»Und wie mögen die Worte des Sehers gelautet haben?« fragte Legolas.
»Also sprach Malbeth der Seher in den Tagen Arveduis, des letzten
Königs in Fornost«, sagte Aragorn:
Über dem Land liegt lang der Schatten,
Flügel der Finsternis strecken sich westwärts.
Der Turm bebt; den Königsgrüften
Naht das Gericht. Die Toten erwachen,
Am Stein von Erech stehen sie wieder,
Denn die Stunde ist da der Wortbrüchigen:
Und hören das Horn in den Bergen hallen.
Wessen Horn? Wer wird sie rufen,
Das vergessene Volk aus grauem Zwielicht?
Der Erbe des Mannes, dem einst sie schworen.
Von Norden naht er, Not treibt ihn:
Das Tor zum Pfad der Toten wird er durchschreiten.
»Dunkle Wege, zweifellos«, sagte Gimli, »aber nicht dunkler, als diese
Verse für mich sind.«
»Wenn du sie besser verstündest, würde ich dich bitten, mit mir zu
kommen«, sagte Aragorn. »Denn diesen Weg werde ich nehmen. Doch
gehe ich ihn nicht gern; nur die Not treibt mich. Daher möchte ich, daß
ihr nur mitkommt, wenn es euer freier Wille ist, denn Mühsal erwartet
euch und große Angst und vielleicht Schlimmeres.«
»Ich werde mit dir gehen, selbst auf den Pfaden der Toten, wo immer
sie auch hinführen«, sagte Gimli.
»Ich werde auch mitkommen«, sagte Legolas, »denn ich fürchte die
Toten nicht.«
»Ich hoffe, daß das vergessene Volk nicht vergessen haben wird, wie
man kämpft«, sagte Gimli, »denn sonst sehe ich nicht ein, warum wir sie
stören sollten.«
»Das werden wir wissen, wenn wir je nach Erech kommen«, sagte
Aragorn. »Da sie mit dem Eid, den sie gebrochen haben, geschworen hat-
ten, gegen Sauron zu kämpfen, müssen sie jetzt kämpfen, wenn sie ihn
erfüllen wollen. Denn in Erech steht noch ein schwarzer Stein, den Isil-
dur, wie es heißt, aus Númenor gebracht hat; und er wurde auf einem
Berg aufgestellt, und bei diesem Stein hat der König des Gebirges ihm
Lehnstreue geschworen, als das Reich Gondor begann. Doch als Sauron
zurückkehrte und seine Macht wieder wuchs, forderte Isildur die Men-
schen des Gebirges auf, ihren Eid zu erfüllen, und sie taten es nicht: denn
in den Dunklen Jahren hatten sie Sauron gehuldigt.
Damals sagte Isildur zu ihrem König: >Du sollst der letzte König sein.
Und wenn sich der Westen mächtiger erweist als dein Schwarzer Gebie-
ter, dann lege ich diesen Fluch auf dich und dein Volk: niemals Ruhe zu
finden, bis dein Eid erfüllt ist. Denn dieser Krieg wird unzählige Jahre
dauern, und noch einmal wirst du gerufen werden, ehe das Ende
kommt.< Und sie flohen vor Isildurs Zorn und wagten nicht, auf Saurons
Seite in den Krieg zu ziehen; und sie verbargen sich an geheimen Orten
im Gebirge und hatten keinen Umgang mit anderen Menschen, sondern
siechten langsam dahin in den kahlen Bergen. Und der Schrecken der
Schlaflosen Toten liegt über dem Berg Erech und allen Orten, wo dieses
Volk noch weilt. Aber diesen Weg muß ich gehen, da keine Lebenden da
sind, um mir zu helfen.«
Er stand auf. »Kommt!« rief er und zog sein Schwert, und es blitzte in
der dämmerigen Halle der Burg. »Auf zum Stein von Erech! Ich suche
die Pfade der Toten. Komme mit mir, wer will!«
Legolas und Gimli antworteten nicht, aber sie standen auf und folgten
Aragorn, als er die Halle verließ. Auf dem Rasen warteten, still und
schweigend, die Waldläufer, verhüllt unter ihren Kapuzen. Legolas und
Gimli saßen auf. Aragorn sprang auf Roheryn. Dann hob Halbarad ein
großes Horn, und sein Schmettern hallte in Helms Klamm wider; und
damit preschten sie davon, und wie ein Donnern ritten sie das Tal hinab,
und alle Männer, die noch auf dem Deich oder der Burg zurückgeblieben
waren, starrten voll Staunen.
