ZWEITES KAPITEL
DER WEG DER GRAUEN SCHAR

Gandalf war fort, und das Stampfen von Schattenfells Hufen verlor
sich in der Nacht, als Merry zu Aragorn zurückkam. Er hatte nur ein
leichtes Bündel, denn seinen Rucksack hatte er in Parth Galen verloren,
und alles, was er besaß, waren ein paar nützliche Dinge, die er in den
Trümmern von Isengart aufgelesen hatte. Hasufel war schon gesattelt.
Legolas und Gimli standen mit ihrem Pferd daneben.
»Vier von unserer Gemeinschaft sind also noch da«, sagte Aragorn.
»Wir werden zusammen reiten. Aber wir werden nicht allein gehen, wie
ich glaubte. Der König ist jetzt entschlossen, sofort aufzubrechen. Seit der
geflügelte Schatten gekommen ist, ist es sein Wunsch, im Schutz der
Nacht in die Berge zurückzukehren.«
»Und wohin dann?« fragte Legolas.
»Das kann ich noch nicht sagen«, antwortete Aragorn. »Was den
König betrifft, so wird er zur Heerschau reiten, die er für die vierte
Nacht, von heute an gerechnet, befohlen hat. Und dort, glaube ich, wird
er Nachrichten über den Krieg erhalten, und die Reiter von Rohan werden
nach Minas Tirith gehen. Doch ohne mich und jeden, der mit mir gehen
will.«
»Ich, zum Beispiel«, rief Legolas. »Und Gimli mit ihm«, sagte der
Zwerg.
»Nun, was mich betrifft«, sagte Aragorn, »so ist es dunkel vor mir.
Ich muß auch nach Minas Tirith gehen, aber ich sehe den Weg noch
nicht. Eine lange vorbereitete Stunde rückt heran.
»Laßt mich nicht zurück!« sagte Merry. »Ich bin nicht viel nütze gewe-
sen bisher; aber ich will nicht beiseite gelegt werden wie Gepäck, das ab-
geholt wird, wenn alles vorbei ist. Ich glaube nicht, daß die Reiter sich
jetzt mit mir belasten wollen. Obgleich der König allerdings gesagt hat,
ich solle bei ihm sitzen, wenn er wieder in sein Haus kommt, und ihm
alles vom Auenland erzählen.«
»Ja«, sagte Aragorn, »und dein Weg soll der seine sein, glaube ich,
Merry. Aber erwarte nicht Fröhlichkeit am Ende. Es wird lange dauern,
fürchte ich, bis Théoden wieder behaglich in Meduseld sitzt. Viele Hoff-
nungen werden in diesem bitteren Frühling zunichte.«
Bald waren alle bereit aufzubrechen: vierundzwanzig Pferde, und Gimli
saß hinter Legolas und Merry vor Aragorn. Dann ritten sie rasch durch
die Nacht. Sie hatten die Hügelgräber noch nicht lange hinter sich gelas-
sen, als ein Reiter von der Nachhut heransprengte.
»Herr«, sagte er zum König, »es sind Reiter hinter uns. Als wir die
Furt durchquerten, glaubte ich sie zu hören. Jetzt sind wir sicher. Sie rei-
ten geschwind und holen uns ein.«
Théoden ließ sofort halten. Die Reiter wendeten ihre Pferde und pack-
ten ihre Speere. Aragorn saß ab, setzte Merry auf den Boden, zog sein
Schwert und stellte sich neben den Steigbügel des Königs. Eomer und sein
Schildknappe ritten zurück zur Nachhut. Merry kam sich mehr denn je
wie unnötiges Gepäck vor, und er fragte sich, wenn es einen Kampf geben
würde, was er tun sollte. Angenommen, das kleine Gefolge des Königs
würde umzingelt und überwältigt, aber er könnte in der Dunkelheit ent-
kommen — allein in den unbewohnten Feldern von Rohan, ohne eine Vor-
stellung zu haben, wo er war in all diesen endlosen Meilen? »Das ist
nicht gut«, dachte er. Er zog das Schwert und schnallte den Gürtel enger.
Der untergehende Mond wurde durch eine große, dahinziehende Wolke
verdunkelt, aber plötzlich trat er wieder klar hervor. Dann hörten sie
Hufgetrappel, und im gleichen Augenblick sahen sie dunkle Gestalten,
die rasch den Pfad von der Furt heraufkamen. Das Mondlicht schimmerte
hier und dort auf den Spitzen ihrer Speere. Wie viele es waren, die sie ver-
folgten, ließ sich nicht feststellen, aber sie schienen an Zahl zumindest
nicht geringer zu sein als das Gefolge des Königs.
Als sie auf etwa fünfzig Schritte herangekommen waren, rief Eomer
mit lauter Stimme: »Halt! Halt! Wer reitet in Rohan?«
Die Verfolger brachten ihre Rösser sofort zum Stehen. Ein Schweigen
folgte; und dann sah man im Mondschein einen Reiter absitzen und lang-
sam vorwärts gehen. Seine Hand leuchtete weiß, als er sie hochhielt, die
Handfläche nach außen, als ein Zeichen des Friedens, doch die Mannen
des Königs packten ihre Waffen. Auf zehn Schritte blieb der Mann ste-
hen. Er war groß, ein dunkler, stiller Schatten. Dann erschallte seine helle
Stimme.
»Rohan? Sagtet Ihr Rohan? Das ist frohe Botschaft. Wir kommen von
weit her und suchen dieses Land in Eile.«
»Ihr habt es gefunden«, sagte Eomer. »Als ihr dort drüben die Furt
überquert, habt ihr es betreten. Doch es ist das Reich des Königs Theo-
den. Niemand reitet hier ohne seine Erlaubnis. Wer seid ihr? Und warum
in Eile?«
»Halbarad Dúnadan, Waldläufer des Nordens, bin ich«, rief der Mann.
»Wir suchen Aragorn, Arathoms Sohn, und hörten, er sei in Rohan.«
»Und ihn habt ihr auch gefunden!« rief Aragorn. Er warf Merry den
Zügel zu, lief dem Neuankömmling entgegen und umarmte ihn. »Hal-
barad!« sagte er. »Von allen Freuden ist das die am wenigsten erwartete!«
Merry stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Er hatte geglaubt, dies
sei eine letzte Arglist von Saruman, um dem König aufzulauern, wenn er
nur wenig Mannen um sich hatte; doch schien es nicht nötig zu sein, bei
Théodens Verteidigung zu sterben, jedenfalls jetzt noch nicht. Er steckte
sein Schwert in die Scheide.
»Alles ist gut«, sagte Aragorn und wandte sich um. »Hier sind einige
meiner eigenen Sippe aus dem fernen Lande, wo ich wohnte. Aber
warum sie kommen und wie viele sie sind, soll Halbarad uns berichten.«
»Ich habe dreißig bei mir«, sagte Halbarad. »Das sind alle von unserer
Sippe, die in Eile zusammengerufen werden konnten; doch die Brüder
Elladan und Elrohir sind mit uns geritten, denn es ist ihr Wunsch, in den
Krieg zu ziehen. Wir ritten so rasch wir konnten, als dein Ruf kam.«
»Aber ich habe euch nicht gerufen«, sagte Aragorn, »außer in Gedan-
ken. Oft habe ich an euch gedacht, und selten mehr als heute nacht; doch
habe ich keine Botschaft gesandt. Doch komm! Alle diese Dinge müssen
warten. Du findest uns auf einem Ritt in Eile und Gefahr. Reite jetzt mit
uns, wenn der König es erlaubt.«
Théoden war freilich froh. »Es ist gut«, sagte er. »Wenn diese Ver-
wandten in irgendeiner Weise Euch ähnlich sind, Herr Aragorn, dann
werden dreißig solcher Recken eine Streitmacht sein, die sich nicht nach
Köpfen zählen läßt.«
Dann machten sich die Reiter wieder auf den Weg, und Aragorn ritt
eine Weile mit den Dúnedain; und nachdem sie über die Neuigkeiten im
Norden und im Süden gesprochen hatten, sagte Elrohir zu ihm:
»Ich bringe dir Botschaft von meinem Vater: Die Tage sind kurz.
