DRITTES KAPITEL
DIE HEERSCHAU VON ROHAN
Jetzt liefen alle Wege gemeinsam gen Osten, dem kommenden Krieg
und dem Ansturm des Schattens entgegen. Und gerade als Pippin am
Großen Tor der Stadt stand und den Fürsten von Dol Amroth mit seinen
Bannern heranreiten sah, kam der König von Rohan herab von den Ber-
gen.
Der Tag verging. In den letzten Strahlen der Sonne warfen die Reiter
lange, spitze Schatten, die vor ihnen herzogen. Schon war die Dunkelheit
unter den murmelnden Tannenwald gekrochen, der die steilen Berghänge
bedeckte. Jetzt, am Ende des Tages, ritt der König langsam. Plötzlich zog
sich der Pfad um eine gewaltige, kahle Felsschulter herum und tauchte ein
in das Dunkel leise seufzender Bäume. Hinunter und immer weiter hinun-
ter ritten sie einer hinter dem anderen auf dem gewundenen Weg. Als sie
endlich unten in der Schlucht angekommen waren, fanden sie, daß sich
der Abend auf die tiefliegenden Bereiche herabgesenkt hatte. Die Sonne
war untergegangen. Zwielicht lag über den Wasserfällen.
Den ganzen Tag lang war weit unter ihnen ein sprudelnder Bach von
dem hohen Paß herabgeronnen und hatte sich seinen schmalen Weg zwi-
schen kieferbestandenen Hängen gebahnt; und jetzt floß er durch eine
steinerne Pforte hinaus in ein breiteres Tal. Die Reiter folgten ihm, und
plötzlich lag das Hargtal vor ihnen, erfüllt von dem Plätschern des Was-
sers am Abend. Der weiße Schneeborn, dem sich der kleinere Bach ange-
schlossen hatte, floß dort brausend und stäubend über die Steine, hinunter
nach Edoras und zu den grünen Hügeln und in die Ebene. Fern zur Rech-
ten am oberen Ausgang des großen Tals ragte das mächtige Starkhorn
empor über seinen gewaltigen Vorsprüngen, die in Wolken gehüllt waren;
aber sein gezackter Gipfel, mit ewigem Schnee bedeckt, schimmerte hoch
über der Welt, blauschattig gen Osten, rotgefleckt vom Sonnenuntergang
gen Westen.
Merry schaute voll Staunen auf dieses fremde Land, von dem er auf
ihrem langen Weg viele Geschichten gehört hatte. Es war eine himmellose
Welt, in der sein Auge über düsteren Abgründen von schattiger Luft nur
unaufhörlich aufsteigende Hänge, eine große Felswand hinter der ande-
ren und von Nebel umschlungene finstere Klippen sah. Er saß einen
Augenblick halb träumend da und lauschte dem Plätschern des Wassers,
dem Flüstern dunkler Bäume, dem Krachen von Steinen und der gewalti-
gen, abwartenden Stille, die hinter jedem Geräusch lauerte. Er liebte
Berge, oder er hatte sie sich gern vorgestellt, wenn sie am Rande von Ge-
schichten auftauchten, die von weit her kamen. Doch nun fühlte er sich
bedrückt von dem unerträglichen Gewicht von Mittelerde. Er sehnte sich
danach, in einem friedlichen Zimmer am Feuer zu sitzen und die Unend-
lichkeit auszusperren.
Er war sehr müde, denn obwohl sie langsam geritten waren, hatten sie
sehr wenig Rast gemacht. Stunde um Stunde seit fast drei beschwer-
lichen Tagen war er hinauf und hinunter getrabt, über Pässe und durch
lange Täler und über viele Bäche. Manchmal, wenn der Weg breiter war,
war er an des Königs Seite geritten und hatte nicht bemerkt, daß viele der
Reiter lächelten, wenn sie die beiden zusammen sahen: den Hobbit auf
seinem kleinen, struppigen Pony und den Herrn von Rohan auf seinem
großen, weißen Roß. Dann hatte er sich mit Théoden unterhalten, ihm
von seiner Heimat erzählt und von dem Tun und Treiben des Auenland-
volks, oder er hatte Erzählungen über die Mark und ihre mächtigen Män-
ner von einst gelauscht. Doch die meiste Zeit, besonders an diesem letzten
Tag, war Merry für sich allein hinter dem König geritten, hatte nichts ge-
sagt und versucht, die getragene klangvolle Sprache von Rohan zu verste-
hen, in der die Männer hinter ihm redeten. Es war eine Sprache, in der
viele Wörter vorzukommen schienen, die er kannte, obwohl sie volltönen-
der und kräftiger ausgesprochen wurden als im Auenland, und dennoch
konnte er die Wörter nicht aneinanderreihen. Dann und wann erhob
irgendein Reiter seine klare Stimme zu einem aufrüttelnden Lied, und
Merry spürte, wie ihm das Herz aufging, obgleich er nicht wußte, wovon
das Lied handelte.
Trotzdem hatte er sich einsam gefühlt, und niemals einsamer als jetzt
am Ende des Tages. Er fragte sich, wo in all dieser fremden Welt Pippin
wohl hingeraten sein mochte; und was aus Aragorn und Legolas und
Gimli würde. Dann war es wie ein kalter Griff nach seinem Herzen, als er
plötzlich an Frodo und Sam dachte. »Ich vergesse sie!« sagte er sich vor-
wurfsvoll. »Und doch sind sie wichtiger als wir alle. Und ich bin mitge-
kommen, um ihnen zu helfen; aber nun müssen sie Hunderte von Meilen
fern sein, wenn sie noch leben.« Ein Schauer überlief ihn.
»Hargtal, endlich!« sagte Eomer. »Unsere Fahrt ist fast zu Ende.« Sie
hielten an. Die Pfade, die aus der schmalen Schlucht herausführten, fielen
steil ab. Nur einen flüchtigen Blick, wie durch ein hohes Fenster, er-
haschte man von dem großen Tal in dem Zwielicht unten. Ein einziges
kleines Licht konnte man am Fluß schimmern sehen.