Und während Théoden auf langsamen Pfaden durch die Berge zog, ritt
die Graue Schar geschwind über die Ebene, und am Nachmittag des näch-
sten Tages kamen sie nach Edoras; dort hielten sie nur kurz an, ehe sie
den Weg das Tal hinauf einschlugen, und so kamen sie, als die Dunkel-
heit hereinbrach, nach Dunharg.
Frau Éowyn begrüßte sie und freute sich über ihr Kommen; denn nie
hatte sie solche Recken gesehen wie die Dúnedain und Elronds schöne
Söhne; aber auf Aragorn ruhten ihre Augen vor allem. Und als die
Männer mit ihr beim Abendessen saßen, sprachen sie miteinander, und
sie hörte alles, was geschehen war, seit Théoden fortgeritten war, worüber
sie bisher nur flüchtige Nachrichten erhalten hatte; und als sie von der
Schlacht in Helms Klamm hörte und dem großen Gemetzel unter ihren
Feinden und von Théodens und seiner Ritter Angriff, da glänzten ihre
Augen.
Doch schließlich sagte sie: »Ihr Herren seid müde und sollt nun zu Bett
gehen mit so viel Behaglichkeit, als sich in der Eile schaffen läßt. Doch
morgen sollen schönere Unterkünfte für euch gefunden werden.«
Aber Aragorn sagte: »Nein, Herrin, bemüht Euch nicht für uns!
Wenn wir hier heute nacht schlafen und morgen frühstücken dürfen,
dann wird das genug sein. Denn ich habe einen höchst dringenden Auf-
trag, und mit dem ersten Tageslicht müssen wir reiten.«
Sie lächelte ihn an und sagte: »Dann war es sehr freundlich, Herr, daß
Ihr so viele Meilen abseits Eures Weges geritten seid, um Éowyn Bot-
schaft zu bringen und mit ihr in ihrer Verbannung zu sprechen.«
»Wahrlich, kein Mann würde eine solche Fahrt als verschwendet anse-
hen«, sagte Aragorn. »Und dennoch hätte ich nicht hierher kommen
können, Herrin, wenn mich nicht der Weg, den ich nehmen muß, nach
Dunharg geführt hätte.«
Und sie antwortete wie eine, der nicht gefällt, was gesagt wurde:
»Dann, Herr, seid Ihr fehlgegangen; denn aus dem Hargtal führte keine
Straße nach Osten oder Süden; und Ihr reitet besser den Weg zurück, den
Ihr gekommen seid.«
»Nein, Herrin«, sagte er, »ich bin nicht fehlgegangen; denn ich bin in
diesem Lande gewandert, ehe Ihr geboren wurdet, um es zu zieren. Es gibt
eine Straße, die aus diesem Tal herausführt, und diese Straße werde ich
nehmen. Morgen werde ich auf den Pfaden der Toten reiten.«
Dann starrte sie ihn an wie eine, die von Furcht ergriffen ist, und ihr
Gesicht erbleichte, und lange sprach sie nicht mehr, während alle schwei-
gend dasaßen. »Aber, Aragorn«, sagte sie schließlich, »ist es denn Euer
Auftrag, den Tod zu suchen? Denn das ist alles, was Ihr auf diesem
Wege finden werdet. Sie dulden es nicht, daß die Lebenden dort gehen.«
»Vielleicht werden sie es dulden, daß ich dort gehe«, sagte Aragorn.