Wenn du in Eile bist, gedenke der Pfade der Toten.
«
»Immer schienen mir meine Tage zu kurz zu sein, um meinen Wunsch
zu erfüllen«, antwortete Aragorn. »Doch groß fürwahr wird meine Eile
sein, ehe ich diesen Weg einschlage.«
»Das werden wir bald sehen«, sagte Elrohir. »Aber laßt uns nicht
mehr auf offener Straße von diesen Dingen sprechen.«
Und Aragorn sagte zu Halbarad: »Was ist das, was du trägst, Vetter?«
Denn er sah, daß Halbarad statt eines Speers einen langen Stab trug,
gleichsam ein Banner, aber es war fest aufgerollt in einem schwarzen Tuch
und wurde mit vielen Riemen zusammengehalten.
»Es ist ein Geschenk, das ich dir von der Herrin von Bruchtal bringe«,
antwortete Halbarad. »Sie hat es heimlich gefertigt, und lange dauerte die
Arbeit. Aber auch sie sendet dir Botschaft: »Die Tage sind nun kurz.
Entweder unsere Hoffnung kommt, oder alle Hoffnung endet. Daher
sende ich dir, was ich für dich gemacht habe. Lebe wohl. Elbenstein!
«
Und Aragorn sagte: »Nun weiß ich, was du trägst. Trage es noch eine
Weile für mich!« Und er wandte sich um und blickte weit gen Norden
unter den großen Sternen, und dann schwieg er und sprach nicht mehr,
solange der nächtliche Ritt dauerte.
Die Nacht war weit vorgeschritten und der Osten schon grau, als sie
endlich vom Klammtal heraufritten und wieder zur Hornburg kamen.
Dort sollten sie sich niederlegen und eine kurze Weile ruhen und dann
miteinander beratschlagen.
Merry schlief, bis er von Legolas und Gimli geweckt wurde. »Die
Sonne steht hoch«, sagte Legolas. »Alle anderen sind längst munter.
Komm, Herr Faulpelz, und schau dir die Gegend an, solange du kannst!«
»Hier war eine Schlacht vor drei Nächten«, sagte Gimli, »und hier
haben Legolas und ich ein Spiel gespielt, das ich um nur einen einzigen
Ork gewonnen habe. Komm und sieh dir an, wie es war. Und hier gibt es
Höhlen, Merry, die ein Wunder sind. Wollen wir sie aufsuchen, Legolas,
was meinst du?«
»Nein, dazu ist keine Zeit«, sagte der Elb. »Verdirb das Wunder nicht
durch Eile. Ich habe dir mein Wort gegeben, daß ich mit dir hierher
zurückkomme, wenn es wieder Tage des Friedens und der Freiheit gibt.
Doch jetzt ist es bald Mittag, und zu dieser Stunde essen wir und brechen
dann wieder auf, wie ich höre.«
Merry erhob sich und gähnte. Die paar Stunden Schlaf waren nicht an-
nähernd genug für ihn gewesen; er war müde und ziemlich niedergeschla-
gen. Pippin fehlte ihm, und er hatte das Gefühl, er sei nur eine Bürde,
während alle anderen Pläne schmiedeten für den Erfolg einer Angelegen-
heit, die er nicht ganz verstand. »Wo ist Aragorn?« fragte er.
»In einem hohen Gemach in der Burg«, sagte Legolas. »Er hat nicht ge-
ruht und nicht geschlafen, glaube ich. Vor einigen Stunden ist er dort
hinaufgegangen und hat gesagt, er müsse nachdenken, und nur sein Vet-
ter Halbarad ging mit ihm; aber irgendein dunkler Zweifel oder eine
Sorge bedrückt ihn.«
»Das ist eine seltsame Gesellschaft, diese Neuankömmlinge«, sagte
Gimli. »Tapfere und edle Männer sind es, und die Reiter von Rohan sehen
fast wie Knaben neben ihnen aus; denn die meisten haben grimmige Ge-
sichter, zerfurcht wie verwitterter Fels, wie Aragorn auch; und sie sind
schweigsam.«
»Aber ebenso wie Aragorn sind sie höflich, wenn sie ihr Schweigen
brechen«, sagte Legolas. »Und habt ihr die Brüder Elladan und Elrohir be-
merkt? Weniger düster als die der anderen ist ihre Kleidung, und sie sind
schön und stattlich wie Elbenfürsten; und das ist nicht verwunderlich bei
den Söhnen von Elrond aus Bruchtal.«
»Warum sind sie gekommen? Habt ihr darüber etwas gehört?« fragte
Merry. Er war jetzt angezogen und warf sich den grauen Mantel um die
Schulter; und die drei gingen zusammen hinaus und hinüber zu dem zer-
störten Tor der Burg.
»Sie folgten einem Ruf«, wie du gehört hast«, sagte Gimli. »Botschaft
kam nach Bruchtal, sagen sie: Aragorn braucht seine Sippe. Laßt die
Dúnedain zu ihm nach Rohan reiten!
Aber woher die Nachricht kam, dar-
über sind sie jetzt im Zweifel. Gandalf schickte sie, möchte ich annehmen.«
»Nein, Galadriel«, sagte Legolas. »Hat sie nicht durch Gandalf von
dem Ritt der Grauen Schar vom Norden gesprochen?«
»Ja, du hast recht«, sagte Gimli. »Die Herrin des Waldes! Sie liest in
vielen Herzen und errät die Wünsche. Warum haben wir uns nicht einige
von unserer Sippe gewünscht, Legolas ?«
Legolas stand vor dem Tor und ließ seine strahlenden Augen nach Nor-
den und Osten schweifen, und sein schönes Gesicht war bekümmert. »Ich
glaube nicht, daß welche kommen würden«, antwortete er. »Sie brauchen
nicht in den Krieg zu reiten; der Krieg rückt schon in ihre Länder ein.«
Eine Weile wanderten die drei Gefährten umher, sprachen von dieser
oder jener Wendung der Schlacht, gingen von dem geborstenen Tor aus
hinunter, vorbei an den Hügelgräbern der Gefallenen, bis sie an Helms
Deich standen und in die Klamm schauten. Die Todeshöhe war schon da,
schwarz und hoch und steinig, und man konnte deutlich sehen, wo die
Huorns das Gras niedergetreten und braun getrampelt hatten. Die Dun-
länder und viele Männer von der Besatzung der Burg waren am Deich
oder auf den Feldern und den beschädigten Mauern dahinter an der
Arbeit; doch alles schien seltsam still: ein erschöpftes Tal, das nach
einem schweren Sturm ausruht. Bald kehrten sie um und gingen zur Mit-
tagsmahlzeit in die Halle der Burg.
Der König war schon da, und sobald sie eintraten, rief er nach Merry
und ließ einen Stuhl für ihn an seine Seite stellen.
»Es ist nicht so, wie ich es gern hätte«, sagte Théoden, »denn dies hat
wenig Ähnlichkeit mit meinem schönen Haus in Edoras. Und dein Freund
ist fort, der auch hätte hier sein sollen. Aber es mag lange währen, ehe
wir, du und ich, an der hohen Tafel in Meduseld sitzen; auch wird es
nicht die Zeit für Festmähler sein, wenn ich dorthin zurückkehre. Doch
komm nun! Iß und trink und laß uns miteinander reden, solange wir kön-
nen. Und dann sollst du mit mir reiten.«
»Darf ich?« fragte Merry, überrascht und erfreut. »Das wäre herr-
lich!« Niemals war er dankbarer gewesen für freundliche Worte. »Ich
fürchte, ich bin jedermann im Wege«, stammelte er. »Aber ich würde
gern alles tun, was ich kann.«
»Daran zweifle ich nicht«, sagte der König. »Ich habe ein gutes Berg-
pony für dich fertigmachen lassen. Es wird dich auf den Straßen, die wir
einschlagen werden, so rasch davontragen wie jedes Pferd. Denn ich will
von der Burg auf Bergpfaden reiten, nicht in der Ebene, und so über Dun-
harg, wo Frau Éowyn mich erwartet, nach Edoras kommen. Du sollst
mein Knappe sein, wenn du willst. Gibt es hier Kriegsausrüstung, Éomer,
die mein Schwert-Than brauchen könnte?«
»Wir haben hier keine große Waffenkammer, Herr«, antwortete Éomer.