»Diese Fahrt ist vielleicht vorüber«, sagte Théoden, »aber ich habe noch
weit zu gehen. Letzte Nacht war der Mond voll, und am Morgen werde
ich nach Edoras reiten zur Versammlung der Mark.«
»Doch wenn Ihr meinen Rat annehmen würdet«, sagte Éomer leise,
»dann würdet Ihr hierher zurückkehren, bis der Krieg vorbei ist, ob er
nun verloren oder gewonnen wird.«
Théoden lächelte. »Nein, mein Sohn, denn so will ich dich nennen, flü-
stere mir nicht Schlangenzunges schmeichelnde Worte in meine alten
Ohren!« Er richtete sich auf und blickte zurück auf die lange Reihe seiner
Mannen, die hinten in der Dämmerung verschwamm. »Vor Jahr und Tag,
scheint es, bin ich gen Westen geritten; aber niemals wieder will ich mich
auf einen Stab stützen. Wenn der Krieg verloren wird, was nützt es dann,
mich in den Bergen zu verstecken? Und wenn er gewonnen wird, ist es
dann ein Unglück, selbst wenn ich falle, meine letzte Kraft aufgewandt zu
haben? Aber davon wollen wir jetzt nicht reden. Heute nacht werde ich
in der Feste Dunharg schlafen. Ein friedlicher Abend bleibt uns wenig-
stens noch. Laß uns weiterreiten!«
In der zunehmenden Dämmerung kamen sie hinunter ins Tal. Hier floß
der Schneeborn nahe der westlichen Wand des Tals, und bald führte der
Pfad sie zu einer Furt, wo das seichte Wasser laut auf den Steinen plät-
scherte. Die Furt war bewacht. Als der König sich näherte, sprangen
viele Mannen aus dem Schatten der Felsen hervor, und als sie den König
sahen, riefen sie mit froher Stimme: »König Théoden! König Théoden!
Der König der Mark kehrt zurück!«
Dann blies einer ein langes Signal auf einem Horn. Es hallte wider im Tal.
Andere Hörner antworteten, und Lichter leuchteten auf jenseits des Flusses.
Und plötzlich erschallte von hoch oben, aus einer Mulde, wie es schien,
ein großer Chor von Trompeten, die ihren Klang zu einem Ton vereinten,
und brausend und tosend prallte er auf die Felswände.
So kehrte der König der Mark siegreich aus dem Westen zurück nach
Dunharg unter dem Fuß des Weißen Gebirges. Dort fand er die zurückge-
bliebene Streitmacht seines Volkes schon versammelt; denn sobald sein
Kommen bekannt geworden war, ritten Hauptleute ihm zur Furt entgegen
und brachten ihm Botschaften von Gandalf. Dunhere, der Anführer des
Volks von Hargtal, war an ihrer Spitze.
»Bei Morgengrauen vor drei Tagen, Herr«, sagte er, »kam Schattenfell
wie der Wind aus dem Westen nach Edoras, und Gandalf brachte Nach-
rieht von Eurem Sieg, um unsere Herzen zu erfreuen. Doch brachte er
auch den Bescheid von Euch, daß wir rascher die Reiter versammeln sol-
len. Und dann kam der geflügelte Schatten.«
»Der geflügelte Schatten?« sagte Théoden. »Wir sahen ihn auch, aber
das war mitten in der Nacht, ehe Gandalf uns verließ.«
»Vielleicht, Herr«, sagte Dunhere. »Doch derselbe oder ein ähnlicher
wie er, eine fliegende Dunkelheit in Gestalt eines ungeheuerlichen Vogels,
flog an jenem Morgen über Edoras, und alle Männer zitterten vor Angst.
Denn er stieß herab auf Meduseld, und als er ganz tief kam, fast bis zum
Giebel, stieß er einen Schrei aus, der uns das Herz erstarren ließ. Da war
es dann, daß Gandalf uns riet, wir sollten uns nicht auf den Feldern sam-
meln, sondern Euch hier im Tal unter dem Gebirge treffen. Und er bat
uns, nicht mehr Lichter oder Feuer anzuzünden, als die dringendste Not
erforderte. So ist es geschehen. Gandalf sprach mit großer Bestimmtheit.
Wir hoffen, daß es so ist, wie Ihr wünschtet. Nichts ist im Hargtal von
diesen üblen Geschöpfen gesehen worden.«
»Es ist gut«, sagte Théoden. »Ich werde jetzt zur Feste reiten, und ehe
ich zur Ruhe gehe, will ich dort die Marschälle und Hauptleute sehen. Laß
sie sobald als möglich zu mir kommen!«
Die Straße führte jetzt ostwärts geradenwegs durch das Tal, das an die-
ser Stelle wenig mehr als eine halbe Meile breit war. Ebene Flächen und
Wiesen mit rauhem Gras, grau jetzt in der sinkenden Nacht, lagen
ringsum, aber vor sich an der anderen Seite des Tals sah Merry eine dro-
hende Felswand, die letzte Klippe des großen Fußes des Starkhorns, abge-
spalten durch den Fluß in längst vergangenen Zeiten.
Auf allen ebenen Strecken standen Menschenmengen. Manche dräng-
ten sich am Wegrand und jubelten dem König und den Reitern aus dem
Westen mit frohen Rufen zu; doch bis weit in die Ferne erstreckten sich
ordentliche Reihen von Zelten und Hütten, Pferde waren angepflockt, und
große Waffenvorräte waren da und in den Boden gerammte Speere, stach-
lig wie Dickichte frisch gepflanzter Bäume. Jetzt versank die große Ver-
sammlung im Schatten, und obwohl der Nachtwind kalt von der Höhe
herabblies, glühten keine Laternen, wurden keine Feuer angezündet.
Wachposten in schweren Mänteln schritten auf und ab.
Merry fragte sich, wie viele Reiter dort wohl waren. In der zunehmen-
den Dunkelheit konnte er ihre Zahl nicht erraten, doch schien es ihm ein
großes Heer zu sein, viele tausend Mann stark. Während er von einer
Seite zur anderen schaute, kam das Gefolge des Königs unter der hoch
aufragenden Klippe an der Ostseite des Tals heraus; und dort begann der
Pfad plötzlich zu steigen, und Merry blickte verwundert hinauf. Es war
eine Straße, wie er ihresgleichen noch nie gesehen hatte, ein großes Werk
von Menschenhand aus den Jahren, die kein Lied besingt. Hinauf zog sie,
gewunden wie eine Schlange, und bahnte sich ihren Weg über den jähen
Felsenhang. Steil wie eine Treppe war sie und stieg in vor- und zurückge-
henden Schleifen: Auf ihr konnten Pferde gehen, und Wagen konnten
langsam gezogen werden; aber kein Feind vermochte über diese Straße zu
kommen, wenn sie von oben verteidigt wurde, es sei denn aus der Luft.
