VIERTES KAPITEL
DIE BELAGERUNG VON GONDOR
Pippin wurde von Gandalf geweckt. Kerzen brannten in ihrem Zimmer,
denn nur ein düsteres Zwielicht drang durch die Fenster; die Luft war
drückend, als ob ein Gewitter aufziehe.
»Wie spät ist es?« fragte Pippin gähnend.
»Die zweite Stunde ist vorbei«, sagte Gandalf. »Zeit, aufzustehen und
sich in Schale zu werfen. Du bist zum Herrn der Stadt gerufen worden
und sollst über deine neuen Pflichten unterrichtet werden.«
»Und wird er für Frühstück sorgen?«
»Nein! Dafür habe ich gesorgt: das hier ist alles, was du bis zum Mit-
tag bekommst. Es ist ein Befehl ergangen, das Essen jetzt sparsam auszu-
teilen.«
Wehmütig blickte Pippin auf den kleinen Laib Brot und das (wie er
fand) sehr unzulängliche Klümpchen Butter, die neben einem Becher dün-
ner Milch vor ihm standen. »Warum hast du mich bloß hierher gebracht?«
fragte er.
»Das weißt du ganz genau«, sagte Gandalf. »Damit du kein Unheil an-
richtest; und wenn es dir nicht gefällt, hier zu sein, dann denke daran,
daß du es dir selbst eingebrockt hast.« Pippin sagte nichts mehr.
Es dauerte nicht lange, da ging er wiederum mit Gandalf den kalten
Gang entlang zur Tür der Turmhalle. Dort saß Denethor in grauer
Düsternis, wie eine alte geduldige Spinne, dachte Pippin; er schien sich
seit gestern nicht gerührt zu haben. Er winkte Gandalf, er solle Platz neh-
men, aber er ließ Pippin eine Weile stehen, ohne ihn zu beachten. Plötz-
lich wandte sich der alte Mann zu ihm um:
»Nun, Herr Peregrin, ich hoffe, du hast den gestrigen Tag zu deinem
Nutzen und nach deinem Geschmack verbracht. Obwohl ich fürchte, daß
die Tafel in dieser Stadt kärglicher ist, als du dir wünschtest.«
Pippin hatte das unbehagliche Gefühl, daß das meiste von dem, was er
gesagt oder getan hatte, dem Herrn der Stadt bekannt sei, und auch viel
von dem, was er dachte, erraten wurde. Er antwortete nicht.
»Was willst du tun in meinem Dienst?«
»Ich dachte, Herr, daß Ihr mir meine Pflichten nennen würdet.«
»Das werde ich, wenn ich erfahre, wofür du geeignet bist«, sagte De-
nethor. »Aber das werde ich am ehesten erfahren, wenn ich dich bei mir
behalte. Mein Kammerjunker hat um die Erlaubnis gebeten, zu den
Außenposten versetzt zu werden, so sollst du eine Weile seine Stelle ein-
nehmen. Du sollst mir aufwarten, Botengänge erledigen und mich unter-
halten, wenn Krieg und Beratungen mir Muße dazu lassen. Kannst du sin-
gen?«
»Ja«, sagte Pippin. »Nun ja, gut genug für mein eigenes Volk. Aber
wir haben keine Lieder, die für große Hallen und schlimme Zeiten pas-
send sind, Herr. Wir singen selten von etwas Schrecklicherem als Wind
oder Regen. Und bei den meisten meiner Lieder handelt es sich um Dinge,
die uns zum Lachen bringen; oder um Essen und Trinken, natürlich.«
»Und warum sollten solche Lieder für meine Hallen unpassend sein, oder
für solche Stunden wie diese? Wir, die wir lange unter dem Schatten ge-
lebt haben, dürfen doch gewiß den Klängen aus einem Lande lauschen, das
noch nicht von ihm beunruhigt wurde? Dann können auch wir das Ge-
fühl haben, daß unsere Wache nicht fruchtlos war, auch wenn sie uns
nicht gedankt wurde.«
Pippin sank der Mut. Ihm gefiel der Gedanke gar nicht, dem Herrn von
Minas Tirith irgendwelche Lieder aus dem Auenland vorzusingen, und
gewiß nicht die komischen, die er am besten konnte; sie waren zu — nun
ja, zu bäurisch für eine solche Gelegenheit. Indes blieb ihm die Prüfung
im Augenblick erspart. Es wurde ihm nicht befohlen zu singen. Denethor
wandte sich an Gandalf und stellte ihm Fragen über die Rohirrim und ihr
Staatswesen und die Stellung von Éomer, des Königs Neffen. Pippin
staunte, wieviel der Herr zu wissen schien über ein Volk, das so weit ent-
fernt lebte, obwohl es, wie er glaubte, viele Jahre her sein mußte, daß De-
nethor selbst ins Ausland geritten war.
Plötzlich winkte Denethor Pippin zu und entließ ihn wieder für eine
Weile. »Geh zur Waffenmeisterei der Veste«, sagte er, »und hole dir dort
die Hoftracht und die Waffen des Turms. Es wird alles bereitliegen. Es
wurde gestern angeordnet. Komm wieder, wenn du angekleidet bist!«
Es war, wie er gesagt hatte; und Pippin sah sich bald mit seltsamen Ge-
wändern geschmückt, alle in Schwarz und Silber. Er hatte ein kleines
Panzerhemd, dessen Ringe vielleicht aus Stahl geschmiedet, aber tief-
schwarz waren; einen hochgewölbten Helm mit kleinen Rabenflügeln an
beiden Seiten und einem silbernen Stern in der Mitte des Stirnreifs. Über
dem Panzerhemd trug er einen kurzen schwarzen Überwurf, der auf der
Brust in Silberstickerei das Wahrzeichen des Baums zeigte. Seine alten
Kleider wurden zusammengefaltet und weggelegt, doch durfte er den
grauen Mantel aus Lórien behalten, ihn allerdings im Dienst nicht tragen.
Er sah jetzt, hätte er es gewußt, wahrlich wie der Ernil i Pheriannath
aus,
der Fürst der Halblinge, wie das Volk ihn nannte; aber er fühlte sich un-
behaglich. Und die Finsternis bedrückte allmählich sein Gemüt.
Den ganzen Tag war es dunkel und düster. Von der sonnenlosen Mor-
gendämmerung bis zum Abend hatte sich der bleierne Schatten immer
mehr verstärkt, und allen in der Stadt war das Herz schwer. Hoch oben
zog von dem Schwarzen Land eine große Wolke langsam westwärts, von
einem Wind des Krieges getrieben, und verschlang das Licht; aber darun-
ter war die Luft still und windlos, als ob das Tal des Anduin auf den
Ausbruch eines verheerenden Sturms warte.
Um die elfte Stunde kam Pippin, der eine Weile dienstfrei hatte, heraus
und machte sich auf die Suche nach Essen und Trinken, um sein schweres
Herz aufzumuntern und seine Aufgabe des Wartens erträglicher zu
machen. In den Eßräumen traf er Beregond wieder, der gerade von einem
Auftrag zurückgekehrt war, der ihn über den Pelennor zu den Wachtür-
men am Damm geführt hatte. Gemeinsam schlenderten sie hinaus zu den
Wällen; denn Pippin kam sich in den Häusern eingekerkert vor und
glaubte selbst in der hochragenden Veste ersticken zu müssen. Jetzt saßen
sie nebeneinander bei den Schießscharten, wo sie am Tage zuvor gegessen
und sich unterhalten hatten.
Es war die Stunde des Sonnenuntergangs, aber die große Wolke hatte
sich nun weit in den Westen ausgedehnt, und erst, als die Sonne schließ-
lich im Meer versank, entrann sie ihr und konnte vor der Nacht noch
einen kurzen Abschiedsstrahl aussenden, den auch Frodo am Scheide-
wege sah und der auf den Kopf des umgestürzten Königs fiel. Aber auf
die Felder des Pelennor, im Schatten des Mindolluin, drang kein Strahl:
sie waren dunkel und öde.
Schon kam es Pippin vor, als sei es Jahre her, daß er hier gesessen habe
in einer halbvergessenen Zeit, als er noch ein Hobbit war, ein fröhlicher
Wanderer, wenig berührt von den Gefahren, die er bestanden hatte. Jetzt
war er nur ein kleiner Kriegsmann in einer Stadt, die sich auf einen
großen Angriff vorbereitete, und er trug die stolze, aber düstere Tracht
des Turms der Wacht.
Zu einer anderen Zeit und an einem anderen Ort hätte sich Pippin viel-
leicht über seine neue Ausstattung gefreut, aber jetzt wußte er, daß er
nicht an einem Spiel teilnahm; er war in tödlichem Ernst der Diener eines
strengen Herrn in größter Gefahr. Das Panzerhemd war lästig, und der
Helm drückte ihn. Seinen Mantel hatte er neben sich auf den Sitz gewor-
fen. Er wandte seinen müden Blick von den dunklen Feldern unten ab und
gähnte, und dann seufzte er.
»Seid Ihr erschöpft von diesem Tag?« fragte Beregond.
»Ja«, sagte Pippin. »Sehr: ermüdet vom Nichtstun und Warten. Viele
lange Stunden habe ich mir an der Tür zum Gemach meines Herrn die
Beine in den Bauch gestanden, während er sich mit Gandalf und dem Für-
sten und anderen wichtigen Leuten beraten hat. Und ich bin es nicht ge-
wöhnt, Herr Beregond, anderen beim Essen aufzuwarten, wenn ich selbst
hungrig bin. Für einen Hobbit ist das eine schwere Prüfung. Zweifellos
werdet Ihr glauben, ich sollte die Ehre höher schätzen. Aber was nützt
solche Ehre? Was nützt überhaupt Essen und Trinken unter diesem krie-
chenden Schatten? Was bedeutet er? Sogar die Luft scheint undurchdring-
lich und dunkel zu sein. Habt ihr oft solche Düsternis, wenn der Wind
von Osten kommt?«
»Nein«, sagte Beregond, »das ist kein irdisches Wetter. Es ist irgendeine
Ausgeburt seiner Bosheit; irgendein dunstiger Brodem vom Feurigen
Berg, den er ausschickt, um Herzen und Pläne zu verdunkeln. Und das tut
er wirklich. Ich wünschte, der Herr Faramir käme zurück. Er wäre nicht
entmutigt. Aber wer weiß, ob er jetzt aus der Dunkelheit jemals über den
Fluß zurückkommen wird?«
»Ja«, sagte Pippin, »auch Gandalf ist besorgt. Er war enttäuscht, glaube
ich, daß er Faramir nicht hier traf. Und wo ist er überhaupt hingegangen?
Er verließ den Rat des Herrn vor dem Mittagsmahl, und in keiner guten
Stimmung, fand ich. Vielleicht hat er irgendeine Vorahnung von schlech-
ten Nachrichten.«
Plötzlich, während sie redeten, verschlug es ihnen die Sprache, sie er-
starrten gleichsam zu lauschenden Steinen. Pippin duckte sich und hielt
sich mit den Händen die Ohren zu; aber Beregond, der über die Brustwehr
hinausgeschaut hatte, als er von Faramir sprach, blieb steif stehen und
starrte hinaus mit erschreckten Augen. Pippin kannte den schauerlichen
Schrei, den er gehört hatte: es war derselbe, den er vor langer Zeit im
Bruch des Auenlandes gehört hatte, aber jetzt hatte er an Kraft und Haß
zugenommen und durchbohrte das Herz mit giftiger Verzweiflung.
