FÜNFTES KAPITEL
DER RITT DER ROHIRRIM

Es war dunkel, und Merry, der in eine Decke eingerollt auf der Erde
lag, konnte nichts sehen. Doch obgleich die Nacht ruhig und windstill
war, seufzten rings um ihn verborgene Bäume. Er hob den Kopf. Dann
hörte er es wieder: ein Klang wie entfernte Trommeln auf den bewaldeten
Bergen und Höhen. Manchmal hörte das Pochen plötzlich auf und begann
dann wieder an einer anderen Stelle, bald näher, bald ferner. Er fragte
sich, ob die Wächter es wohl hörten.
Er konnte sie nicht sehen, aber er wußte, daß ringsum die Reiterscharen
der Rohirrim lagen. Er roch die Pferde im Dunkeln und hörte, wie sie sich
bewegten und leise auf dem mit Kiefernnadeln bedeckten Boden stampf-
ten. Das Heer lagerte in den Kiefernwäldern, die um das Leuchtfeuer von
Eilenach wuchsen, einem hohen Berg, der sich aus den langen Hügelket-
ten des Druadan-Waldes neben der großen Straße in Ost-Anórien erhob.
Obgleich er müde war, konnte Merry nicht schlafen. Er war jetzt vier
Tage ununterbrochen geritten, und die immer dunkler werdende Düster-
nis bedrückte allmählich sein Herz. Er begann sich zu fragen, warum er
so begierig gewesen war, mitzukommen, wenn sein Zurückbleiben doch
durchaus gerechtfertigt gewesen wäre, zumal es ihm von seinem Herrn ja
sogar befohlen worden war. Er fragte sich auch, ob der alte König wußte,
daß er ihm nicht gehorcht hatte, und ob er ärgerlich sei. Vielleicht nicht. Es
schien ein gewisses Einverständnis zwischen Dernhelm und Elfhelm zu
bestehen, dem Marschalk, der die éored befehligte, in der sie ritten. Er
und alle seine Leute übersahen Merry und taten so, als hörten sie ihn
nicht, wenn er sprach. Er hätte genausogut irgendein Sack sein können,
den Dernhelm bei sich trug. Dernhelm war auch kein Trost: er sprach
niemals mit irgend jemandem. Merry war beschämt, denn er kam sich un-
erwünscht und verlassen vor. Jetzt war die Lage bedrohlich, und das Heer
war in Gefahr. Sie waren weniger als einen Tagesritt von den Außen-
mauem von Minas Tirith entfernt, die die Stadtlande umschlossen. Spä-
her waren vorausgeschickt worden. Einige waren nicht zurückgekehrt.
Andere, die zurückgeeilt waren, hatten berichtet, die Straße sei vom
Feind besetzt. Ein feindliches Heer hat auf ihr ein Lager aufgeschlagen,
drei Meilen westlich von Amon Din, und einige Verbände stoßen bereits
auf der Straße vor und sind nicht mehr als drei Wegstunden entfernt.
Orks streiften durch die Berge und Wälder entlang der Straße. In den stil-
len Stunden der Nacht hielten der König und Éomer eine Beratung ab.
Merry wünschte, er könne mit jemandem reden, und er dachte an Pip-
pin. Aber das verstärkte nur seine Unruhe. Der arme Pippin, eingesperrt
in der großen, steinernen Stadt, einsam und verängstigt. Merry wünschte,
er wäre ein kühner Reiter wie Eomer und könnte ein Horn blasen oder
sonst was und herangaloppieren, um ihn zu retten. Er setzte sich auf und
lauschte den Trommeln, die wieder schlugen, jetzt näher. Plötzlich hörte
er leise Stimmen, und er sah trübe, halb verhängte Laternen zwischen den
Bäumen. In der Nähe begannen Männer sich im Dunkeln unruhig zu be-
wegen.
Eine hohe Gestalt ragte auf, stolperte über ihn und fluchte auf die
Baumwurzeln. Er erkannte die Stimme des Marschalks, Elfhelm.