»Vielleicht könnte ein leichter Helm gefunden werden, der ihm paßt; aber
wir haben keinen Panzer und kein Schwert für einen von seiner Größe.«
»Ein Schwert habe ich« sagte Merry, kletterte von seinem Stuhl herun-
ter und zog aus der schwarzen Scheide seine kleine glänzende Klinge.
Plötzlich war er von Liebe zu diesem alten Mann erfüllt, er ließ sich auf
ein Knie nieder und nahm des Königs Hand und küßte sie. »Darf ich das
Schwert von Meriadoc aus dem Auenland auf Euren Schoß legen, König
Théoden?« rief er. »Empfangt meine Dienste, wenn Ihr wollt!«
»Gerne nehme ich sie an«, sagte der König; er legte seine langen, alten
Hände auf das braune Haar des Hobbits und weihte ihn. »Stehe nun auf,
Meriadoc, Knappe von Rohan aus der Gefolgschaft von Meduseld!« sagte
er. »Nimm dein Schwert und trage es zu gutem Gelingen!«
»Wie ein Vater sollt Ihr für mich sein«, sagte Merry.
»Für eine kleine Weile«, sagte Théoden.
Sie unterhielten sich, während sie aßen, bis Éomer plötzlich sprach. »Es
ist nahe der Stunde, die wir für unseren Aufbruch festgesetzt haben,
Herr«, sagte er. »Sollen wir den Mannen befehlen, die Hörner zu blasen?
Aber wo ist Aragorn? Sein Platz ist leer, und er hat nicht gegessen.«
»Wir werden uns fertigmachen zum Reiten«, sagte Théoden, »aber laß
Herrn Aragorn ausrichten, daß die Stunde nahe ist.«
Der König und seine Leibwache und Merry an seiner Seite gingen vom
Tor der Burg hinunter zu dem Rasen, wo sich die Reiter gesammelt hat-
ten. Viele waren schon aufgesessen. Es würde eine große Schar sein, denn
der König ließ nur eine kleine Besatzung in der Burg zurück, und alle, die
entbehrt werden konnten, ritten zum Waffenempfang nach Edoras. Tau-
send Speerträger waren schon in der Nacht vorausgeritten, doch waren es
noch einige fünfhundert, die den König begleiteten, zum größten Teil
Männer von den Feldern und Tälern von Westfold.
Etwas abseits saßen die Waldläufer in einer wohlgeordneten Gruppe,
bewaffnet mit Speer und Bogen und Schwert. Sie waren in Mäntel von
dunklem Grau gekleidet, und ihre Kapuzen waren jetzt herabgezogen über
Helm und Kopf. Ihre Pferde waren kräftig und von stolzer Haltung, doch
struppig; und eins stand da ohne Reiter, Aragorns eigenes Pferd, das sie
aus dem Norden mitgebracht hatten; Roheryn war sein Name. Weder
Edelstein noch Gold oder irgendein Schmuck schimmerte an ihrem Ge-
schirr und Zaumzeug; auch trugen ihre Reiter keinerlei Wahrzeichen oder
Wappen, abgesehen von einer silbernen Brosche in der Form eines strah-
lenförmigen Sterns, mit der jeder Mantel auf der linken Schulter befestigt
war.
Der König bestieg sein Roß Schneemähne, und Merry saß neben ihm
auf seinem Pony: Stybba hieß es. Plötzlich kam Eomer aus dem Tor, und
Aragorn. war bei ihm und Halbarad, der den großen, fest zusammenge-
rollten Stab in Schwarz trug, und zwei hochgewachsene Männer, weder
jung noch alt. So ähnlich waren sie einander, die Söhne von Elrond, daß
wenige sie auseinanderhalten konnten: dunkelhaarig, grauäugig, und ihre
Gesichter waren eibenschön, und beide trugen gleiche schimmernde Pan-
zerhemden unter silbergrauen Mänteln. Hinter ihnen gingen Legolas und
Gimli. Aber Merry hatte nur Augen für Aragorn, so auffällig war die
Veränderung, der er an ihm bemerkte, als ob in einer Nacht viele Jahre
über ihn gekommen seien. Düster war sein Gesicht, grau und müde.
»Ich bin sehr beunruhigt, Herr«, sagte er, als er neben dem Pferd des
Königs stand. »Seltsame Worte habe ich gehört und sehe neue Gefahren
in weiter Ferne. Ich habe lange angestrengt nachgedacht, und jetzt fürchte
ich, daß ich meinen Entschluß ändern muß. Sagt mir, Théoden, Ihr reitet
jetzt nach Dunharg, wie lange wird es dauern, bis Ihr dorthin kommt?«
»Es ist jetzt eine volle Stunde nach dem Mittag«, sagte Éomer. »Vor
der Nacht des dritten Tages sollten wir die Feste erreichen. Es wird dann
eine Nacht nach dem Vollmond sein, und die Heerschau, die der König
befohlen hat, wird am Tag danach abgehalten. Schneller können wir es
nicht machen, wenn die Streitmacht von Rohan gesammelt werden soll.«
Aragorn schwieg einen Augenblick. »Drei Tage«, murmelte er, »und
dann wird die Heerschau erst beginnen. Aber ich sehe ein, daß es jetzt
nicht beschleunigt werden kann.« Er blickte auf, und es schien, als habe
er eine Entscheidung getroffen; sein Gesicht war weniger bekümmert.
»Dann muß ich mit Eurer Erlaubnis, Herr, für mich und meine Sippe
einen neuen Entschluß fassen. Wir müssen auf unserem eigenen Weg rei-
ten, und nicht länger verborgen. Für mich ist die Zeit der Heimlichkeit
vorbei. Ich will auf dem schnellsten Weg nach Osten reiten, auf den Pfa-
den der Toten.«
»Die Pfade der Toten!« sagte Théoden und zitterte. »Warum sprecht
Ihr von ihnen?« Eomer wandte sich um und starrte Aragorn an, und
Merry schien es, daß die Gesichter der Reiter, die in Hörweite saßen, bei
diesen Worten erbleichten. »Wenn es in Wirklichkeit solche Pfade gibt«,
sagte Théoden, »dann ist ihr Tor in Dunharg. Aber kein Lebender darf es
durchschreiten.«
»Wehe, Aragorn, mein Freund«, sagte Eomer. »Ich hatte gehofft, daß
wir zusammen in den Krieg reiten würden; doch wenn Ihr die Pfade der
Toten einschlagt, dann ist unser Abschied gekommen, und es ist wenig
wahrscheinlich, daß wir uns jemals unter der Sonne wiedersehen.«
»Diesen Weg werde ich dennoch nehmen«, sagte Aragorn. »Aber das
sage ich Euch, Eomer, in der Schlacht werden wir uns wiedertreffen, wenn
auch alle Heere von Mordor zwischen uns stehen sollten.«
»Ihr werdet tun, wie Ihr wünscht, Herr Aragorn«, sagte Théoden.
»Vielleicht ist es Euer Schicksal, seltsame Pfade zu beschreiten, auf die
andere sich nicht wagen. Dieser Abschied betrübt mich, und meine
Stärke wird dadurch verringert; doch nun muß ich die Gebirgswege ein-
schlagen und darf nicht länger säumen. Lebt wohl!«
»Lebt wohl, Herr«, sagte Aragorn. »Reitet großem Ruhm entgegen!