Endlich sprach Beregond mühsam: »Sie sind gekommen«, sagte er.
»Schöpft Mut und schaut! Da sind grausame Wesen unten.«
Widerstrebend kletterte Pippin auf den Sitz und blickte über die Mauer.
Der Pelennor lag düster unter ihm und zog sich verschwommen hin bis
zu dem kaum erkennbaren Lauf des Anduin. Doch nun sah er auf halber
Höhe unter sich, schnell über das Land hinwegfliegend wie Schatten einer
verfrühten Nacht, fünf vogelähnliche Gestalten, entsetzlich wie Aasgeier,
aber größer als Adler, grausam wie der Tod. Bald stießen sie nahebei
hinab und wagten sich fast in Bogenschußweite vor die Mauern, bald
zogen sie ihre Kreise weiter entfernt.
»Schwarze Reiter«, murmelte Pippin. »Schwarze Reiter der Luft! Aber
schaut, Beregond!« rief er. »Sie suchen doch gewiß etwas? Schaut, wie
sie kreisen und hinabstoßen, immer zu diesem Punkt dort drüben! Und
könnt Ihr sehen, daß sich etwas auf dem Boden bewegt? Dunkle kleine
Wesen. Ja, Menschen auf Pferden, vier oder fünf. Ach! Ich kann es nicht
aushalten! Gandalf! Gandalf, rette uns!«
Noch ein gellender Schrei erhob sich und verging, und Pippin ließ sich
wieder von der Mauer herabfallen und keuchte wie ein gejagtes Tier.
Schwach und anscheinend von ferne hörte er durch den schauerlichen
Schrei von unten herauf den Klang einer Trompete, der mit einem langen,
hohen Ton endete.
»Faramir! Der Herr Faramir! Es ist sein Ton!« rief Beregond. »Tapferer
Recke! Aber wie kann er das Tor erreichen, wenn diese widerlichen Höl-
lengeier noch andere Waffen als Schrecken haben? Doch schaut! Sie rei-
ten weiter! Sie werden zum Tor kommen. Nein, die Pferde scheuen!
Schaut! Die Männer sind abgeworfen worden; sie laufen zu Fuß. Nein,
einer ist noch oben, aber er reitet zurück zu den anderen. Das wird der
Heermeister sein: er hat Macht über Tiere und über Menschen. Ach! Eins
dieser widerlichen Geschöpfe beugt sich über ihn. Hilfe! Hilfe! Will kei-
ner zu ihm hinausgehen? Faramir!«
Damit sprang Beregond davon und rannte hinaus in die Düsternis. Be-
schämt über seine Angst, während Beregond von der Wache zuerst an
den Heermeister dachte, den er liebte, stand Pippin auf und spähte hinaus.
In diesem Augenblick sah er ein Aufleuchten von Weiß und Silber, das
von Norden kam, wie ein kleiner Stern unten auf den düsteren Feldern. Er
bewegte sich mit der Geschwindigkeit eines Pfeils und wurde größer, als
er herankam und rasch dieselbe Richtung wie die Gruppe von vier Män-
nern einschlug, zum Tor. Es schien Pippin, daß ein bleiches Licht von ihm
ausging und die Schatten zurückwichen; und als er näherkam, glaubte er,
wie ein Echo in den Mauern, eine laute Stimme rufen zu hören.
»Gandalf!« rief er. »Gandalf! Immer erscheint er, wenn die Not am
größten ist! Voran, voran. Weißer Reiter! Gandalf! Gandalf!« schrie er so
aufgeregt wie ein Zuschauer bei einem großen Rennen, der einen Läufer
anspornt, obwohl er gar keiner Ermutigung bedarf.
Doch nun hatten die dunklen, herabstoßenden Schatten den Neuan-
kömmling bemerkt. Einer hielt auf ihn zu; aber es schien Pippin, daß
Gandalf die Hand hob und ein Strahl von weißem Licht emporschoß. Der
Nazgûl stieß einen langen Klageruf aus und wich seitlich aus; und dar-
aufhin begannen auch die vier anderen schwankend zu werden, und
schwangen sich, rasche Kreise ziehend, empor und verschwanden gen
Osten in der drohenden Wolke oben; und unten auf dem Pelennor schien
es eine Weile weniger dunkel zu sein.
Pippin beobachtete alles und sah, wie der Reitersmann und der Weiße
Reiter sich trafen und anhielten, um auf jene zu warten, die zu Fuß
kamen. Jetzt eilten Männer aus der Stadt heraus; und bald waren sie
durch die äußeren Mauern dem Blick entzogen, und Pippin wußte, daß sie
das Tor erreicht hatten. Da er vermutete, daß sie sofort zum Turm und
zum Truchseß kommen würden, eilte er zum Eingang der Veste. Dort
schlössen sich ihm viele andere an, die von den hohen Wällen aus das
Rennen und die Rettung beobachtet hatten.
Es dauerte nicht lange, da hörte man Geschrei in den Straßen, die von
den äußeren Ringen heraufführten, es wurde gejubelt, und die Namen von
Faramir und Mithrandir wurden gerufen. Plötzlich sah Pippin Fackeln,
und gefolgt von einer Menschenmenge ritten zwei Reiter langsam heran:
der eine in Weiß, aber nicht länger schimmernd, sondern bleich im Zwie-
licht, als ob er sein Feuer verausgabt oder verhüllt habe; der andere war
dunkel, und er hielt den Kopf gesenkt. Sie saßen ab, und als Pferde-
knechte Schattenfell und das andere Pferd nahmen, gingen sie zu Fuß
weiter zu dem Wachtposten am Tor: Gandalf mit festem Schritt, den
grauen Mantel zurückgeschlagen, und noch immer flammten seine
Augen; der andere, ganz in Grün gekleidet, ging langsam und schwankte
ein wenig wie ein müder oder verwundeter Mann.
Pippin drängte sich nach vorn, als sie unter der Lampe am Torbogen
vorbeikamen, und als er Faramirs bleiches Gesicht sah, hielt er den Atem
an. Es war das Gesicht eines Menschen, der von einem großen Schrecken
oder einem großen Schmerz ergriffen worden war, aber es überwunden
hat und jetzt ruhig ist. Stolz und ernst blieb er einen Augenblick stehen
und sprach mit dem Wachtposten, und als Pippin ihn betrachtete, sah er,
wie sehr er seinem Bruder Boromir ähnelte — den Pippin von Anfang an
gemocht und dessen gebieterisches, aber freundliches Wesen er bewundert
hatte. Doch für Faramir wurde sein Herz plötzlich von einem Gefühl er-
griffen, das er vorher nicht gekannt hatte. Hier war ein Mann, dessen Ge-
baren von hohem Adel zeugte, so wie er bei Aragorn zuzeiten sichtbar
wurde, vielleicht weniger adelig, doch auch weniger unberechenbar und
ungewöhnlich: einer der Könige der Menschen, in eine spätere Zeit hin-
eingeboren, aber mit den Spuren der Weisheit und Traurigkeit des Älte-
ren Geschlechts. Jetzt verstand er, warum Beregond seinen Namen mit
Liebe aussprach. Er war ein Führer, dem die Menschen folgten, dem auch
er folgen würde, selbst unter dem Schatten der schwarzen Schwingen.
»Faramir!« rief er laut mit den anderen. »Faramir!« und Faramir, der
seine fremde Stimme unter den Zurufen der Mannen der Stadt heraus-
hörte, wandte sich um, schaute ihn an und war erstaunt.
»Woher kommt Ihr?« fragte er. »Ein Halbling, und in der Hoftracht
des Turms! Woher ...?«
Aber da trat Gandalf an seine Seite und sprach. »Er kam mit mir aus
dem Land der Halblinge«, sagte er. »Er kam mit mir. Doch wollen wir
uns hier nicht aufhalten. Es gibt viel zu sagen und zu tun, und Ihr seid
müde. Er soll mit uns kommen. Das muß er fürwahr, denn wenn er seine
neuen Pflichten nicht leichter vergißt als ich, dann muß er seinem Herrn
noch in dieser Stunde aufwarten. Komm, Pippin, folge uns.«
So kamen sie schließlich zu dem Wohngemach des Herrn der Stadt.
Dort waren tiefe Sessel um ein Kohlenbecken aufgestellt; und Wein
wurde gebracht; und dort stand Pippin, kaum beachtet, hinter Denethors
Stuhl und spürte seine Müdigkeit wenig, so eifrig lauschte er auf alles,
was gesagt wurde.
Als Faramir weißes Brot zu sich genommen und einen Schluck Wein
getrunken hatte, setzte er sich auf einen niedrigen Stuhl zur linken Hand
seines Vaters. Etwas entfernt auf der anderen Seite saß Gandalf auf einem
Stuhl aus geschnitztem Holz; und zuerst schien es, als schliefe er. Denn zu
Anfang sprach Faramir nur von dem Auftrag, zu dem er vor zehn Tagen
entsandt worden war, und er brachte Nachrichten aus Ithilien und über
die Bewegungen des Feindes und seiner Verbündeten; und er berichtete
von dem Kampf auf der Straße, bei dem die Menschen aus Harad und ihr
großes Tier überwältigt wurden: ein Heerführer, der seinem Herrn Dinge
berichtet, wie sie schon oft zu hören waren, kleine Taten des Grenzkrie-
ges, die nun sinnlos und unwichtig erschienen und ihres Ruhm beraubt.
Dann sah Faramir plötzlich Pippin an. »Doch nun kommen wir zu selt-
samen Dingen«, sagte er. »Denn dies ist nicht der erste Halbling, den ich
aus den Sagen des Nordens in die Südlichen Lande habe wandern sehen.«
Da setzte Gandalf sich auf und packte die Armlehnen seines Sessels;
aber er sagte nichts, und mit einem Blick gebot er dem Ausruf Einhalt,
den Pippin schon auf den Lippen hatte. Denethor betrachtete ihre Gesich-
ter und nickte mit dem Kopf, gleichsam zum Zeichen, daß er viel erraten
hatte, ehe es ausgesprochen war. Während die anderen still und schwei-
gend dasaßen, erzählte Faramir langsam seine Geschichte und hielt die
Augen zumeist auf Gandalf gerichtet, obwohl sein Blick dann und wann
zu Pippin schweifte, als wolle er seine Erinnerung an andere, die er gese-
hen hatte, auffrischen.
Als er in seiner Erzählung seine Begegnung mit Frodo und seinem Die-
ner und die Ereignisse in Henneth Annûn geschildert hatte, merkte Pip-
pin, daß Gandalfs Hände, die das geschnitzte Holz umklammerten, zitter-
ten. Weiß sahen sie jetzt aus und sehr alt, und als Pippin sie betrachtete,
erkannte er plötzlich mit Schrecken, daß Gandalf, selbst Gandalf beunru-
higt war, ja, sogar Angst hatte. Die Luft im Zimmer war schwül und
still. Als Faramir schließlich von seinem Abschied von den Wanderern
sprach und von ihrem Entschluß, nach Cirith Ungol zu gehen, wurde seine
Stimme leise, er schüttelte den Kopf und seufzte. Da sprang Gandalf auf.