»Aber zumindest will ich es wagen. Keine andere Straße nützt mir.«
»Aber das ist Wahnsinn«, sagte sie. »Denn hier sind ruhmreiche und
heldenhafte Männer, die Ihr nicht in die Schatten, sondern in den Krieg
führen solltet, wo Männer gebraucht werden. Ich bitte Euch, hierzublei-
ben und mit meinem Bruder zu reiten; denn dann werden unser aller Her-
zen froh und unsere Hoffnung größer sein.«
»Es ist nicht Wahnsinn, Herrin«, antwortete er. »Denn ich gehe einen
Weg, der mir bestimmt ist. Doch jene, die mir folgen, tun es aus freiem
Willen; und wenn es jetzt ihr Wunsch ist, hierzubleiben und mit den
Rohirrim zu reiten, dann mögen sie es tun. Doch ich werde die Pfade der
Toten einschlagen, allein, wenn es sein muß.«
Dann sprachen sie nicht mehr und aßen schweigend; doch Éowyns
Augen ruhten immer auf Aragorn, und die anderen sahen, daß sie große
Seelenqualen litt. Schließlich erhoben sie sich und verabschiedeten sich
von der Herrin und dankten ihr für ihre Fürsorge und gingen zur Ruhe.
Doch als Aragorn zu der Hütte kam, in der er mit Legolas und Gimli
nächtigen sollte, und als seine Gefährten hineingegangen waren, kam
Frau Éowyn hinter ihm her und rief ihn. Er wandte sich um und sah sie
wie einen Schimmer in der Nacht, denn sie war in Weiß gekleidet; doch
ihre Augen glühten.
»Aragorn«, sagte sie, »warum wollt Ihr auf dieser todbringenden
Straße gehen?«
»Weil ich muß«, sagte er. »Nur so kann ich hoffen, das Meinige in dem
Krieg gegen Sauron zu tun. Ich wähle nicht freiwillig Pfade der Gefahr,
Éowyn. Könnte ich dorthin gehen, wo mein Herz weilt, fern im Norden,
dann würde ich jetzt in dem schönen Tal von Bruchtal wandern.«
Eine Weile schwieg sie still, als überlege sie, was das bedeuten könne.
Dann plötzlich legte sie ihm die Hand auf den Arm. »Ihr seid ein ge-
strenger Herr und entschlossen«, sagte sie, »und so gewinnen Männer
Ruhm.« Sie hielt inne. »Herr«, sagte sie, »wenn Ihr gehen müßt, dann
laßt mich in Eurem Gefolge mitreiten. Denn ich bin es leid, mich in den
Bergen zu verstecken, Gefahr und Kampf will ich ins Auge sehen.«
»Eure Pflicht liegt bei Eurem Volk«, antwortete er.
»Zu oft habe ich von Pflicht gehört«, rief sie. »Aber bin ich nicht aus
Eorls Haus, eine Schildmaid und keine Kinderfrau? Lange genug habe ich
strauchelnden Füßen aufgewartet. Darf ich nicht jetzt, da es scheint, daß
sie nicht mehr straucheln, mein Leben so verbringen, wie ich es will?«
»Wenige dürfen das in Ehren tun«, antwortete er. »Doch was Euch be-
trifft, Herrin: habt Ihr nicht die Aufgabe übernommen, das Volk zu füh-
ren, bis sein Herr zurückkehrt? Wäret Ihr nicht dazu auserwählt worden,
dann wäre irgendein Marschall oder Hauptmann auf denselben Platz ge-
stellt worden, und auch er könnte nicht von seiner Aufgabe wegreiten,
ob er sie leid ist oder nicht.«
»Soll ich immer erwählt werden?« sagte sie bitter. »Soll ich immer zu-
rückgelassen werden, wenn die Reiter aufbrechen, und mich um das Haus
kümmern, während sie Ruhm finden, und für Nahrung und Betten sor-
gen, wenn sie zurückkehren?«
»Bald mag eine Zeit kommen«, sagte er, »da keiner zurückkehrt; dann
wird Heldenmut ohne Ruhm nötig sein, denn niemand wird sich der
Taten erinnern, die bei der letzten Verteidigung Eurer Heimstätten voll-
bracht werden. Doch werden die Taten nicht weniger heldenhaft sein, nur
weil sie nicht gerühmt werden.«
Und sie antwortete: »Alle Eure Worte sollen lediglich besagen: du bist
eine Frau, und dein Teil ist das Haus. Aber wenn die Männer in Kampf
und Ehre gefallen sind, dann darfst du im Haus verbrannt werden, denn
die Männer brauchen es nicht mehr. Doch ich bin aus Eorls Haus und
keine Dienerin. Ich kann reiten und die Klinge führen, und ich fürchte
weder Schmerz noch Tod.«
»Was fürchtet Ihr, Herrin?« fragte er.
