ACHTES KAPITEL
DIE HÄUSER DER HEILUNG

Ein Nebel war vor Merrys Augen vor Tränen und Müdigkeit, als sie
sich dem zerstörten Tor von Minas Tirith näherten. Er achtete wenig der
Verheerungen und des Gemetzels ringsum. Feuer und Rauch und Gestank
hingen in der Luft; denn viele Belagerungsmaschinen waren verbrannt
oder in die Feuergräben geworfen worden, und auch viele der Erschla-
genen, während hier und dort die Kadaver der großen Südland-Ungeheuer
lagen, halbverbrannt oder durch Steinwürfe getötet oder durch die Augen
geschossen von den tapferen Bogenschützen von Morthond. Der flüch-
tige Regen hatte eine Zeitlang aufgehört, und hoch oben schimmerte die
Sonne; doch die ganze untere Stadt war in schwelenden Qualm gehüllt.
Schon waren Männer an der Arbeit, um einen Weg durch das Trüm-
merfeld der Schlacht zu bahnen; und jetzt kamen aus dem Tor einige
Leute, die Bahren trugen. Behutsam legten sie Éowyn auf weiche Kissen;
aber des Königs Leiche bedeckten sie mit einem großen Tuch aus Gold,
und sie trugen Fackeln rings um ihn, und ihre Flammen, bleich im Son-
nenlicht, flackerten im Wind.
So kamen Théoden und Éowyn in die Stadt von Gondor, und alle, die
sie sahen, entblößten das Haupt und verneigten sich; und sie kamen
durch die Asche und den Rauch des niedergebrannten Ringes und gingen
weiter und hinauf auf den Straßen aus Stein. Merry kam der Aufstieg
endlos vor, ein sinnloser Weg in einem abscheulichen Traum, weiter und
weiter gehen zu irgendeinem düsteren Ende, das das Erinnerungsvermö-
gen nicht fassen kann.
Langsam flackerten die Lichter der Fackeln vor ihm und erloschen, und
er ging in Dunkelheit weiter und dachte: »Das ist ein unterirdischer
Gang, der in eine Gruft führt; dort werden wir für immer bleiben.« Doch
plötzlich tauchte in seinem Traum eine lebendige Stimme auf.
»Na, Merry, welch Glück, daß ich dich gefunden habe!«
Er schaute auf, und der Nebel vor seinen Augen hob sich ein wenig.
Da war Pippin! Sie standen einander gegenüber in einer schmalen Gasse,
und niemand außer ihnen war da. Er rieb sich die Augen.
»Wo ist der König?« fragte er. »Und Éowyn?« Dann strauchelte er und
setzte sich auf eine Türschwelle und begann wieder zu weinen.
»Sie sind hinaufgebracht worden in die Veste«, sagte Pippin. »Ich
glaube, du mußt beim Laufen eingeschlafen und in die falsche Straße ein-
gebogen sein. Als wir merkten, daß du nicht bei ihnen warst, hat Gan-
dalf mich ausgeschickt, um dich zu suchen. Armer Merry! Wie froh bin
ich, dich wiederzusehen! Aber du bist erschöpft, und ich will dich nicht
mit Reden quälen. Aber sage mir, bist du verletzt oder verwundet?«
»Nein«, sagte Merry. »Nein, ich glaube nicht. Aber ich kann meinen
rechten Arm nicht gebrauchen, Pippin, seit ich meinen Hieb gegen ihn
führte. Und mein Schwert ist völlig verbrannt wie ein Stück Holz.«
Pippins Gesicht war besorgt. »Na, am besten kommst du so schnell mit
mir, wie du nur kannst«, sagte er. »Ich wünschte, ich könnte dich tragen.
Du bist nicht imstande, weiterzulaufen. Sie hätten dich überhaupt nicht
laufen lassen sollen; aber du mußt ihnen verzeihen. So viele entsetzliche
Dinge sind in der Stadt geschehen, Merry, daß ein armer Hobbit, der von
der Schlacht kommt, leicht übersehen wird.«
»Es ist nicht immer ein Unglück, übersehen zu werden«, sagte Merry.
»Gerade eben bin ich übersehen worden von — nein, nein, ich kann nicht
darüber sprechen. Hilf mir, Pippin. Es wird wieder alles dunkel, und mein
Arm ist so kalt.«
»Stütze dich auf mich Merry, mein Junge«, sagte Pippin. »Komm nun!
Ein Fuß nach dem anderen. Es ist nicht weit.«
»Wirst du mich beerdigen?« fragte Merry.
»Nein, wirklich nicht!« sagte Pippin und versuchte, fröhlich zu klin-
gen, obwohl ihm das Herz schwer war vor Angst und Mitleid. »Nein, wir
gehen zu den Häusern der Heilung.«
Sie kamen aus der Gasse heraus, die zwischen hohen Häusern und der
Außenmauer des vierten Ringes verlief, und gelangten wieder auf die
Hauptstraße, die zur Veste hinaufführte. Schritt um Schritt gingen sie,
während Merry schwankte und wie im Schlaf murmelte.
»Ich werde ihn nie dort hinbringen«, dachte Pippin. »Ist denn niemand
da, der mir hilft? Ich kann ihn doch nicht hier liegen lassen.« Gerade da
kam zu seiner Überraschung ein Junge hinter ihnen hergelaufen, und als
er vorbeirannte, erkannte er Bergil, Beregonds Sohn.
»Hallo, Bergil!« rief er. »Wo gehst du hin? Ich freue mich, dich wie-
derzusehen und noch am Leben.«
»Ich mache Botengänge für die Heiler«, sagte Bergil. »Ich kann nicht
bleiben.«
»Sollst du auch nicht«, sagte Pippin. »Aber sage oben Bescheid, daß
ich hier einen kranken Hobbit habe, einen perian, verstehst du, der vom
Schlachtfeld gekommen ist. Ich glaube nicht, daß er so weit laufen kann.
Wenn Mithrandir da ist, wird er froh sein über die Nachricht.« Bergil
rannte weiter.
»Ich werde lieber hier warten«, dachte Pippin. So ließ er Merry sanft
auf das Pflaster gleiten, an einer Stelle, die von der Sonne beschienen
war, dann setzte er sich neben ihn und legte Merrys Kopf auf seinen
Schoß. Er tastete vorsichtig seinen Rumpf und die Glieder ab und nahm
seines Freundes Hände in seine. Die rechte Hand fühlte sich eiskalt an.