»Cirith Ungol? Das Morgul-Tal?« sagte er. »Wann, Faramir, wann?
Wann habt Ihr Euch von ihnen getrennt? Wann können sie das verfluchte
Tal erreicht haben?«
»Ich trennte mich von ihnen am Morgen vor zwei Tagen«, sagte Fara-
mir. »Es sind fünfzehn Wegstunden von dort zum Tal des Morgulduin,
wenn sie geradenwegs nach Süden gegangen sind; und dann wären sie
immer noch fünfzehn Wegstunden westlich des verfluchten Turms gewe-
sen. Im günstigsten Fall könnten sie nicht vor heute dorthin kommen,
und vielleicht sind sie noch gar nicht da. Ich weiß allerdings, was Ihr be-
fürchtet. Doch die Dunkelheit ist nicht eine Folge ihres Wagnisses. Sie
begann gestern abend, und ganz Ithilien war in der letzten Nacht unter
dem Schatten. Mir ist klar, daß der Feind schon lange einen Angriff auf
uns geplant hat, und die Stunde war schon bestimmt, ehe ich die Wande-
rer aus meiner Obhut entließ.«
Gandalf ging auf und ab. »Am Morgen vor zwei Tagen, fast drei Tage
unterwegs! Wie weit entfernt ist der Ort, wo Ihr Euch getrennt habt?«
»Etwa fünfundzwanzig Wegstunden, wie ein Vogel fliegt«, antwortete
Faramir. »Aber ich konnte nicht schneller herkommen. Gestern abend lag
ich bei Cair Andres, der langen Insel im Fluß, nördlich von hier, die wir
verteidigten; und Pferde sind dort auf dem diesseitigen Ufer unterge-
bracht. Als die Dunkelheit heraufzog, wußte ich, daß Eile not tat, deshalb
ritt ich dorthin mit drei anderen, für die wir Pferde hatten. Die übrigen
von meiner Schar schickte ich nach Süden, um die Besatzung an den Fur-
ten von Osgiliath zu verstärken. Ich hoffe, ich habe nichts Unrechtes ge-
tan?« Er sah seinen Vater an.
»Unrechtes?« rief Denethor, und seine Augen blitzen plötzlich.
»Warum fragst du? Die Leute waren dir unterstellt. Oder fragst du nach
meiner Meinung über all deine Taten? Dein Betragen ist demütig in mei-
ner Gegenwart, doch seit langem schon gehst du deine eigenen Wege ge-
gen meinen Willen. Schau, du hast vernünftig gesprochen, wie immer;
aber glaubst du, ich habe nicht gesehen, daß dein Blick stets auf
Mithrandir gerichtet war und forschte, ob du es gut gesagt hast oder zu
viel? Er hat dein Herz schon lange gewonnen.
Mein Sohn, dein Vater ist alt, aber nicht kindisch. Ich kann sehen und
hören wie eh und je; und wenig von dem, was du nur halb gesagt oder
ungesagt gelassen hast, ist mir verborgen. Für mich sind viele Rätsel jetzt
gelöst. Wehe, wehe um Boromir!«
»Wenn das, was ich getan habe, dir mißfällt, mein Vater«, sagte Fara-
mir ruhig, »dann wünschte ich, ich hätte deine Meinung gekannt, ehe mir
die Last einer so gewichtigen Entscheidung auferlegt wurde.«
»Hätte das genützt, um deine Entscheidung zu ändern?« sagte Dene-
thor. »Du hättest es dennoch genauso gemacht, schätze ich. Ich kenne dich
gut. Immer ist es dein Wunsch, großmütig und großzügig zu erscheinen
wie ein König von einst, gnädig und gütig. Das mag einem von hohem
Geblüt wohl anstehen, wenn er Macht besitzt und Frieden hat. Aber in
hoffnungslosen Stunden mag Güte mit dem Tode bezahlt werden.«
»So sei es«, sagte Faramir.
»So sei es!« rief Denethor. »Aber nicht allein mit deinem Tod, Herr
Faramir: auch mit dem Tod deines Vaters und deines ganzen Volkes, das
zu schützen nun deine Aufgabe ist, da Boromir nicht mehr da ist.«
»Dann wünschst du also«, sagte Faramir, »daß unsere Plätze vertauscht
gewesen wären?«
»Ja, das wünsche ich fürwahr!« sagte Denethor. »Denn Boromir war
mir treu und kein Zauberlehrling. Er hätte der Not seines Vaters gedacht
und nicht vergeudet, was das Geschick gab. Er hätte mir ein gewaltiges
Geschenk gebracht.«
Einen Augenblick ließ Faramirs Zurückhaltung nach. »Ich möchte dich
bitten, mein Vater, dich zu erinnern, warum ich und nicht er in Ithilien
war. Bei einer Gelegenheit wenigstens vor nicht langer Zeit hat deine
Meinung den Ausschlag gegeben. Es war der Herr der Stadt, der ihm den
Auftrag gab.«
»Rühre nicht an die Bitterkeit des Kelchs, den ich mir selbst zusam-
mengebraut habe«, sagte Denethor. »Habe ich sie nicht jetzt in vielen
Nächten auf meiner Zunge geschmeckt und geahnt, daß mir noch Schlim-
meres bevorsteht, wenn ich ihn bis zur Neige leere? Wie ich jetzt tatsäch-
lich feststelle. Ich wünschte, es wäre nicht so! Ich wünschte, dieses Ding
wäre zu mir gekommen!«
»Beruhigt Euch«, sagte Gandalf. »In keinem Fall hätte Boromir es Euch
gebracht. Er ist tot, und er starb gut. Möge er in Frieden schlafen! Den-
noch täuscht Ihr Euch. Er hätte die Hand nach diesem Ding ausgestreckt
und wäre, wenn er es genommen hätte, gestrauchelt. Er hätte es für sich
behalten, und wäre er zurückgekehrt, Ihr würdet Euren Sohn nicht wie-
dererkannt haben.«
Denethors Gesicht wurde hart und kalt. »Ihr fandet Boromir weniger
handsam, nicht wahr?« sagte er leise. »Aber ich, der ich sein Vater war,
sage, daß er es mir gebracht haben würde. Ihr seid vielleicht klug,
Mithrandir, und dennoch besitzt Ihr bei all Eurem Scharfsinn nicht alle
Klugheit. Es können Entschlüsse gefaßt werden, die weder von Zauberern
ausgelegte Netze sind, noch die Voreiligkeit von Narren. Ich habe in die-
ser Sache mehr Gelehrsamkeit und Klugheit, als Ihr glaubt.«
»Und was sagt Eure Klugheit?« fragte Gandalf.
»Genug, um zu erkennen, daß zwei Torheiten zu vermeiden sind. Das
Ding zu verwenden ist gefährlich. Es in dieser Stunde in den Händen
eines einfältigen Halblings in das Land des Feindes selbst zu schicken, wie
Ihr es getan habt und dieser mein Sohn, das ist Verrücktheit.«
»Und was hätte der Herr Denethor getan?«
»Keins von beiden. Doch ganz gewiß hätte er unter gar keinen Umstän-
den dieses Ding einer Gefahr ausgesetzt, die zu bestehen nur ein Narr
hoffen kann, und die unsere völlige Vernichtung bedeuten mag, wenn der
Feind wiederbekommt, was er verloren hat. Nein, das Ding hätte man be-
halten und verstecken sollen, geheim und verborgen. Nicht verwenden,
sage ich, es sei denn in der höchsten Not, aber außerhalb seiner Reich-
weite, außer bei einem so endgültigen Sieg, daß das, was dann geschähe,
uns nicht mehr kümmert, weil wir tot sind.«
»Ihr denkt, Herr, wie eh und je nur an Gondor«, sagte Gandalf. »Indes
gibt es noch andere Menschen und anderes Leben, und zukünftige Zeiten.
Und was mich betrifft, so dauern mich selbst seine Sklaven.«
»Und woher sollen andere Menschen Hilfe erhalten, wenn Gondor
fällt?« antwortete Denethor. »Wenn ich dieses Ding jetzt in den tiefen
Gewölben dieser Veste hätte, dann würden wir nicht vor Angst zittern
unter dieser Düsternis und das Schlimmste befürchten, und unsere Pläne
würden nicht gestört. Wenn Ihr mir nicht zutraut, die Prüfung zu beste-
hen, dann kennt Ihr mich noch nicht.«
»Trotzdem traue ich Euch nicht«, sagte Gandalf. »Hätte ich es getan,
dann hätte ich dieses Ding hierherschicken und in Eure Obhut geben kön-
nen und hätte mir und anderen viel Pein erspart. Und da ich Euch nun
reden höre, traue ich Euch noch weniger, nicht mehr als Boromir. Nein,
zügelt Euren Zorn! Ich traue mir selbst nicht in dieser Sache, und ich
habe das Ding zurückgewiesen, als man es mir sogar freiwillig geben
wollte. Ihr seid stark und vermögt Euch immer noch bei manchen Fragen
zu beherrschen, Denethor; doch hättet Ihr dieses Ding erhalten, es hätte
Euch überwältigt. Wenn es tief verborgen wäre unter dem Fuß des Min-
dolluin, würde es dennoch Euren Sinn vergiften, wenn die Dunkelheit zu-
nimmt und die noch schlimmeren Dinge folgen, die bald über uns kom-
men werden.«
Einen Augenblick lang funkelten Denethors Augen wieder, als er
Gandalf ansah, und Pippin spürte wiederum die Spannung zwischen De-
nethors und Gandalfs Willen; doch nun schien es fast, als seien ihre
Blicke Schwerter von einem Auge zum anderen, die aufflammten, wäh-
rend sie fochten. Pippin zitterte, denn er fürchtete irgendeinen furchtba-
ren Hieb. Aber plötzlich entspannte sich Denethor und wurde ruhig. Er
zuckte die Schultern.
»Wenn ich hätte! Wenn Ihr hättet!« sagte er. »Solche Wenn und Aber
sind eitel. Das Ding ist in den Schatten gegangen, und nur die Zeit wird
erweisen, welches Schicksal es und uns erwartet. Die Zeit wird nicht lang
sein. Solange sie währt, sollen alle, die den Feind auf ihre Weise bekämp-
fen, einig sein und die Hoffnung aufrechterhalten, solange sie können,
und wenn keine Hoffnung mehr besteht, sollen sie kühn genug sein, in
Freiheit zu sterben.« Er wandte sich an Faramir. »Was hältst du von der
Besatzung in Osgiliath?«
»Sie ist nicht stark«, sagte Faramir. »Ich habe die Schar aus Ithilien
hingeschickt, um sie zu verstärken, wie ich gesagt habe.«
»Nicht genug, schätze ich«, sagte Denethor. »Dort wird der erste
Schlag fallen. Sie werden irgendeinen beherzten Hauptmann dort brau-
chen.«
»Dort und anderswo an vielen Orten«, sagte Faramir und seufzte.
»Wehe um meinen Bruder Boromir, den auch ich liebte!« Er stand auf.