»Einen Käfig«, sagte sie. »Hinter Gittern zu bleiben, bis Gewohnheit
und hohes Alter sich damit abfinden und alle Aussichten, große Taten
zu vollbringen, unwiderruflich dahin sind und auch gar nicht mehr er-
sehnt werden.«
»Und dennoch rietet Ihr mir, mich nicht auf die Straße zu wagen, die
ich gewählt habe, weil sie gefährlich sei?«
»So mag einer dem anderen raten«, sagte sie. »Dennoch bitte ich Euch
nicht, vor der Gefahr zu fliehen, sondern in die Schlacht zu reiten, wo
Euer Schwert Ruhm und Sieg erringen mag. Ich möchte nicht sehen, daß
etwas, das edel und vortrefflich ist, unnütz verschwendet wird.«
»Das möchte ich auch nicht«, sagte er. »Deshalb sage ich zu Euch, Her-
rin: Bleibt! Denn Ihr habt keinen Auftrag im Süden.«
»Den haben auch jene nicht, die mit dir gehen. Sie gehen nur, weil sie
sich nicht von dir trennen wollen — weil sie dich lieben.« Dann wandte
sie sich ab und verschwand in der Nacht.
Als das Tageslicht den Himmel erhellte, aber die Sonne noch nicht
über die hohen Grate im Osten gestiegen war, machte Aragorn sich be-
reit zum Aufbruch. Seine Schar war schon aufgesessen, und er wollte
eben in den Sattel springen, als Frau Éowyn kam, um ihnen Lebewohl zu
sagen. Sie war wie ein Reiter gekleidet und mit einem Schwert gegürtet.
In der Hand trug sie einen Becher, und sie setzte ihn an die Lippen und
trank ein wenig und wünschte ihnen guten Erfolg; dann gab sie Aragorn
den Becher, und er trank und sagte: »Lebt wohl, Herrin von Rohan! Ich
trinke auf das Glück Eures Hauses, auf Euer und Eures Volkes Glück. Sagt
Eurem Bruder: jenseits der Schatten mögen wir uns wiedertreffen!«
Dann schien es Gimli und Legolas, die nahebei saßen, daß sie weinte,
und bei einer, die so streng und stolz war, war das um so schmerzlicher.
Aber sie sagte: »Aragorn, willst du gehen?«
»Ja«, sagte er.
»Willst du mich dann nicht mitreiten lassen in dieser Schar, wie ich ge-
beten habe?«
»Das will ich nicht, Herrin«, sagte er. »Denn diese Bitte könnte ich
nicht gewähren ohne die Erlaubnis des Königs und Eures Bruders, und
vor morgen werden sie nicht zurückkehren. Aber ich zähle jetzt jede
Stunde, ja sogar jede Minute. Lebt wohl!«
Dann fiel sie auf die Knie und sagte: »Ich bitte dich.«
»Nein, Herrin«, sagte er, nahm sie bei der Hand und hob sie auf. Dann
küßte er ihr die Hand, sprang in den Sattel und ritt davon und schaute
nicht zurück; und nur diejenigen, die ihn gut kannten und nahe bei ihm
waren, sahen den Schmerz, den er litt.
Doch Éowyn stand still wie eine in Stein gehauene Gestalt, die Hände
an die Seiten gepreßt, und sie schaute ihnen nach, bis sie in den Schatten
unter dem schwarzen Dwimorberg, dem Geisterberg, kamen, in dem das
Tor der Toten ist. Als sie ihrem Blick entschwunden waren, wandte sie
sich um, taumelnd wie ein Blinder, und ging zurück zu ihrer Unterkunft.