Es dauerte nicht lange, da kam Gandalf selbst, um sie zu holen. Er
beugte sich über Merry und strich ihm liebevoll über die Stirn; dann hob
er ihn behutsam auf. »Er hätte mit allen Ehren in diese Stadt getragen
werden sollen«, sagte er. »Er hat mein Vertrauen voll gerechtfertigt; denn
hätte Elrond mir nicht nachgegeben, wäret ihr beide nicht mitgekommen;
und dann wäre das Unheil dieses Tages noch viel schmerzlicher gewe-
sen.« Er seufzte. »Und dennoch ist hier wieder eine neue Verantwortung
in meine Hände gelegt, während die Schlacht die ganze Zeit in der
Schwebe hängt.«
So wurden Faramir und Éowyn und Meriadoc schließlich in den Häu-
sern der Heilung zu Bett gebracht; und sie wurden dort gut gepflegt.
Denn obwohl alles Wissen in diesen späteren Tagen nicht mehr die Fülle
von einst erreichte, war die Heilkunst in Gondor gelehrt und erfahren in
der Behandlung von Wunden und Verletzungen und aller Krankheiten,
denen sterbliche Menschen östlich des Meers unterworfen waren. Nur das
Alter ausgenommen. Denn dagegen hatten sie kein Heilmittel; und die
Spanne ihres Lebens war jetzt verkürzt auf nicht viel mehr als diejenige
anderer Menschen, und die Zahl derer unter ihnen, die in voller Kraft die
Hundert überschritten, war klein geworden, außer in manchen Geschlech-
tern von reinerem Blut. Doch nun versagten ihre Kunst und ihr Wissen;
denn viele lagen an einer Krankheit darnieder, die nicht geheilt werden
konnte; und sie nannten sie den Schwarzen Schatten, denn sie kam von
den Nazgûl. Und diejenigen, die von ihr befallen wurden, versanken in
einen immer tieferen Traum, und dann wurden sie still und tödlich kalt
und starben. Und es schien den Krankenpflegern, daß auf dem Halbling
und der Herrin von Rohan diese Krankheit schwer lastete. Immerhin
sprachen sie, als der Morgen verging, noch dann und wann und murmel-
ten in ihren Träumen; und die Wärter lauschten auf alles, was sie sagten,
denn sie hofften, vielleicht etwas zu erfahren, das ihnen helfen würde,
ihre Verletzungen zu verstehen. Aber bald begannen sie, ins Dunkel zu
versinken, und als die Sonne sich nach Westen wandte, kroch ein grauer
Schatten über ihre Gesichter. Doch Faramir glühte in einem Fieber, das
nicht nachlassen wollte.
Voller Sorge ging Gandalf von einem zum anderen, und ihm wurde
alles berichtet, was die Wärter hatten hören können. Und so zog sich der
Tag dahin, während draußen die große Schlacht tobte mit wechselnden
Hoffnungen und seltsamen Botschaften. Und immer noch wartete Gandalf
und beobachtete und ging nicht hinaus; bis schließlich der rote Sonnen-
untergang den ganzen Himmel erfüllte und durch das Fenster das Licht
auf die grauen Gesichter der Kranken fiel. Da schien es jenen, die dabei-
standen, daß sich in dem Leuchten die Gesichter leicht röteten, als ob die
Gesundheit zurückkehre, aber es war nur ein Blendwerk der Hoffnung.
Da sah ein altes Weib, Ioreth, die älteste der Frauen, die in dem Hause
diente, auf Faramirs schönes Gesicht, und sie weinte, denn alles Volk
liebte ihn. Und sie sagte: »Wehe, wenn er sterben sollte. Ich wünschte, es
gäbe Könige in Gondor, wie es sie einstmals gegeben haben soll. Denn es
heißt in alten Schriften: Die Hände des Königs sind Hände eines Heilers.
Und so konnte der rechtmäßige König immer erkannt werden.«
Und Gandalf, der dabeistand, sagte: »Lange mögen sich die Menschen
Eurer Worte erinnern, Ioreth! Denn es liegt Hoffnung in ihnen. Vielleicht
ist wirklich ein König nach Gondor zurückgekehrt; oder habt Ihr die selt-
samen Botschaften nicht gehört, die in die Stadt gelangt sind?«
»Ich war zu beschäftigt mit diesem und jenem, um auf all das Rufen
und Schreien zu achten«, antwortete sie. »Ich hoffe nur, daß die mörderi-
schen Teufel nicht in dieses Haus kommen und die Kranken stören.«
Dann ging Gandalf in aller Eile hinaus, und schon erlosch das Feuer
am Himmel, und die schwelenden Berge verblaßten, während der asch-
graue Abend über die Felder kroch.
Nun, da die Sonne unterging, zogen Aragorn und Eomer und Imrahil
mit ihren Hauptleuten und Rittern zur Stadt, und als sie vor das Tor
kamen, sagte Aragorn:
»Schaut, die Sonne geht in einem großen Brand unter. Es ist ein Zei-
chen für das Ende und den Niedergang vieler Dinge, und für einen Wan-
del im Lauf der Welt. Doch diese Stadt und dieses Reich sind seit vielen
langen Jahren in der Obhut der Truchsessen gewesen, und ich fürchte,
wenn ich ungebeten komme, könnten Zweifel und Hader entstehen, und
das sollte nicht geschehen, solange dieser Krieg ausgefochten wird. Ich
werde die Stadt nicht betreten oder irgendeinen Anspruch erheben, ehe
sich ersehen läßt, wer die Oberhand behält, wir oder Mordor. Die Leute
sollen meine Zelte auf dem Schlachtfeld aufschlagen, und hier will ich
warten, bis der Herr der Stadt mich willkommen heißt.«
Aber Éomer sagte: »Schon habt Ihr die Fahne des Königs aufgezogen
und die Wahrzeichen von Elendils Haus gezeigt. Wollt Ihr zulassen, daß
sie in Zweifel gezogen werden?«
»Nein«, sagte Aragorn. »Aber ich halte die Zeit noch nicht für reif;
und mir steht der Sinn nicht nach Kampf, außer mit unserem Feind und
seinen Dienern.«
Und Fürst Imrahil sagte: »Eure Worte, Herr, sind weise, wenn einer,
der ein Verwandter des Herrn Denethor ist. Euch in dieser Frage einen
Rat geben darf. Er ist von großer Willenskraft und Stolz, aber alt; und
seine Stimmung war seltsam, seit sein Sohn niedergestreckt wurde. Den-
noch möchte ich nicht, daß Ihr wie ein Bettler an der Tür bleibt.«
»Nicht wie ein Bettler«, antwortete Aragorn. »Sagen wir, wie ein
Hauptmann der Waldläufer, die an Städte und Steinhäuser nicht gewöhnt
sind.« Und er gab Befehl, seine Fahne aufzurollen; er legte den Stern des
Nördlichen Königreichs ab und gab ihn Elronds Söhnen in Verwahrung.