»Darf ich mich mit deiner Erlaubnis verabschieden, Vater?« Und dann
schwankte er und stützte sich auf seines Vaters Stuhl.
»Du bist müde, wie ich sehe«, sagte Denethor. »Du bist schnell und
weit geritten, und unter bösen Schatten in der Luft, wurde mir gesagt.«
»Laß uns nicht davon sprechen!« sagte Faramir.
»Dann wollen wir es nicht tun«, sagte Denethor. »Geh nun, ruhe dich
aus, wenn du kannst. Die Anforderungen morgen werden härter sein.«
Alle verabschiedeten sich jetzt vom Herrn der Stadt und gingen zur
Ruhe, solange sie noch konnten. Draußen war eine sternenlose Schwärze,
als Gandalf mit Pippin neben sich, der eine kleine Fackel trug, zu seiner
Unterkunft ging. Sie redeten nicht, bis sie die Tür hinter sich geschlossen
hatten. Dann endlich nahm Pippin Gandalfs Hand.
»Sage mir«, fragte er, »gibt es irgendwelche Hoffnung? Für Frodo,
meine ich; oder zumindest vor allem für Frodo.«
Gandalf legte Pippin die Hand auf den Kopf. »Es bestand niemals viel
Hoffnung«, antwortete er. »Nur die Hoffnung eines Narren, wie mir ge-
sagt wurde. Und als ich von Cirith Ungol hörte ...« Er brach ab und ging
zum Fenster, als ob er durch die Nacht bis in den Osten schauen könnte.
»Cirith Ungol!« murmelte er. »Warum auf diesem Wege, frage ich
mich?« Er wandte sich um. »Mir hätte fast das Herz stillgestanden, Pip-
pin, als ich den Namen hörte. Und dennoch glaube ich in Wirklichkeit,
daß die Nachrichten, die Faramir gebracht hat, einige Hoffnung enthal-
ten. Denn es scheint klar, daß unser Feind den Krieg endlich eröffnet und
den ersten Schritt getan hat, solange Frodo noch frei war. So wird er jetzt
auf viele Tage sein Auge hierhin und dorthin richten, fort von seinem
eigenen Land. Und dennoch, Pippin, spüre ich von ferne seine Hast
und Angst. Er hat früher angefangen, als er wollte. Irgend etwas ist ge-
schehen, das ihn aufgerüttelt hat.«
Gandalf blieb einen Augenblick in Gedanken vertieft stehen. »Viel-
leicht«, murmelte er, »vielleicht hat sogar deine Torheit genützt, mein
Junge. Laß mich überlegen: vor etwa fünf Tagen wird er entdeckt haben,
daß wir Saruman überwältigt und den Stein genommen haben. Doch was
soll's? Wir konnten ihn nicht mit großem Erfolg verwenden, oder ohne
daß er es merkte. Ach! Das möchte ich mal wissen! Aragorn? Seine Zeit
nähert sich. Er ist stark und innerlich unbeugsam, Pippin; kühn, stand-
haft und fähig, selbst einen Entschluß zu fassen und notfalls große Ge-
fahren auf sich zu nehmen. Das kann es sein. Vielleicht hat er den Stein
verwendet und sich selbst dem Feind gezeigt, ihn herausgefordert zu eben
diesem Zweck. Ich bin gespannt. Nun, wir werden die Antwort nicht er-
fahren, ehe die Reiter von Rohan kommen, wenn sie nicht zu spät kom-
men. Schlimme Tage stehen bevor. Laß uns schlafen, solange wir können.«
»Aber«, sagte Pippin.
»Was aber?« sagte Gandalf. »Nur ein Aber werde ich heute abend zu-
lassen.«
»Gollum«, sagte Pippin. »Wie um alles in der Welt konnten sie mit
ihm gehen, sich sogar von ihm führen lassen? Und ich merkte, daß Fara-
mir die Gegend, wo er sie hinbringen wollte, ebensowenig gefiel wie dir.
Was stimmt da nicht?«
»Das kann ich jetzt nicht beantworten«, sagte Gandalf. »Dennoch hatte
mein Herz geahnt, daß Frodo und Gollum sich treffen würden, ehe alles
zu Ende ist. Auf Gedeih und Verderb. Aber von Cirith Ungol will ich
heute abend nicht sprechen. Verrat, Verrat, fürchte ich, Verrat von diesem
elenden Geschöpf. Aber wir können es nicht ändern. Laß uns daran den-
ken, daß ein Verräter sich selbst verraten und Gutes tun mag, das er nicht
beabsichtigt. Das kommt vor, manchmal. Gute Nacht!«
Der nächste Tag begann mit einem Morgen wie eine düstere Abend-
dämmerung, und die Leute, denen Faramirs Rückkehr neuen Mut gemacht
hatte, verzagten wieder. Die geflügelten Schatten wurden an diesem Tage
nicht gesehen, doch dann und wann ertönte hoch über der Stadt ein
schwacher Schrei, und viele, die ihn hörten, wurden von einem flüchtigen
Schrecken gepackt, während die weniger Beherzten zitterten und v/einten.
Und nun war Faramir wieder fort. »Sie lassen ihm keine Ruhe«, mur-
melten einige. »Der Herr schindet ihn, und nun muß er Dienst für zwei
tun, seinen eigenen und für den, der nicht zurückkehrt.« Und immer schau-
ten die Leute gen Norden und fragten: »Wo sind die Reiter von Rohan?«
In Wirklichkeit war Faramir nicht aus freier Entscheidung gegangen.
Doch der Herr der Stadt beherrschte seinen Rat und an jenem Tag war er
nicht in Stimmung, sich anderen zu beugen. Früh am Morgen war der
Rat einberufen worden. Alle Heerführer waren der Meinung gewesen,
daß angesichts der Bedrohung im Süden ihre Streitmacht zu schwach sei,
als daß sie von sich aus irgendeinen Angriff unternehmen könnten, es sei
denn, daß vielleicht die Reiter von Rohan noch kämen. Derweil müßten
sie die Mauern bemannen und abwarten.
»Indes«, sagte Denethor, »sollten wir nicht leichtfertig die äußeren
Verteidigungswerke preisgeben, den mit so großer Mühe angelegten Ram-
mas. Und der Feind muß teuer bezahlen, wenn er über den Fluß setzt. Das
kann er nicht in großer Stärke tun, um die Stadt anzugreifen, weder nörd-
lich von Cair Andres wegen der Sümpfe noch südlich in Richtung auf
Lebennin wegen der Breite des Flusses, die viele Boote erfordert. Bei Osgi-
liath wird er mit seiner ganzen Wucht angreifen, wie damals, als Boromir
ihm den Übergang verwehrte.«
»Das war nur ein Versuch«, sagte Faramir. »Heute werden wir viel-
leicht dem Feind unseren Verlust am Übergang zehnmal heimzahlen und
doch den Waffengang bereuen. Denn der Feind kann es sich eher leisten,
ein Heer zu verlieren, als wir eine einzige Schar. Und der Rückzug derje-
nigen, die wir weit vorn als Feldwache aufstellen, wird gefährlich sein,
wenn der Feind in großer Stärke übersetzt.«
»Und was ist mit Cair Andres?« fragte der Fürst. »Auch das muß ge-
halten werden, wenn Osgiliath verteidigt wird. Laßt uns nicht die Gefahr
zu unserer Linken vergessen. Die Rohirrim mögen kommen, oder auch
nicht. Aber Faramir hat uns berichtet, daß große Streitkräfte zum
Schwarzen Tor gezogen sind. Mehr als ein Heer mag von dort ausschwär-
men und auf mehr als einen Übergang vorstoßen.«
»Viel muß im Krieg gewagt werden«, sagte Denethor. »Cair Andres ist
bemannt, mehr Leute kann ich nicht so weit schicken. Aber ich will den
Fluß und den Pelennor nicht kampflos preisgeben — nicht wenn hier ein
Heerführer ist, der noch den Mut hat, den Wunsch seines Herrn zu erfül-
len.«
Dann schwiegen alle. Aber schließlich sagte Faramir: »Ich widersetze
mich deinem Wunsch nicht, Vater. Da du Boromirs beraubt bist, will ich
gehen und tun, was ich an seiner Statt vermag — wenn du es befiehlst.«
»Das tue ich«, sagte Denethor.
»Dann lebe wohl«, sagte Faramir. »Aber wenn ich zurückkehren sollte,
denke besser von mir!«
»Das hängt von der Art deiner Rückkehr ab«, sagte Denethor.
Gandalf war es, der zuletzt mit Faramir sprach, ehe er gen Osten ritt.
»Setzt Euer Leben nicht unbesonnen oder in Bitterkeit aufs Spiel«, sagte
er. »Ihr werdet hier gebraucht, für andere Dinge als den Krieg. Euer Vater
liebt Euch, Faramir, und wird sich dessen erinnern, ehe das Ende kommt.
Lebt wohl!«
So war nun der Herr Faramir wieder hinausgezogen und hatte so viel
Mannen mitgenommen, wie bereit waren zu gehen oder entbehrt werden
konnten. Auf den Wällen blickten manche durch die Düsternis nach der
zerstörten Stadt, und sie fragten sich, was sich dort ereignete, denn nichts
war zu sehen. Und andere schauten beständig nach Norden und zählten
die Wegstunden bis zu Théoden in Rohan. »Wird er kommen? Wird er
sich unseres alten Bündnisses erinnern?« sagten sie.
»Ja, er wird kommen«, sagte Gandalf, »selbst wenn er spät kommt.
Aber bedenkt doch! Bestenfalls kann ihn der Rote Pfeil vor nicht mehr
als zwei Tagen erreicht haben, und der Meilen sind viele von Edoras.«
Es war wieder Nacht, ehe Nachrichten eintrafen. Ein Mann kam in Eile
von den Furten geritten und sagte, ein Heer sei von Minas Morgul ge-
kommen und nähere sich schon Osgiliath; und ihm haben sich Verbände
aus dem Süden angeschlossen, Haradrim, grausam und kühn. »Und wir
haben erfahren«, sagte der Bote, »daß der Schwarze Heermeister sie wie-
der führt, und die Furcht vor ihm ist ihm schon über den Fluß vorausge-
eilt.«
Mit diesen unheilverkündenden Worten endete der dritte Tag, seit Pip-
pin nach Minas Tirith gekommen war. Wenige nur gingen zur Ruhe,
denn gering war die Hoffnung, daß selbst Faramir die Furten würde lange
halten können.
Am nächsten Tag lastete die Dunkelheit, obwohl sie ihren Höhepunkt
erreicht hatte und nicht stärker wurde, schwer auf den Herzen der Män-
ner, und große Furcht lag auf ihnen. Bald kamen wieder schlechte Nach-
richten. Der Feind hatte den Übergang über den Anduin erzwungen.
Faramir zog sich zur Mauer des Pelennor zurück und sammelte seine
Mannen an den Festungen des Dammes; aber er hatte eine zehnfache
Übermacht gegen sich.