Doch keiner von ihrem Volk sah diesen Abschied, denn alle verbargen
sich vor Angst und kamen nicht heraus, ehe es heller Tag und die toll-
kühnen Fremden fort waren.
Und einige sagten: »Es sind elbische Geister. Laßt sie dorthin gehen,
wo sie hingehören, in finstere Gegenden, und niemals zurückkehren. Die
Zeiten sind schlimm genug.«
Das Tageslicht war noch grau, als sie ritten, denn die Sonne war noch
nicht über die schwarzen Grate des Geisterbergs geklommen. Ein Entset-
zen befiel sie, als sie zwischen Reihen alter Steine hindurch zum Dimholt
kamen. Dort unter der Düsternis schwarzer Bäume, die nicht einmal
Legolas lange ertragen konnte, fanden sie eine Senke, die sich zum Fuß
des Berges hin öffnete, und mitten auf ihrem Pfad stand ein einzelner,
mächtiger Stein wie ein Finger des Todes.
»Mir stockt das Blut«, sagte Gimli, aber die anderen schwiegen, und
seine Stimme erstarb auf den feuchten Tannennadeln zu seinen Füßen.
Die Pferde wollten nicht an dem drohenden Stein vorbeigehen, bis die
Reiter absaßen und sie führten. Und so kamen sie endlich tief hinein in
die Schlucht; und dort erhob sich eine jähe Felswand, und in der
Wand gähnte vor ihnen das Dunkle Tor wie der Schlund der Nacht. Zei-
chen und Gestalten waren über seiner breiten Wölbung eingemeißelt, die
zu undeutlich waren, um sie zu deuten, und Schrecken entströmte ihr wie
ein grauer Dunst.
Die Schar hielt an, und es gab kein Herz unter ihnen, das nicht erzit-
terte, es sei denn das Herz von Legolas dem Elben, für den die Gespenster
der Menschen keinen Schrecken haben.
»Das ist ein übles Tor«, sagte Halbarad, »und mein Tod liegt jenseits
von ihm. Dennoch will ich wagen, es zu durchschreiten; aber kein Pferd
wird hineingehen.«
»Doch wir müssen hineingehen, und deshalb müssen auch die Pferde
gehen«, sagte Aragorn. »Denn wenn wir je durch diese Dunkelheit kom-
men, liegen jenseits viele Meilen, und jede Stunde, die verloren wird, wird
Saurons Sieg näherbringen. Folgt mir!«
Dann ging Aragorn voran, und so groß war die Stärke seines Willens
in dieser Stunde, daß alle Dúnedain und ihre Pferde ihm folgten. Und so
sehr liebten die Pferde der Waldläufer ihre Reiter, daß sie bereit waren,
selbst dem Schrecken des Tors ins Auge zu sehen, wenn die Herzen ihrer
Herren, die neben ihnen gingen, standhaft waren. Doch Arod, das Pferd
aus Rohan, verweigerte den Weg, und es stand schwitzend und vor
Angst zitternd da, die schmerzlich anzusehen war. Dann legte ihm Lego-
las die Hände über die Augen und sang ihm einige Worte vor, die ge-
dämpft klangen in der Düsternis, bis es sich führen ließ und mit Legolas
hineinging. Und draußen stand Gimli der Zwerg allein.
Seine Knie schlotterten, und er war auf sich selbst wütend. »Das ist
doch unerhört!« sagte er. »Ein Elb geht unter die Erde, und ein Zwerg
wagt es nicht!« Und damit stürzte er sich hinein. Aber ihm schien, daß
er seine Füße wie Blei über die Schwelle schleppte; und sofort kam eine
Blindheit über ihn, über Gimli, Glóins Sohn, der so manches Mal furcht-
los in den Tiefen der Welt gewandert war.
Aragorn hatte aus Dunharg Fackeln mitgebracht, und jetzt ging er
voran und hielt eine hoch; und Elladan mit einer zweiten beschloß den
Zug, und Gimli, der hinterherstolperte, versuchte, ihn einzuholen. Er
konnte nichts sehen als die düstere Flamme der Fackeln; aber wenn die
Schar anhielt, schien rings um ihn ein endloses Stimmengeflüster zu sein,
ein Murmeln von Wörtern in einer Sprache, die er nie zuvor gehört hatte.