An jeder Kehre der Straße standen große Steine, die in Gestalt von Men-
schen behauen waren, riesig und grobgliederig, mit gekreuzten Beinen
kauernd, die stämmigen Arme über fetten Bäuchen zusammengelegt.
Einige hatten im Laufe der Jahre alle Gesichtszüge verloren mit Aus-
nahme der dunklen Höhlen ihrer Augen, die die Vorübergehenden immer
noch traurig anstarrten. Die Reiter schauten sie kaum an. Die Puckelmän-
ner nannten sie sie und schenkten ihnen wenig Beachtung: keine Macht
oder kein Schrecken war ihnen geblieben; aber Merry betrachtete sie voll
Staunen und mit einem Gefühl, das fast Mitleid war, als sie so trauervoll
aus dem Dunkel auftauchten.
Nach einer Weile blickte er zurück und sah, daß er schon einige hun-
dert Fuß über dem Tal war, aber immer noch konnte er tief unten undeut-
lich eine sich windende Schlange von Reitern sehen, die die Furt über-
querten und die Straße entlangzogen zu dem für sie vorbereiteten Lager.
Nur der König und seine Wache ritten hinauf zur Feste.
Schließlich kam des Königs Gruppe zu einem scharfen Grat, und hier
verschwand die ansteigende Straße in einem Durchstich zwischen
Felswänden, und so ging es einen kurzen Hang hinauf und hinaus auf ein
weites Hochland. Das Firienfeld nannten es die Menschen, eine grüne
Bergwiese mit Gras und Heide, hoch über dem tief eingegrabenen Lauf
des Schneeborn, und es lag auf dem Schoß der großen Berge dahinter: des
Starkhoms im Süden und des Gebirgsstocks Irensaga im Norden, zwi-
schen dessen Zinnen, den Reitern gegenüber, sich die finstere schwarze
Wand des Dwimorbergs, des Geisterbergs, aus steilen, kieferbestandenen
Hängen erhob. Eine doppelte Reihe unbehauener, senkrecht stehender
Steine, die das Hochland in zwei Teile zerschnitt, verschwand in der Dun-
kelheit und verlor sich zwischen Bäumen. Diejenigen, die es wagten, die-
ser Straße zu folgen, kamen bald zu dem schwarzen Dimholt unter dem
Dwimorberg und der Drohung der steinernen Säule und dem gähnenden
Schatten des verbotenen Tors.
So sah es aus am dunklen Dunharg, dem Werk längst vergessener
Menschen. Ihren Namen kannte niemand mehr, und kein Lied und keine
Sage hatte ihn überliefert. Zu welchem Zweck sie diesen Platz angelegt
hatten, wußte niemand. Hier hatten sie sich in den Dunklen Jahren ge-
plagt, ehe überhaupt ein Schiff zu den westlichen Küsten kam oder das
Gondor der Dúnedain errichtet wurde; und jetzt waren sie verschwunden,
und nur die alten Puckelmänner waren noch da und saßen an den Kehren
der Straße.
Merry starrte auf die sich hinziehenden Reihen von Steinen: verwittert
und schwarz waren sie; manche hatten sich geneigt, manche waren umge-
stürzt, geborsten oder zerbrochen; wie Reihen alter und hungriger Zähne
sahen sie aus. Er fragte sich, was sie wohl sein könnten, und er hoffte,
der König würde ihnen nicht folgen in die Dunkelheit dort hinten. Dann
sah er, daß auf beiden Seiten des steinernen Weges Zelte und Hütten in
Gruppen beieinanderstanden; aber nicht in der Nähe der Bäume, sondern
sie schienen sich eher von ihnen fortzudrängen bis zum Rand der Klippe.
Die meisten lagen zur Rechten, wo das Firienfeld breiter war; und zur
Linken war ein kleineres Lager, in dessen Mitte ein hohes Zelt stand. Von
dieser Seite kam jetzt ein Reiter auf sie zu, um sie zu begrüßen, und sie
verließen die Straße.
Als er näherkam, sah Merry, daß der Reiter eine Frau war mit langem,
geflochtenen Haar, das im Zwielicht schimmerte, doch trug sie einen
Helm, und bis zur Taille war sie wie ein Krieger gekleidet und mit einem
Schwert gegürtet.
»Heil, Herr der Mark!« rief sie. »Eure Rückkehr erfreut mein Herz.«
»Und du, Éowyn«, sagte Théoden, »steht alles gut bei dir?«
»Alles ist gut«, antwortete sie; doch schien es Merry, daß ihre Stimme
sie Lügen strafte, und er hätte geglaubt, daß sie geweint hatte, wenn man
das bei einer so stolzen Frau hätte annehmen können. »Alles ist gut. Es
war ein mühseliger Weg, den das Volk zurücklegen mußte, das plötzlich
aus seinen Heimen herausgerissen wurde. Es fielen harte Worte, denn es
ist lange her, seit uns der Krieg aus den grünen Feldern vertrieb; aber es
gab keine bösen Taten. Alles ist nun wohlgeordnet, wie Ihr seht. Und
Eure Unterkunft ist für Euch bereitet; denn ich habe genaue Nachricht
über Euch erhalten und wußte die Stunde Eures Kommens.«
»Dann ist Aragorn also gekommen«, sagte Éomer. »Ist er noch hier?«
»Nein, er ist fort«, sagte Éowyn, wandte sich ab und schaute zum Ge-
birge, das im Osten und Süden dunkel aufragte.
»Wohin ist er gegangen?« fragte Éomer.
»Ich weiß es nicht«, antwortete sie. »Er kam des Nachts und ritt ge-
stern morgen fort, ehe die Sonne über die Berggipfel kletterte. Er ist fort.«
»Du bist bekümmert, Tochter«, sagte Théoden. »Was ist geschehen?
