
Sam! Dann habe ich gar nicht geträumt, als ich das Singen von unten
hörte, und zu antworten versuchte? Warst du das?«
»Ja, wirklich, Herr Frodo. Ich hatte fast die Hoffnung aufgegeben. Ich
konnte dich nicht finden.«
»Na, nun hast du mich gefunden, Sam, lieber Sam«, sagte Frodo, und
er legte sich zurück in Sams liebevolle Arme und schloß die Augen wie
ein beruhigtes Kind, wenn die Ängste der Nacht durch irgendeine geliebte
Stimme oder Hand vertrieben sind.
Sam hatte das Gefühl, daß er voller Glückseligkeit hier ewig sitzen
bleiben könne; aber das durfte er nicht. Es war nicht genug, daß er seinen
Herrn gefunden hatte, er mußte auch noch versuchen, ihn zu retten. Er
küßte Frodo auf die Stirn. »Komm! Wach auf, Herr Frodo!« sagte er und
bemühte sich, so fröhlich zu klingen wie einst, wenn er in Beutelsend an
einem schönen Sommermorgen die Vorhänge aufzog.
Frodo seufzte und setzte sich auf. »Wo sind wir? Wie bin ich hierher
gekommen?« fragte er.
»Jetzt ist keine Zeit für Geschichten, bis wir woanders sind, Herr
Frodo«, sagte Sam. »Aber du bist in der Spitze von jenem Turm, den du
und ich weit unten von dem unterirdischen Gang aus gesehen haben, ehe
die Orks dich holten. Wie lange das her ist, weiß ich nicht. Mehr als
einen Tag, nehme ich an.«
»Nur?« sagte Frodo. »Mir kam es wie Wochen vor. Du mußt mir alles
erzählen, wenn wir Gelegenheit dazu haben. Irgend etwas hat mich ver-
wundet, nicht wahr? Und ich sank in Dunkelheit und üble Träume, und
ich wachte auf und merkte, daß das Aufwachen noch schlimmer war.
Ringsum waren Orks. Ich glaube, sie hatten mir gerade irgendein scheuß-
liches, brennendes Getränk eingeflößt. Mein Kopf wurde klar, aber mir
tat alles weh, und ich war müde. Sie haben mich völlig ausgezogen; und
dann kamen zwei große Rohlinge und verhörten mich, verhörten mich,
bis ich glaubte, ich würde verrückt werden, als sie so über mir standen
und mich anstierten und mit ihren Messern herumspielten. Ihre Klauen
und Augen werde ich nie vergessen.«
»Bestimmt nicht, wenn du davon sprichst, Herr Frodo«, sagte Sam.
»Und wenn wir sie nicht wiedersehen sollen, dann ist es um so besser, je
früher wir gehen. Kannst du laufen?«
»Ja, ich kann laufen«, sagte Frodo und richtete sich langsam auf. »Ich
bin nicht verletzt, Sam. Ich bin bloß so müde und habe hier Schmer-
zen.« Er legte seine Hand auf den Nacken über der linken Schulter. Er
stand auf, und es schien Sam, als ob er in Flammen gekleidet sei: seine
nackte Haut war im Schein der Lampe scharlachrot. Zweimal ging er
durch das Zimmer.
»Das ist besser«, sagte er, und seine Stimmung hob sich ein wenig.
