DER HERR DER RINGE
Drei Ringe den Elbenkönigen hoch im Licht,
Sieben den Zwergenherrschern in ihren Hallen aus Stein,
Den Sterblichen, ewig dem Tode verfallen, neun,
Einer dem Dunklen Herrn auf dunklem Thron
Im Lande Mordor, wo die Schatten dröhn.
Ein Ring, sie zu knechten, sie alle zu finden,
Ins Dunkel zu treiben und ewig zu binden
Im Lande Mordor, wo die Schatten drohn.
ERSTES KAPITEL
MINAS TIRITH
Pippin lugte unter Gandalfs schützendem Mantel hervor. Er fragte sich,
ob er wache oder schlafe und noch in dem rasch dahineilenden Traum be-
fangen sei, in den er, seit der große Ritt begann, so lange versunken ge-
wesen war. Wie im Flug zog die dunkle Welt an ihm vorüber, und laut
brauste der Wind in seinen Ohren. Er konnte nichts sehen als die fun-
kelnden Sterne und fern zu seiner Rechten, wo sich das Gebirge des
Südens erstreckte, gewaltige Schatten, die sich vom Himmel abhoben.
Müde versuchte er die Zeiten und Abschnitte ihrer Fahrt nachzurechnen,
aber sein Gedächtnis war schläfrig und verwirrt.
Zuerst waren sie, ohne anzuhalten, entsetzlich schnell geritten, und
dann hatte er im Morgengrauen einen bleichen, goldenen Schimmer gese-
hen, und sie waren zu der stillen Stadt und dem großen, leeren Haus
auf dem Berg gekommen. Und kaum waren sie in seinem Schutz ange-
langt, da war der geflügelte Schatten wiederum über sie hinweggezogen,
und die Menschen vergingen vor Angst. Aber Gandalf hatte ihm beruhi-
gend zugesprochen, und er war in einem Winkel eingeschlafen, müde,
aber unruhig, war sich undeutlich des Kommens und Gehens bewußt und
daß Männer sprachen und Gandalf Befehle gab. Und dann ritten sie wei-
ter, ritten durch die Nacht. Das war jetzt die zweite, nein, die dritte
Nacht, seit er in den Stein geblickt hatte. Diese abscheuliche Erinnerung
ließ ihn ganz wach werden, und er erschauerte, und das Geräusch des
Windes war mit einemmal erfüllt von drohenden Stimmen.
Ein Licht erhellte den Himmel, ein gelber Schein loderte hinter dunklen
Schranken. Vor Schreck duckte sich Pippin einen Augenblick und fragte
sich, in was für ein fürchterliches Land Gandalf ihn bringe. Er rieb sich
die Augen, und dann sah er, daß es der Mond war, der über den Schatten
im Osten aufging und jetzt fast voll war. Es war also noch früh in der
Nacht, und lange würden sie im Dunkeln weiterreiten. Er setzte sich auf.
»Wo sind wir, Gandalf?« fragte er.
»Im Königreich Gondor«, antwortete der Zauberer. »Noch durchqueren
wir das Land Anórien.«
Eine Weile herrschte wieder Schweigen. »Was ist das?« rief dann Pip-
pin plötzlich und packte Gandalfs Mantel. »Schau! Feuer, rotes Feuer!
Gibt es Drachen in diesem Land? Schau, da ist noch eins!»
Statt zu antworten, rief Gandalf dem Pferd laut zu: »Voran, Schatten-
fell! Wir müssen eilen. Die Zeit ist knapp. Siehe! Die Leuchtfeuer von
Gondor sind angezündet und rufen Hilfe herbei! Der Krieg ist entbrannt.
Schau, da ist das Feuer auf Amon Dîn und die Flamme auf Eilenach; und
dort ziehen sie sich eilends nach Westen: Nardol, Erelas, Min-Rimmon,
Calenhad und Halifirien an den Grenzen von Rohan.«
Doch Schattenfell verlangsamte seinen Gang und fiel in Schritt, dann
hob er den Kopf und wieherte. Und aus der Dunkelheit kam das Stampfen
von Hufen, drei Reiter fegten heran, zogen im Mondschein wie flüchtige
Gespenster vorbei und verschwanden im Westen. Dann raffte sich Schat-
tenfell auf und sprang davon, und die Nacht strömte über ihn hinweg wie
ein brausender Wind.