Sage es mir, hat er von jenem Weg gesprochen?« Er zeigte über die dunk-
len Reihen der Steine hinweg auf den Dwimorberg. »Von den Pfaden der
Toten?«
»Ja, Herr«, sagte Éowyn. »Und er ist in die Schatten gegangen, aus de-
nen keiner zurückkehrt. Ich konnte es ihm nicht ausreden. Er ist fort.«
»Dann trennen sich unsere Wege«, sagte Éomer. »Er ist verloren. Wir
müssen ohne ihn reiten, und unsere Hoffnung schwindet.«
Langsam ritten sie über die niedrige Heide und das Hochlandgras und
sprachen nicht mehr, bis sie zum Zelt des Königs kamen. Dort fand
Merry, daß alles vorbereitet war, und auch er war nicht vergessen wor-
den. Neben dem Zelt des Königs war ein kleineres für ihn aufgeschlagen
worden; und dort saß er allein, während unaufhörlich Männer vorbeika-
men, die zum König hineingingen und mit ihm berieten. Die Nacht brach
herein, und die halb sichtbaren Berggipfel im Westen waren mit Sternen
bekrönt, doch der Osten war dunkel und kahl. Die stehenden Steine ent-
schwanden langsam dem Blick, aber noch hinter ihnen, schwärzer als die
Dunkelheit, ragte der riesige, hockende Schatten des Dwimorbergs auf.
»Die Pfade der Toten«, murmelte er vor sich hin. »Die Pfade der
Toten? Was bedeutet das wohl? Jetzt haben mich alle verlassen. Alle sind
sie irgendeinem Schicksal entgegengegangen: Gandalf und Pippin sind in
den Krieg im Osten gezogen; Sam und Frodo sind nach Mordor gegan-
gen; und Streicher und Legolas und Gimli sind auf den Pfaden der Toten.
Aber auch ich werde bald an der Reihe sein, nehme ich an. Ich frage
mich, worüber sie alle reden, und was der König vorhat. Denn ich muß
jetzt dorthin gehen, wo er hingeht.«
Inmitten dieser düsteren Gedanken fiel es ihm plötzlich ein, daß er sehr
hungrig war, und er stand auf, um zu sehen, ob es irgend jemandem in
diesem seltsamen Lager genauso erging. Aber in eben diesem Augen-
blick erklang eine Trompete, und ein Mann kam, um ihn, des Königs
Knappen, zu rufen, damit er dem König bei Tisch aufwarte.
In dem inneren Teil des Zelts war ein kleiner Raum, der durch bestickte
Vorhänge abgeteilt und mit Fellen ausgelegt war; und dort an einem klei-
nen Tisch saß Théoden mit Éomer und Éowyn und Dünnere, dem Herrn
des Hargtals. Merry stand neben des Königs Hocker und bediente ihn, bis
der alte Mann, plötzlich aus tiefen Gedanken auffahrend, sich zu ihm um-
wandte und lächelte.
»Komm, Herr Meriadoc«, sagte er. »Du sollst nicht stehen. Du sollst
neben mir sitzen, solange ich noch in meinem eigenen Lande bin, und du
sollst mir mit Geschichten das Herz erfreuen.«
Linker Hand vom König wurde für den Hobbit Platz gemacht, aber nie-
mand wollte eine Geschichte hören. Es wurde überhaupt wenig gesprochen,
und die meiste Zeit aßen und tranken sie schweigend, bis Merry schließlich
seinen ganzen Mut zusammennahm und die Frage stellte, die ihn quälte.
»Zweimal, Herr, habe ich jetzt von den Pfaden der Toten gehört«, sagte
er. »Was ist das? Und wo ist Streicher, ich meine, der Herr Aragorn hin-
gegangen?«
Der König seufzte, antwortete aber nicht, und schließlich sprach Éomer.
»Wir wissen es nicht, und das Herz ist uns schwer«, sagte er. »Aber was
die Pfade der Toten betrifft, so hast du selbst die ersten Schritte darauf
getan. Nein, ich spreche keine Worte von böser Vorbedeutung! Die
Straße, die wir heraufgekommen sind, ist der Zugang zu dem Tor, drüben
im Dimholt. Aber was dahinter liegt, weiß kein Mensch.«
»Es weiß kein Mensch«, sagte Théoden. »Doch eine alte Sage, die heute
selten erzählt wird, berichtet etwas. Wenn diese alten Geschichten, die in
Eorls Haus der Vater dem Sohn überlieferte, die Wahrheit sprechen, dann
geht von dem Tor unter dem Dwimorberg ein geheimer Weg aus, der un-
ter dem Gebirge zu einem vergessenen Ort führt. Aber niemand hat es je
gewagt, seine Geheimnisse zu erforschen, seit Baldor, Bregos Sohn, das
Tor durchschritt und niemals wieder unter den Menschen gesehen wurde.
Ein unbesonnenes Gelübde legte er ab, als er das Horn leerte bei dem Fest,
das Brego gab, um das neu erbaute Meduseld einzuweihen, und niemals
bestieg er den Herrschersitz, dessen Erbe er war.
Das Volk sagt, daß Tote Menschen aus den Dunklen Jahren den Weg
bewachen und nicht dulden, daß ein lebender Mensch in ihre verborgenen
Hallen kommt; doch zuweilen sieht man sie, wenn sie wie Schatten aus
dem Tor heraus und die steinerne Straße herabkommen. Dann versperren
die Leute im Hargtal ihre Türen und verhängen die Fenster und fürchten
sich. Doch die Toten kommen selten heraus und nur zu Zeiten, da große
Unruhen und Tod bevorstehen.«
»Dennoch heißt es im Hargtal«, sagte Eomer leise, »daß in den mond-
losen Nächten vor gar nicht langer Zeit ein großes Heer in seltsamer
Aufmachung vorbeizog. Woher sie kamen, wußte keiner, aber sie gingen
die steinerne Straße hinauf und verschwanden im Berg, als ob sie eine
Verabredung einhalten müßten.«
»Warum ist dann Aragorn diesen Weg gegangen?« fragte Merry.