Dann verließen ihn Fürst Imrahil und Éomer von Rohan und gingen
durch die Stadt und die Volksmenge und stiegen zur Veste hinauf; und
dort kamen sie zu der Halle des Turms und suchten den Truchseß. Aber
sie fanden seinen Sessel leer, und vor dem erhöhten Sitz lag Théoden,
König der Mark, aufgebahrt; und zwölf Fackeln standen um sein Bett,
und zwölf Ritter von Rohan und Gondor hielten die Totenwache. Und die
Vorhänge des Bettes waren in Grün und Weiß, aber bis zu seiner Brust
war über den König ein großes Tuch aus Gold gebreitet, und darauf lag
sein blankes Schwert, und zu seinen Füßen sein Schild. Das Licht der Fak-
keln schimmerte auf seinem weißen Haar wie Sonne im Sprühregen eines
Springbrunnens, aber sein Gesicht war schön und jung, nur lag ein Frie-
den auf ihm, der für die Jugend unerreichbar ist; und es schien, daß er
schlief.
Als sie eine Zeitlang stumm neben dem König gestanden hatten, fragte
Imrahil: »Wo ist der Truchseß? Und wo ist Mithrandir?«
Und einer der Wächter antwortete: »Der Truchseß von Gondor ist in
den Häusern der Heilung.«
Aber Éomer sagte: »Wo ist Frau Éowyn, meine Schwester; denn gewiß
sollte sie doch neben dem König liegen und mit nicht geringerer Ehre?
Wo hat man sie untergebracht?«
Und Imrahil sagte: »Aber Frau Éowyn lebte noch, als sie hierher ge-
tragen wurde. Wußtet Ihr das nicht?«
Da überfiel die unerwartete Hoffnung Éomers Herz so plötzlich, und
gleichzeitig packten ihn von neuem Besorgnis und Furcht, so daß er
nichts mehr sagte, sondern sich umwandte und rasch die Halle verließ;
und der Fürst folgte ihm. Und als sie hinauskamen, hatte sich der Abend
herabgesenkt, und viele Sterne standen am Himmel. Und da kam Gandalf
zu Fuß, und mit ihm einer in einem grauen Mantel; und sie trafen sich
vor den Türen der Häuser der Heilung. Und sie begrüßten Gandalf und
sagten: »Wir suchen den Truchseß, und die Leute sagten, er sei in diesem
Haus. Hat er irgendeine Verletzung erlitten? Und wo ist Frau Éowyn?«
Und Gandalf antwortete: »Sie liegt drinnen und ist nicht tot, aber
dem Tode nahe. Aber Herr Faramir ist von einem bösen Pfeil ver-
wundet worden, wie Ihr gehört habt, und er ist jetzt der Truchseß; denn
Denethor ist verschieden, und sein Haus liegt in Asche.« Und sie waren
voll Schmerz und Staunen über die Geschichte, die er ihnen erzählte.
Aber Imrahil sagte: »So ist der Sieg der Freude entkleidet, und er ist
teuer erkauft, wenn beide Länder, Gondor und Rohan, an einem Tage
ihrer Herren beraubt sind. Éomer befehligt die Rohirrim. Wer soll derweil
in der Stadt befehligen? Sollen wir nicht jetzt nach Herrn Aragorn schik-
ken?«
Und der Mann im Mantel sprach und sagte: »Er ist gekommen.« Und
sie sahen, als er in den Lichtschein der Laterne an der Tür trat, daß es
Aragorn war, gehüllt in den grauen Mantel aus Lórien über seinem Pan-
zer, und er trug kein anderes Zeichen als den grünen Stein von Galadriel.
»Ich bin gekommen, weil Gandalf mich darum bittet«, sagte er. »Aber
vorläufig bin ich nur der Heerführer der Dúnedain von Amor; und der
Herr von Dol Amroth soll in der Stadt befehligen, bis Faramir erwacht.
Doch ist es mein Rat, daß Gandalf in den kommenden Tagen und bei un-
seren Verhandlungen mit dem Feind über uns alle den Oberbefehl über-
nimmt.« Und damit waren alle einverstanden.
Dann sagte Gandalf: »Laßt uns nicht hier an der Tür stehen, denn die
Zeit drängt. Laßt uns eintreten. Denn nur im Kommen von Aragorn liegt
die Hoffnung, die den Kranken in diesem Hause noch bleibt. So sprach
Ioreth, Wahrsagerin von Gondor: Die Hände des Königs sind Hände eines
Heilers, und so soll der rechtmäßige König erkannt werden.«

Aragorn trat als erster ein, und die anderen folgten. Und dort an der
Tür standen zwei Wächter in der Tracht der Veste: einer war von hohem
Wuchs, aber der andere war kaum so groß wie ein Knabe; und als er sie
sah, schrie er auf vor Überraschung und Freude.
»Streicher! Das ist ja herrlich! Weißt du, ich hatte schon vermutet, daß
du es warst auf den schwarzen Schiffen. Aber sie schrien alle Corsaren!
und wollten nicht auf mich hören. Wie hast du das nur gemacht?«
Aragorn lachte und nahm den Hobbit bei der Hand. »Ich freue mich
wirklich, dich zu treffen!« sagte er. »Doch jetzt ist nicht die Zeit für
Wandergeschichten.«
Aber Imrahil sagte zu Éomer: »Ist das die Art, wie wir mit unseren
Königen reden? Vielleicht wird er noch seine Krone unter einem anderen
Namen tragen!«
Und Aragorn hörte ihn und drehte sich um und sagte: »Fürwahr, in
der Hochsprache von einst bin ich Elessar, der Elbenstein, und der Er-
neuerer.« Und er faßte nach dem grünen Stein, der an seiner Brust lag.