Nichts griff die Schar an oder stellte sich ihnen in den Weg, und den-
noch wurde der Zwerg immer stärker von Angst gepackt: vor allem, weil
er wußte, daß es jetzt kein Zurück gab; auf all den Pfaden hinter ihnen
drängte sich ein unsichtbares Heer, das im Dunkeln folgte.
So verging eine unermeßliche Zeit, bis Gimli einen Anblick hatte, an
den er sich später nur widerwillig erinnerte. Der Weg war breit, soweit er
es beurteilen konnte, aber plötzlich kam die Schar auf einen großen, lee-
ren Platz, und auf beiden Seiten waren keine Felswände mehr. Das Entset-
zen lag so schwer auf ihm, daß er kaum gehen konnte. Fern zur Linken
glitzerte etwas in der Düsternis, als Aragorns Fackel sich näherte. Dann
hielt Aragorn an und ging hin, um zu schauen, was es sein könnte.
»Kennt er keine Furcht?« murmelte der Zwerg. »In jeder anderen Höhle
wäre Gimli, Glóins Sohn, der erste gewesen, der zu einem Schimmer von
Gold rennt. Aber nicht hier! Laß es liegen!«
Dennoch ging auch er näher, und er sah, wie Aragorn niederkniete,
während Elladan beide Fackeln hochhielt. Vor ihm lag das Gerippe eines
mächtigen Mannes. Er hatte eine Rüstung getragen, und noch lag sein
Harnisch unversehrt da; denn die Luft in der Höhle war trocken wie
Staub, und sein Panzer war vergoldet. Sein Gürtel war aus Gold und Gra-
nat, und reich mit Gold verziert war der Helm auf seinem knochigen
Kopf, der mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden lag. Nahe der hin-
teren Wand der Höhle war er gestürzt, wie man jetzt sehen konnte, und
vor ihm erhob sich eine fest geschlossene steinerne Tür: seine Fingerkno-
chen waren noch in die Ritzen verkrallt. Ein schartiges und geborstenes
Schwert lag neben ihm, als ob er in seiner letzten Verzweiflung gegen den
Fels geschlagen habe.
Aragorn rührte ihn nicht an, und nachdem er ihn eine Weile schwei-
gend betrachtet hatte, stand er auf und seufzte. »Hierher werden die Blü-
ten der simbelmynë niemals kommen bis zum Ende der Welt«, murmelte
er. »Neun Hügelgräber und sieben sind jetzt grün von Gras, und während
all der langen Jahre hat er an der Tür gelegen, die er nicht aufschließen
konnte. Wohin führt sie? Warum wollte er hindurchgehen? Niemand
wird es je wissen!«
»Aber das ist nicht mein Auftrag!« rief er, wandte sich um und
sprach zu der flüsternden Dunkelheit hinten. »Behaltet eure Schätze und
eure Geheimnisse, die ihr verborgen habt in den Verfluchten Jahren!
Schnelligkeit fordern wir nur. Laßt uns vorbei, und dann kommt! Ich rufe
euch zum Stein von Erech!«
Es kam keine Antwort, es sei denn, das tiefe Schweigen, das entsetz-
licher war als das Flüstern vorher, wäre eine Antwort gewesen; und
dann kam ein kühler Windstoß, in dem die Fackeln flackerten und dann
erloschen und nicht wieder angezündet werden konnten. Von der Zeit, die
dann folgte, eine Stunde oder viele, erinnerte Gimli wenig. Die anderen
eilten voran, aber er war immer der hinterste, verfolgt von einem tasten-
den Entsetzen, das immer gerade im Begriff zu sein schien, ihn zu packen;
und ein Geräusch kam hinter ihm her wie der Schemen-Klang vieler Füße.
Er stolperte vorwärts, bis er wie ein Tier auf dem Boden kroch und
spürte, daß er es nicht mehr ertragen könne: entweder mußte er ein Ende
finden oder entfliehen oder in Wahnsinn verfallen, zurückrennen, um
dem nachfolgenden Schrecken zu begegnen.