»Ich bin keine Baumwurzel, Herr«, sagte er, »und auch kein Beutel,
sondern ein geschundener Hobbit. Das Mindeste, was Ihr tun könntet, um
es wiedergutzumachen, ist, daß Ihr mir erzählt, was eigentlich los ist.«
»Alles, was nicht angebunden ist in dieser teuflischen Finsternis«,
sagte Elfhelm. »Aber mein Herr hat Bescheid sagen lassen, daß wir uns
bereithalten sollten: es mag der Befehl ergehen zu einem plötzlichen Auf-
bruch.«
»Kommt denn der Feind?« fragte Merry ängstlich. »Sind das ihre
Trommeln? Ich dachte schon, ich hätte sie mir eingebildet, da niemand
sonst sie zu beachten schien.«
»Nein, nein«, sagte Elfhelm, »der Feind ist auf der Straße, nicht in den
Bergen. Ihr hört die Wasa, die Wilden Menschen der Wälder: auf diese
Weise reden sie miteinander von ferne. Sie hausen immer noch im Drua-
dan-Wald, heißt es. Überreste einer älteren Zeit sind sie, leben zu weni-
gen zusammen und versteckt, wild und scheu wie Tiere. Sie ziehen nicht
mit Gondor oder der Mark in den Krieg; aber jetzt sind sie beunruhigt
über die Dunkelheit und das Kommen der Orks: sie fürchten, die Dunklen
Jahre kommen wieder, was nicht so unwahrscheinlich ist. Laßt uns dank-
bar dafür sein, daß sie uns nicht jagen: denn sie verwenden vergiftete
Pfeile, heißt es, und sie sind unvergleichliche Jäger. Aber sie haben
Théoden ihre Dienste angeboten. Gerade eben wird einer ihrer Häuptlinge
zum König gebracht. Dort drüben gehen die Lichter. Soviel habe ich ge-
hört, nicht mehr. Und jetzt muß ich mich um die Befehle meines Herrn
kümmern. Packt Euch, Herr Beutel!« Er verschwand in den Schatten.
Merry gefiel dies Gerede von wilden Menschen und vergifteten Pfeilen
nicht, aber ganz abgesehen davon lastete eine schwere Furcht auf ihm.
Das Warten war unerträglich. Er wollte gern wissen, was geschehen
würde. Er stand auf und schlich vorsichtig der letzten Laterne nach, ehe
sie zwischen den Bäumen verschwand.
Plötzlich kam er zu einer Lichtung, wo unter einem großen Baum ein
kleines Zelt für den König aufgeschlagen worden war. Eine oben abge-
deckte große Laterne hing an einem Zweig und warf einen blassen Licht-
kreis nach unten. Da saßen Théoden und Éomer, und vor ihnen auf dem
Boden hockte ein untersetzter Mann, knorrig wie ein alter Stein, und die
Haare seines schütteren Barts lagen wie trockenes Moos auf seinem klobi-
gen Kinn. Er war kurzbeinig und hatte fette Arme, dick und stämmig,
und seine Kleidung bestand nur aus Gras um die Körpermitte. Merry
hatte das Gefühl, ihn schon irgendwo einmal gesehen zu haben, und
plötzlich fielen ihm die Puckelmänner von Dunharg ein. Hier war eins
dieser alten Standbilder wieder lebendig geworden, oder vielleicht war
dieser Mann nach unendlichen Jahren ein echter Abkömmling jener Ge-
schöpfe, die den vergessenen Künstlern vor langer Zeit als Vorbild ge-
dient hatten.
Es herrschte Schweigen, als Merry näher kroch, und dann begann der
Wilde Mensch zu sprechen, als Antwort auf eine Frage, wie es schien.
Seine Stimme war tief und rauh, doch zu Merrys Verwunderung sprach er
die Gemeinsame Sprache, wenn auch stockend und durchsetzt mit unge-
wohnten Wörtern.
»Nein, Vater der Pferdemenschen«, sagte er, »wir kämpfen nicht. Wir
nur töten, jagen. Gorgûn in Wäldern, hassen Orkleute. Du haßt gorgûn
auch. Wir helfen, wie wir können. Wilde Menschen haben lange Ohren
und lange Augen; kennen alle Pfade. Wilde Menschen leben hier schon
vor Steinhäusern; bevor Große Menschen aus dem Wasser kamen.«
»Aber wir brauchen Hilfe im Kampf«, sagte Eomer. »Wie willst du
und dein Volk uns helfen?«
»Nachrichten bringen«, sagte der Wilde Mensch. »Wir halten Aus-
schau von Bergen. Wir klettern auf großes Gebirge und schauen hinunter.