»Aber Streicher soll der Name meines Hauses sein, wenn es je gegründet
wird. In der Hochsprache wird es nicht übel klingen, und Telcontar werde
ich sein und alle Erben meines Leibes.«
Und damit gingen sie in das Haus; und als sie weitergingen zu den
Zimmern, wo die Kranken gepflegt wurden, berichtete Gandalf die Taten
von Éowyn und Meriadoc. »Denn«, sagte er, »lange habe ich bei ihnen
gestanden, und zuerst sprachen sie viel in ihren Träumen, ehe sie in die
tödliche Dunkelheit versanken. Außerdem ist es mir gegeben, viele Dinge
in weiter Feme zu sehen.«
Aragorn ging zuerst zu Faramir, dann zu Frau Éowyn und zuletzt zu
Merry. Als er die Gesichter der Kranken betrachtet und ihre Verletzun-
gen gesehen hatte, seufzte er. »Hier muß ich alle Kraft und alles Können
einsetzen, die mir gegeben sind«, sagte er. »Ich wünschte, Elrond wäre
hier, denn er ist der Älteste unseres ganzen Geschlechts und besitzt die
größere Kraft.«
Und als Eomer sah, daß er sowohl sorgenvoll als auch müde war, sagte
er: »Gewiß müßt Ihr zuerst ruhen, und zumindest ein wenig essen?«
Aber Aragorn antwortete: »Nein, für diese drei, und am meisten für
Faramir, geht die Zeit zu Ende. Höchste Eile tut nun not.«
Dann rief er Ioreth und sagte: »Habt Ihr in diesem Haus einen Vorrat
an Heilkräutern?«
»Ja, Herr«, antwortete sie, »aber nicht genug, schätze ich, für alle, die
sie brauchen. Doch ich weiß wirklich nicht, wo wir noch welche finden
sollen; denn alles fehlt in diesen entsetzlichen Tagen, mit Feuer und Brän-
den, und so wenig Jungen, die Botengänge für uns erledigen, und alle
Straßen sind versperrt. Ja, es ist schon unzählige Tage her, daß ein Fuhr-
mann aus Lossarnach auf den Markt kam! Aber wir tun in diesem Haus
unser möglichstes mit dem, was wir haben, wie Euer Gnaden, dessen bin
ich sicher, wissen werden.«
»Darüber werde ich urteilen, wenn ich es gesehen habe«, sagte Ara-
gom. »Noch etwas ist knapp, das ist Zeit zum Reden. Habt Ihr athelas?«
»Ich weiß es nicht, ich bin nicht sicher, Herr«, antwortete sie. »Zumin-
dest nicht unter diesem Namen. Ich werde gehen und den Kräutermeister
fragen, er kennt all die alten Namen.«
»Es wird auch Königskraut genannt«, sagte Aragorn. »Vielleicht kennt
Ihr es unter diesem Namen, denn so nennt es das Landvolk in neuerer
Zeit.«
»Ach das!« sagte Ioreth. »Nun, wenn Euer Gnaden es gleich so ge-
nannt hätten, dann hätte ich es Euch sagen können. Nein, das haben wir
nicht, da bin ich sicher. Und ich habe nie gehört, daß es sehr wirksam ist;
und tatsächlich habe ich oft zu meinen Schwestern gesagt, wenn wir im
Wald darauf stießen, wo es wuchs: >Königskraut<, sagte ich, >das ist ein
seltsamer Name, und ich frage mich, warum es so genannt wird; denn
wenn ich König wäre, dann hätte ich schönere Pflanzen in meinem Gar-
ten.< Immerhin riecht es süß, wenn es zerrieben wird, nicht wahr? Wenn
süß das richtige Wort ist: heilsam kommt der Sache vielleicht näher.«
»Heilsam, fürwahr«, sagte Aragorn. »Und nun, gnädige Frau, wenn
Ihr Herrn Faramir liebt, dann lauft so schnell wie Eure Zunge und holt
mir Königskraut, wenn es ein Blatt davon in der Stadt gibt.«
»Und wenn nicht«, sagte Gandalf, »dann werde ich mit Ioreth hinter
mir nach Lossarnach reiten, und sie soll mich in den Wald führen, aber
nicht zu ihren Schwestern. Und Schattenfell soll ihr zeigen, was Eile
heißt.«
Als Ioreth gegangen war, bat Aragorn die anderen Frauen, Wasser
heiß zu machen. Dann nahm er Faramirs Hand in seine und legte die an-
dere Hand dem kranken Mann auf die Stirn. Sie war schweißgebadet;
aber Faramir rührte sich nicht und gab kein Zeichen von sich und schien
kaum zu atmen.
»Er ist fast völlig entkräftet«, sagte Aragorn, zu Gandalf gewandt.
»Aber das kommt nicht von der Wunde. Schau! Die heilt. Wäre er von
irgendeinem Pfeil der Nazgûl niedergestreckt worden, wie du glaubtest,
dann wäre er in derselben Nacht gestorben. Diese Wunde hat irgendein
Südländer-Pfeil verursacht, möchte ich annehmen. Wer hat ihn herausge-
zogen? Ist er aufbewahrt worden?«
»Ich zog ihn heraus«, sagte Imrahil, »und stillte das Blut. Aber ich
habe den Pfeil nicht aufbewahrt, denn wir hatten viel zu tun. Es war, wie
ich mich erinnere, eben solch ein Pfeil, wie ihn die Südländer verwenden.