»Wenn er überhaupt über den Pelennor gelangt, werden ihm seine
Feinde auf den Fersen sein«, sagte der Bote. »Sie haben teuer bezahlt für
das Übersetzen, aber weniger teuer, als wir gehofft hatten. Der Plan war
gut vorbereitet. Es zeigt sich jetzt, daß sie seit langem heimlich eine große
Zahl von Flößen und Barken in Ost-Osgiliath gebaut haben. Sie
schwärmten herüber wie Käfer. Aber der Schwarze Heermeister ist es,
der uns besiegt. Wenige werden standhalten und auch nur das Gerücht
von seinem Kommen ertragen. Seine eigenen Leute zittern vor ihm und
würden sich selbst töten, wenn er es verlangte.«
»Dann werde ich dort mehr gebraucht als hier«, sagte Gandalf und ritt
sogleich davon, und sein Schimmer entschwand rasch dem Blick. Und die
ganze Nacht stand Pippin allein und schlaflos auf der Mauer und starrte
gen Osten.
Die Glocken des Tages waren kaum wieder verklungen, ein Hohn in
dem lichtlosen Dunkel, als er in der Ferne Feuer aufzüngeln sah, drüben
in der düsteren Weite, wo die Mauern des Pelennor standen. Die Wacht-
posten schrien laut auf, und alle Männer in der Stadt griffen zu den Waf-
fen. Dann und wann gab es einen roten Blitz, und langsam drang durch
die schwere Luft dumpfes Grollen herüber.
»Sie haben die Mauer genommen!« riefen Männer. »Sie sprengen Bre-
schen hinein. Sie kommen!«
»Wo ist Faramir?« rief Beregond voll Entsetzen. »Sagt nicht, er sei ge-
fallen!«
Gandalf war es, der die ersten Nachrichten brachte. Mit einer Handvoll
Reiter kam er am Vormittag als Begleitung für eine Reihe von Wagen. Sie
brachten die Verwundeten, alle, die aus den Trümmern der Damm-Festun-
gen gerettet werden konnten. Sogleich ging er zu Denethor. Der Herr der
Stadt saß jetzt in einem hohen Gemach über der Halle des Weißen Turms,
und Pippin war an seiner Seite; und durch die düsteren Fenster starrte er
mit dunklen Augen gen Norden, Süden und Osten, als ob er die Schatten
des Verhängnisses durchbohren wolle, die ihn umringten. Am meisten
schaute er nach Norden und hielt zuweilen inne, um zu lauschen, als ob
durch eine Zauberkunst von einst seine Ohren das Donnern von Hufen
auf den weit entfernten Ebenen hören könnten.
»Ist Faramir gekommen?« fragte er.
»Nein«, sagte Gandalf. »Aber er lebte noch, als ich ihn verließ. Indes
ist er entschlossen, bei der Nachhut zu bleiben, damit der Rückzug über
den Pelennor nicht eine wilde Flucht werde. Vielleicht kann er seine Män-
ner lange genug zusammenhalten, aber ich bezweifle es. Er steht einem zu
mächtigen Feind gegenüber. Denn einer ist gekommen, den ich fürchtete.«
»Doch nicht — nicht der Dunkle Herr?« rief Pippin und vergaß vor
Schreck, was sich für ihn ziemte.
Denethor lachte bitter. »Nein, noch nicht, Herr Peregrin! Er wird nicht
kommen, es sei denn, um seinen Sieg über mich auszukosten, wenn alles
erreicht ist. Er verwendet andere als seine Waffe. Das tun alle großen
Herren, wenn sie klug sind, Herr Halbling. Oder warum sollte ich sonst
hier in meinem Turm sitzen und nachdenken und beobachten und warten
und sogar meine Söhne opfern? Denn auch ich kann noch eine Klinge
führen.«
Er erhob sich und schlug seinen schwarzen Mantel auf, und siehe! er
trug ein Panzerhemd darunter und war mit einem langen Schwert gegür-
tet, mit einem großen Heft in einer Scheide aus Schwarz und Silber. »So
bin ich einhergegangen, und so habe ich nun schon seit vielen Jahren ge-
schlafen«, sagte er, »damit der Körper mit dem Alter nicht verweichliche
und zaghaft werde.«
»Doch jetzt ist der grausamste aller Heerführer des Herrn von Barad-
dür schon Gebieter über Eure äußeren Wälle«, sagte Gandalf. »König von
Angmar vor langer Zeit, Hexenmeister, Ringgeist, Herr der Nazgûl, eine
Lanze des Schreckens in Saurons Hand, der Schatten der Verzweiflung.«
»Dann, Mithrandir, hattet Ihr einen Feind, der Euch ebenbürtig war«,
sagte Denethor. »Ich meinerseits wußte schon lange, wer der oberste
Heerführer des Dunklen Turms ist. Ist das alles, weshalb Ihr zurückge-
kommen seid, um es mir zu sagen? Oder habt Ihr Euch womöglich zu-
rückgezogen, weil Ihr besiegt wurdet?«
Pippin zitterte, denn er fürchtete, Gandalf würde sich zu plötzlichem
Zorn hinreißen lassen, aber seine Befürchtung war grundlos. »Das könnte
sein«, antwortete Gandalf ruhig. »Aber unsere Kraftprobe ist noch nicht
gekommen. Und wenn einstmals gesprochene Worte sich bewahrheiten,
dann wird er nicht durch die Hand eines Mannes fallen, und verborgen ist
den Weisen noch das Schicksal, das ihn erwartet. Wie immer dem sein
mag, der Heerführer der Verzweiflung drängt noch nicht vorwärts. Er lei-
tet den Kampf eher gemäß der Klugheit, von der Ihr eben gesprochen
habt, von einem rückwärtigen Punkt aus, und treibt seine Hörigen in
Raserei voran.
Nein, ich kam eigentlich, um die Verwundeten zu beschützen, die noch
geheilt werden können; denn der Rammas ist weit und breit durchbro-
chen, und bald wird das Heer von Morgul an vielen Stellen hereindrin-
gen. Und hauptsächlich kam ich, um folgendes zu sagen. Bald wird die
Schlacht auf den Feldern beginnen. Ein Ausfall muß vorbereitet werden.
Laßt ihn von berittenen Mannen machen. Auf ihnen beruht unsere flüch-
tige Hoffnung, denn in einer Beziehung ist der Feind noch schlecht ausge-
rüstet: er hat wenig Reiter.«
»Und auch wir haben wenige. Jetzt wäre der richtige Augenblick für
das Kommen von Rohan.«
»Wahrscheinlich werden wir andere Ankömmlinge zuerst sehen«,
sagte Gandalf. »Flüchtlinge aus Cair Andros haben uns schon erreicht.
Die Insel ist gefallen. Ein weiteres Heer ist aus dem Schwarzen Tor ge-
kommen und zieht von Nordosten heran.«
»Manche haben Euch beschuldigt, Mithrandir, es bereite Euch Vergnü-
gen, schlechte Nachrichten zu überbringen«, sagte Denethor. »Aber für
mich ist das keine Neuigkeit mehr: es war mir schon gestern vor Ein-
bruch der Nacht bekannt. Was den Ausfall betrifft, so hatte ich bereits
daran gedacht. Laßt uns hinuntergehen.«
Die Zeit verging. Schließlich konnten die Wächter auf den Mauern den
Rückzug der Vorposten beobachten. Kleine Gruppen von müden Män-
nern, von denen viele verwundet waren, kamen zuerst, und nicht gerade
in guter Ordnung; manche rannten wie wild, als ob sie verfolgt würden.
Fern im Osten flackerten die Feuer; und jetzt schien es, daß sie hier und
dort über die Ebene krochen. Häuser und Scheunen brannten. Dann
kamen von vielen Stellen kleine Ströme von roten Flammen herangeeilt,
zogen sich durch die Düsternis hin und liefen alle auf die breite Straße zu,
die vom Stadttor nach Osgiliath führte.
»Der Feind«, murmelten die Männer. »Der Damm ist gefallen. Hier
kommen sie durch die Breschen geströmt! Und sie tragen Fackeln, wie es
scheint. Wo sind denn unsere Leute?«
Der Stunde nach wurde es nun Abend, und das Licht war so trübe, daß
selbst die Männer auf der Veste mit scharfen Augen draußen auf den Fel-
dem wenig genau erkennen konnten, abgesehen von den Bränden, die
sich vermehrten, und den Feuerlinien, die an Länge und Geschwindigkeit
zunahmen. Weniger als eine Meile von der Stadt kam schließlich eine
besser geordnete Schar in Sicht, die marschierte und nicht rannte und
noch zusammenblieb.
Die Wächter hielten den Atem an. »Faramir muß dort sein«, sagten
sie. »Er kann Mensch und Tier leiten. Er wird es noch schaffen.«
Jetzt war der Hauptrückzug kaum hundert Ruten entfernt. Aus der
Düsternis preschte eine kleine Reiterschar heran, alles, was von der Nach-
hut noch übrig war. Noch einmal stellten sie sich zum Kampf und wand-
ten sich zu den anstürmenden Feuerlinien um. Dann plötzlich erhob sich
ein Getöse wütender Schreie. Reiter des Feindes fegten heran. Die Feuerli-
nien wurden zu reißenden Sturzbächen, eine Reihe flammentragender
Orks nach der anderen kam heran, und wilde Südländer mit roten Fah-
nen, die in ihrer rauhen Sprache schrien, drängten vor und überholten
den Rückzug. Und mit einem durchdringenden Schrei stürzten aus dem
düsteren Himmel die geflügelten Schatten herab, die Nazgûl, die nieder-
stießen, um zu töten.
Der Rückzug wurde zur Flucht. Schon machten sich Männer davon,
flohen verwirrt und kopflos hierhin und dorthin, schleuderten ihre Waf-
fen fort, schrien vor Angst und warfen sich zu Boden.
Und dann erklang eine Trompete von der Veste, und Denethor befahl
endlich den Ausfall. Im Schatten des Tores und unter den hochaufragen-
den Wällen hatten die Männer draußen auf sein Zeichen gewartet: alle
Berittenen, die noch in der Stadt waren. Nun preschten sie in guter Ord-
nung vor, beschleunigten ihren Schritt und griffen mit lautem Kriegsge-
schrei an. Und von den Mauern wurde ihr Ruf beantwortet; denn zuvor-
derst auf dem Feld ritten die Schwanenritter von Dol Amroth mit ihrem
Fürsten und seinem blauen Banner an der Spitze.
»Amroth für Gondor!« riefen sie. »Amroth zu Faramir!« Wie ein Ge-
witter brachen sie auf beiden Seiten des Rückzugs über den Feind herein;
aber ein Reiter überholte sie alle, geschwind wie der Wind im Gras:
Schattenfell trug ihn, schimmernd, unverhüllt wiederum, und ein Licht
ging aus von seiner erhobenen Hand.
Die Nazgûl kreischten und fegten davon, denn ihr Heerführer war noch
nicht gekommen, um das weiße Feuer seines Feindes herauszufordern. Die
Heere von Morgul, auf ihre Beute erpicht, in vollem Galopp überrascht,
lösten sich auf und zerstoben wie Funken in einem Sturm. Jubelnd wand-
ten sich die Besatzungen der Feldposten um und streckten ihre Verfolger
nieder. Die Jäger wurden die Gejagten. Der Rückzug wurde ein Angriff.
Das Schlachtfeld war übersät mit Orks und Menschen, und ein Qualm
stieg auf von den weggeworfenen Fackeln und versprühte zu wirbelndem
Rauch. Die Reiterei griff weiter an.