Steinstadt ist eingeschlossen. Feuer brennt draußen; jetzt auch drinnen.
Ihr wollt da hin? Dann müßt ihr schnell sein. Aber gorgûn und Men-
schen von weit weg« — er zeigte mit einem kurzen, knorrigen Arm nach
Osten — »sitzen auf Pferdestraße. Sehr viele, mehr als Pferdemenschen.«
»Woher weißt du das?« fragte Éomer.
Das plumpe Gesicht des alten Mannes und seine dunklen Augen ließen
nichts erkennen, aber seine Stimme war mürrisch vor Verdruß. »Wilde
Menschen sind wild und frei, aber keine Kinder«, antwortete er. »Ich bin
großer Häuptling Ghân-buri-Ghân. Ich zähle viele Dinge: Sterne am
Himmel, Blätter an Bäumen, Menschen im Dunkeln. Ihr habt eine An-
zahl von zwanzig gerechnet zehnmal und fünf. Sie haben mehr. Großer
Kampf, und wer wird gewinnen? Und noch viele mehr laufen um Mauern
von Steinhäusern.«
»Wehe! Er spricht allzu klug«, sagte Théoden. »Und unsere Späher
sagen, sie haben Gräben ausgehoben und Pfähle quer über die Straße auf-
gestellt. Wir können sie nicht mit einem plötzlichen Angriff hinwegfe-
gen.«
»Und dennoch müssen wir uns sehr eilen«, sagte Éomer. »Mundburg
brennt!«
»Laßt Ghân-buri-Ghân zu Ende sprechen«, sagte der Wilde Mensch.
»Mehr als eine Straße kennt er. Er wird euch einen Weg führen, wo keine
Gruben sind, keine gorgûn laufen, nur Wilde Menschen und Tiere. Viele
Pfade wurden gemacht, als Steinhausleute mächtiger waren. Sie haben
Berge zerschnitten, wie Jäger Tierfleisch zerschneiden. Wilde Menschen
glauben, sie aßen Steine. Mit großen Wagen fuhren sie durch Druadan
nach Rimmon. Sie fahren nicht mehr. Straße ist vergessen, aber nicht von
Wilden Menschen. Über Berg und hinter Berg liegt sie immer noch unter
Gras und Baum, drüben hinter Rimmon und hinunter nach Dm, und zu-
rück zur Straße von Pferdemenschen. Wilde Menschen werden euch diese
Straße zeigen. Dann werdet ihr gorgûn töten und das böse Dunkel mit
lichtem Eisen vertreiben, und Wilde Menschen können wieder in den wil-
den Wäldern schlafen gehen.«
Eomer und der König sprachen miteinander in ihrer eigenen Sprache.
Schließlich wandte sich Théoden an den Wilden Menschen. »Wir wollen
dein Angebot annehmen«, sagte er. »Denn obwohl wir ein Heer von
Feinden hinter uns lassen, was macht es schon? Wenn die Steinstadt fällt,
dann gibt es keine Rückkehr für uns. Wenn sie gerettet wird, dann wird
das Orkheer selbst abgeschnitten sein. Wenn du aufrichtig bist, Ghân-
buri-Ghân, dann werden wir dir reichen Lohn geben, und du sollst die
Freundschaft der Mark auf immer haben.«
»Tote Menschen sind nicht Freunde von lebenden Menschen und
machen ihnen keine Geschenke«, sagte der Wilde Mensch. »Aber wenn du
noch lebst nach der Dunkelheit, dann laß die Wilden Menschen in Frieden
in den Wäldern und jage sie nicht mehr wie Tiere. Ghân-buri-Ghân wird
euch nicht in Falle führen. Er wird selbst mit Vater der Pferdemenschen
gehen, und wenn er euch falsch führt, werdet ihr ihn töten.«
»So ist es«, sagte Théoden.