»Wißt Ihr nichts, was das erklären würde?«
»Sofern er nicht zu dir als seinem Freund Worte gesprochen hat, die
wir nicht gehört haben«, sagte Éomer, »kann keiner im Land der Leben-
den seine Absicht erkennen.«
»Stark verändert erschien er mir, seit ich ihn zuerst in des Königs Haus
sah«, sagte Éowyn. »Düsterer, älter. Todgeweiht kam er mir vor, und wie
einer, den die Toten rufen.«
»Vielleicht ist er gerufen worden«, sagte Théoden, »und mein Herz
sagt mir, daß ich ihn nicht wiedersehen werde. Doch ist er ein Mann von
königlicher Art und hoher Bestimmung. Und schöpfe Trost daraus, Toch-
ter, da du Trost zu brauchen scheinst in deinem Kummer um diesen Gast.
Es heißt, als die Eorlingas aus dem Norden kamen und schließlich den
Schneeborn hinaufzogen auf der Suche nach sicheren Zufluchtsorten in
Zeiten der Not, da erklommen Brego und sein Sohn Baldor die Treppe der
Feste und kamen so zu dem Tor. Auf der Schwelle saß ein Greis, so alt,
daß man die Zahl seiner Jahre nicht schätzen konnte; hochgewachsen und
königlich war er gewesen, doch nun verwittert wie ein alter Stein. Tat-
sächlich hielten sie ihn für einen Stein, denn er bewegte sich nicht und
sprach kein Wort, bis sie versuchten, an ihm vorbei hineinzugehen. Und
dann sprach er mit einer Stimme, die klang, als ob sie aus der Erde
komme, und zu ihrer Verwunderung sagte er in der westlichen Sprache:
Der Weg ist versperrt.
Dann blieben sie stehen und schauten ihn an und sahen, daß er noch
lebte; er aber blickte sie nicht an. Der Weg ist versperrt, wiederholte
er.
Er wurde angelegt von jenen, die tot sind, und die Toten halten ihn, bis
die Zeit gekommen ist. Der Weg ist versperrt.
Und wann wird diese Zeit sein? fragte Baldor. Doch nie erhielt er eine
Antwort. Denn der alte Mann starb in jener Stunde und fiel auf sein Ge-
sicht; und nichts sonst hat unser Volk je über die alten Bewohner des Ge-
birges erfahren. Indes ist vielleicht endlich die vorausgesagte Zeit gekom-
men, und Aragorn darf hindurch.«
»Aber wie soll ein Mann erkennen, ob die Zeit gekommen ist oder
nicht, es sei denn, er wagt es, das Tor zu durchschreiten?« fragte Éomer.
»Und diesen Weg würde ich nicht gehen, auch wenn alle Heere Mordors
vor mir stünden und ich allein wäre und keine andere Zuflucht hätte.
Wehe, daß in dieser Stunde der Not ein so todbringender Gedanke einen
so beherzten Mann befällt! Gibt es nicht ringsum genug böse Wesen,
ohne daß man sie unter der Erde suchen muß? Der Krieg ist nahe.
Er hielt inne, denn in diesem Augenblick hörte man ein Geräusch
draußen, eine Männerstimme rief Théodens Namen, und der Wachtposten
fragte nach Feldruf und Losung.
Plötzlich schob der Hauptmann der Wache den Vorhang beiseite. »Ein
Mann ist hier, Herr«, sagte er, »ein reitender Bote von Gondor. Er bittet,
sofort zu Euch vorgelassen zu werden.«
»Laß ihn kommen«, sagte Théoden.
Ein hochgewachsener Mann trat ein, und Merry unterdrückte einen
Schrei; denn einen Augenblick lang schien es ihm, als sei Boromir wie-
der am Leben und zurückgekehrt. Dann sah er, daß dem nicht so war. Der
Mann war ein Fremder, wenngleich Boromir so ähnlich, als ob er von sei-
ner Sippe sei, kühn und grauäugig und stolz. Er war wie ein Reiter geklei-
det mit einem dunkelgrünen Mantel über einem schönen Panzerhemd. Die
Stirnseite seines Helms war mit einem kleinen silbernen Stern verziert. In
der Hand trug er einen einzigen Pfeil, schwarz gefiedert und mit stähler-
nen Widerhaken, doch die Spitze war rot angemalt.
Er ließ sich auf ein Knie nieder und reichte Théoden den Pfeil. »Heil,
Herr der Rohirrim, Freund von Gondor!« sagte er. »Hirgon bin ich, rei-
tender Bote von Denethor, und bringe Euch dieses Zeichen des Krieges.
Gondor ist in großer Not. Oft haben die Rohirrim uns geholfen, doch nun
bittet Herr Denethor um all Eure Streitmacht und all Euren Beistand,
damit Gondor nicht zuletzt falle.«
»Der rote Pfeil!« sagte Théoden und hielt ihn wie einer, der eine Auf-
forderung erhält, die er lange erwartet und die ihn doch erschreckt, wenn
sie kommt. Seine Hand zitterte. »Der Rote Pfeil ist in all meinen Jahren
nicht in der Mark gesehen worden! Ist es wirklich so weit gekommen?
Und was, glaubt Herr Denethor, mag all meine Streitmacht und all mein
Beistand sein!«
»Das wißt Ihr selbst am besten, Herr«, sagte Hirgon. »Doch binnen
kurzem mag es leicht geschehen, daß Minas Tirith umzingelt ist, und
sofern Ihr nicht stark genug seid, die Belagerung durch viele Heere zu
durchbrechen, bittet mich Herr Denethor, Euch zu sagen, daß seiner An- -
sieht nach die starken Waffen der Rohirrim besser innerhalb als außer-
halb seiner Mauern wären.«
»Aber er weiß doch, daß wir ein Volk sind, das eher auf dem Rücken
der Pferde und in freiem Gelände kämpft, und daß wir auch ein verstreut
lebendes Volk sind und es Zeit braucht, unsere Reiter zu sammeln.