Doch Denethor erlaubte ihnen nicht, weit zu reiten. Obwohl dem Feind
Einhalt geboten und er für den Augenblick zurückgetrieben war, ström-
ten starke Kräfte von Osten heran. Wieder erklang die Trompete und
blies zum Rückzug. Die Reiterei von Gondor hielt an. In ihrem Schutz
wurden die Besatzungen der Feldposten neu aufgestellt. Jetzt marschierten
sie wohlgeordnet zurück. Sie erreichten das Tor und zogen stolzen
Schritts in die Stadt ein; und voll Stolz schaute das Volk der Stadt auf sie
und empfing sie mit Hochrufen, und doch waren ihre Herzen beklommen.
Denn die Reihen hatten sich schmerzlich gelichtet. Ein Drittel seiner
Leute hatte Faramir verloren. Und wo war er?
Als letzter von allen kam er. Seine Mannen zogen hinein. Die Ritter zu
Pferde kehrten zurück, und in ihrer Nachhut das Banner von Dol Amroth
und der Fürst. Und in seinen Armen vor sich auf seinem Roß hielt er sei-
nen Vetter, Faramir, Denethors Sohn, den man auf dem Schlachtfeld ge-
funden hatte.
»Faramir! Faramir!« riefen die Leute weinend auf den Straßen. Aber er
antwortete nicht, und sie trugen ihn die gewundene Straße hinauf zur
Veste und zu seinem Vater. Gerade als die Nazgûl vor dem Angriff des
Weißen Reiters zurückwichen, kam ein tödlicher Pfeil geflogen, und Fara-
mir, der einen berittenen Kämpen aus Harad in Schach hielt, war zu
Boden gestürzt. Nur der Angriff von Dol Amroth hatte ihn vor den
roten Südlandschwertern gerettet, die ihn zerstückelt hätten, als er dort
lag.
Fürst Imrahil brachte Faramir zum Weißen Turm, und er sagte: »Euer
Sohn ist zurückgekehrt, Herr, nach großen Taten«, und er berichtete alles,
was er gesehen hatte. Doch Denethor stand auf und betrachtete das Ge-
sicht seines Sohns und schwieg. Dann bat er, ein Bett in dem Gemach zu
bereiten und Faramir dort hinzulegen und wegzugehen. Er selbst aber
stieg allein hinauf in das geheime Zimmer unter dem First des Turms;
und viele, die zu dieser Zeit hinaufschauten, sahen ein bleiches Licht, das
eine Weile von dem schmalen Fenster aus schimmerte und flackerte und
dann aufblitzte und erlosch. Und als Denethor wieder herunterkam, ging
er zu Faramir und setzte sich neben ihn, ohne zu reden, aber das Gesicht
des Herrn war grau, totenähnlicher als das seines Sohns.
Und so war nun die Stadt belagert, eingeschlossen in einem Ring von
Feinden. Der Rammas war zerstört und der ganze Pelennor dem Feind
preisgegeben. Die letzte Nachricht, die von draußen kam, brachten Män-
ner, die über die Nordstraße geflohen waren, ehe das Tor geschlossen
wurde. Sie waren die Überreste der Wache, die den Punkt gehalten hatte,
an dem der Weg von Anórien und Rohan das Stadtgebiet erreichte. In-
gold war ihr Führer, derselbe, der vor weniger als fünf Tagen Gandalf
und Pippin hereingelassen hatte, als die Sonne noch aufging und der
Morgen Hoffnung brachte.
»Wir haben keine Nachrichten von den Rohirrim«, sagte er. »Rohan
wird jetzt nicht kommen. Oder wenn sie kommen, wird es uns nichts nüt-
zen. Das neue Heer, von dem wir gehört haben, ist zuerst gekommen, von
jenseits des Flusses, über Andres, wie es heißt. Es sind starke Kräfte:
Scharen von Orks des Auges und zahllose Verbände von Menschen einer
neuen Art, denen wir bisher nicht begegnet sind. Nicht groß, aber stäm-
mig und zäh, bärtig wie Zwerge und große Äxte schwingend. Aus
irgendeinem wilden Land im fernen Osten kommen sie, nehmen wir an.
Sie haben die Nordstraße besetzt; und viele sind nach Anórien weiterge-
zogen. Die Rohirrim können nicht kommen.«
Das Tor wurde geschlossen. Die ganze Nacht hörten die Wächter auf
den Mauern den Lärm der Feinde, die draußen herumstreiften, Feld und
Baum verbrannten und auf jeden Menschen einhieben, den sie unterwegs
fanden, lebendig oder tot. Wie viele schon über den Fluß übergesetzt hat-
ten, ließ sich in der Dunkelheit nicht erraten, aber als sich der Morgen
oder sein düsterer Schatten über die Ebene stahl, sah man, daß die nächt-
liche Angst sie kaum überschätzt hatte. Die Ebene war dunkel von mar-
schierenden Scharen, und so weit die Augen in der Düsternis blicken
konnten, schössen rings um die belagerte Stadt große Zeltlager wie
Schimmelpilze aus dem Boden, schwarz oder dunkelrot.
Geschäftig wie Ameisen und eilig gruben die Orks, sie gruben Reihen
tiefer Gräben in einem riesigen Ring, genau außer Bogenschußweite von
den Mauern; und als die Gräben angelegt waren, wurde jeder mit Feuer
gefüllt, obwohl niemand sehen konnte, wie es angezündet oder in Gang
gehalten wurde, durch Zauberkunst oder Teufelei. Den ganzen Tag ging
die Arbeit voran, während die Männer von Minas Tirith zuschauten und
sie nicht zu hindern vermochten. Und als alle Grabenstücke fertig waren,
sahen sie große Wagen heranfahren; und bald stellten immer neue Scha-
ren des Feindes, jede im Schütze eines Grabens, große Wurfmaschinen für
Geschosse auf. Auf den Mauern der Stadt gab es keine, die eine solche
Reichweite hatten, oder den Aufbau der Maschinen verhindern konnten.
Zuerst lachten die Leute und fürchteten diese Geräte nicht sehr. Denn
der Hauptwall der Stadt war sehr hoch und erstaunlich dick, und er war
erbaut worden, ehe Númenors Macht und Kunstfertigkeit in der Verban-
nung dahinschwanden; und seine Außenseite war wie die des Turms von
Orthanc, hart und dunkel und glatt, uneinnehmbar durch Stahl oder
Feuer, unzerstörbar, es sei denn durch ein Erdbeben, das den Boden auf-
risse, auf dem er stand.
»Nein«, sagten sie, »nicht einmal, wenn der Namenlose selbst käme,
könnte er hier eindringen, solange wir noch am Leben sind.« Doch einige
antworteten: »Solange wir noch am Leben sind? Wie lange? Er hat eine
Waffe, die viele Festungen niedergeworfen hat, seit die Welt begann. Der
Hunger. Die Straßen sind abgeschnitten. Rohan wird nicht kommen.«
Doch die Wurfmaschinen gaben auf die unbezwingbare Mauer keinen
Schuß nutzlos ab. Es war kein Straßenräuber oder Orkhäuptling, der den
Angriff gegen den größten Feind des Herrn von Mordor befahl. Die
Macht und der Geist des Bösen leiteten ihn. Kaum waren die großen
Wurfmaschinen aufgestellt, da begannen sie, begleitet von schrillen
Schreien und dem Knirschen von Seilen und Winden, Geschosse so un-
wahrscheinlich hoch zu schleudern, daß sie über die Festungsmauer hin-
wegflogen und dumpf aufschlagend in den ersten Ring der Stadt fielen;
und durch irgendeine geheime Zauberkunst gingen viele von ihnen in
Flammen auf, als sie herabstürzten.
Bald bestand hinter der Mauer große Feuersgefahr, und alle, die ent-
behrt werden konnten, waren damit beschäftigt, die Brände zu löschen,
die an vielen Stellen ausbrachen. Dann prasselte zwischen den großen Ge-
schossen ein anderer Hagel herab, weniger zerstörerisch, aber grauenhaf-
ter. Überall auf den Straßen und den Wegen hinter dem Tor fiel dieser
Hagel, kleine, runde Kugeln, die nicht brannten. Aber wenn die Leute
hinliefen, um zu sehen, was es sein könnte, dann schrien sie laut oder
weinten. Denn der Feind schleuderte in die Stadt all die Köpfe derjenigen,
die in Osgiliath oder auf den Rammas oder auf den Feldern gefallen
waren. Schaurig waren sie anzusehen; denn obwohl sie zermalmt und
formlos waren, konnte man dennoch die Gesichtszüge von vielen erken-
nen, und es schien, daß sie unter Schmerzen gestorben waren; und alle
waren gebrandmarkt mit dem schändlichen Zeichen des Lidlosen Auges.
Doch obwohl sie verunstaltet und entehrt waren, geschah es oft, daß ein
Mann das Gesicht von jemandem wiedersah, den er gekannt hatte, der
einst stolz seine Waffen getragen oder die Felder bestellt hatte oder an
einem Feiertag aus den grünen Bergtälern in die Stadt geritten war.
Vergeblich erhoben die Menschen drohend die Fäuste gegen die erbar-
mungslosen Feinde, die sich vor dem Tor drängten. Flüche beachteten sie
nicht, oder verstanden die Sprache der westlichen Menschen nicht, und sie
kreischten mit rauhen Stimmen wie Tiere oder Aasvögel. Doch bald gab
es nur noch wenige in Minas Tirith, die den Mut hatten, den Heeren von
Mordor entgegenzutreten und Widerstand zu leisten. Denn noch eine an-
dere Waffe, die schneller wirkte als Hunger, hatte der Herr des Dunklen
Turms: Furcht und Verzweiflung.
Die Nazgûl kamen wieder, und da ihr Dunkler Herrscher nun stärker
wurde und seine Kraft zeigte, waren ihre Summen, die nur seinen Willen
und seine Bosheit ausdrückten, erfüllt von Unheil und Schrecken. Immer
kreisten sie über der Stadt, wie Aasgeier, die darauf warteten, sich am
Fleisch verurteilter Menschen gütlich zu tun. Außer Sicht- und Schuß-
weite flogen sie, und doch waren sie immer da, und ihre grausigen Stim-
men zerrissen die Luft. Immer unerträglicher wurden sie, nicht erträg-
licher, bei jedem neuen Schrei. Schließlich warfen sich auch die Beherzte-
sten auf den Boden, wenn die verborgene Drohung über sie hinwegzog,
und sie dachten nicht mehr an den Krieg, sondern nur daran, sich zu ver-
stecken und wegzukriechen, und an den Tod.
Während dieses schwarzen Tages lag Faramir in schweren Fieberträu-
men in dem Gemach des Weißen Turms; im Sterben, sagte irgend jemand,
und bald sagten alle auf den Mauern und auf den Straßen »im Sterben«.
Und bei ihm saß sein Vater und sagte nichts, sondern schaute ihn an
und schenkte der Verteidigung keine Aufmerksamkeit mehr.