Pippin wurde wieder schläfrig und schenkte Gandalf nicht viel Auf-
merksamkeit, der ihm von den Bräuchen in Gondor erzählte und wie der
Herr der Stadt auf den Gipfeln herausragender Berge Leuchtfeuer errich-
tete und Wachposten an diesen Punkten unterhielt, an denen immer fri-
sche Pferde bereitstanden, um seine reitenden Boten nach Rohan im Nor-
den oder nach Belfalas im Süden zu bringen. »Es ist lange her, seit die
Leuchtfeuer im Norden angezündet wurden«, sagte er. »Und in den alten
Tagen von Gondor wurden sie nicht gebraucht, denn es gab die Sieben
Steine.« Pippin zuckte unbehaglich zusammen.
»Schlaf weiter und fürchte dich nicht!« sagte Gandalf. »Denn du gehst
nicht wie Frodo nach Mordor, sondern nach Minas Tirith, und dort wirst
du so sicher sein, wie man heutzutage nur irgendwo sein kann. Wenn
Gondor fällt oder der Ring erbeutet wird, dann wird auch das Auenland
keine Zuflucht sein.«
»Du gewährst mir keinen Trost«, sagte Pippin, aber dennoch überkam
ihn der Schlaf. Das letzte, an das er sich erinnerte, ehe er in einen tiefen
Traum sank, war ein Aufleuchten hoher weißer Gipfel; wie über den
Wolken schwebende Inseln schimmerten sie, als die Strahlen des im
Westen stehenden Mondes auf sie fielen. Er fragte sich, wo Frodo wohl
sei, ob er schon in Mordor oder tot sei; und er wußte nicht, daß Frodo
von ferne denselben Mond betrachtete, der hinter Gondor unterging, ehe
der Tag anbrach.
Pippin erwachte von Stimmengeräuschen. Ein weiterer Tag des Verber-
gens und eine Nacht des Reitens waren dahingeflogen. Es war Zwielicht:
die kalte Morgendämmerung nahte wiederum, und kühle graue Nebel um-
wogten sie. Schattenfell dampfte vor Schweiß, aber er hielt den Hals stolz
und ließ keine Müdigkeit erkennen. Viele große Männer in schweren
Mänteln standen neben ihm, und hinter ihnen erhob sich eine Mauer aus
Stein. Halb eingestürzt schien sie zu sein, doch obwohl noch Nacht war,
hörte man schon die Geräusche eiliger Arbeit: Hammerschläge, Klirren
von Maurerkellen und Knirschen von Rädern. Fackeln und Leuchtfeuer
glühten dunkel hier und dort im Nebel. Gandalf sprach mit den Männern,
die ihm den Weg versperrten, und als er zuhörte, merkte Pippin, daß von
ihm die Rede war.
»Ja, gewiß, wir kennen Euch, Mithrandir«, sagte der Anführer der
Männer, »und Ihr kennt die Paßworte der Sieben Tore; es steht Euch frei,
weiterzureiten. Aber wir kennen Euren Gefährten nicht. Was ist er
eigentlich? Ein Zwerg aus dem Gebirge im Norden? Zu dieser Zeit wollen
wir keine Fremden im Land haben, es seien denn mächtige Krieger, auf
deren Treue und Hilfe wir uns verlassen können.«
»Ich werde für ihn gutsagen vor Denethors Thron«, sagte Gandalf.
»Und Tapferkeit läßt sich nicht nach Körpergröße messen. Er hat
mehr Schlachten und Gefahren bestanden als Ihr, Ingold, obgleich Ihr
doppelt so groß seid; und jetzt kommt er von Isengarts Erstürmung, de-
ren Nachricht wir überbringen, und er ist sehr erschöpft, sonst würde ich
ihn wecken. Sein Name ist Peregrin, ein sehr tapferer Mann.«
»Mann?« sagte Ingold zweifelnd, und die anderen lachten.
»Mann!« rief Pippin, jetzt ganz wach. »Mann! Nein, wirklich nicht!