Dennoch glaube ich, daß er oben aus den Schatten kam, sonst wären sein
Fieber und seine Krankheit nicht zu verstehen; denn die Wunde war nicht
tief oder lebensgefährlich. Wie erklärt Ihr Euch die Sache?«
»Erschöpfung, Kummer über die Stimmung seines Vaters und vor allem
der Schwarze Atem«, sagte Aragorn. »Er ist ein Mann von starkem Wil-
len, denn er war schon dicht unter den Schatten gekommen, ehe er zur
Schlacht auf den Außenmauern ritt. Langsam muß sich das Dunkel an
ihn herangeschlichen haben, als er noch kämpfte und darum rang, seinen
Vorposten zu halten. Ich wünschte, ich hätte früher hier sein können!«
Daraufhin trat der Kräutermeister ein. »Euer Gnaden fragten nach
Königskraut, wie es die Bauern nennen«, sagte er, »oder athelas in der
edlen Sprache oder für jene, die etwas Valinorisch verstehen ...«
»Das tue ich«, sagte Aragorn, »und mir ist es einerlei, ob Ihr jetzt asea
aranion
oder Königskraut sagt, solange Ihr welches habt.«
»Ich bitte um Vergebung, Herr«, sagte der Mann. »Ich sehe, Ihr seid
ein Gelehrter, nicht bloß ein Heerführer. Aber leider, Herr, haben wir
dieses Ding nicht in den Häusern der Heilung, wo nur die schwer Ver-
wundeten oder Kranken gepflegt werden. Denn es besitzt keine Wir-
kungskraft, soweit wir wissen, abgesehen vielleicht davon, daß es verpe-
stete Luft verbessert oder eine vorübergehende Benommenheit vertreibt.
Es sei denn, natürlich, daß Ihr den Versen aus alter Zeit Beachtung
schenkt, die von Frauen wie unserer guten Ioreth noch immer wiederholt
werden, ohne daß sie sie verstehen.

Wenn der Schwarze Atem weht,
Todesschatten dräuend steht,
Löschen alle Lichter aus,
Athelas, komm du ins Haus,
Durch Königshand zu geben
Sterbenden das Leben!

Es ist nur ein Knittelvers, fürchte ich, verstümmelt im Gedächtnis alter
Frauen. Seine Bedeutung zu beurteilen überlasse ich Euch, wenn er über-
haupt eine hat. Aber alte Leute verwenden immer noch einen Aufguß
von dem Kraut gegen Kopfschmerzen.«
»Dann geht, im Namen des Königs, und sucht irgendeinen alten Mann
von weniger Gelehrsamkeit und größerer Weisheit, der etwas davon in
seinem Haus hat!« rief Gandalf.
Jetzt kniete sich Aragorn neben Faramir nieder und legte eine Hand
auf seine Stirn. Und diejenigen, die zuschauten, spürten, daß irgendein
großer Kampf ausgefochten wurde. Denn Aragorns Gesicht wurde grau
vor Erschöpfung; und immer wieder rief er Faramirs Namen, doch jedes-
mal hörten sie ihn leiser, als ob Aragorn selbst fern von ihnen sei und in
irgendeinem dunklen Tal wandere und jemanden rufe, der sich verirrt
hatte.
Und schließlich kam Bergil angerannt und brachte sechs Blätter in
einem Tuch. »Es ist Königskraut, Herr«, sagte er, »aber nicht frisch,
fürchte ich. Es muß schon vor mindestens zwei Wochen gepflückt worden
sein. Ich hoffe, es wird nützlich sein, Herr.« Dann sah er Faramir an und
brach in Tränen aus.
Aber Aragorn lächelte. »Es wird nützlich sein«, sagte er. »Das
Schlimmste ist jetzt vorüber. Bleibe hier und sei getröstet.« Dann nahm er
zwei Blätter, legte sie auf seine Hände und hauchte sie an, und dann zer-
rieb er sie, und sogleich war der Raum von einer lebendigen Frische er-
füllt, als ob die Luft selbst erwacht sei und prickele und vor Freude
sprühe. Und dann warf er die Blätter in die Schüsseln mit dampfendem
Wasser, die ihm gebracht worden waren, und sofort wurden alle Herzen
leichter. Denn der Duft, der zu jedem drang, war wie eine Erinnerung an
tauige Morgen mit nicht verschatteter Sonne in irgendeinem Land, dessen
schöne Frühlingswelt selbst nur eine flüchtige Erinnerung ist. Aber Ara-
gorn stand auf wie einer, der erfrischt ist, und seine Augen lächelten, als
er eine Schüssel vor Faramirs träumendes Gesicht hielt.
»Nun, wer hätte das geglaubt?« sagte Ioreth zu einer Frau, die neben
ihr stand. »Das Kraut ist besser, als ich dachte. Es erinnert mich an die
Rosen von Imloth Melui, als ich ein Mädchen war, und kein König
könnte etwas Besseres verlangen.«
Plötzlich regte sich Faramir, und er öffnete die Augen und schaute
Aragorn an, der sich über ihn beugte; und Erkennen und Liebe leuchte-
ten in seinen Augen auf, und er sprach leise. »Mein Herr, Ihr riefet mich.
Ich komme. Was befiehlt der König?«
»Wandelt nicht mehr in den Schatten, sondern erwacht!« sagte Ara-
gorn. »Ihr seid erschöpft. Ruht eine Weile und nehmt ein wenig Nahrung
zu Euch, und seid bereit, wenn ich zurückkomme.«
»Das werde ich, Herr«, sagte Faramir. »Denn wer wollte müßig im Bett
liegen, wenn der König zurückgekehrt ist?«
»Lebt denn wohl für eine Weile«, sagte Aragorn. »Ich muß noch zu
den anderen gehen, die mich brauchen.« Und er verließ das Zimmer mit
Gandalf und Imrahil; doch Beregond und sein Sohn blieben da und ver-
mochten ihre Freude nicht zurückzuhalten. Als Pippin Gandalf folgte und
die Tür schloß, hörte er Ioreth ausrufen:
»König! Hast du das gehört? Was habe ich gesagt! Die Hände eines
Heilers, sagte ich.« Und bald ging die Kunde von dem Haus aus, daß der
König wirklich unter ihnen sei und nach dem Krieg Heilung gebracht
habe; und die Nachricht machte die Runde in der Stadt.
Aber Aragorn kam zu Éowyn, und er sagte: »Hier ist eine schlimme
Verletzung und ein schweres Unglück. Der Arm, der gebrochen war, ist
mit gebührender Sachkenntnis behandelt worden, und er wird mit der
Zeit heilen, wenn sie die Kraft hat, zu leben. Es ist der Schildarm, der ver-
letzt ist; aber das Hauptübel kommt vom Schwertarm. In ihm scheint
jetzt kein Leben zu sein, obwohl er nicht gebrochen ist.