Leb wohl, Merry! Ich lasse dich in guten Händen zurück, in besseren, als
wir hoffen konnten, als wir die Orks bis Fangorn jagten. Legolas und
Gimli werden noch weiter mit mir jagen, hoffe ich; aber dich werden wir
nicht vergessen.«
»Auf Wiedersehen«, sagte Merry. Er fand weiter nichts zu sagen. Er
kam sich sehr klein vor und war verwirrt und bedrückt von all diesen
düsteren Worten. Mehr denn je fehlte ihm Pippin mit seiner unerschütter-
lichen Fröhlichkeit. Die Reiter waren bereit, und ihre Pferde waren unru-
hig. Er wünschte, sie würden aufbrechen und es hinter sich bringen.
Nun sprach Théoden zu Eomer, und er hob die Hand und rief laut, und
auf dieses Wort hin brachen die Reiter auf. Sie ritten über den Deich und
in die Klamm hinunter, dann wandten sie sich rasch nach Osten und nah-
men den Pfad, der sich auf etwa eine Meile an den Vorbergen entlangzog,
bis er nach Süden abbog, wieder in die Berge hineinführte und dem Blick
entschwand. Aragorn ritt zum Deich und schaute hinab, bis die Mannen
des Königs weit unten in der Klamm waren. Dann wandte er sich zu
Halbarad.
»Dort reiten drei, die ich liebe, und den kleinsten nicht am wenigsten«,
sagte er. »Er weiß nicht, welchem Ziel er entgegenreitet; doch wenn er es
wüßte, er würde dennoch gehen.«
»Ein kleines Volk, doch von großem Wert sind die Auenländer«, sagte
Halbarad. »Wenig wissen sie von unseren langen Mühen, um ihre Gren-
zen zu schützen, und doch reut es mich nicht.«
»Und nun sind unsere Schicksale miteinander verflochten«, sagte Ara-
gorn. »Und dennoch müssen wir uns nun leider trennen. Ja, ich sollte eine
Kleinigkeit essen, und dann müssen auch wir forteilen. Kommt, Legolas
und Gimli, ich muß mit euch reden, während ich esse.«
Zusammen gingen sie zurück zur Burg, doch eine Zeitlang saß Ara-
gom schweigend am Tisch in der Halle, und die anderen warteten, daß er
spreche. »Komm«, sagte Legolas schließlich. »Sprich und sei getröstet und
schüttle den Schatten ab! Was ist geschehen, seit wir im Morgengrauen
zu diesem schrecklichen Ort zurückkamen?«
»Ein Kampf, der für mein Teil etwas schrecklicher war als die Schlacht
der Hornburg«, antwortete Aragorn. »Ich habe in den Stein von Or-
thanc geblickt, meine Freunde.«
»Du hast in diesen verfluchten Zauberstein geblickt!« rief Gimli, und
Furcht und Staunen malten sich auf seinem Gesicht. »Hast du etwas ge-
sagt zu — ihm? Selbst Gandalf fürchtete diese Begegnung.«
»Du vergißt, mit wem du sprichst«, sagte Aragorn streng, und seine
Augen blitzten. »Habe ich nicht vor den Toren von Edoras meinen An-
spruch offen erklärt? Was, fürchtest du, hätte ich ihm sagen sollen? Nein,
Gimli«, fügte er mit sanfterer Stimme hinzu, und die Härte wich von sei-
nem Gesicht und er sah aus wie einer, der sich seit vielen Nächten in
schlafloser Pein gequält hat. »Nein, meine Freunde, ich bin der rechtmä-
ßige Herr des Steins, und ich habe das Recht und auch die Kraft, ihn zu
gebrauchen, so beurteilte ich es jedenfalls. Das Recht kann nicht bezwei-
felt werden. Die Kraft reichte — knapp.«
Er holte tief Luft. »Es war ein erbitterter Kampf, und die Erschöpfung
vergeht nur langsam. Ich sprach kein Wort mit ihm, und zum Schluß un-
terwarf ich den Stein meinem Willen. Allein das wird ihm schwer erträg-
lich sein. Und er erblickte mich. Ja, Herr Gimli, er sah mich, aber in ande-
rer Gestalt, als ihr mich hier seht. Wenn ihm das nützt, dann habe ich
Schlimmes getan. Aber ich glaube es nicht. Zu erfahren, daß ich lebe und
auf der Erde wandele, war ein Schlag für sein Herz, schätze ich; denn er
wußte es bis jetzt nicht. Die Augen in Orthanc durchschauten Théodens
Rüstung nicht; aber Sauron hat Isildur und Elendils Schwert nicht verges-
sen. Jetzt, in eben der Stunde seiner großen Pläne werden Isildurs Erbe
und das Schwert sichtbar; denn ich zeigte ihm die neu geschmiedete
Klinge. So mächtig ist er noch nicht, daß er über Angst erhaben wäre.
Nein, Zweifel nagt nun an ihm.«
»Aber nichtsdestoweniger besitzt er große Gewalt«, sagte Gimli, »und
jetzt wird er rascher zuschlagen.«
»Der hastige Streich geht oft fehl«, sagte Aragorn. »Wir müssen unse-
ren Feind bedrängen und dürfen nicht länger darauf warten, daß er zu-
schlägt. Schaut, meine Freunde, als ich den Stein bezwang, habe ich vie-
lerlei erfahren. Eine ernste Gefahr sah ich unerwartet von Süden über
Gondor kommen, die starke Kräfte von Minas Tiriths Verteidigung abzie-
hen wird. Wenn nicht rasch ein Gegenschlag geführt wird, schätze ich,
daß die Stadt verloren sein wird, ehe zehn Tage vergangen sind.«
»Dann muß sie eben verloren werden-«, sagte Gimli. »Denn welche
Hilfe könnten wir dort hinschicken, und wie könnte sie zeitig kommen?«
»Ich kann keine Hilfe schicken, deshalb muß ich selbst gehen«, sagte
Aragorn. »Aber es gibt nur einen Weg durch das Gebirge, das mich zu
den Küstenländern bringt, ehe alles verloren ist. Das sind die Pfade der
Toten.«
»Die Pfade der Toten!« sagte Gimli. »Es ist ein unheimlicher Name;
und wenig nach dem Geschmack der Menschen von Rohan, wie ich gese-
hen habe. Können Lebende einen solchen Weg benutzen, ohne zugrunde
zu gehen? Und selbst wenn du diesen Weg beschreitest, was können so
wenige ausrichten, um Mörders Schläge abzuwehren?«
»Die Lebenden haben diesen Weg niemals benutzt, seit die Rohirrim
gekommen sind«, sagte Aragorn, »denn er ist ihnen verschlossen. Aber
in dieser dunklen Stunde kann Isildurs Erbe ihn benutzen, wenn er es
wagt. Hört zu! Das ist die Botschaft, die mir Elronds Söhne bringen von
ihrem Vater in Bruchtal, dem Kundigsten in der alten Überlieferung: Sagt
Aragorn, er solle der Worte des Sehers gedenken und der Pfade der
Toten.

»Und wie mögen die Worte des Sehers gelautet haben?« fragte Legolas.
»Also sprach Malbeth der Seher in den Tagen Arveduis, des letzten
Königs in Fornost«, sagte Aragorn:

Über dem Land liegt lang der Schatten,
Flügel der Finsternis strecken sich westwärts.
Der Turm bebt; den Königsgrüften
Naht das Gericht. Die Toten erwachen,
Am Stein von Erech stehen sie wieder,
Denn die Stunde ist da der Wortbrüchigen:

Und hören das Horn in den Bergen hallen.
Wessen Horn? Wer wird sie rufen,
Das vergessene Volk aus grauem Zwielicht?
Der Erbe des Mannes, dem einst sie schworen.
Von Norden naht er, Not treibt ihn:

Das Tor zum Pfad der Toten wird er durchschreiten.