Stimmt es nicht, Hirgon, daß der Herr von Minas Tirith mehr weiß, als er
in seiner Botschaft angibt? Denn wir sind bereits im Krieg, wie Ihr viel-
leicht gesehen habt, und Ihr findet uns nicht ganz unvorbereitet. Gandalf
der Graue war bei uns, und eben jetzt sammeln wir uns für die Schlacht
im Osten.«
»Was Herr Denethor von all diesen Dingen weiß oder vermutet, kann
ich nicht sagen«, antwortete Hirgon. »Doch unsere Lage ist wahrlich ver-
zweifelt. Mein Herr erteilt Euch keinerlei Befehl, er bittet Euch nur, alter
Freundschaft und vor langer Zeit geleisteter Schwüre eingedenk zu sein
und zu Eurem eigenen Vorteil alles zu tun, was Ihr vermögt. Uns wird
berichtet, daß viele Könige aus dem Osten herbeigeritten sind, um Mor-
dor zu dienen. Vom Norden bis zur Walstatt von Dargoland gibt es
Scharmützel und Kriegsgerüchte. Im Süden sind die Haradrim auf dem
Marsch, und Furcht hat alle unsere Küstenländer befallen, so daß uns
wenig Hilfe von dort zuteil werden wird. Eilt Euch! Denn vor den
Mauern von Minas Tirith wird sich das Schicksal unserer Zeit entschei-
den, und wird die Flut dort nicht aufgehalten, dann wird sie sich über die
schönen Felder von Rohan ergießen, und selbst in dieser Feste in den Ber-
gen wird es keine Zuflucht geben.«
»Schlimme Kunde«, sagte Théoden, »doch nicht völlig unvermutet.
Aber sagt Denethor, daß wir ihm, auch wenn Rohan selbst die Gefahr
nicht verspürte, dennoch zu Hilfe kommen würden. Bei unseren Kämpfen
mit Saruman dem Verräter haben wir allerdings schwere Verluste erlitten
und müssen immerhin auch an unsere Grenzen im Norden und Osten
denken, was ja Denethors Botschaft deutlich macht. Eine so große Streit-
macht, wie sie der Dunkle Herrscher jetzt einzusetzen scheint, wird uns
vielleicht schon in eine Schlacht verwickeln, ehe wir die Stadt erreichen,
und wird dennoch jenseits des Tors der Könige starke Kräfte über den
Fluß werfen können.
»Aber wir wollen nicht länger weise Reden führen. Wir werden kom-
men. Der Waffenempfang war für morgen angesetzt. Wenn alles geordnet
ist, werden wir aufbrechen. Zehntausend Speerträger hätte ich zum
Schrecken unserer Feinde über die Ebene schicken können. Aber jetzt
werden es weniger sein, fürchte ich; denn ich will meine Festungen nicht
ganz unbewacht lassen. Doch zumindest sechstausend werden hinter mir
reiten. Denn sagt Denethor, daß in dieser Stunde der König der Mark
selbst hinunterkommen wird in das Land Gondor, obwohl es sein mag,
daß er nicht zurückreitet. Aber es ist ein weiter Weg, und Mann und Tier
müssen, wenn sie ihn zurückgelegt haben, noch Kraft zum Kämpfen
haben. Eine Woche ab morgen früh mag vergehen, bis ihr das Kriegsge-
schrei von Eorls Söhnen, von Norden kommend, hören werdet.«
»Eine Woche!« sagte Hirgon. »Wenn es so sein muß, dann muß es
sein. Doch in sieben Tagen werdet Ihr wahrscheinlich nur zerstörte
Mauern vorfinden, sofern nicht andere unerwartete Hilfe kommt. Immer-
hin mögt Ihr zumindest die Orks und die Schwarzen Menschen bei ihrem
Festmahl im Weißen Turm stören.«
»Zumindest das werden wir tun«, sagte Théoden. »Aber ich selbst bin
eben erst von Kampf und langer Fahrt gekommen und will nun zur Ruhe
gehen. Bleibt hier heute nacht. Dann werdet Ihr die Heerschau von Rohan
sehen und um so froher über den Anblick und um so schneller dank der
Rast von dannen reiten. Guter Rat kommt über Nacht, und am Morgen
sieht manches anders aus.«
Damit stand der König auf, und alle erhoben sich. »Jeder gehe nun zur
Ruhe«, sagte er, »und schlafe wohl. Und dich, Herr Meriadoc, brauche ich
heute abend nicht mehr. Doch sei bereit, wenn ich dich rufe, sobald die
Sonne aufgegangen ist.«
»Ich werde bereit sein«, sagte Merry, »selbst wenn Ihr mir gebietet, mit
Euch auf den Pfaden der Toten zu reiten.«
»Sprich keine Worte von böser Vorbedeutung aus!« sagte der König.
»Denn es mag mehr Wege geben, die diesen Namen tragen könnten.
Aber ich habe nicht gesagt, daß ich dir gebieten würde, auf irgendeinem
Weg mit mir zu reiten. Gute Nacht!«
»Ich will nicht zurückgelassen und dann bei der Rückkehr abgeholt
werden!« sagte Merry. »Ich will nicht zurückgelassen werden, ich will
nicht.« Das wiederholte er sich in seinem Zelt immer wieder und wieder,
bis er schließlich einschlief.
Er wurde von einem Mann geweckt, der ihn rüttelte. »Wacht auf,
wacht auf, Herr Holbytla!« rief er; und endlich schüttelte Merry die tie-
fen Träume ab, es scheint noch sehr dunkel zu sein, dachte er.
»Was ist los?« fragte er.
»Der König ruft Euch.«
»Aber die Sonne ist ja noch nicht aufgegangen«, sagte Merry.
»Nein, und sie wird heute auch nicht aufgehen, Herr Holbytla. Und
überhaupt nie mehr, würde man bei dieser Wolke denken. Aber die Zeit
steht nicht still, auch wenn die Sonne verloren sein mag. Eilt Euch!«
Während er sich ein paar Kleider überwarf, schaute Merry hinaus. Die
Welt lag im Dunkeln. Selbst die Luft schien düster zu sein, und alle
Dinge ringsum waren schwarz und grau und schattenlos; es herrschte
eine große Stille. Kein Wolkenumriß ließ sich erkennen, es sei denn, weit
im Westen, wo die fernsten tastenden Finger der großen Düsternis noch
vorwärtskrochen und ein wenig Licht zwischen ihnen hindurchdrang.
Über ihm hing ein schweres Wolkendach, dunkel und formlos, und das
Tageslicht schien eher schwächer zu werden als zuzunehmen.
Merry sah viele Leute herumstehen, die hinauf schauten und murrten;
ihre Gesichter waren grau und traurig, und manche schienen Angst zu
haben. Beklommen machte er sich auf den Weg zum König. Hirgon, der
Reiter von Gondor, war dort, und neben ihm stand jetzt noch ein Mann,
ihm ähnlich und gleich gekleidet, aber untersetzter und stämmiger. Als
Merry eintrat, sprach er mit dem König.