Leider stand sie einem Feind gegenüber, der für die Kraft ihrer Seele
und ihres Körpers zu groß war. Und wer eine Waffe gegen einen solchen
Feind erheben will, muß härter sein als Stahl, wenn nicht allein der Zu-
sammenstoß ihn vernichten soll. Es war ein böses Geschick, das sie ihm
in den Weg führte. Denn sie ist eine schöne Maid, die schönste Herrin
aus einem Haus von Königinnen. Dennoch weiß ich nicht, was ich von
ihr sagen soll. Als ich sie zuerst erblickte und erkannte, wie unglücklich
sie war, schien es mir, als sehe ich eine weiße Blume, die aufrecht und
stolz dastand, wie eine Lilie geformt, und doch wußte ich, daß sie hart
war, als sei sie von Elben-Handwerkern aus Stahl gearbeitet. Oder war es
vielleicht ein Frost, der ihren Lebenssaft in Eis verwandelte, so daß sie
zwar stand, bittersüß, noch schön anzusehen, doch getroffen, um bald zu
fallen und zu sterben? Ihre Krankheit begann schon lange vor diesem
Tag, nicht wahr, Eomer?«
»Ich wundere mich, daß Ihr mich fragt, Herr«, antwortete er. »Denn
ich halte Euch für schuldlos in dieser Sache, wie in allem anderen; den-
noch wüßte ich nicht, daß Éowyn, meine Schwester, von irgendeinem
Frost berührt worden war, ehe sie Euch zum erstenmal erblickte. Kummer
und Angst hatte sie, und teilte sie mit mir, in den Tagen von Schlangen-
zunge und der Behexung des Königs; und sie pflegte den König in wach-
sender Besorgnis. Aber nicht das hat sie in diese Lage gebracht!«
»Mein Freund«, sagte Gandalf, »Ihr hattet Pferde und Waffentaten und
die freien Felder; aber sie, mit dem Körper eines Mädchens geboren, besaß
Geist und Mut, die zumindest den Euren ebenbürtig waren. Dennoch war
sie dazu verurteilt, einem alten Mann aufzuwarten, den sie wie einen
Vater liebte, und zuzusehen, wie er einem erbärmlichen, würdelosen
Altersschwachsinn verfiel; und ihre Rolle erschien ihr schmählicher als
die des Stabes, auf den er sich stützte.
Glaubt Ihr, daß Schlangenzunge nur Gift für Théodens Ohren hatte?
Schwachsinniger Greis! Was ist Eorls Haus anderes als eine strohgedeckte
Scheune, wo Straßenräuber in stinkigem Rauch trinken und ihre Spröß-
linge sich zwischen den Hunden auf dem Fußboden sielen?
Habt Ihr diese
Worte nicht schon gehört? Saruman sprach sie, der Lehrer von Schlan-
genzunge. Obwohl ich nicht zweifle, daß Schlangenzunge zu Hause ihren
Sinn in arglistigere Ausdrücke kleidete. Herr, hätte nicht die Liebe Eurer
Schwester zu Euch und der immer noch auf ihre Pflicht gerichtete Wille
ihr die Lippen verschlossen, dann hättet Ihr Dinge wie diese von ihnen
hören können. Aber wer weiß, was sie in der Dunkelheit aussprach,
allein, in den bitteren, stillen Stunden der Nacht, wenn ihr ganzes Leben
zusammenzuschrumpfen schien und sich die Wände ihres Bauers um sie
schlössen, ein Verschlag, um wilde Tiere einzupferchen?«
Da schwieg Eomer und schaute auf seine Schwester, als ob er von
neuem all die Tage ihres gemeinsam verbrachten Lebens überdenke. Aber
Aragorn sagte: »Auch ich sah, was Ihr gesehen habt, Éomer. Unter all
dem Unglück dieser Welt gibt es kaum einen Schmerz, der bitterer und
beschämender ist für das Herz eines Mannes, als die Liebe einer so schö-
nen und tapferen Frau zu erkennen, die nicht erwidert werden kann.
Sorge und Mitleid haben mich immer begleitet, seit ich sie verzweifelt in
Dunharg verließ und zu den Pfaden der Toten ritt; und keine Furcht auf
diesem Weg war so gegenwärtig wie die Furcht, was ihr widerfahren
könnte. Und dennoch, Éomer, sage ich zu Euch, daß sie Euch in Wirklich-
keit mehr liebt als mich; denn Euch liebt und kennt sie; aber in mir liebt
sie nur einen Schatten und einen Gedanken: eine Hoffnung auf Ruhm
und große Taten und Länder weit entfernt von den Feldern von Rohan.
Vielleicht habe ich die Kraft, ihren Körper zu heilen und sie aus dem
dunklen Tal zurückzurufen. Aber was sie erwartet, wenn sie erwacht:
Hoffnung oder Vergessen oder Verzweiflung, das weiß ich nicht. Und
wenn es Verzweiflung ist, dann wird sie sterben, es sei denn, andere Hei-
lung kommt zu ihr, die ich nicht bringen kann. Wehe! Denn ihre Taten
haben sie unter die Königinnen von großem Ruhm eingereiht.«
Dann bückte sich Aragorn und blickte in ihr Gesicht, und es war für-
wahr weiß wie eine Lilie, kalt wie Frost und hart wie gemeißelter Stein.
Aber er neigte sich über sie und küßte sie auf die Stirn, rief sie leise und
sagte:
»Éowyn, Éomunds Tochter, erwacht! Denn Euer Feind ist dahingegan-
gen.«
Sie regte sich nicht, aber jetzt begann sie wieder tief zu atmen, so daß
sich ihre Brust unter dem weißen Leinen des Lakens hob und senkte. Wie-
derum zerrieb Aragorn zwei Athelas-Blätter und warf sie in dampfendes
Wasser; und damit benetzte er ihre Stirn und ihren rechten Arm, der kalt
und kraftlos auf der Decke lag.
Ob Aragorn nun wirklich irgendeine vergessene Kraft von Westernis
besaß, oder ob es nur seine Worte über Frau Éowyn waren, die sich auf
die Umstehenden auswirkten, doch als der süße Balsam des Krauts durch
das Zimmer strömte, war ihnen, als ob ein scharfer Wind durch das Fen-
ster wehe, und er brachte keinen Duft, sondern es war eine völlig frische
und saubere und junge Luft, als ob noch kein Lebewesen in ihr geatmet
habe und sie neu erschaffen von schneeigen Bergen hoch unter der
Sternkuppel herabgekommen sei, oder von silbernen Gestaden in weiter
Feme, bespült vom Meer.