»Ich wagte mich nicht zu rühren, als ich allein geblieben war, oder wenn
einer der Wächter kam. Bis das Schreien und Kämpfen begann. Die bei-
den großen Rohlinge: sie haben sich gestritten, glaube ich. Über mich und
meine Sachen. Ich lag hier und hatte Angst. Und dann wurde plötzlich
alles totenstill, und das war noch schlimmer.«
»Ja, sie haben sich offenbar gestritten«, sagte Sam. »Es müssen ein
paar Hundert von diesen dreckigen Geschöpfen hier gewesen sein. Ein
bißchen zu viele für Sam Gamdschie, wie man sagen könnte. Aber all das
Töten haben sie selbst erledigt. Das war ein Glück, aber die Geschichte ist
zu lang, um ein Lied daraus zu machen, bis wir hier draußen sind. Was
ist jetzt zu tun? Du kannst nicht im Schwarzen Land Spazierengehen mit
nichts an als deiner Haut, Herr Frodo.«
»Sie haben mir alles weggenommen, Sam«, sagte Frodo. »Alles was ich
hatte. Verstehst du? Alles!« Er kauerte sich auf den Fußboden und senkte
den Kopf, als ihm bei seinen eigenen Worten die ganze Größe des Un-
glücks klar wurde, und Verzweiflung übermannte ihn. »Die Aufgabe ist
gescheitert, Sam. Selbst wenn wir hier herauskommen, können wir nicht
entfliehen. Nur Elben können entfliehen. Hinweg, hinweg aus Mittelerde,
weit über das Meer. Wenn das überhaupt breit genug ist, um den Schat-
ten fernzuhalten.«
»Nein, nicht alles, Herr Frodo. Und noch ist die Aufgabe nicht ge-
scheitert, noch nicht. Ich habe ihn genommen, Herr Frodo, bitte um Ent-
schuldigung. Und ich habe ihn sicher verwahrt. Jetzt hängt er um meinen
Hals, und eine schreckliche Last ist er übrigens.« Sam tastete nach dem
Ring und der Kette. »Aber ich nehme an, du mußt ihn zurückhaben.«
Jetzt, da es soweit war, empfand Sam ein Widerstreben, den Ring herzu-
geben und ihn seinem Herrn wieder zu überlassen.
»Du hast ihn?« staunte Frodo. »Du hast ihn hier? Sam, du bist wun-
derbar!« Dann änderte sich sein Ton rasch und seltsam. »Gib ihn mir!«
schrie er, stand auf und streckte zitternd die Hand aus. »Gib ihn mir
sofort! Du kannst ihn nicht behalten.«
»Schon gut, Herr Frodo«, sagte Sam, einigermaßen verblüfft. »Hier ist
er.« Langsam holte er den Ring heraus und zog sich die Kette über den
Kopf. »Aber du bist jetzt im Land Mordor, Herr, und wenn du hinaus-
kommst, siehst du den Feurigen Berg und alles. Du wirst merken, daß der
Ring jetzt sehr gefährlich ist, und sehr schwer zu tragen. Wenn es zu
mühsam für dich ist, könnte ich dir da nicht vielleicht helfen?«
»Nein, nein!« schrie Frodo und riß Sam Ring und Kette aus der Hand.
»Das wirst du nicht, du Dieb!« Er keuchte und starrte Sam mit weit auf-
gerissenen Augen voll Angst und Feindseligkeit an. Dann umschloß er
den Ring mit einer Hand und war plötzlich ganz bestürzt. Ein Nebel
schien sich von seinen Augen zu heben, und er fuhr sich mit der Hand
über seine schmerzende Stirn. Das abscheuliche Gaukelbild war ihm so
wirklich vorgekommen, halb betäubt, wie er war durch seine Wunde und
seine Angst. Sam hatte sich vor seinen Augen wieder in einen Ork ver-
wandelt, der lüstern auf seinen Schatz blickte und nach ihm grapschte,
ein widerliches kleines Geschöpf mit gierigen Augen und sabberndem
Mund. Aber jetzt war das Gaukelbild verschwunden. Da war Sam, der
vor ihm kniete, das Gesicht schmerzverzerrt, als ob er einen Dolchstich
ins Herz bekommen habe; Tränen stürzten ihm aus den Augen.
»O Sam!« rief Frodo. »Was habe ich gesagt? Was habe ich getan? Ver-
zeih mir! Nach allem, was du getan hast. Das ist die entsetzliche Macht
des Ringes. Ich wünschte, er wäre niemals, niemals gefunden worden.
Aber mach dir nichts draus, Sam. Ich muß die Last bis zu Ende tragen.
Es läßt sich nicht ändern. Du kannst dich nicht zwischen mich und dieses
Schicksal stellen.«
»Das ist schon recht, Herr Frodo«, sagte Sam und fuhr sich mit dem
Ärmel über die Augen. »Das verstehe ich. Aber ich kann doch helfen,
nicht wahr? Ich muß dich hier rausbringen. Sofort, verstehst du? Aber
zuerst brauchst du Kleider und Ausrüstung, und dann etwas zu essen.
Die Kleider werden das einfachste sein. Da wir in Mordor sind, putzen
wir uns am besten auf Mordor-Art heraus; und wir haben sowieso keine
Auswahl. Es wird Orkzeug für dich sein müssen, Herr Frodo, fürchte ich.