»Dunkle Wege, zweifellos«, sagte Gimli, »aber nicht dunkler, als diese
Verse für mich sind.«
»Wenn du sie besser verstündest, würde ich dich bitten, mit mir zu
kommen«, sagte Aragorn. »Denn diesen Weg werde ich nehmen. Doch
gehe ich ihn nicht gern; nur die Not treibt mich. Daher möchte ich, daß
ihr nur mitkommt, wenn es euer freier Wille ist, denn Mühsal erwartet
euch und große Angst und vielleicht Schlimmeres.«
»Ich werde mit dir gehen, selbst auf den Pfaden der Toten, wo immer
sie auch hinführen«, sagte Gimli.
»Ich werde auch mitkommen«, sagte Legolas, »denn ich fürchte die
Toten nicht.«
»Ich hoffe, daß das vergessene Volk nicht vergessen haben wird, wie
man kämpft«, sagte Gimli, »denn sonst sehe ich nicht ein, warum wir sie
stören sollten.«
»Das werden wir wissen, wenn wir je nach Erech kommen«, sagte
Aragorn. »Da sie mit dem Eid, den sie gebrochen haben, geschworen hat-
ten, gegen Sauron zu kämpfen, müssen sie jetzt kämpfen, wenn sie ihn
erfüllen wollen. Denn in Erech steht noch ein schwarzer Stein, den Isil-
dur, wie es heißt, aus Númenor gebracht hat; und er wurde auf einem
Berg aufgestellt, und bei diesem Stein hat der König des Gebirges ihm
Lehnstreue geschworen, als das Reich Gondor begann. Doch als Sauron
zurückkehrte und seine Macht wieder wuchs, forderte Isildur die Men-
schen des Gebirges auf, ihren Eid zu erfüllen, und sie taten es nicht: denn
in den Dunklen Jahren hatten sie Sauron gehuldigt.
Damals sagte Isildur zu ihrem König: >Du sollst der letzte König sein.
Und wenn sich der Westen mächtiger erweist als dein Schwarzer Gebie-
ter, dann lege ich diesen Fluch auf dich und dein Volk: niemals Ruhe zu
finden, bis dein Eid erfüllt ist. Denn dieser Krieg wird unzählige Jahre
dauern, und noch einmal wirst du gerufen werden, ehe das Ende
kommt.< Und sie flohen vor Isildurs Zorn und wagten nicht, auf Saurons
Seite in den Krieg zu ziehen; und sie verbargen sich an geheimen Orten
im Gebirge und hatten keinen Umgang mit anderen Menschen, sondern
siechten langsam dahin in den kahlen Bergen. Und der Schrecken der
Schlaflosen Toten liegt über dem Berg Erech und allen Orten, wo dieses
Volk noch weilt. Aber diesen Weg muß ich gehen, da keine Lebenden da
sind, um mir zu helfen.«
Er stand auf. »Kommt!« rief er und zog sein Schwert, und es blitzte in
der dämmerigen Halle der Burg. »Auf zum Stein von Erech! Ich suche
die Pfade der Toten. Komme mit mir, wer will!«
Legolas und Gimli antworteten nicht, aber sie standen auf und folgten
Aragorn, als er die Halle verließ. Auf dem Rasen warteten, still und
schweigend, die Waldläufer, verhüllt unter ihren Kapuzen. Legolas und
Gimli saßen auf. Aragorn sprang auf Roheryn. Dann hob Halbarad ein
großes Horn, und sein Schmettern hallte in Helms Klamm wider; und
damit preschten sie davon, und wie ein Donnern ritten sie das Tal hinab,
und alle Männer, die noch auf dem Deich oder der Burg zurückgeblieben
waren, starrten voll Staunen.
Und während Théoden auf langsamen Pfaden durch die Berge zog, ritt
die Graue Schar geschwind über die Ebene, und am Nachmittag des näch-
sten Tages kamen sie nach Edoras; dort hielten sie nur kurz an, ehe sie
den Weg das Tal hinauf einschlugen, und so kamen sie, als die Dunkel-
heit hereinbrach, nach Dunharg.
Frau Éowyn begrüßte sie und freute sich über ihr Kommen; denn nie
hatte sie solche Recken gesehen wie die Dúnedain und Elronds schöne
Söhne; aber auf Aragorn ruhten ihre Augen vor allem. Und als die
Männer mit ihr beim Abendessen saßen, sprachen sie miteinander, und
sie hörte alles, was geschehen war, seit Théoden fortgeritten war, worüber
sie bisher nur flüchtige Nachrichten erhalten hatte; und als sie von der
Schlacht in Helms Klamm hörte und dem großen Gemetzel unter ihren
Feinden und von Théodens und seiner Ritter Angriff, da glänzten ihre
Augen.
Doch schließlich sagte sie: »Ihr Herren seid müde und sollt nun zu Bett
gehen mit so viel Behaglichkeit, als sich in der Eile schaffen läßt. Doch
morgen sollen schönere Unterkünfte für euch gefunden werden.«
Aber Aragorn sagte: »Nein, Herrin, bemüht Euch nicht für uns!
Wenn wir hier heute nacht schlafen und morgen frühstücken dürfen,
dann wird das genug sein. Denn ich habe einen höchst dringenden Auf-
trag, und mit dem ersten Tageslicht müssen wir reiten.«
Sie lächelte ihn an und sagte: »Dann war es sehr freundlich, Herr, daß
Ihr so viele Meilen abseits Eures Weges geritten seid, um Éowyn Bot-
schaft zu bringen und mit ihr in ihrer Verbannung zu sprechen.«
»Wahrlich, kein Mann würde eine solche Fahrt als verschwendet anse-
hen«, sagte Aragorn. »Und dennoch hätte ich nicht hierher kommen
können, Herrin, wenn mich nicht der Weg, den ich nehmen muß, nach
Dunharg geführt hätte.«
Und sie antwortete wie eine, der nicht gefällt, was gesagt wurde:
»Dann, Herr, seid Ihr fehlgegangen; denn aus dem Hargtal führte keine
Straße nach Osten oder Süden; und Ihr reitet besser den Weg zurück, den
Ihr gekommen seid.«
»Nein, Herrin«, sagte er, »ich bin nicht fehlgegangen; denn ich bin in
diesem Lande gewandert, ehe Ihr geboren wurdet, um es zu zieren. Es gibt
eine Straße, die aus diesem Tal herausführt, und diese Straße werde ich
nehmen. Morgen werde ich auf den Pfaden der Toten reiten.«
Dann starrte sie ihn an wie eine, die von Furcht ergriffen ist, und ihr
Gesicht erbleichte, und lange sprach sie nicht mehr, während alle schwei-
gend dasaßen. »Aber, Aragorn«, sagte sie schließlich, »ist es denn Euer
Auftrag, den Tod zu suchen? Denn das ist alles, was Ihr auf diesem
Wege finden werdet. Sie dulden es nicht, daß die Lebenden dort gehen.«
»Vielleicht werden sie es dulden, daß ich dort gehe«, sagte Aragorn.
»Aber zumindest will ich es wagen. Keine andere Straße nützt mir.«
»Aber das ist Wahnsinn«, sagte sie. »Denn hier sind ruhmreiche und
heldenhafte Männer, die Ihr nicht in die Schatten, sondern in den Krieg
führen solltet, wo Männer gebraucht werden. Ich bitte Euch, hierzublei-
ben und mit meinem Bruder zu reiten; denn dann werden unser aller Her-
zen froh und unsere Hoffnung größer sein.«
»Es ist nicht Wahnsinn, Herrin«, antwortete er. »Denn ich gehe einen
Weg, der mir bestimmt ist. Doch jene, die mir folgen, tun es aus freiem
Willen; und wenn es jetzt ihr Wunsch ist, hierzubleiben und mit den
Rohirrim zu reiten, dann mögen sie es tun. Doch ich werde die Pfade der
Toten einschlagen, allein, wenn es sein muß.«
Dann sprachen sie nicht mehr und aßen schweigend; doch Éowyns
Augen ruhten immer auf Aragorn, und die anderen sahen, daß sie große
Seelenqualen litt. Schließlich erhoben sie sich und verabschiedeten sich
von der Herrin und dankten ihr für ihre Fürsorge und gingen zur Ruhe.