»Wie lange werden wir brauchen, den Feind zu umgehen und wieder
auf die Straße zu kommen?« fragte Éomer. »Wir müssen im Schritt ge-
hen, wenn ihr uns führt, und ich zweifle nicht, daß der Weg schmal ist.»
»Wilde Menschen gehen schnell zu Fuß«, sagte Ghân. »Weg ist breit
für vier Pferde dort drüben im Steinkarrental«, er zeigte mit der Hand
nach Süden, »aber schmal am Anfang und am Ende. Wilde Menschen
können von hier nach Din laufen zwischen Sonnenaufgang und Mittag.«
»Dann müssen wir den Führern zumindest sieben Stunden zugestehen«,
sagte Eomer. »Aber wir müssen eher mit zehn Stunden für alle rechnen.
Unvorhergesehene Dinge mögen uns aufhalten, und wenn unser Heer
ganz auseinandergezogen ist, wird es lange dauern, ehe es wieder richtig
aufgestellt ist, wenn wir aus den Bergen herauskommen. Wie spät ist es
jetzt?«
»Wer weiß?« sagte Théoden. »Alles ist Nacht jetzt.«
»Alles ist dunkel, aber nicht alles ist Nacht«, sagte Ghân. »Wenn
Sonne kommt, spüren wir sie, selbst wenn sie verborgen ist. Schon steigt
sie über Ostgebirge. Es ist der Beginn des Tages in den Himmelsfeldern.«
»Dann müssen wir aufbrechen, sobald wir können«, sagte Éomer.
»Selbst so können wir nicht hoffen, Gondor heute zur Hilfe zu kommen.«
Merry wartete nicht ab, noch mehr zu hören, sondern machte sich
davon, um für den Marschbefehl bereit zu sein. Das war nun der letzte
Abschnitt vor der Schlacht. Es kam ihm nicht wahrscheinlich vor, daß
viele sie überleben würden. Aber er dachte an Pippin und die Brände in
Minas Tirith und verdrängte seine eigene Angst.
Alles ging gut an jenem Tag, und sie sahen und hörten nichts von dem
Feind, der darauf wartete, sie abzufangen. Die Wilden Menschen hatten
zur Tarnung umsichtige Jäger als Vorposten aufgestellt, damit kein Ork
oder herumstreifender Späher von den Vorgängen in den Bergen etwas er-
führe. Das Licht war trüber denn je, als sie sich der belagerten Stadt
näherten, und in langen Reihen zogen die Reiter wie dunkle Schatten von
Menschen und Tieren dahin. Jede Reiterschar wurde von einem wilden
Waldmenschen geführt; aber der alte Ghân ging neben dem König. Zu
Beginn war es langsamer gegangen, als man gehofft hatte, denn es hatte
die Reiter, die zu Fuß gingen und ihre Pferde führten, Zeit gekostet, Pfade
über die dicht bewaldeten Grate hinter ihrem Lager und hinunter in das
verborgene Steinkarrental zu finden. Es war spät am Nachmittag, als die
Führer zu ausgedehnten grauen Dickichten kamen, die sich jenseits der
Ostseite des Amon Din erstreckten und eine große Schlucht zwischen den
Bergketten verbargen, die von Nardol bis Din von Ost nach West verlief.
Durch die Schlucht hatte vor langer Zeit die vergessene Karrenstraße hin-
untergeführt und dann zurück zu dem wichtigen Pferdeweg von der Stadt
durch Anórien; aber seit vielen Menschenaltern hatten nun schon die
Bäume ihr Wesen dort getrieben, und die Straße war verschwunden, ver-
fallen und unter den Blättern unzähliger Jahre begraben. Doch die Dik-
kichte boten den Reitern die letzte Deckung, auf die sie hoffen konnten,
ehe sie in die offene Schlacht zogen; denn jenseits der Dickichte lagen die
Straße und die Ebene des Anduin, während die Abhänge nach Osten und
Süden kahl und felsig waren, wo sich die gewundenen Berge zusammen-
zogen und wie ein Bollwerk über dem anderen hinaufstiegen zu dem Ge-
birgsstock und den Schultern des Mindolluin.