Plötzlich hörte er das Plätschern von Wasser, ein harter und klarer
Klang wie von einem Stein, der in einen dunkelschattigen Traum fällt. Es
wurde hell, und siehe da! die Gruppe durchschritt ein zweites Tor, hoch-
gewölbt und breit, und neben ihnen rann ein Bächlein daraus hervor; und
dahinter, steil abfallend, war ein Weg zwischen jähen Felsen, die sich
hoch oben messerscharf gegen den Himmel abhoben. So tief und schmal
war die Schlucht, daß der Himmel dunkel war und kleine Sterne an ihm
glitzerten. Doch wie Gimli später erfuhr, war es noch zwei Stunden vor
Sonnenuntergang des Tages, an dem sie von Dunharg aufgebrochen
waren; obwohl es damals für ihn genausogut das Zwielicht späterer
Jahre oder in einer anderen Welt hätte sein können.
Die Schar saß wieder auf, und Gimli kehrte zu Legolas zurück. Sie rit-
ten hintereinander, und der Abend senkte sich herab und eine dunkel-
blaue Dämmerung kam; und immer noch wurden sie von Furcht verfolgt.
Legolas, der sich umwandte, um mit Gimli zu sprechen, blickte zurück,
und der Zwerg sah vor sich das Glitzern in den strahlenden Augen des
Elben. Hinter ihnen ritt Elladan, der letzte der Schar, aber nicht der letzte
derer, die die Straße hinabzogen.
»Die Toten folgen uns«, sagte Legolas. »Ich sehe Gestalten von Män-
nern und Pferden, und bleiche Banner wie Wolkenfetzen und Speere wie
Winterdickichte in einer nebligen Nacht. Die Toten folgen uns.«
»Ja, die Toten reiten hinterher. Sie wurden gerufen«, sagte Elladan.
Schließlich kam die Schar aus der Schlucht heraus, so plötzlich, als ob
sie aus der Spalte einer Felswand herausgetreten wären; und da lagen vor
ihnen die Hochlande eines großen Tals, und der Bach neben ihnen sprang
mit einem kalten Ton über viele Wasserfälle.
»Wo in Mittelerde sind wir?« fragte Gimli; und Elladan antwortete:
»Wir sind herabgekommen von der Quelle des Morthond, des langen
kühlen Flusses, der zuletzt in das Meer fließt, das die Mauern von Dol
Amroth bespült. Du wirst hernach nicht zu fragen brauchen, woher sein
Name kommt: Schwarzgrund nennen ihn die Menschen.«
Das Morthondtal bildete eine große Mulde, die sich bis an die nach
Süden jäh abfallenden Gebirgskämme hinzog. Seine steilen Hänge waren
grasbewachsen; aber alles war grau in dieser Stunde, denn die Sonne war
untergegangen, und tief unten schimmerten Lichter in den Heimstätten
der Menschen. Das Tal war fruchtbar, und viel Volk wohnte dort.
Dann rief Aragorn, ohne sich umzuwenden und so laut, daß alle es
hören konnten: »Freunde, vergeßt eure Müdigkeit! Reitet nun, reitet! Wir
müssen zum Stein von Erech kommen, ehe dieser Tag vergeht, und lang
ist noch der Weg.« Ohne einen Blick zurück ritten sie über die Bergwie-
sen, bis sie zu einer Brücke über den angeschwollenen Wildbach kamen
und eine Straße fanden, die hinunter ins Land führte.
Die Lichter erloschen in Haus und Hof, als sie kamen, die Türen wur-
den geschlossen, und die Leute, die auf den Feldern waren, schrien vor
Angst und rannten davon wie gejagtes Wild. Überall erhob sich derselbe
Schrei in der sinkenden Nacht: »Der König der Toten! Der König der
Toten kommt über uns!«
Glocken läuteten weit unten, und alle Menschen flohen vor Aragorns
Antlitz; doch wie Jäger ritt die Graue Schar in ihrer Hast, bis ihre Pferde
vor Müdigkeit stolperten. Und so, gerade vor Mitternacht und in einer
Dunkelheit, die schwarz war wie die Höhlen im Gebirge, kamen sie end-
lich zum Berge Erech.