»Sie kommt von Mordor, Herr«, sagte er. »Es begann gestern abend bei
Sonnenuntergang. Von den Bergen im Ostfold Eures Reiches sah ich, wie
sie aufstieg und über den Himmel kroch, und die ganze Nacht, während
ich ritt, kam sie hinter mir her und verschlang die Sterne. Jetzt hängt die
große Wolke über dem ganzen Land von hier bis zum Schattengebirge;
und sie wird dunkler. Der Krieg hat bereits begonnen.«
Eine Weile saß der König schweigend da. »Nun sind wir also schließ-
lich so weit gekommen«, sagte er. »Der große Kampf unserer Zeit, bei
dem viele Dinge vergehen werden. Aber wenigstens ist es nicht länger
nötig, daß wir uns verstecken. Wir werden geradenwegs und auf offener
Straße reiten und so schnell wir nur können. Die Heerschau soll sofort
beginnen, und wir werden auf keinen warten, der säumt. Habt ihr aus-
reichende Vorräte in Minas Tirith? Denn wenn wir jetzt in aller Hast rei-
ten müssen, dann müssen wir mit leichter Last reiten und können nur so viel
Verpflegung und Wasser mitnehmen, daß es uns bis zur Schlacht reicht.«
»Wir haben schon lange sehr große Vorräte angelegt«, antwortete Hir-
gon. »Reitet nun mit so wenig Last und so schnell wie möglich.«
»Dann rufe die Herolde, Éomer«, sagte Théoden. »Laß die Reiter antre-
ten.«
Eomer ging hinaus, und gleich darauf erschallten Trompeten in der
Festung, und viele andere antworteten ihnen von weiter unten; aber sie
klangen nicht länger hell und trotzig, wie es Merry am Abend zuvor er-
schienen war. Dumpf war ihr Ton und schrill in der schweren Luft, und
sie gellten unheilverkündend.
Der König wandte sich an Merry. »Ich ziehe in den Krieg, Herr Meria-
doc«, sagte er. »Noch eine kleine Weile, dann bin ich unterwegs. Ich ent-
lasse dich aus meinem Dienst, aber nicht aus meiner Freundschaft. Du
sollst hierbleiben, und wenn du willst, sollst du der Frau Éowyn dienen,
die an meiner Statt über das Volk herrschen soll.«
»Aber, aber, Herr«, stammelte Merry. »Ich bot Euch mein Schwert an.
Ich möchte nicht auf diese Weise von Euch getrennt werden, König Theo-
den. Und da alle meine Freunde in die Schlacht gezogen sind, würde ich
mich schämen, zurückzubleiben.«
»Aber wir reiten auf großen und schnellen Rössern«, sagte Théoden.
»Und so mutig dein Herz auch sein mag, auf solchen Tieren kannst du
nicht reiten.«
»Dann bindet mich auf einem Pferderücken fest oder laßt mich am
Steigbügel hängen oder sonst was«, sagte Merry. »Es ist ein weiter Weg,
So
wenn man ihn laufen soll; aber laufen werde ich, wenn ich nicht reiten
kann, und wenn ich mir die Füße ablaufe und Wochen zu spät komme.«
Théoden lächelte. »Dann würde ich dich schon lieber zu mir auf
Schneemähne nehmen«, sagte er. »Aber zumindest sollst du mit mir nach
Edoras reiten und Meduseld sehen; denn dorthin gehe ich jetzt. So weit
kann Stybba dich tragen: das große Rennen beginnt erst, wenn wir die
Ebene erreichen.«
Dann stand Éowyn auf. »Kommt nun, Meriadoc«, sagte sie. »Ich will
Euch die Rüstung zeigen, die ich für Euch vorbereitet habe.« Sie gingen
zusammen hinaus. »Nur diese Bitte hat Aragorn an mich gerichtet«,
sagte Éowyn, als sie zwischen den Zelten hindurchgingen, »daß Ihr für
die Schlacht ausgerüstet werdet. Ich habe der Bitte entsprochen, so gut ich
konnte. Denn mein Herz sagt mir, daß Ihr eine solche Rüstung braucht,
ehe das Ende kommt.«
Nun führte sie Merry zu einer Hütte zwischen den Unterkünften der
Wache des Königs; und dort brachte ihr ein Waffenmeister einen kleinen
Helm, einen runden Schild und andere Waffen.
»Keinen Harnisch haben wir, der Euch paßt«, sagte Éowyn, »und keine
Zeit, einen solchen Panzer zu schmieden; aber hier sind noch ein festes
Lederwams, ein Gürtel und ein Messer. Ein Schwert habt Ihr ja.«
Merry verbeugte sich, und die Herrin zeigte ihm den Schild; er war wie
der Schild, den Gimli bekommen hatte, und trug als Wappen das weiße
Pferd. »Nehmt alle diese Dinge«, sagte sie, »und mögen sie Euch Glück
bringen! Lebt nun wohl, Herr Meriadoc! Indes mag es sein, daß wir uns
wiedertreffen. Ihr und ich.«
So machte sich der König der Mark in einer zunehmenden Finsternis
bereit, alle seine Reiter gen Osten zu führen. Das Herz war ihnen schwer,
und manche verzagten im Schatten. Doch war es ein unbeugsames Volk,
seinem Herrn ergeben, und wenig Weinen oder Murren war zu hören,
nicht einmal in dem Lager in der Festung, wo die Flüchtlinge aus Edoras
untergebracht waren, Frauen und Kinder und alte Männer. Ein schweres
Schicksal lastete auf ihnen, aber sie blickten ihm schweigend ins Auge.
Zwei Stunden waren rasch vergangen, und jetzt saß der König auf sei-
nem weißen Pferd, das im Dämmerlicht schimmerte. Stolz und kühn sah
er aus, obwohl das Haar, das unter seinem hohen Helm flatterte, wie
Schnee war; und viele staunten über ihn und schöpften Mut, als sie ihn
so ungebeugt und furchtlos sahen.