Die vorderste Schar wurde angehalten, und als die hinteren aus der
Mulde des Steinkarrentals herangekommen waren, schwärmten sie aus
und ritten zu Lagerplätzen unter den grauen Bäumen. Der König rief die
Hauptleute zur Beratung zu sich. Éomer schickte Späher aus, um die
Straße zu beobachten; aber der alte Ghân schüttelte den Kopf.
»Nicht gut. Pferdemenschen zu schicken«, sagte er. »Wilde Menschen
haben schon alles gesehen, was in der schlechten Luft zu sehen ist. Sie
werden bald kommen und hier mit mir sprechen.«
Die Hauptleute kamen; und dann krochen vorsichtig andere Puckelge-
stalten zwischen den Bäumen hervor, die dem alten Ghân so ähnlich
waren, daß Merry sie kaum auseinanderhalten konnte. Sie sprachen mit
Ghân in einer fremden, kehligen Sprache.
Plötzlich wandte sich Ghân an den König. »Wilde Menschen sagen
viele Dinge«, sagte er. »Erstens, seid vorsichtig! Noch immer viele Men-
schen im Lager hinter Din, von hier eine Stunde zu Fuß dort drüben«,
und er zeigte mit dem Arm auf den dunklen Leuchtfeuerberg. »Aber
keine sind zu sehen zwischen hier und den neuen Mauern des Steinvolks.
Viele sind dort beschäftigt. Die Mauern stehen nicht mehr: gorgûn haben
sie zerschlagen mit Erddonner und Keulen aus schwarzem Eisen. Sie sind
unvorsichtig und schauen sich nicht um. Sie glauben, ihre Freunde bewa-
chen alle Straßen!« Dabei gab der alte Ghân einen seltsamen gurgelnden
Laut von sich, und es schien, daß er lachte.
»Gute Nachrichten!« rief Éomer. »Selbst in dieser Düsternis schimmert
wieder Hoffnung. Die Listen unseres Feindes nützen uns oft ihm zum
Trotz. Selbst die verfluchte Dunkelheit ist ein Deckmantel für uns gewe-
sen. Und jetzt, da es sie gelüstet, Gondor zu zerstören und Stein um Stein
niederzureißen, haben seine Orks meine größte Befürchtung ausgeräumt.
Die Außenmauer hätte lange gegen uns gehalten werden können. Jetzt
können wir hindurchjagen — wenn wir erst einmal so weit gekommen
sind.«
»Noch einmal danke ich dir, Ghân-buri-Ghân der Wälder«, sagte Theo-
den. »Glück begleite dich für deine Botschaften und deine Führung!«
»Tötet gorgûn! Tötet Orkvolk! Keine anderen Worte erfreuen Wilde
Menschen«, antwortete Ghân. »Vertreibt schlechte Luft und Dunkelheit
mit lichtem Eisen!«
»Um das zu tun, sind wir weit geritten«, sagte der König, »und wir
werden es versuchen. Aber was wir vollbringen werden, wird erst der
morgige Tag zeigen.«
Ghân-buri-Ghân hockte sich nieder und berührte die Erde mit seiner
schwieligen Stirn zum Zeichen des Abschieds. Dann stand er auf, als ob
er gehen wolle. Doch plötzlich blieb er stehen und schaute auf wie irgend-
ein überraschtes Waldtier, das einen fremden Geruch wittert. Seine
Augen leuchteten auf.
»Wind dreht sich!« rief er, und damit, im Handumdrehen, wie es
schien, verschwanden er und seine Gefährten in der Düsternis und wur-
den nie wieder von irgendeinem Reiter von Rohan gesehen. Nicht lange
danach schlugen fern im Osten die leisen Trommeln wieder. Doch in kein
Herz in dem ganzen Heer schlich sich die Befürchtung, daß die Wilden
Menschen treulos seien, wie seltsam und unschön sie auch aussahen.