Und für mich auch. Wenn wir zusammen gehen, ist es am besten, wenn
wir gleich aussehen. Jetzt nimm das erst mal um.«
Sam löste die Schließe von seinem grauen Mantel und warf ihn Frodo
um die Schultern. Dann schnallte er seinen Rucksack ab und legte ihn auf
den Boden. Er zog Stich aus der Scheide. Kaum ein Flackern war auf der
Klinge zu sehen. »Das habe ich vergessen, Herr Frodo«, sagte er. »Nein,
sie haben nicht alles bekommen! Du hast mir Stich geliehen, wenn du
dich erinnerst, und das Glas der Herrin. Ich habe sie beide noch. Aber
leihe sie mir noch eine Weile, Herr Frodo. Ich muß gehen und sehen, was
ich finden kann. Du bleibst hier. Geh ein bißchen auf und ab und vertritt
dir die Beine. Ich bleibe nicht lange weg. Ich brauche nicht weit zu ge-
hen.«
»Sei vorsichtig, Sam«, sagte Frodo. »Und mach schnell. Es können
noch Orks am Leben sein und dir auflauern.«
»Ich muß es versuchen«, sagte Sam. Er ging zur Falltür und glitt die
Leiter hinunter. Nach einer Minute erschien sein Kopf wieder. Er warf ein
langes Messer auf den Fußboden.
»Das ist etwas, was nützlich sein könnte«, sagte er. »Er ist tot: der, der
dich gepeitscht hat. Hat den Hals gebrochen, scheint es, in seiner Eile.
Jetzt zieh die Leiter hoch, wenn du kannst, Herr Frodo; und laß sie nicht
wieder herunter, ehe du von mir die Losung hörst. Elbereth werde ich
rufen. Was die Elben sagen. Kein Ork würde das sagen.«
Frodo blieb eine Weile sitzen und fröstelte, und eine gräßliche Befürch-
tung nach der anderen ging ihm durch den Sinn. Dann stand er auf, zog
den grauen Elbenmantel fest um sich und ging, um seinen Geist zu be-
schäftigen, auf und ab und stöberte und suchte in allen Winkeln seines
Gefängnisses.
Es dauerte nicht lange, obwohl die Angst bewirkte, daß es ihm minde-
stens wie eine Stunde vorkam, da hörte er Sams Stimme, der leise von un-
ten rief: Elbereth, Elbereth. Frodo ließ die leichte Leiter hinunter. Herauf
kam Sam, schnaufend, ein großes Bündel mit dem Kopf hochhievend. Er
ließ es mit einem Bums fallen.
»Nun rasch, Herr Frodo«, sagte er. »Ich habe ein bißchen suchen müs-
sen, um etwas zu finden, das für unsereinen klein genug ist. Wir müssen
uns damit behelfen. Aber wir müssen uns eilen. Ich habe nichts Lebendi-
ges getroffen und nichts gesehen, aber mir ist nicht wohl dabei. Ich
glaube, diese Festung wird beobachtet. Ich kann es nicht erklären, aber,
na ja, mir kommt es so vor, als ob einer dieser widerlichen fliegenden
Reiter in der Gegend ist, hoch oben in der Schwärze, wo man ihn nicht
sehen kann.«
Er machte das Bündel auf. Frodo sah voll Abscheu auf den Inhalt, aber
es blieb ihm nichts anderes übrig: er mußte die Sachen anziehen oder
nackt gehen. Da waren lange haarige Kniehosen aus irgendeinem unsau-
beren Tierfell, und ein Wams aus dreckigem Leder. Er zog sie an. Über
das Wams kam ein Panzerhemd aus kräftigen Ringen, kurz für einen aus-
gewachsenen Ork, zu lang und zu schwer für Frodo. Darüber schnallte er
sich einen Gürtel, an dem eine kurze Scheide mit einem Stoßschwert mit
breiter Klinge hing. Sam hatte mehrere Orkhelme mitgebracht. Einer
davon paßte Frodo einigermaßen, eine schwarze Kappe mit Eisenkrempe
und lederbezogenen Eisenreifen, auf die über dem schnabelartigen Nasen-
schutz das böse Auge in Rot aufgemalt war.