»Erwacht, Éowyn, Herrin von Rohan«, sagte Aragorn noch einmal,
und er nahm ihre rechte Hand in seine und fühlte, wie sie warm wurde,
als das Leben in sie zurückkehrte. »Erwacht! Der Schatten ist fort, und
alle Dunkelheit ist reingewaschen!« Dann legte er ihre Hand in Éomers
und trat zurück. »Ruft sie!« sagte er, und verließ leise das Zimmer.
»Éowyn, Éowyn!« rief Eomer unter Tränen. Aber sie öffnete die
Augen und sagte: »Eomer! Welche Freude ist das? Denn sie sagten, du
seiest erschlagen. Nein, das waren nur die dunklen Stimmen in meinem
Traum. Wie lange habe ich geträumt?«
»Nicht lange, meine Schwester«, sagte Eomer. »Doch denke nicht mehr
daran!«
»Ich bin seltsam erschöpft«, sagte sie. »Ich muß ein wenig ruhen. Doch
sage mir, was ist mit dem Herrn der Mark? Wehe! Sage mir nicht, daß
das ein Traum war; denn ich weiß, es war keiner. Er ist tot, wie er es vor-
ausgesehen hat.«
»Er ist tot«, sagte Eomer, »aber er bat mich, Éowyn, teurer als eine
Tochter, Lebewohl zu sagen. Er liegt nun mit großen Ehren in der Veste
von Gondor.«
»Das ist schmerzlich«, sagte sie. »Und dennoch ist es besser als alles,
was ich in den dunklen Tagen zu hoffen wagte, als es schien, daß Eorls
Haus an Ehre tiefer gesunken sei als die Hütte eines Hirten. Und was ist
mit des Königs Knappen, dem Halbling? Eomer, du mußt ihn zum Ritter
der Riddermark machen, denn er ist tapfer.«
»Er liegt nahebei in diesem Haus, und ich will zu ihm gehen«, sagte
Gandalf. »Eomer soll eine Weile hierbleiben. Aber sprecht nicht von
Krieg und Leid, ehe Ihr ganz wiederhergestellt seid. Eine große Freude ist
es, Euch wieder zu Gesundheit und Hoffnung erwachen zu sehen, eine so
tapfere Frau!«
»Zu Gesundheit?« sagte Éowyn. »Das mag sein. Zumindest, solange
ein leerer Sattel von irgendeinem gefallenen Reiter da ist, den ich ausfül-
len kann, und Taten zu vollbringen sind. Aber zu Hoffnung? Das weiß
ich nicht.«
Gandalf und Pippin kamen in Merrys Zimmer, und da fanden sie Ara-
gorn neben dem Bett stehen. »Der arme Merry!« rief Pippin und lief zum
Bett, denn ihm schien, daß sein Freund schlechter aussah, und sein Ge-
sicht war grau, als ob das Gewicht kummervoller Jahre auf ihm liege;
und plötzlich wurde er von Angst gepackt, daß Merry sterben würde.
»Fürchte dich nicht«, sagte Aragorn. »Ich kam zur Zeit und habe ihn
zurückgerufen. Er ist jetzt erschöpft und betrübt, und er hat eine Verlet-
zung davongetragen wie Frau Éowyn, als er es wagte, einen Schwert-
streich gegen dieses grausame Wesen zu führen. Aber diese Schäden kön-
nen behoben werden, da ein so starker und heiterer Lebensgeist in ihm
ist. Seinen Schmerz wird er nicht vergessen; aber er wird ihm nicht das
Herz verdunkeln, sondern ihn Weisheit lehren.«
Dann legte Aragorn die Hand auf Merrys Kopf, fuhr ihm sanft durch
die braunen Locken, berührte seine Lider und rief ihn beim Namen. Und als
der Duft von athelas durch das Zimmer strömte, wie ein Geruch von
Obstgärten und Heide im Sonnenschein voller Bienen, da erwachte Merry
plötzlich und sagte:
»Ich bin hungrig. Wie spät ist es?«
»Die Abendessenszeit ist schon vorbei«, sagte Pippin, »obwohl ich
glaube, daß ich dir noch etwas bringen könnte, wenn sie es erlauben.«
»Das tun sie wahrlich«, sagte Gandalf. »Und alles andere, was dieser
Ritter von Rohan begehren mag, wenn es in Minas Tirith gefunden wer-
den kann, wo sein Name in Ehren gehalten wird.«
»Gut«, sagte Merry. »Dann möchte ich zuerst Abendessen haben, und
danach eine Pfeife.« Bei diesen Worten verdüsterte sich sein Gesicht.
»Nein, keine Pfeife. Ich glaube nicht, daß ich je wieder rauchen werde.«
»Warum nicht?« fragte Pippin.
»Nun«, sagte Merry zögernd. »Er ist tot. Das hat es mir alles wieder
ins Gedächtnis gerufen. Er sagte, es tue ihm leid, daß er niemals Gelegen-
heit hatte, mit mir über Kräuterkunde zu sprechen. Fast das letzte, was
er überhaupt gesagt hat. Ich werde nie wieder rauchen können, ohne an
ihn zu denken, und an jenen Tag, Pippin, als er nach Isengart ritt und so
höflich war.«
»Dann rauche und denke an ihn!« sagte Aragorn. »Denn er war ein
gütiger Mann und ein großer König und hielt seine Eide; und er erhob
sich aus den Schatten zu einem letzten schönen Morgen. Obwohl dein
Dienst für ihn kurz war, sollte er eine freudige und ehrenvolle Erinnerung
bis ans Ende deiner Tage sein.«
Merry lächelte. »Nun gut«, sagte er, »wenn Streicher besorgt, was
nötig ist, dann will ich rauchen und an ihn denken. Ich hatte etwas von
Sarumans bestem Tabak in meinem Beutel, aber was in der Schlacht damit
geschehen ist, das weiß ich wirklich nicht.«
»Herr Meriadoc«, sagte Aragorn, »wenn du glaubst, daß ich mit Feuer
und Schwert durch das Gebirge und das Reich Gondor gezogen bin, um
einem sorglosen Krieger, der seine Ausrüstung weggeworfen hat. Kraut
zu bringen, dann irrst du dich. Wenn dein Beutel nicht gefunden wird,
dann mußt du nach dem Kräutermeister dieses Hauses schicken. Und er
wird dir sagen, daß er nicht wußte, daß das Kraut, das du verlangst,
irgendeine Wirkungskraft hat, doch daß es vom Volk Westmannskraul
und von den Edlen galenas genannt wird und noch andere Namen in ge-
lehrteren Sprachen hat, und dann wird er ein paar halbvergessene Reime
hinzufügen, die er nicht versteht, und er wird dir bedauernd mitteilen,
daß es in dem Haus keins gibt, und er wird dich verlassen, um über Spra-
chengeschichte nachzudenken. Und verlassen muß ich dich nun auch.