»Wir brauchen jetzt keine Führung mehr«, sagte Elfhelm. »Denn es
gibt Reiter im Heer, die in Tagen des Friedens nach Mundburg geritten
sind. Ich zum Beispiel. Wenn wir zur Straße kommen, wird sie nach
Süden abbiegen, und sieben Wegstunden werden dann noch vor uns lie-
gen, ehe wir die Mauer der Stadtlande erreichen. Zum größten Teil
wächst auf diesem Weg viel Gras auf beiden Seiten der Straße. Auf die-
ser Strecke glaubten die reitenden Boten von Gondor ihre größte Schnel-
ligkeit zu erreichen. Wir können dort schnell reiten und ohne großen
Lärm.«
»Da wir grausame Taten zu erwarten haben und all unsere Kraft ge-
braucht wird«, sagte Eomer, »rate ich, daß wir jetzt ruhen und des Nachts
von hier aufbrechen und die Zeit so einrichten, daß wir auf die Felder
kommen, wenn der morgige Tag so hell ist, wie er sein wird, oder wenn
unser Herr das Zeichen gibt.«
Dem stimmte der König zu, und die Hauptleute gingen von dannen.
Doch bald kam Elfhelm zurück. »Die Späher haben jenseits des grauen
Waldes nichts Berichtenswertes gefunden, Herr«, sagte er, »abgesehen
von zwei Menschen: zwei toten Männern und zwei toten Pferden.«
»Nun?« sagte Éomer. »Was soll's?«
»Folgendes, Herr: es waren reitende Boten von Gondor. Einer war viel-
leicht Hirgon. Zumindest hielt seine Hand noch den Roten Pfeil, aber sein
Kopf war abgeschlagen. Und auch folgendes: die Anzeichen deuten dar-
auf hin, daß sie nach Westen flohen, als sie fielen. Wie ich es verstehe,
fanden sie den Feind schon an der Außenmauer vor oder sie bestürmend,
als sie zurückkamen, und das wäre vor zwei Nächten gewesen, wenn sie
von den Posten aus mit frischen Pferden geritten sind, wie es ihre Ge-
wohnheit war. Sie konnten nicht die Stadt erreicht haben und umgekehrt
sein.«
»Wehe!« sagte Théoden. »Dann wird Denethor keine Nachricht über
unseren Ritt erhalten und die Hoffnung auf unser Kommen aufgegeben
haben.«
»Not duldet keinen Aufschub, doch spät ist besser denn niemals«,
sagte Eomer. »Und vielleicht wird sich diesmal das alte Sprichwort wah-
rer erweisen als je zuvor, seit Menschen sprechen.«
Es war Nacht. Zu beiden Seiten der Straße ritt schweigend das Heer
von Rohan. Nun führte die Straße an den Säumen des Mindolluin vorbei
und wand sich nach Süden. Weit entfernt und fast genau geradeaus war
ein roter Schimmer unter dem schwarzen Himmel, und die Hänge des
großen Bergs ragten dunkel davor auf. Sie näherten sich dem Rammas des
Pelennor; aber es war noch nicht Tag.
Der König ritt in der vordersten Schar, umgeben von seinen Gefolgs-
leuten. Elfhelms éored kam als nächste; und jetzt bemerkte Merry, daß
Dernhelm seinen Platz verließ und in der Dunkelheit ständig vorrückte,
bis er schließlich unmittelbar hinter der Wache des Königs ritt. Dann
wurde angehalten. Merry hörte vorne Stimmen, die leise sprachen. Vor-
reiter waren zurückgekommen, die sich fast bis zu der Mauer vorgewagt
hatten. Sie kamen zum König.
»Da sind große Brände, Herr«, sagte einer. »Die Stadt steht überall in
Flammen, und das Feld ist voller Feinde. Doch alle scheinen für den An-
griff abgezogen zu werden. Soweit wir es abschätzen konnten, sind nur
wenige auf der Außenmauer zurückgeblieben, und die sind achtlos und
mit der Zerstörung beschäftigt.«
»Erinnert Ihr Euch an die Worte des Wilden Menschen, Herr?« fragte
ein anderer. »Ich lebe in Tagen des Friedens im offenen Ödland; Widfara
ist mein Name, und auch mir bringt die Luft Botschaften. Schon dreht
sich der Wind. Es kommt eine Brise aus dem Süden; da ist Seetang dabei,
wenn auch schwach. Der Morgen wird neue Dinge bringen. Über dem
Dunst wird der Tag anbrechen, wenn Ihr an der Mauer vorbei seid.«
»Wenn du wahr sprichst. Widfara, dann mögest du nach diesem Tage
in glücklichen Jahren leben!« sagte Théoden. Er wandte sich an die Män-
ner seines Gefolges, die um ihn waren, und er sprach jetzt mit einer kla-
ren Stimme, so daß viele Reiter aus der ersten éored ihn hörten:
»Jetzt ist die Stunde gekommen, Reiter der Mark, Söhne von Eorl!