»Das Morgul-Zeug, Gorbags Ausrüstung, hätte besser gepaßt und war
besser gearbeitet«, sagte Sam, »aber es geht wohl nicht, nehme ich an,
seine Abzeichen nach Mordor zu bringen, jedenfalls nicht nach dieser
Geschichte hier. So, da bist du nun, Herr Frodo. Ein vollendeter kleiner
Ork, wenn ich mir das erlauben darf — zumindest wärst du es, wenn wir
dein Gesicht mit einer Maske verdecken, dir längere Arme geben und
dich krummbeinig machen könnten. Das hier wird einige der verräteri-
schen Zeichen verdecken.« Er legte Frodo einen langen schwarzen Mantel
über die Schultern. »Nun bist du fertig! Du kannst dir unterwegs noch
einen Schild suchen.«
»Was ist, Sam?« fragte Frodo. »Wollten wir nicht gleich aussehen?«
»Nun, Herr Frodo, ich habe nachgedacht«, sagte Sam. »Es ist besser,
wenn ich nichts von meinem Zeug hier zurücklasse, und wir könnten es
nicht vernichten. Und ich kann nicht über all meinen Kleidern einen Ork-
panzer tragen, nicht wahr? Ich kann mich bloß verhüllen.«
Er kniete nieder und faltete seinen Elbenmantel sorgfältig. Er ergab
eine erstaunlich kleine Rolle. Die steckte er oben in seinen Rucksack, der
auf dem Boden lag. Als er aufstand, schnallte er ihn sich auf den Rücken,
setzte sich einen Orkhelm auf den Kopf und warf sich einen schwarzen
Mantel über die Schultern. »So!« sagte er. »Jetzt sehen wir ziemlich
gleich aus. Und nun müssen wir los.«
»Ich kann nicht den ganzen Weg rennen«, sagte Frodo mit einem ver-
zerrten Lächeln. »Ich hoffe, du hast Erkundigungen eingezogen über
Wirtshäuser an der Straße. Oder hast du Essen und Trinken ganz verges-
sen?«
»Wirklich und wahrhaftig, das habe ich«, sagte Sam. Er pfiff vor
Schreck. »Du meine Güte, jetzt hast du mich ganz hungrig und durstig
gemacht, Herr Frodo. Ich weiß nicht, wann mir der letzte Tropfen oder
Krümel über die Lippen kam. Ich hab's vergessen, als ich versuchte, dich
zu finden. Aber laß mich nachdenken! Das letzte Mal, als ich nach-
schaute, hatte ich noch genug von dieser Wegzehrung und von dem, was
Heermeister Faramir uns gegeben hat, um mich notfalls noch ein paar
Wochen auf den Beinen zu halten. Aber wenn noch ein Tropfen in mei-
ner Flasche ist, dann gibt's nichts mehr. Das wird nicht genug sein für
zwei, keinesfalls. Essen Orks denn nicht, und trinken sie nicht? Oder
leben sie bloß von verpesteter Luft und Gift?«
»Nein, sie essen und trinken, Sam. Der Schatten, der sie gezüchtet hat,
kann nur nachäffen, er kann nicht erschaffen: nicht wirklich eigene neue
Dinge machen. Ich glaube nicht, daß er den Orks das Leben geschenkt
hat, er hat sie nur verdorben und entartet. Und wenn sie überhaupt leben
sollen, dann müssen sie wie andere Lebewesen leben. Stinkiges Wasser
und stinkiges Fleisch führen sie sich zu Gemüte, wenn sie nichts Besseres
bekommen können, aber kein Gift. Mir haben sie zu essen gegeben, und
so bin ich besser dran als du. Irgendwo an diesem Ort muß es Wasser
und Essen geben.«
»Aber wir haben keine Zeit, danach zu suchen«, sagte Sam.
»Nun, die Lage ist besser, als du glaubst«, sagte Frodo. »Ich habe ein
bißchen Glück gehabt, als du fort warst. Sie haben tatsächlich nicht alles
genommen. Unter ein paar Lumpen auf dem Fußboden habe ich meinen
Brotbeutel gefunden. Natürlich haben sie ihn durchwühlt. Aber ich ver-
mute, das Aussehen und den Geruch von lembas mögen sie gar nicht,
noch weniger als Gollum. Die lembas waren überall verstreut, manche
waren zertrampelt oder zerbrochen, aber ich habe sie aufgesammelt. Es ist
nicht viel weniger als das, was du hast. Aber Faramirs Essen haben sie
genommen und meine lederne Wasserflasche aufgeschlitzt.«
»Gut, dann brauchen wir nicht mehr darüber zu reden«, sagte Sam.