Ich bin ein Hobbit und ebensowenig tapfer, wie ich ein Mann bin, außer
vielleicht dann und wann, wenn es not tut. Laßt Euch von Gandalf nicht
täuschen!«
»Manch einer, der große Taten vollbringt, könnte nicht mehr sagen«,
sagte Ingold. »Aber was ist ein Hobbit?«
»Ein Halbling«, antwortete Gandalf. »Nein, nicht der, von dem gespro-
chen wurde«, fügte er hinzu, als er die staunenden Gesichter der Männer
sah. »Der nicht, doch einer aus seiner Sippe.«
»Ja, und einer, der mit ihm gewandert ist«, sagte Pippin. »Und Boromir
aus Eurer Stadt war bei uns, und er rettete mich im Schnee des Nordens,
und zuletzt wurde er erschlagen, als er mich gegen viele Feinde vertei-
digte.«
»Still!« sagte Gandalf. »Die Botschaft von diesem Unglück hätte zuerst
dem Vater überbracht werden sollen.«
»Es ist schon gemutmaßt worden«, sagte Ingold, »denn in letzter Zeit
sind hier seltsame Zeichen gesichtet worden. Doch reitet nun rasch
weiter! Der Herr von Minas Tirith wird begierig sein, einen zu sehen, der
ihm die letzte Nachricht von seinem Sohn bringt, sei er nun ein Mensch
oder...«
»Ein Hobbit«, sagte Pippin. »Nur geringe Dienste kann ich Eurem
Herrn anbieten, doch was ich tun kann, würde ich tun zur Erinnerung an
Boromir, den Tapferen. <
»Lebt wohl!« sagte Ingold; und die Männer machten Schattenfell Platz,
und er schritt durch ein schmales Tor in der Mauer. »Möget Ihr Denethor
in seiner Not und uns allen guten Rat bringen, Mithrandir!« rief Ingold.
»Doch gewöhnlich kommt Ihr mit Nachrichten von Unglück und Gefahr,
heißt es;«
»Weil ich selten komme, außer wenn meine Hilfe gebraucht wird«, ant-
wortete Gandalf. »Und was meinen Rat angeht, so würde ich zu Euch
sagen, daß Ihr zu spät dran seid, die Mauer des Pelennor auszubessern.
Mut wird jetzt Eure beste Verteidigung sein gegen den Sturm, der bald
hereinbricht — Mut und das, was ich an Hoffnung bringe. Denn nicht alle
Nachrichten, die ich überbringe, sind schlecht. Aber laßt Eure Maurerkel-
len beiseite und schärft Eure Schwerter!«
»Die Arbeit wird vor dem Abend beendet sein«, sagte Ingold. »Es
ist der letzte Abschnitt der Mauer, der verteidigungsbereit gemacht wer-
den muß: derjenige, der am wenigsten einem Angriff ausgesetzt ist, denn
er liegt auf der Seite unserer Freunde von Rohan. Wißt Ihr etwas von
ihnen? Glaubt Ihr, sie werden unserem Ruf Folge leisten?«
»Ja, sie werden kommen. Aber sie haben viele Schlachten geschlagen
in Eurem Rücken. Weder dieser Weg noch überhaupt ein Weg ist länger
sicher. Seid wachsam! Wäre Gandalf Sturmkrähe nicht gewesen, Ihr hät-
tet ein Heer von Feinden aus Anórien heranrücken sehen, und keine Rei-
ter von Rohan. Und das mag immer noch geschehen. Lebt wohl und hal-
tet die Augen offen!«
Gandalf kam nun in das weite Land jenseits des Rammas Echor. So
nannten die Menschen von Gondor die Außenmauer, die sie in harter
Arbeit gebaut hatten, nachdem Ithilien unter den Schatten ihres Feindes
geraten war. Denn zehn oder mehr Wegstunden war sie lang, ausgehend
vom Fuß des Gebirges und wieder zu ihm zurückkehrend, und in ihrem
Gehege umschloß sie die Felder des Pelennor: schöne und fruchtbare
Hufen auf den langen Abhängen und Geländestufen, die zur Talsohle des
Anduin abfielen. Am weitesten entfernt vom Großen Stadttor, und zwar
vier Wegstunden, war die Mauer im Nordosten, die hier von einem be-
drohlichen Wall aus hinunter auf die weiten Ebenen am Fluß blickte, und
die die Menschen hoch und stark gemacht hatten; denn an diesem Punkt
kam auf einem mit Mauern geschützten Damm die Straße von den Furten
und den Brücken von Osgiliath herauf und führte zwischen zinnenbe-
wehrten Türmen durch ein bewachtes Tor. Der Stadt am nächsten war die
Mauer im Südosten; hier betrug die Entfernung kaum mehr als eine Weg-
stunde. An dieser Stelle bog der Anduin, der die Berge des Emyn Amen
im südlichen Ithilien in einer großen Schleife umfloß, scharf nach
Westen, und die Außenmauer erhob sich unmittelbar an seinem Ufer;
und unter ihr lagen die Kais und Landeplätze von Harlond, an denen die
Schiffe anlegten, die stromaufwärts aus den südlichen Lehen kamen.