Doch als Aragorn zu der Hütte kam, in der er mit Legolas und Gimli
nächtigen sollte, und als seine Gefährten hineingegangen waren, kam
Frau Éowyn hinter ihm her und rief ihn. Er wandte sich um und sah sie
wie einen Schimmer in der Nacht, denn sie war in Weiß gekleidet; doch
ihre Augen glühten.
»Aragorn«, sagte sie, »warum wollt Ihr auf dieser todbringenden
Straße gehen?«
»Weil ich muß«, sagte er. »Nur so kann ich hoffen, das Meinige in dem
Krieg gegen Sauron zu tun. Ich wähle nicht freiwillig Pfade der Gefahr,
Éowyn. Könnte ich dorthin gehen, wo mein Herz weilt, fern im Norden,
dann würde ich jetzt in dem schönen Tal von Bruchtal wandern.«
Eine Weile schwieg sie still, als überlege sie, was das bedeuten könne.
Dann plötzlich legte sie ihm die Hand auf den Arm. »Ihr seid ein ge-
strenger Herr und entschlossen«, sagte sie, »und so gewinnen Männer
Ruhm.« Sie hielt inne. »Herr«, sagte sie, »wenn Ihr gehen müßt, dann
laßt mich in Eurem Gefolge mitreiten. Denn ich bin es leid, mich in den
Bergen zu verstecken, Gefahr und Kampf will ich ins Auge sehen.«
»Eure Pflicht liegt bei Eurem Volk«, antwortete er.
»Zu oft habe ich von Pflicht gehört«, rief sie. »Aber bin ich nicht aus
Eorls Haus, eine Schildmaid und keine Kinderfrau? Lange genug habe ich
strauchelnden Füßen aufgewartet. Darf ich nicht jetzt, da es scheint, daß
sie nicht mehr straucheln, mein Leben so verbringen, wie ich es will?«
»Wenige dürfen das in Ehren tun«, antwortete er. »Doch was Euch be-
trifft, Herrin: habt Ihr nicht die Aufgabe übernommen, das Volk zu füh-
ren, bis sein Herr zurückkehrt? Wäret Ihr nicht dazu auserwählt worden,
dann wäre irgendein Marschall oder Hauptmann auf denselben Platz ge-
stellt worden, und auch er könnte nicht von seiner Aufgabe wegreiten,
ob er sie leid ist oder nicht.«
»Soll ich immer erwählt werden?« sagte sie bitter. »Soll ich immer zu-
rückgelassen werden, wenn die Reiter aufbrechen, und mich um das Haus
kümmern, während sie Ruhm finden, und für Nahrung und Betten sor-
gen, wenn sie zurückkehren?«
»Bald mag eine Zeit kommen«, sagte er, »da keiner zurückkehrt; dann
wird Heldenmut ohne Ruhm nötig sein, denn niemand wird sich der
Taten erinnern, die bei der letzten Verteidigung Eurer Heimstätten voll-
bracht werden. Doch werden die Taten nicht weniger heldenhaft sein, nur
weil sie nicht gerühmt werden.«
Und sie antwortete: »Alle Eure Worte sollen lediglich besagen: du bist
eine Frau, und dein Teil ist das Haus. Aber wenn die Männer in Kampf
und Ehre gefallen sind, dann darfst du im Haus verbrannt werden, denn
die Männer brauchen es nicht mehr. Doch ich bin aus Eorls Haus und
keine Dienerin. Ich kann reiten und die Klinge führen, und ich fürchte
weder Schmerz noch Tod.«
»Was fürchtet Ihr, Herrin?« fragte er.
»Einen Käfig«, sagte sie. »Hinter Gittern zu bleiben, bis Gewohnheit
und hohes Alter sich damit abfinden und alle Aussichten, große Taten
zu vollbringen, unwiderruflich dahin sind und auch gar nicht mehr er-
sehnt werden.«
»Und dennoch rietet Ihr mir, mich nicht auf die Straße zu wagen, die
ich gewählt habe, weil sie gefährlich sei?«
»So mag einer dem anderen raten«, sagte sie. »Dennoch bitte ich Euch
nicht, vor der Gefahr zu fliehen, sondern in die Schlacht zu reiten, wo
Euer Schwert Ruhm und Sieg erringen mag. Ich möchte nicht sehen, daß
etwas, das edel und vortrefflich ist, unnütz verschwendet wird.«
»Das möchte ich auch nicht«, sagte er. »Deshalb sage ich zu Euch, Her-
rin: Bleibt! Denn Ihr habt keinen Auftrag im Süden.«
»Den haben auch jene nicht, die mit dir gehen. Sie gehen nur, weil sie
sich nicht von dir trennen wollen — weil sie dich lieben.« Dann wandte
sie sich ab und verschwand in der Nacht.
Als das Tageslicht den Himmel erhellte, aber die Sonne noch nicht
über die hohen Grate im Osten gestiegen war, machte Aragorn sich be-
reit zum Aufbruch. Seine Schar war schon aufgesessen, und er wollte
eben in den Sattel springen, als Frau Éowyn kam, um ihnen Lebewohl zu
sagen. Sie war wie ein Reiter gekleidet und mit einem Schwert gegürtet.
In der Hand trug sie einen Becher, und sie setzte ihn an die Lippen und
trank ein wenig und wünschte ihnen guten Erfolg; dann gab sie Aragorn
den Becher, und er trank und sagte: »Lebt wohl, Herrin von Rohan! Ich
trinke auf das Glück Eures Hauses, auf Euer und Eures Volkes Glück. Sagt
Eurem Bruder: jenseits der Schatten mögen wir uns wiedertreffen!«
Dann schien es Gimli und Legolas, die nahebei saßen, daß sie weinte,
und bei einer, die so streng und stolz war, war das um so schmerzlicher.
Aber sie sagte: »Aragorn, willst du gehen?«
»Ja«, sagte er.
»Willst du mich dann nicht mitreiten lassen in dieser Schar, wie ich ge-
beten habe?«
»Das will ich nicht, Herrin«, sagte er. »Denn diese Bitte könnte ich
nicht gewähren ohne die Erlaubnis des Königs und Eures Bruders, und
vor morgen werden sie nicht zurückkehren. Aber ich zähle jetzt jede
Stunde, ja sogar jede Minute. Lebt wohl!«
Dann fiel sie auf die Knie und sagte: »Ich bitte dich.«
»Nein, Herrin«, sagte er, nahm sie bei der Hand und hob sie auf. Dann
küßte er ihr die Hand, sprang in den Sattel und ritt davon und schaute
nicht zurück; und nur diejenigen, die ihn gut kannten und nahe bei ihm
waren, sahen den Schmerz, den er litt.
Doch Éowyn stand still wie eine in Stein gehauene Gestalt, die Hände
an die Seiten gepreßt, und sie schaute ihnen nach, bis sie in den Schatten
unter dem schwarzen Dwimorberg, dem Geisterberg, kamen, in dem das
Tor der Toten ist. Als sie ihrem Blick entschwunden waren, wandte sie
sich um, taumelnd wie ein Blinder, und ging zurück zu ihrer Unterkunft.
Doch keiner von ihrem Volk sah diesen Abschied, denn alle verbargen
sich vor Angst und kamen nicht heraus, ehe es heller Tag und die toll-
kühnen Fremden fort waren.