Denn in einem solchen Bett wie diesem habe ich nicht geschlafen, seit ich
von Dunharg fortritt, noch habe ich gegessen seit der Dunkelheit vor
Tagesanbruch.«
Merry ergriff seine Hand und küßte sie. »Es tut mir entsetzlich leid«,
sagte er. »Geh sofort! Immer seit jenem Abend in Bree sind wir eine
Plage für dich gewesen. Aber es ist die Art meines Volkes, daß wir zu
solchen Zeiten so leicht dahinreden und weniger sagen, als wir empfin-
den. Wir fürchten, zu viel zu sagen. Deshalb fehlt uns das richtige Wort,
wenn ein Scherz nicht am Platze ist.«
»Das weiß ich sehr wohl, sonst würde ich nicht auf dieselbe Weise mit
dir umgehen!« sagte Aragorn. »Möge es dem Auenland auf immerdar
wohl ergehen!« Er küßte Merry und ging hinaus, und Gandalf ging mit
ihm.
Pippin blieb da. »Hat es je einen wie ihn gegeben?« sagte er. »Außer
Gandalf natürlich. Ich glaube, sie müssen verwandt sein. Du alter Esel,
dein Beutel liegt neben deinem Bett, und du hattest ihn auf dem Rücken,
als ich dich traf. Er hat ihn natürlich die ganze Zeit gesehen. Und außer-
dem habe ich sowieso auch etwas von dem Zeug. Doch komm nun! Es ist
Langgrundblatt. Stopf dir die Pfeife, während ich loslaufe und mich nach
etwas zum Essen umsehe. Und dann wollen wir es uns eine Weile gemüt-
lich machen. Du meine Güte! Wir Tuks und Brandybocks können nicht
lange unter Hochgestellten leben.«
»Nein«, sagte Merry. »Ich kann es nicht. Noch nicht, jedenfalls. Aber
zumindest, Pippin, können wir sie jetzt verstehen und ehren. Es ist am be-
sten, wenn man zuerst liebt, was zu lieben einem angemessen ist, nehme
ich an: man muß irgendwo beginnen und Wurzeln haben, und der Boden
des Auenlandes ist tief. Doch gibt es noch tiefere und höhere Lebewesen;
und kein Ohm könnte in Frieden, wie er es nennt, seinen Garten bestel-
len, wenn sie nicht wären, ob er nun von ihnen weiß oder nicht. Ich bin
froh, daß ich ein wenig von ihnen weiß. Aber ich weiß nicht, warum ich
so rede. Wo ist das Blatt? Und hole mir meine Pfeife aus dem Beutel,
wenn sie nicht zerbrochen ist.«
Aragorn und Gandalf gingen nun zu dem Vorsteher der Häuser der
Heilung, und sie rieten ihm, daß Faramir und Éowyn noch viele Tage
dort bleiben und sorgsam gepflegt werden sollten.
»Frau Éowyn«, sagte Aragorn, »wird bald aufstehen und fortgehen
wollen; aber es sollte ihr nicht erlaubt werden, wenn Ihr sie auf irgend-
welche Weise zurückhalten könnt, bis zumindest zehn Tage vergangen
sind.«
»Was Faramir betrifft«, sagte Gandalf, »so muß er bald erfahren, daß
sein Vater tot ist. Aber die ganze Geschichte von Denethors Wahnsinn
sollte ihm nicht erzählt werden, ehe er völlig geheilt ist und Aufgaben zu
erfüllen hat. Sorgt dafür, daß Beregond und der perian, die dabei waren,
noch nicht mit ihm über diese Dinge sprechen.«
»Und der andere perian, Meriadoc, der in meiner Obhut ist, was ist mit
ihm?« fragte der Vorsteher.
»Wahrscheinlich wird er morgen aufstehen können für eine kurze
Weile«, sagte Aragorn. »Laßt ihn, wenn er will. Er darf ein wenig Spa-
zierengehen, wenn seine Freunde auf ihn aufpassen.«
»Ein bemerkenswertes Geschlecht sind sie«, sagte der Vorsteher und
nickte mit dem Kopf. »Aus hartem Holz geschnitzt, glaube ich.«
An den Türen der Häuser der Heilung hatten sich viele Menschen ver-
sammelt, um Aragorn zu sehen, und sie gingen ihm nach; und nachdem
er endlich zu Abend gegessen hatte, kamen Leute und baten, er möge
ihre Verwandten oder Freunde heilen, die durch Verletzungen oder Wun-
den in Gefahr waren oder unter dem Schwarzen Schatten lagen. Und
Aragorn stand auf und ging hinaus, und er schickte nach Elronds Söh-
nen, und gemeinsam mühten sie sich bis tief in Nacht. Und die Kunde
verbreitete sich in der Stadt: »Der König ist wirklich zurückgekehrt.«
Und sie nannten ihn Elbenstein wegen des großen grünen Steins, den er
trug, und so wurde der Name, von dem ihm bei seiner Geburt geweissagt
worden war, daß er ihn führen würde, von seinem eigenen Volk für ihn
gewählt.
Und als er nicht mehr arbeiten konnte, warf er seinen Mantel über und
schlüpfte hinaus aus der Stadt und ging zu seinem Zelt gerade vor der
Morgendämmerung und schlief ein wenig. Und am Morgen flatterte das
Banner von Dol Amroth, ein weißes Schiff wie ein Schwan auf blauem
Wasser, vom Turm, und die Menschen schauten hinauf und fragten sich,
ob das Kommen des Königs nur ein Traum gewesen sei.

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