Lange hatte der Schrecken der Toten auf diesem Berg und den verlasse-
nen Feldern ringsum gelastet. Denn auf dem Gipfel stand ein schwarzer
Stein, rund wie eine große Kugel, mannshoch, obwohl er halb in den
Boden eingegraben war. Unirdisch sah er aus, als sei er vom Himmel ge-
fallen, wie manche glaubten; doch diejenigen, die sich noch der Kunde
von Westernis erinnerten, sagten, er sei aus den Trümmern von Númenor
hergebracht und von Isildur bei seiner Landung dort aufgestellt worden.
Keiner von dem Volk im Tal wagte es, dort hinzugehen, und sie wollten
auch nicht in seiner Nähe wohnen; denn sie sagten, das sei ein Treffpunkt
der Schatten-Menschen, und dort würden sie sich in Zeiten der Angst
versammeln, sich um den Stein drängen und flüstern.
Zu diesem Stein kam die Schar und hielt an in tiefer Nacht. Elrohir gab
dann Aragorn ein silbernes Horn, und er blies darauf; und es schien
jenen, die in der Nähe standen, daß sie den Klang antwortender Hörner
hörten, als ob es ein Echo sei in tiefen Höhlen weit in der Feme. Kein an-
deres Geräusch hörten sie, und doch merkten sie, daß sich ein großes Heer
rings auf dem Berg sammelte, auf dem sie standen; und ein kühler Wind
wie der Atem von Gespenstern kam herab vom Gebirge. Doch Aragorn
saß ab, stellte sich neben den Stein und rief mit lauter Stimme:
»Eidbrecher, warum seid ihr gekommen?«
Und eine Stimme war zu hören in der Nacht, die ihm antwortete, als
käme sie von ferne:
»Um unseren Eid zu erfüllen und Frieden zu haben.«
Dann sagte Aragorn: »Die Stunde ist endlich gekommen. Ich gehe
jetzt nach Pelargir am Anduin, und ihr sollt mir nachkommen. Und
wenn dieses ganze Land befreit ist von Saurons Dienern, dann werde ich
den Eid als erfüllt ansehen, und ihr sollt Frieden haben und auf immer
dahingehen. Denn ich bin Elessar, Isildurs Erbe von Gondor.«
Und damit bat er Halbarad, das große Banner zu entrollen, das er mit-
gebracht hatte, und siehe! es war schwarz, und wenn es irgendein Wahr-
zeichen trug, dann war es verborgen in der Dunkelheit. Dann war Stille,
und kein Flüstern und kein Seufzen war die ganze lange Nacht mehr zu
hören. Die Gruppe lagerte neben dem Stein, aber sie schliefen wenig
wegen des Schreckens der Schatten, die sie umgaben.
Doch als die Dämmerung anbrach, kalt und bleich, erhob sich Aragorn
in Eile, und er führte die Schar weiter auf der Fahrt, die von größerer
Hast und Beschwerlichkeit war als irgendeiner von ihnen es je erlebt
hatte, außer ihm allein, und nur sein Wille brachte sie dazu, weiterzuge-
hen. Keine anderen sterblichen Menschen hätten diese Fahrt ertragen,
keine außer den Dúnedain aus dem Norden, und mit ihnen Gimli der
Zwerg und Legolas von den Elben.
Sie kamen vorbei an Tarlangs Hals und hinein nach Lamedon;
und das Schattenheer drängte sich hinter ihnen, und Schrecken ging
ihnen voraus, bis sie nach Calembel am Ciril kamen, und wie Blut ging
die Sonne hinter Pinnath Gelin fern im Westen hinter ihnen unter. Das
Dorf und die Furten des Ciril fanden sie verlassen, denn viele Männer
waren in den Krieg gezogen, und alle, die zurückgeblieben waren, flohen
in die Berge, als das Gerücht ging, der König der Toten komme. Doch am
nächsten Tag gab es keine Morgendämmerung, und die Graue Schar zog
weiter in die Dunkelheit des Sturms von Mordor und entschwand dem
Blick der Sterblichen; nur die Toten folgten ihr.