Und einige sagten: »Es sind elbische Geister. Laßt sie dorthin gehen,
wo sie hingehören, in finstere Gegenden, und niemals zurückkehren. Die
Zeiten sind schlimm genug.«
Das Tageslicht war noch grau, als sie ritten, denn die Sonne war noch
nicht über die schwarzen Grate des Geisterbergs geklommen. Ein Entset-
zen befiel sie, als sie zwischen Reihen alter Steine hindurch zum Dimholt
kamen. Dort unter der Düsternis schwarzer Bäume, die nicht einmal
Legolas lange ertragen konnte, fanden sie eine Senke, die sich zum Fuß
des Berges hin öffnete, und mitten auf ihrem Pfad stand ein einzelner,
mächtiger Stein wie ein Finger des Todes.
»Mir stockt das Blut«, sagte Gimli, aber die anderen schwiegen, und
seine Stimme erstarb auf den feuchten Tannennadeln zu seinen Füßen.
Die Pferde wollten nicht an dem drohenden Stein vorbeigehen, bis die
Reiter absaßen und sie führten. Und so kamen sie endlich tief hinein in
die Schlucht; und dort erhob sich eine jähe Felswand, und in der
Wand gähnte vor ihnen das Dunkle Tor wie der Schlund der Nacht. Zei-
chen und Gestalten waren über seiner breiten Wölbung eingemeißelt, die
zu undeutlich waren, um sie zu deuten, und Schrecken entströmte ihr wie
ein grauer Dunst.
Die Schar hielt an, und es gab kein Herz unter ihnen, das nicht erzit-
terte, es sei denn das Herz von Legolas dem Elben, für den die Gespenster
der Menschen keinen Schrecken haben.
»Das ist ein übles Tor«, sagte Halbarad, »und mein Tod liegt jenseits
von ihm. Dennoch will ich wagen, es zu durchschreiten; aber kein Pferd
wird hineingehen.«
»Doch wir müssen hineingehen, und deshalb müssen auch die Pferde
gehen«, sagte Aragorn. »Denn wenn wir je durch diese Dunkelheit kom-
men, liegen jenseits viele Meilen, und jede Stunde, die verloren wird, wird
Saurons Sieg näherbringen. Folgt mir!«
Dann ging Aragorn voran, und so groß war die Stärke seines Willens
in dieser Stunde, daß alle Dúnedain und ihre Pferde ihm folgten. Und so
sehr liebten die Pferde der Waldläufer ihre Reiter, daß sie bereit waren,
selbst dem Schrecken des Tors ins Auge zu sehen, wenn die Herzen ihrer
Herren, die neben ihnen gingen, standhaft waren. Doch Arod, das Pferd
aus Rohan, verweigerte den Weg, und es stand schwitzend und vor
Angst zitternd da, die schmerzlich anzusehen war. Dann legte ihm Lego-
las die Hände über die Augen und sang ihm einige Worte vor, die ge-
dämpft klangen in der Düsternis, bis es sich führen ließ und mit Legolas
hineinging. Und draußen stand Gimli der Zwerg allein.
Seine Knie schlotterten, und er war auf sich selbst wütend. »Das ist
doch unerhört!« sagte er. »Ein Elb geht unter die Erde, und ein Zwerg
wagt es nicht!« Und damit stürzte er sich hinein. Aber ihm schien, daß
er seine Füße wie Blei über die Schwelle schleppte; und sofort kam eine
Blindheit über ihn, über Gimli, Glóins Sohn, der so manches Mal furcht-
los in den Tiefen der Welt gewandert war.
Aragorn hatte aus Dunharg Fackeln mitgebracht, und jetzt ging er
voran und hielt eine hoch; und Elladan mit einer zweiten beschloß den
Zug, und Gimli, der hinterherstolperte, versuchte, ihn einzuholen. Er
konnte nichts sehen als die düstere Flamme der Fackeln; aber wenn die
Schar anhielt, schien rings um ihn ein endloses Stimmengeflüster zu sein,
ein Murmeln von Wörtern in einer Sprache, die er nie zuvor gehört hatte.
Nichts griff die Schar an oder stellte sich ihnen in den Weg, und den-
noch wurde der Zwerg immer stärker von Angst gepackt: vor allem, weil
er wußte, daß es jetzt kein Zurück gab; auf all den Pfaden hinter ihnen
drängte sich ein unsichtbares Heer, das im Dunkeln folgte.
So verging eine unermeßliche Zeit, bis Gimli einen Anblick hatte, an
den er sich später nur widerwillig erinnerte. Der Weg war breit, soweit er
es beurteilen konnte, aber plötzlich kam die Schar auf einen großen, lee-
ren Platz, und auf beiden Seiten waren keine Felswände mehr. Das Entset-
zen lag so schwer auf ihm, daß er kaum gehen konnte. Fern zur Linken
glitzerte etwas in der Düsternis, als Aragorns Fackel sich näherte. Dann
hielt Aragorn an und ging hin, um zu schauen, was es sein könnte.
»Kennt er keine Furcht?« murmelte der Zwerg. »In jeder anderen Höhle
wäre Gimli, Glóins Sohn, der erste gewesen, der zu einem Schimmer von
Gold rennt. Aber nicht hier! Laß es liegen!«
Dennoch ging auch er näher, und er sah, wie Aragorn niederkniete,
während Elladan beide Fackeln hochhielt. Vor ihm lag das Gerippe eines
mächtigen Mannes. Er hatte eine Rüstung getragen, und noch lag sein
Harnisch unversehrt da; denn die Luft in der Höhle war trocken wie
Staub, und sein Panzer war vergoldet. Sein Gürtel war aus Gold und Gra-
nat, und reich mit Gold verziert war der Helm auf seinem knochigen
Kopf, der mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden lag. Nahe der hin-
teren Wand der Höhle war er gestürzt, wie man jetzt sehen konnte, und
vor ihm erhob sich eine fest geschlossene steinerne Tür: seine Fingerkno-
chen waren noch in die Ritzen verkrallt. Ein schartiges und geborstenes
Schwert lag neben ihm, als ob er in seiner letzten Verzweiflung gegen den
Fels geschlagen habe.
Aragorn rührte ihn nicht an, und nachdem er ihn eine Weile schwei-
gend betrachtet hatte, stand er auf und seufzte. »Hierher werden die Blü-
ten der simbelmynë niemals kommen bis zum Ende der Welt«, murmelte
er. »Neun Hügelgräber und sieben sind jetzt grün von Gras, und während
all der langen Jahre hat er an der Tür gelegen, die er nicht aufschließen
konnte. Wohin führt sie? Warum wollte er hindurchgehen? Niemand
wird es je wissen!«
»Aber das ist nicht mein Auftrag!« rief er, wandte sich um und
sprach zu der flüsternden Dunkelheit hinten. »Behaltet eure Schätze und
eure Geheimnisse, die ihr verborgen habt in den Verfluchten Jahren!
Schnelligkeit fordern wir nur. Laßt uns vorbei, und dann kommt! Ich rufe
euch zum Stein von Erech!«
Es kam keine Antwort, es sei denn, das tiefe Schweigen, das entsetz-
licher war als das Flüstern vorher, wäre eine Antwort gewesen; und
dann kam ein kühler Windstoß, in dem die Fackeln flackerten und dann
erloschen und nicht wieder angezündet werden konnten. Von der Zeit, die
dann folgte, eine Stunde oder viele, erinnerte Gimli wenig. Die anderen
eilten voran, aber er war immer der hinterste, verfolgt von einem tasten-
den Entsetzen, das immer gerade im Begriff zu sein schien, ihn zu packen;
und ein Geräusch kam hinter ihm her wie der Schemen-Klang vieler Füße.
Er stolperte vorwärts, bis er wie ein Tier auf dem Boden kroch und
spürte, daß er es nicht mehr ertragen könne: entweder mußte er ein Ende
finden oder entfliehen oder in Wahnsinn verfallen, zurückrennen, um
dem nachfolgenden Schrecken zu begegnen.