Dort auf den weiten Grasflächen neben dem brausenden Fluß hatten
sich in vielen Scharen gut an die fünfundfünfzighundert voll bewaffnete
Reiter aufgestellt, und viele hundert andere Mannen mit überzähligen und
nur leicht beladenen Pferden. Eine einzelne Trompete erschallte. Der König
hob die Hand, und schweigend setzte sich das Herr der Mark in Bewe-
gung. An der Spitze zogen zwölf Mann aus der Gefolgschaft des Königs,
berühmte Reiter. Dann folgte der König mit Éomer zu seiner Rechten. Er
hatte Éowyn oben in der Festung Lebewohl gesagt, und die Erinnerung
daran war schmerzlich; doch jetzt richtete er seine Gedanken auf den vor
ihm liegenden Weg. Hinter ihm ritt Merry auf Stybba mit den reitenden
Boten von Gondor, und hinter ihnen kamen noch zwölf Mann von der
Gefolgschaft des Königs. Sie ritten vorbei an den langen Reihen der war-
tenden Männer mit unbeugsamen und unbewegten Gesichtern. Aber als
sie fast an das Ende der Reihen gekommen waren, blickte einer auf und
schaute den Hobbit scharf an. Ein junger Mann, dachte Merry, als er den
Blick erwiderte, nicht so groß und schmächtiger als die anderen. Er sah das
Funkeln grauer Augen; und dann lief ihm ein Schauer über den Rücken,
denn ihm wurde plötzlich klar, daß es das Gesicht eines Menschen ohne
Hoffnung war, der den Tod suchte.
Weiter ging es die graue Straße hinunter entlang dem Schneeborn, der
über Steine brauste; durch die Dörfer Unterharg und Hochborn, wo viele
Frauen mit traurigen Gesichtern aus dunklen Türen herausschauten; und
so begann ohne Horn und Harfe oder den Gesang von Männerstimmen
der große Ritt in den Osten, der in den Liedern von Rohan noch viele
Menschenleben lang besungen wurde.
Aus dem dunklen Dunharg im Morgengrauen
Mit seinen Mannen ritt Thengels Sohn,
Erreichte Edoras, die uralten Hallen
Der Mark-Statthalter, nebelumsponnen,
Goldnes Gebälk in Trauer verhangen.
Abschied nahm er von seinem Volke,
Herd und Thron und geheiligten Stätten,
Wo Freude geherrscht, eh das Licht verlosch.
Aus zog der König, furcht im Rücken,
Vor sich Geschick. Die Treue trieb ihn;
Was er geschworen, erfüllte er alles.
Aus zog Théoden. Fünf Nächte und Tage
Ritten ostwärts die Eorlinger
Durch Folde und Fenmark und Firienwald,
Sechstausend Speere nach Sunlending,
Mundburg die mächtige unter Mindolluin,
Seekönigs Stadt im Reich des Südens,
Schicksal trieb sie. Im Dunkel entschwanden sie,
Fanden sie feind- und feuerumzingelt.
Roß und Reiter; ferner Hufschlag
Verscholl in der Nacht: so künden's die Lieder.
Tatsächlich wurde es immer düsterer, als der König nach Edoras kam,
obwohl es der Stunde nach noch nicht Mittag war. Dort hielt er nur eine
kleine Weile an und verstärkte sein Heer um einige sechzig Reiter, die
zum Waffenempfang zu spät gekommen waren. Nun, nachdem er geges-
sen hatte, machte er sich bereit, wieder aufzubrechen, und er wünschte
seinem Knappen freundlich Lebewohl. Aber Merry bat zum letzten Mal,
er möge nicht von ihm getrennt werden.
»Das ist keine Fahrt für ein solches Streitroß wie Stybba, v/ie ich dir
schon gesagt habe«, antwortete Théoden. »Und in einer solchen Schlacht,
wie wir sie auf den Feldern von Gondor zu liefern gedenken, was würdest
du da tun, Herr Meriadoc, obgleich du Schwert-Than bist und dein Mut
größer ist als dein Wuchs?«
»Was das betrifft, wer kann es wissen?« antwortete Merry. »Aber
warum, Herr, habt Ihr mich als Schwert-Than zu Euch genommen, wenn
nicht, um an Eurer Seite zu bleiben? Und ich möchte nicht, daß es von
mir im Liede heißt, ich sei immer zurückgelassen worden!«
»Ich habe dich zu mir genommen, um dich zu beschützen«, erwiderte
Théoden, »und auch, damit du tust, was ich dich heiße. Keiner meiner
Reiter kann sich mit dir belasten. Wäre die Schlacht vor meinen Toren,
dann würden vielleicht die Sänger deiner Taten gedenken; aber es sind ein-
hundertundzwei Wegstunden nach Mundburg, wo Denethor der Herr ist.
Das ist mein letztes Wort.«
Merry verbeugte sich und ging unglücklich davon, und er starrte auf
die Reihe der Reiter. Schon bereiteten die Scharen den Aufbruch vor: die
Männer zogen ihre Sattelgurte fest, richteten die Sättel, streichelten ihre
Pferde; einige blickten beunruhigt auf den finster drohenden Himmel.
Unbemerkt von den anderen kam ein Reiter heran und sprach dem Hobbit
leise ins Ohr:
»Wo der Wille nicht fehlt, öffnet sich ein Weg, heißt es bei uns«,
flü-
sterte er, »und das habe ich selbst erfahren.« Merry schaute auf und sah,
daß es der junge Reiter war, den er am Morgen bemerkt hatte. »Du willst
dort hingehen, wo der Herr der Mark hingeht: ich sehe es an deinem Ge-
sicht.«
»Ja«, sagte Merry.
»Dann sollst du mit mir gehen«, sagte der Reiter. »Ich werde dich vor
mich setzen, unter meinem Mantel verborgen, bis wir weit fort sind und
diese Dunkelheit noch dunkler ist. Solch guter Wille sollte nicht zurück-
gewiesen werden. Sage nichts mehr zu irgend jemandem, sondern
komm!«
»Ich danke Euch wirklich sehr«, sagte Merry. »Vielen Dank Herr, ob-
wohl ich Euren Namen nicht weiß.«
»Den weißt du nicht?« sagte der Reiter leise. »Dann nenne mich Dern-
helm.«
So geschah es, daß Meriadoc der Hobbit vor Dernhelm saß, als der
König aufbrach; und dem großen grauen Roß Windfola machte die Last
wenig aus; denn Dernhelm war leichter als viele Männer, obschon gelen-
kig und kräftig gebaut.
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