Niemals hatte Pippin so dunkle Stunden erlebt, nicht einmal in den
Klauen der Uruk-hai. Es war sein Pflicht, dem Herrn aufzuwarten, und
warten tat er auch, vergessen, wie es schien, als er an der Tür des unbe-
leuchteten Gemachs stand und seine eigene Angst beherrschte, so gut er
konnte. Und als Pippin ihn beobachtete, schien es ihm, daß Denethor vor
seinen Augen alterte, als ob irgend etwas in seinem stolzen Willen zer-
brochen und sein unbeugsamer Sinn überwältigt sei. Kummer hatte das
vielleicht bewirkt, und Reue. Er sah Tränen auf dem einst tränenlosen Ge-
sicht, und das war unerträglicher als Zorn.
»Weint nicht, Herr«, stammelte er. »Vielleicht wird er wieder gesund.
Habt Ihr Gandalf gefragt?«
»Tröste mich nicht mit Zauberern!« sagte Denethor. »Die Hoffnung
des Narren ist vernichtet. Der Feind hat das Ding gefunden, und jetzt
wächst seine Macht. Er erkennt unsere Gedanken, und alles, was wir tun,
ist verhängnisvoll.
»Ich schickte meinen Sohn fort, ohne Dank, ohne ihm Glück zu wün-
schen, hinaus in unnötige Gefahr, und hier liegt er jetzt mit Gift in den
Adern. Nein, nein, was immer nun im Krieg geschehen mag, auch mein
Geschlecht endet, sogar das Haus der Truchsesse stirbt aus. Unedle Leute
werden nun den letzten Rest der Könige der Menschen beherrschen und in
den Bergen lauem, bis alle hinausgejagt sind.«
Männer kamen an die Tür und riefen nach dem Herrn der Stadt. »Nein,
ich will nicht hinunterkommen«, sagte er. »Ich muß bei meinem Sohn
bleiben. Vielleicht spricht er noch vor dem Ende. Aber das ist nahe.
Folgt, wem ihr wollt, sogar dem Grauen Narren, obwohl seine Hoffnung
gescheitert ist. Hier bleibe ich.«
. So kam es, daß Gandalf bei der letzten Verteidigung der Stadt von
Gondor den Befehl übernahm. Wohin auch immer er kam, überall schöpf-
ten die Menschen wieder Mut, und die geflügelten Schatten verschwanden
aus ihrer Erinnerung. Unermüdlich eilte er von der Veste zum Tor, von
Norden nach Süden an der Mauer entlang; und mit ihm ging der Fürst
von Dol Amroth in seiner schimmernden Rüstung. Denn er und seine
Ritter hielten sich immer noch wie Herren, in denen das Geschlecht von
Númenor unverfälscht war. Männer, die sie sahen, flüsterten: »Vielleicht
haben die alten Erzählungen recht; es fließt elbisches Blut in den Adern
dieser Leute, denn das Volk von Nimrodel wohnte einst vor langer Zeit
in diesem Land.« Und dann begann einer inmitten der Düsternis ein paar
Verse des Nimrodel-Liedes zu singen oder anderer Lieder aus dem Tal des
Anduin aus entschwundenen Jahren.
Und dennoch drangen die Schatten, als sie fort waren, wieder auf die
Menschen ein, und ihre Herzen wurden kalt, und Gondors Tapferkeit zer-
fiel zu Asche. Und so ging ein düsterer Tag der Ängste langsam in die
Dunkelheit einer hoffnungslosen Nacht über. Brände wüteten jetzt unge-
hindert im ersten Ring der Stadt, und der Besatzung auf der äußeren
Mauer war schon an vielen Stellen der Rückzug abgeschnitten. Aber der
Pflichttreuen, die in ihren Stellungen blieben, waren nur wenige; die mei-
sten hatten sich jenseits des zweiten Tors in Sicherheit gebracht.
Weit hinter der Schlacht waren rasch Brücken über den Fluß geschla-
gen worden, und den ganzen Tag waren neue Streitkräfte und Kriegsgerät
herübergeströmt. Nun, mitten in der Nacht, brach der Angriff endlich
los. Die Vorhut ging zwischen den Feuergräben vor auf vielen gewundenen
Gassen, die zwischen ihnen freigelassen worden waren. Unbekümmert um
die Verluste, die sie beim Vorgehen erlitten, immer noch in Gruppen und
gesammelt, kamen sie in die Reichweite der Bogenschützen auf dem Wall.
Doch waren dort jetzt zu wenige, um ihnen großen Schaden zuzufügen,
obwohl der Feuerschein so manche Zielscheibe enthüllte für die Bogen-
schützenkunst, deren Gondor sich einst rühmte. Als er dann gewahr
wurde, daß die Tapferkeit der Stadt schon zerrüttet war, zeigte der ver-
borgene Heerführer seine Kraft. Langsam rollten die großen, in Osgiliath
gebauten Belagerungstürme durch die Dunkelheit.
Wiederum kamen Boten zu dem Gemach im Weißen Turm, und Pippin
ließ sie eintreten, denn sie bestanden darauf. Denethor wandte seinen
Blick langsam von Faramirs Gesicht ab und schaute sie schweigend an.
»Der erste Ring der Stadt brennt, Herr«, sagten sie. »Was befehlt Ihr?
Noch seid Ihr der Herr und Truchseß. Nicht alle wollen Mithrandir fol-
gen. Die Leute fliehen von den Mauern und lassen sie unbemannt.«
»Warum? Warum fliehen die Narren?« sagte Denethor. »Besser früher
als spät verbrennen, denn verbrennen müssen wir. Geht zurück zu eurem
Feuer! Und ich? Ich werde jetzt zu meinem Scheiterhaufen gehen. Zu mei-
nem Scheiterhaufen! Keine Gruft für Denethor und Faramir. Keine Gruft!
Kein langer dumpfer Todesschlaf, einbalsamiert. Wir werden brennen wie
die eingeborenen Könige, ehe je ein Schiff hierher segelte aus dem
Westen. Der Westen ist gescheitert. Geht zurück und verbrennt!«
Ohne Verbeugung oder Antwort wandten sich die Boten um und flo-
hen.
Jetzt stand Denethor auf und ließ Faramirs fiebrige Hand los, die er ge-
halten hatte. »Er brennt, er brennt schon«, sagte er traurig. »Das Haus
seiner Seele stürzt ein.« Dann ging er ruhig auf Pippin zu und schaute
auf ihn herab.
»Lebe wohl!« sagte er. »Lebe wohl, Peregrin, Paladins Sohn! Dein
Dienst war kurz, und nun nähert er sich seinem Ende. Ich entlasse dich
aus dem Wenigen, was noch bleibt. Geh nun und stirb auf die Weise, die
dir die beste deucht. Und mit wem du willst, selbst mit jenem Freund,
dessen Torheit dir diesen Tod eingetragen hat. Schicke nach meinen Die-
nern und gehe dann. Lebe wohl!«
»Ich will nicht Lebewohl sagen, Herr«, sagte Pippin kniend. Und dann
plötzlich, wieder nach Hobbit-Art, stand er auf und sah dem alten Mann
in die Augen. »Ich gehe, mit Eurer Erlaubnis, Herr«, sagte er, »denn ich
möchte Gandalf wirklich sehr gerne sehen. Aber er ist kein Narr; und
ich will nicht ans Sterben denken, ehe er nicht am Leben verzweifelt.
Doch von meinem Eid und Eurem Dienst möchte ich nicht entbunden
werden, solange Ihr lebt. Und wenn sie schließlich zur Veste kommen,
dann hoffe ich hier zu sein und neben Euch zu stehen und vielleicht die
Waffen zu verdienen, die Ihr mir gegeben habt.«
»Tu, was du willst, Herr Halbling«, sagte Denethor. »Aber mein Leben ist
zerstört. Schicke nach meinen Dienern!« Er wandte sich wieder zu Faramir.
Pippin verließ ihn und rief nach den Dienern, und sie kamen: sechs
Männer des Gefolges, stark und schön; dennoch zitterten sie, als sie geru-
fen wurden. Aber Denethor befahl ihnen mit ruhiger Stimme, warme
Decken auf Faramirs Bett zu legen und es aufzunehmen. Und sie taten es,
hoben das Bett hoch und trugen es aus dem Gemach. Langsam gingen sie,
um den fiebernden Mann so wenig als möglich zu stören, und Denethor,
jetzt auf einen Stab gestützt, folgte ihnen; und als letzter kam Pippin.
Hinaus aus dem Weißen Turm gingen sie, wie zu einem Begräbnis, hin-
aus in die Dunkelheit, wo die über der Stadt hängende Wolke von unten
durch dunkelrot aufflackernde Flammen beleuchtet wurde. Leise schritten
sie durch den großen Hof, und auf ein Wort von Denethor hielten sie
neben dem Verdorrten Baum.
Alles war still bis auf den Kriegslärm unten in der Stadt, und sie hör-
ten, wie das Wasser traurig von den Toten Zweigen in den dunklen Wei-
her tropfte. Dann gingen sie weiter durch das Tor der Veste, wo die
Wache sie verwundert und bestürzt anstarrte, als sie vorbeikamen. Dann
wandten sie sich nach Westen und gelangten schließlich zu einer Tür in
der rückwärtigen Mauer des sechsten Ringes. Fen Hollen wurde sie ge-
nannt, denn sie wurde immer verschlossen gehalten außer zu Begräbnis-
Zeiten, und nur der Herr der Stadt durfte diesen Weg benutzen oder jene,
die das Zeichen der Grüfte trugen und die Häuser der Toten betreuten.
Hinter dieser Tür führte ein gewundener Weg mit vielen Kehren hinunter
zu dem schmalen Streifen Landes im Schatten des Steilhangs von Mindol-
luin, wo die Behausungen der toten Könige und ihrer Truchsesse standen.
Ein Pförtner saß in einem kleinen Haus am Weg, und mit erschreckten
Augen kam er heraus, eine Laterne in der Hand. Auf Befehl des Herrn
schloß er die Tür auf, und leise öffnete sie sich; und sie gingen hindurch
und nahmen die Laterne aus seiner Hand. Es war dunkel auf dem ab-
schüssigen Weg zwischen uralten Mauern und Geländern aus vielen Säu-
len, die hoch aufragten in dem schwankenden Lichtstrahl der Laterne.
Ihre langsamen Schritte hallten wider, als sie hinunter gingen, immer hin-
unter, bis sie schließlich zur Stillen Straße kamen, Rath Dínen, zwischen
bleichen Kuppeln und leeren Hallen und Bildsäulen längst verstorbener
Menschen; sie betraten das Haus der Truchsesse und setzten ihre Last ab.
Beklommen schaute Pippin sich um und sah, daß er in einem weitläufi-
gen, gewölbten Gemach war, gleichsam ausgekleidet mit den großen
Schatten, die die kleine Laterne auf seine verhängten Wände warf. Und
undeutlich waren viele Reihen von Tischen zu sehen, aus Marmor gemei-
ßelt; und auf jedem Tisch lag eine schlafende Gestalt, die Hände gefaltet,
den Kopf auf Stein gebettet. Doch ein Tisch nahebei stand wuchtig und
kahl da. Auf ein Zeichen von Denethor legten sie Faramir und seinen
Vater Seite an Seite dort hin, bedeckten sie mit einer einzigen Decke und
standen dann mit gesenkten Köpfen wie Trauernde neben einem Toten-
bett. Dann sprach Denethor mit leiser Stimme.