Plötzlich hörte er das Plätschern von Wasser, ein harter und klarer
Klang wie von einem Stein, der in einen dunkelschattigen Traum fällt. Es
wurde hell, und siehe da! die Gruppe durchschritt ein zweites Tor, hoch-
gewölbt und breit, und neben ihnen rann ein Bächlein daraus hervor; und
dahinter, steil abfallend, war ein Weg zwischen jähen Felsen, die sich
hoch oben messerscharf gegen den Himmel abhoben. So tief und schmal
war die Schlucht, daß der Himmel dunkel war und kleine Sterne an ihm
glitzerten. Doch wie Gimli später erfuhr, war es noch zwei Stunden vor
Sonnenuntergang des Tages, an dem sie von Dunharg aufgebrochen
waren; obwohl es damals für ihn genausogut das Zwielicht späterer
Jahre oder in einer anderen Welt hätte sein können.
Die Schar saß wieder auf, und Gimli kehrte zu Legolas zurück. Sie rit-
ten hintereinander, und der Abend senkte sich herab und eine dunkel-
blaue Dämmerung kam; und immer noch wurden sie von Furcht verfolgt.
Legolas, der sich umwandte, um mit Gimli zu sprechen, blickte zurück,
und der Zwerg sah vor sich das Glitzern in den strahlenden Augen des
Elben. Hinter ihnen ritt Elladan, der letzte der Schar, aber nicht der letzte
derer, die die Straße hinabzogen.
»Die Toten folgen uns«, sagte Legolas. »Ich sehe Gestalten von Män-
nern und Pferden, und bleiche Banner wie Wolkenfetzen und Speere wie
Winterdickichte in einer nebligen Nacht. Die Toten folgen uns.«
»Ja, die Toten reiten hinterher. Sie wurden gerufen«, sagte Elladan.
Schließlich kam die Schar aus der Schlucht heraus, so plötzlich, als ob
sie aus der Spalte einer Felswand herausgetreten wären; und da lagen vor
ihnen die Hochlande eines großen Tals, und der Bach neben ihnen sprang
mit einem kalten Ton über viele Wasserfälle.
»Wo in Mittelerde sind wir?« fragte Gimli; und Elladan antwortete:
»Wir sind herabgekommen von der Quelle des Morthond, des langen
kühlen Flusses, der zuletzt in das Meer fließt, das die Mauern von Dol
Amroth bespült. Du wirst hernach nicht zu fragen brauchen, woher sein
Name kommt: Schwarzgrund nennen ihn die Menschen.«
Das Morthondtal bildete eine große Mulde, die sich bis an die nach
Süden jäh abfallenden Gebirgskämme hinzog. Seine steilen Hänge waren
grasbewachsen; aber alles war grau in dieser Stunde, denn die Sonne war
untergegangen, und tief unten schimmerten Lichter in den Heimstätten
der Menschen. Das Tal war fruchtbar, und viel Volk wohnte dort.
Dann rief Aragorn, ohne sich umzuwenden und so laut, daß alle es
hören konnten: »Freunde, vergeßt eure Müdigkeit! Reitet nun, reitet! Wir
müssen zum Stein von Erech kommen, ehe dieser Tag vergeht, und lang
ist noch der Weg.« Ohne einen Blick zurück ritten sie über die Bergwie-
sen, bis sie zu einer Brücke über den angeschwollenen Wildbach kamen
und eine Straße fanden, die hinunter ins Land führte.
Die Lichter erloschen in Haus und Hof, als sie kamen, die Türen wur-
den geschlossen, und die Leute, die auf den Feldern waren, schrien vor
Angst und rannten davon wie gejagtes Wild. Überall erhob sich derselbe
Schrei in der sinkenden Nacht: »Der König der Toten! Der König der
Toten kommt über uns!«
Glocken läuteten weit unten, und alle Menschen flohen vor Aragorns
Antlitz; doch wie Jäger ritt die Graue Schar in ihrer Hast, bis ihre Pferde
vor Müdigkeit stolperten. Und so, gerade vor Mitternacht und in einer
Dunkelheit, die schwarz war wie die Höhlen im Gebirge, kamen sie end-
lich zum Berge Erech.
Lange hatte der Schrecken der Toten auf diesem Berg und den verlasse-
nen Feldern ringsum gelastet. Denn auf dem Gipfel stand ein schwarzer
Stein, rund wie eine große Kugel, mannshoch, obwohl er halb in den
Boden eingegraben war. Unirdisch sah er aus, als sei er vom Himmel ge-
fallen, wie manche glaubten; doch diejenigen, die sich noch der Kunde
von Westernis erinnerten, sagten, er sei aus den Trümmern von Númenor
hergebracht und von Isildur bei seiner Landung dort aufgestellt worden.
Keiner von dem Volk im Tal wagte es, dort hinzugehen, und sie wollten
auch nicht in seiner Nähe wohnen; denn sie sagten, das sei ein Treffpunkt
der Schatten-Menschen, und dort würden sie sich in Zeiten der Angst
versammeln, sich um den Stein drängen und flüstern.
Zu diesem Stein kam die Schar und hielt an in tiefer Nacht. Elrohir gab
dann Aragorn ein silbernes Horn, und er blies darauf; und es schien
jenen, die in der Nähe standen, daß sie den Klang antwortender Hörner
hörten, als ob es ein Echo sei in tiefen Höhlen weit in der Feme. Kein an-
deres Geräusch hörten sie, und doch merkten sie, daß sich ein großes Heer
rings auf dem Berg sammelte, auf dem sie standen; und ein kühler Wind
wie der Atem von Gespenstern kam herab vom Gebirge. Doch Aragorn
saß ab, stellte sich neben den Stein und rief mit lauter Stimme:
»Eidbrecher, warum seid ihr gekommen?«
Und eine Stimme war zu hören in der Nacht, die ihm antwortete, als
käme sie von ferne:
»Um unseren Eid zu erfüllen und Frieden zu haben.«
Dann sagte Aragorn: »Die Stunde ist endlich gekommen. Ich gehe
jetzt nach Pelargir am Anduin, und ihr sollt mir nachkommen. Und
wenn dieses ganze Land befreit ist von Saurons Dienern, dann werde ich
den Eid als erfüllt ansehen, und ihr sollt Frieden haben und auf immer
dahingehen. Denn ich bin Elessar, Isildurs Erbe von Gondor.«
Und damit bat er Halbarad, das große Banner zu entrollen, das er mit-
gebracht hatte, und siehe! es war schwarz, und wenn es irgendein Wahr-
zeichen trug, dann war es verborgen in der Dunkelheit. Dann war Stille,
und kein Flüstern und kein Seufzen war die ganze lange Nacht mehr zu
hören. Die Gruppe lagerte neben dem Stein, aber sie schliefen wenig
wegen des Schreckens der Schatten, die sie umgaben.
Doch als die Dämmerung anbrach, kalt und bleich, erhob sich Aragorn
in Eile, und er führte die Schar weiter auf der Fahrt, die von größerer
Hast und Beschwerlichkeit war als irgendeiner von ihnen es je erlebt
hatte, außer ihm allein, und nur sein Wille brachte sie dazu, weiterzuge-
hen. Keine anderen sterblichen Menschen hätten diese Fahrt ertragen,
keine außer den Dúnedain aus dem Norden, und mit ihnen Gimli der
Zwerg und Legolas von den Elben.
Sie kamen vorbei an Tarlangs Hals und hinein nach Lamedon;
und das Schattenheer drängte sich hinter ihnen, und Schrecken ging
ihnen voraus, bis sie nach Calembel am Ciril kamen, und wie Blut ging
die Sonne hinter Pinnath Gelin fern im Westen hinter ihnen unter. Das
Dorf und die Furten des Ciril fanden sie verlassen, denn viele Männer
waren in den Krieg gezogen, und alle, die zurückgeblieben waren, flohen
in die Berge, als das Gerücht ging, der König der Toten komme. Doch am
nächsten Tag gab es keine Morgendämmerung, und die Graue Schar zog
weiter in die Dunkelheit des Sturms von Mordor und entschwand dem
Blick der Sterblichen; nur die Toten folgten ihr.

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