Feinde und Feuer sind vor euch, und eure Heime liegen weit hinter euch.
Indes, obwohl ihr auf einem fremden Feld kämpft, wird der Ruhm, den
ihr erringt, euer eigener sein. Eide habt ihr geschworen: eurem Herrn und
dem Land und dem Bündnis der Freundschaft. Nun erfüllt sie alle!«
Die Männer schlugen klirrend Speer auf Schild.
»Éomer, mein Sohn! Du führst die erste éored«, sagte Théoden. »Und
sie soll hinter des Königs Banner in der Mitte kommen. Elfhelm, führe
deine Schar nach rechts, wenn wir an der Mauer vorbei sind. Und Grim-
bold soll die seine nach links führen. Laßt die anderen Scharen diesen
dreien folgen, wie sie es vermögen. Schlagt zu, wo immer der Feind sich
sammelt. Andere Pläne können wir nicht machen, denn wir wissen nicht,
wie die Lage auf dem Feld ist. Voran jetzt, und fürchtet keine Dunkel-
heit!«
Die vorderste Schar ritt los, so schnell sie konnte, denn es war immer
noch stockdunkel, welchen Wetterumschlag Widfara auch immer voraus-
sah. Merry saß hinter Dernhelm, hielt sich mit der linken Hand fest und
versuchte, mit der anderen sein Schwert in der Scheide zu lockern. Er er-
kannte jetzt schmerzlich, wie wahr Théodens Worte gewesen waren: Und
in einer solchen Schlacht, was würdest du da tun, Meriadoc?
»Genau
das«, dachte er: »einen Reiter behindern und bestenfalls hoffen, auf mei-
nem Sitz zu bleiben und nicht zu Tode gestampft werden von galoppie-
renden Hufen!«
Es war nicht mehr als eine Wegstunde bis dorthin, wo die Außen-
mauem gestanden hatten. Sie erreichten sie rasch; zu rasch für Merry.
Wilde Schreie erschallten, und es gab einiges Waffengeklirr, aber es war
kurz. Die mit den Mauern beschäftigten Orks waren nicht zahlreich und
überrascht, und sie wurden rasch erschlagen oder davongetrieben. Vor
den Trümmern des Nordtors im Rammas hielt der König wieder an. Die
erste éored stellte sich hinter ihm und zu beiden Seiten auf. Dernhelm
blieb nahe beim König, obwohl Elfhelms Schar weit rechts stand. Grim-
bolds Mannen wandten sich nach links und gingen durch eine große
Lücke in der Mauer weiter nach Osten.
Merry schaute sich hinter Dernhelms Rücken um. Weit vorn, vielleicht
zehn oder mehr Meilen entfernt, war ein großer Brand, aber zwischen ihm
und den Reitern loderten Feuerlinien in einem weiten Halbkreis, an der ¦
dichtesten Stelle nicht mehr als drei Meilen entfernt. Sonst konnte er
wenig auf der dunklen Ebene erkennen, und bis jetzt sah er weder irgend-
eine Hoffnung auf den Morgen, noch spürte er Wind, ob er nun gedreht
hatte oder nicht.
Nun ging das Heer von Rohan vor und zog geräuschlos auf dem Feld
von Gondor ein, langsam, aber stetig ergoß es sich wie die steigende Flut
durch Einbruchstellen in einem Deich, den die Menschen für sicher gehal-
ten hatten. Doch der Sinn und Wille des Schwarzen Heerführers war ganz
und gar auf den Fall der Stadt gerichtet, und bis jetzt waren keine Nach-
richten zu ihm gedrungen, die ihn warnten, daß seine Pläne einen Makel
aufwiesen.