»Für den Anfang haben wir genug. Aber mit dem Wasser wird es
schlimm. Doch komm nun, Herr Frodo. Wir gehen jetzt los, sonst wird
uns auch ein ganzer See nichts mehr nützen!«
»Nicht, ehe du einen Happen gegessen hast, Sam«, sagte Frodo. »Vor-
her rühre ich mich nicht von der Stelle. Hier, nimm diesen Elbenkuchen
und trink den letzten Tropfen aus deiner Flasche! Die ganze Sache ist
ziemlich hoffnungslos, da hat es keinen Zweck, sich über morgen Gedan-
ken zu machen. Wahrscheinlich gibt es gar kein Morgen.«
Endlich brachen sie auf. Sie kletterten die Leiter hinunter, und dann
nahm Sam sie und legte sie neben die zusammengesackte Leiche des her-
untergefallenen Ork. Die Treppe war dunkel, aber oben auf dem Dach
konnte man noch den Schein des Berges sehen, obwohl er jetzt zu einem
dunklen Rot verblaßte. Sie nahmen sich zwei Schilde, um ihre Verklei-
dung zu vervollständigen, und gingen dann weiter.
Sie stapften die große Treppe hinunter. Die hohe Kammer im Turm, wo
sie sich wiedergetroffen hatten, erschien ihnen jetzt fast anheimelnd: nun
waren sie wieder im Freien, und Entsetzen ging von den Mauern aus.
Vielleicht waren alle tot im Turm von Cirith Ungol, aber noch immer war
er erfüllt von Schrecken und Unheil.
Schließlich kamen sie zu der Tür, die zum äußeren Hof führte, und sie
hielten an. Selbst von dort, wo sie jetzt standen, spürten sie, wie die Bos-
heit der Wächter auf sie traf, schwarze, stumme Gestalten auf beiden Sei-
ten des Tors, durch das der Schein von Mordor schwach hindurchschim-
merte. Als sie sich ihren Weg durch die häßlichen Leichen der Orks
bahnten, wurde jeder Schritt schwieriger. Ehe sie auch nur den Torbogen
erreicht hatten, mußten sie stehenbleiben. Nur einen Zoll weiterzugehen,
war eine Qual und Anstrengung für Willen und Glieder.
Frodo hatte keine Kraft für einen solchen Kampf. Er sank auf den
Boden. »Ich kann nicht weitergehen, Sam«, murmelte er. »Ich werde ohn-
mächtig. Ich weiß nicht, was über mich gekommen ist.«
»Ich weiß es, Herr Frodo. Halte jetzt durch. Es ist das Tor. Da ist
irgendeine Teufelei. Aber ich bin hereingekommen, und ich werde auch
wieder hinauskommen. Es kann nicht gefährlicher sein als vorher. Nun
los!«
Sam zog wieder das Elbenglas von Galadriel heraus. Als ob die Phiole
seiner Kühnheit Ehre erweisen und seine treue braune Hobbithand, die
solche Taten vollbracht hatte, mit Glanz verschönen wollte, strahlte sie
plötzlich auf, so daß der ganze schattige Hof von einer blendenden Hel-
ligkeit wie von einem Blitz erleuchtet war; aber das Licht blieb hell und
ging nicht aus.
»Gilthoniel, A Elbereth!" rief Sam. Denn ohne zu wissen, warum,
dachte er mit einem Mal an die Elben im Auenland und an das Lied, das
den Schwarzen Reiter vertrieben hatte, so daß er zwischen den Bäumen
verschwand.
Aiya elenion ancalima! rief Frodo, der jetzt wieder hinter ihm war.
Der Wille der Wächter wurde mit einer Plötzlichkeit gebrochen, als ob
ein Strick riß, und Frodo und Sam stolperten vorwärts. Dann rannten sie.
Durch das Tor und vorbei an den großen sitzenden Gestalten mit ihren
glitzernden Augen. Dann kam ein Krachen. Der Mittelstein des Gewölbes
brach heraus und stürzte ihnen fast auf die Fersen, und die Mauer dar-
über zerbröckelte und fiel in Trümmer. Nur um Haaresbreite waren sie
entkommen. Eine Glocke schlug; und die Wächter stießen einen hohen
und entsetzlichen Klageruf aus. Hoch oben in der Dunkelheit wurde er
beantwortet. Aus dem schwarzen Himmel kam wie ein Pfeil eine geflü-
gelte Gestalt herabgeschossen und zerriß die Wolken mit einem grausigen
Kreischen.

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