»Hier werden wir warten«, sagte er. »Aber schickt nicht nach den Ein-
balsamierern. Bringt uns Holz, das rasch brennt, und legt es rings um uns
und unter uns; und gießt öl darüber. Und wenn ich es befehle, werft eine
Fackel hinein. Tut das und sprecht nicht mehr mit mir. Lebt wohl!«
»Mit Eurer Erlaubnis, Herr«, sagte Pippin, wandte sich ab und floh aus
dem Todeshaus. »Der arme Faramir!« dachte er. »Ich muß Gandalf
suchen. Der arme Faramir! Höchstwahrscheinlich braucht er eher Arznei
als Tränen. Oh, wo kann ich Gandalf finden? Im dichtesten Gewühl,
nehme ich an. Und er wird keine Zeit übrig haben für sterbende Männer
oder Verrückte.«
An der Tür wandte er sich an einen der Diener, der dort als Wache ge-
blieben war. »Euer Herr ist nicht bei sich«, sagte er. »Macht langsam!
Bringt kein Feuer hierher, solange Faramir lebt. Tut nichts, ehe Gandalf
kommt!«
»Wer ist der Gebieter von Minas Tirith?« antwortete der Mann. »Der
Herr Denethor oder der Graue Wanderer?«
»Der Graue Wanderer oder niemand, scheint's«, sagte Pippin, und er
eilte zurück und den gewundenen Weg hinauf, so schnell ihn seine Füße
tragen wollten, an dem verwunderten Pförtner vorbei, durch die Tür und
weiter, bis er zum Tor der Veste kam. Die Wache grüßte ihn, als er vor-
beiging, und er erkannte Beregonds Stimme.
»Wohin rennt Ihr, Herr Peregrin?« rief er.
»Um Mithrandir zu suchen«, antwortete Pippin.
»Die Aufträge des Herrn sind dringend und sollten nicht durch mich
gehindert werden«, sagte Beregond, »aber sagt mir rasch, wenn Ihr
könnt: was geht vor? Wohin ist mein Herr gegangen? Ich bin gerade erst
zum Dienst gekommen, aber ich hörte, er ging durch die Verschlossene
Tür, und Männer trugen Faramir vor ihm her.«
»Ja«, sagte Pippin, »zur Stillen Straße.«
Beregond senkte den Kopf, um seine Tränen zu verbergen. »Es heißt, er
lag im Sterben«, seufzte er, »und nun ist er tot.«
»Nein«, sagte Pippin, »noch nicht. Und noch jetzt könnte sein Tod ver-
hindert werden, glaube ich. Aber der Herr der Stadt, Beregond, hat sich
ergeben, ehe seine Stadt eingenommen ist. Er ist todgeweiht und gefähr-
lich.« Rasch berichtete er von Denethors seltsamen Reden und Taten. »Ich
muß Gandalf sofort suchen.«
»Dann müßt Ihr hinuntergehen, zur Schlacht.«
»Ich weiß. Der Herr hat mir Erlaubnis gegeben. Aber, Beregond, wenn
Ihr könnt, dann tut etwas, um alles Schreckliche, was geschehen mag, zu
verhindern.«
»Der Herr erlaubt nicht, daß jene, die das Schwarz und Silber tragen,
aus irgendeinem Grund ihren Posten verlassen, es sei denn auf seinen Be-
fehl.«
»Nun, Ihr müßt Euch entscheiden zwischen Befehl und Faramirs
Leben«, sagte Pippin. »Und was den Befehl betrifft, so habt Ihr es, glaube
ich, mit einem Verrückten zu tun, und nicht mit einem Herrn. Ich muß
laufen. Ich komme zurück, wenn ich kann.«
Er lief weiter, hinunter, immer hinunter zur äußeren Stadt. Männer, die
vor den Bränden flüchteten, kamen an ihm vorbei, und manche, die seine
Tracht sahen, wandten sich um und riefen, aber er achtete ihrer nicht.
Schließlich war er durch das Zweite Tor gekommen, hinter dem starke
Flammen zwischen den Mauern züngelten. Dennoch schien alles seltsam
still zu sein. Kein Kampfeslärm oder Kriegsgeschrei oder Waffengeklirr
war zu hören. Dann plötzlich gab es einen entsetzlichen Schrei und einen
starken Schlag und ein tiefes, widerhallendes Dröhnen. Gegen einen An-
sturm von Angst und Entsetzen ankämpfend, der ihn fast auf die Knie
zwang, ging Pippin um eine Ecke und kam auf den breiten Platz hinter
dem Stadttor. Er blieb stehen. Gandalf hatte er gefunden; aber er
schreckte zurück und verbarg sich im Schatten.
Unaufhörlich war seit Mittemacht der große Angriff weitergegangen.
Die Trommeln dröhnten. Im Norden und Süden stürmte eine Schar des
Feindes nach der anderen gegen die Mauern an. Große Tiere kamen dort
heran, wie wandelnde Häuser in dem roten, flackernden Licht, die mûma-
kil aus Harad, und sie zogen riesige Türme und Wurfmaschinen durch die
Gassen zwischen den Bränden. Dennoch war es ihrem Heerführer ziem-
lich gleichgültig, was sie taten oder wie viele erschlagen würden: ihr
Zweck war nur, die Stärke der Verteidigung auf die Probe zu stellen und
die Männer von Gondor an vielen Stellen in Kämpfe zu verwickeln. Es
war das Tor, gegen das er seinen schwersten Schlag führen wollte. Sehr
stark mochte es sein, aus Stahl und Eisen geschmiedet und beschützt von
Türmen und Bollwerken aus unbezwinglichem Stein, und doch war es die
Schlüsselstellung, der schwächste Punkt in dieser ganzen hohen und un-
durchdringlichen Mauer.
Die Trommeln dröhnten lauter. Brände züngelten auf. Große Wurfma-
schinen krochen über das Feld; und in der Mitte war eine Ramme, groß
wie ein Baum von hundert Fuß Länge, an mächtigen Ketten hängend.
Lange war in den dunklen Schmieden von Mordor an ihr gearbeitet wor-
den, und ihr abscheulicher Rammbär, aus schwarzem Stahl gegossen, war
der Gestalt eines räuberischen Wolfs nachgebildet; Zaubersprüche der
Vernichtung lagen auf ihr. Grond nannte man sie, zur Erinnerung an den
Hammer der Unterwelt von einst. Große Tiere zogen sie, Orks umgaben
sie, und hinterdrein kamen Bergtrolle, um sie zu schwingen.
Doch am Tor war der Widerstand noch tapfer, und dort setzten sich
die Ritter von Dol Amroth und die Kühnsten der Besatzung zur Wehr.
Ein Hagel von Geschossen und Pfeilen prasselte hernieder; Belagerungs-
türme stürzten krachend ein oder flammten plötzlich auf wie Fackeln.
Überall vor den Mauern auf beiden Seiten des Tors war der Boden übersät
mit Trümmern und den Leichen der Erschlagenen; doch wie von Raserei
getrieben, stürmten immer wieder neue Streiter heran.
Grond kroch weiter. Ihr Aufbau fing kein Feuer; und obwohl dann
und wann eines der großen Zugtiere scheute und stampfend Verheerung
unter unzähligen Orks anrichtete, die sie bewachten, wurden ihre Leichen
aus dem Weg geräumt und andere nahmen ihren Platz ein.
Grond kroch weiter. Die Trommeln dröhnten wie wild. Über den Ber-
gen von Erschlagenen erschien eine abscheuliche Gestalt: ein Reiter, groß,
in Kapuze und schwarzem Mantel. Über die Gefallenen hinwegtrampelnd,
ritt er langsam voran und achtete nicht länger der Pfeile. Er hielt an und
hob ein langes, bleiches Schwert. Und als er das tat, befiel alle eine große
Furcht, Verteidiger und Feinde gleichermaßen; und die Hände der Men-
schen hingen kraftlos herab, und kein Bogen sang. Einen Augenblick war
alles still.
Die Trommeln dröhnten und rasselten. Mit einem gewaltigen Schwung
wurde Grond von riesigen Händen vorwärtsgeschleudert. Sie erreichte
das Tor. Sie schwang hin und her. Ein tiefes Grollen rollte durch die
Stadt wie Donner, der sich in den Wolken fortpflanzt. Aber die Türen
aus Eisen und die Pfeiler aus Stahl widerstanden dem Aufprall.
Dann erhob sich der Schwarze Heerführer in den Steigbügeln und rief
laut mit fürchterlicher Stimme, und er sprach Wörter der Macht und des
Schreckens in einer vergessenen Sprache, um Herz und Stein zu zerreißen.
Dreimal rief er. Dreimal dröhnte die große Ramme. Und plötzlich beim
letzten Schlag zersprang das Tor von Gondor. Wie von einem verheeren-
den Zauber getroffen, barst es: ein sengender Blitz flammte auf, und die
Türen stürzten, in Stücke gerissen, zu Boden.
Hinein ritt der Herr der Nazgûl. Schwarz und groß ragte er vor den
Bränden dahinter auf, zu einer gewaltigen Drohung der Verzweiflung an-
gewachsen. Hinein ritt der Herr der Nazgûl, unter dem Torbogen hin-
durch, den kein Feind je durchschritten hatte, und alle flohen vor seinem
Angesicht.
Alle außer einem. Wartend, schweigend und still saß Gandalf auf
Schattenfell auf dem Platz vor dem Tor: Schattenfell, der allein unter allen
freien Pferden der Welt den Schrecken ertrug, reglos, standhaft wie eine
Bildsäule in Rath Dinen.
»Du kannst hier nicht hereinkommen«, sagte Gandalf, und der riesige
Schatten hielt an. »Geh zurück zu dem Abgrund, der für dich bereitet ist!
Geh zurück! Stürze in das Nichts, das deinen Herrn und dich erwartet!
Geh!«
Der Schwarze Reiter warf seine Kapuze zurück, und siehe! er trug eine
Königskrone; und doch saß sie auf keinem sichtbaren Kopf. Der rote
Feuerschein leuchtete zwischen ihr und den vom Mantel bedeckten brei-
ten, schwarzen Schultern hindurch. Ein unsichtbarer Mund stieß ein gräß-
liches Gelächter aus.
»Alter Narr!« sagte er. »Alter Narr! Das ist meine Stunde. Kennst
du den Tod nicht, wenn du ihn siehst? Stirb jetzt und fluche vergebens!«
Und damit hob er sein Schwert hoch, und Flammen liefen an der Klinge
entlang.
Gandalf rührte sich nicht. Und in eben diesem Augenblick, fern in
irgendeinem Hof der Stadt, krähte ein Hahn. Schrill und klar krähte er,
unbekümmert um Zauberei oder Krieg, und er begrüßte den Morgen, der
am Himmel hoch über den Schatten des Todes mit der Morgendämme-
rung heraufzog.
Und als ob es eine Antwort darauf sei, kam von ferne ein anderer
Klang. Hörner, Hörner, Hörner. An den Hängen des dunklen Mindolluin
hallten sie schwach wider. Große Hörner des Nordens, die laut geblasen
wurden. Rohan war endlich gekommen.
<= =>