Nach einer Weile führte der König seine Mannen ein wenig weiter nach
Osten, um zwischen die Belagerungsfeuer und die äußeren Felder zu ge-
langen. Noch immer waren sie unangefochten, und noch immer gab
Théoden kein Zeichen. Schließlich hielt er wiederum an. Die Stadt war
jetzt näher. Ein Brandgeruch lag in der Luft und geradezu ein Schatten
des Todes. Die Pferde waren unruhig. Aber der König saß auf Schnee-
mähne, reglos, und starrte auf den Todeskampf von Minas Tirith, als ob
er plötzlich von Schmerz und Angst ergriffen sei. Er schien kleiner zu
werden, vom Alter entmutigt. Merry selbst hatte das Gefühl, als ob Ent-
setzen und Zweifel wie eine schwere Last auf ihm ruhten. Sein Herz
schlug langsam. Die Zeit schien in Ungewißheit zu verharren. Sie waren
zu spät gekommen! Zu spät war schlimmer denn niemals! Vielleicht
würde Théoden verzagen, seinen alten Kopf senken, sich abwenden, sich
davonschleichen und in den Bergen verstecken.
Dann plötzlich spürte Merry es endlich, über jeden Zweifel erhaben:
eine Veränderung. Wind war in seinem Gesicht! Licht schimmerte. Weit,
weit im Süden sah man die Wolken undeutlich wie ferne graue Gebilde,
die heranrollten und dahintrieben: der Morgen lag hinter ihnen.
Doch in demselben Augenblick gab es ein Aufleuchten, als ob ein
Blitz aus der Erde aus der Stadt hervorgeschossen sei. Eine sengende
Sekunde lang stand die ferne Stadt blendend in Schwarz und Weiß da,
und ihr höchster Turm war wie eine glitzernde Nadel; und dann, als die
Dunkelheit wieder herandrängte, rollte über die Felder ein Donnergrollen.
Bei diesem Geräusch richtete sich die gebeugte Gestalt des Königs
plötzlich auf. Kühn und stolz erschien er wieder; und er erhob sich in den
Steigbügeln und rief mit lauter Stimme, heller als jede, die je von einem
Sterblichen gehört worden:

Auf! Auf! ihr Reiter Théodens!
Zu grimmen Taten: Feuer und Schlachten!
Speer wird zerschellen, Schild zersplittern,
Schwert-Tag, Blut-Tag, ehe die Sonne steigt!
Nun reitet! Reitet! Reitet nach Gondor!

Damit nahm er ein großes Horn von Guthláf, seinem Bannerträger, und
er blies so schmetternd, daß es zerbarst. Und sogleich erschallten alle
Hörner des Heeres in einem einzigen Wohllaut, und das Blasen der Hör-
ner von Rohan in jener Stunde war wie ein Sturm über der Ebene und wie
ein Donner im Gebirge.

Nun reitet! Reitet! Reitet nach Gondor!

Plötzlich spornte der König Schneemähne mit einem Zuruf an, und das
Pferd preschte davon. Hinter dem König wehte sein Banner im Wind, das
weiße Pferd auf einem grünen Feld, aber er war schneller. Hinter ihm
donnerten die Ritter seines Hauses, doch war er immer vor ihnen, Eomer
ritt dort so geschwind, daß der weiße Pferdeschweif an seinem Helm flat-
terte, und die erste éored brauste heran wie eine Sturzwelle, die an das
Ufer brandet, aber keiner konnte Théoden überholen. Todgeweiht erschien
er, oder die Kampfeswut seiner Väter rann wie ein neues Feuer in seinen
Adern, und er wurde von Schneemähne davongetragen wie ein Gott von
einst, wie Orome der Große in der Schlacht der Valar, als die Welt jung
war. Sein goldener Schild war unbedeckt, und siehe! er schimmerte wie
ein Abbild der Sonne, und das Gras flammte grün auf unter den weißen
Füßen seines Rosses. Denn der Morgen kam, der Morgen und ein Wind
vom Meer; und die Dunkelheit verzog sich, und die Heerscharen von
Mordor jammerten, und ein Schrecken ergriff sie, und sie flohen und star-
ben, und die Hufe des Zorns ritten über sie hinweg. Und dann begann das
ganze Heer von Rohan zu singen, und singend töteten sie, denn Kampfes-
lust war über sie gekommen, und ihr Gesang, der schön und schrecklich
war, schallte sogar bis zur Stadt.

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