Die Hufen waren reich an ausgedehnten Äckern und vielen Obstgärten,
und Gehöfte gab es mit Darre und Speicher, Pferch und Kuhstall, und
viele Bäche plätscherten durch die Wiesen vom Hochland hinab zum An-
duin. Dennoch waren die Hirten und Ackerbauern, die dort lebten, nicht
zahlreich, und der größte Teil des Volks von Gondor wohnte in den sie-
ben Ringen der Stadt oder in den hohen Tälern der Randgebirge, in Los-
sarnach oder weiter südlich im schönen Lebennin mit seinen fünf raschen
Flüssen. Dort zwischen den Bergen und dem Meer lebte ein zäher Volks-
stamm. Sie galten als Menschen von Gondor, doch war ihr Blut vermischt,
und es gab untersetzte und schwärzliche Leute unter ihnen, deren Vorfah-
ren wohl eher von den vergessenen Menschen abstammten, die in den
Dunklen Jahren vor der Ankunft der Könige im Schatten der Berge ge-
lebt hatten. Doch jenseits des Lebennin, in dem großen Lehen Belfalas,
saß Fürst Imrahil in seiner Burg Dol Amroth am Meer, und er war
von edlem Geblüt, und sein Volk auch, hochgewachsene und stolze Men-
schen mit meergrauen Augen.
Nachdem Gandalf nun einige Zeit geritten war, nahm das Tageslicht
am Himmel zu, und Pippin setzte sich auf und schaute sich um. Zu seiner
Linken lag ein Nebelmeer, das sich bis zu einem düsteren Schatten im
Osten hinaufzog; doch zu seiner Rechten erhoben sich in einer Kette vom
Westen her die Gipfel großer Berge und brachen steil und plötzlich ab, als
ob der Fluß bei der Erschaffung des Landes eine große Sperre durchbro-
chen und ein mächtiges Tal gestaltet habe, das in späteren Zeiten ein
Land des Kampfes und des Haders werden sollte. Und dort, wo das Weiße
Gebirge, Ered Nimrais, endete, sah er, wie Gandalf angekündigt hatte, den
düsteren Gebirgsstock Mindolluin und die dunkel purpurroten Schatten
seiner hohen Schluchten und seinen im aufgehenden Tag weißschimmern-
den Steilhang. Und auf einem vorgeschobenen Sattel lag die Bewachte
Stadt mit ihren sieben Mauern aus Stein, so mächtig und alt, daß es
schien, als seien sie nicht erbaut worden, sondern von Riesen aus dem Ge-
bein der Erde herausgehauen worden.
Während Pippin sie noch staunend betrachtete, gingen die Mauern von
undeutlichem Grau in Weiß über und röteten sich schwach in der Mor-
gendämmerung; und plötzlich stieg die Sonne über den östlichen Schatten
und sandte einen Strahl aus, der die Stadt traf. Da schrie Pippin laut auf,
denn nun hob sich der Turm von Ecthelion, der innerhalb der obersten
Mauer aufragte, klar vom Himmel ab, schimmernd wie eine Ähre aus
Perlen und Silber, hoch und schön und Wohlgestalt, und seine Spitze glit-
zerte, als sei sie aus Kristallen; weiße Banner entrollten sich und flatter-
ten im Morgenwind von den Zinnen, und laut und deutlich hörte er einen
hellen Klang wie von silbernen Trompeten.
So ritten bei Sonnenaufgang Gandalf und Peregrin zum Großen Tor der
Menschen von Gondor, und die eisernen Torflügel taten sich vor ihnen
auf.
»Mithrandir! Mithrandir!« riefen Männer. »Jetzt wissen wir, daß der
Sturm wahrlich nahe ist!«
»Er ist über euch«, sagte Gandalf. »Ich bin auf seinen Flügeln geritten.
Laßt mich durch! Ich muß zu eurem Herrn Denethor, solange er noch
Truchseß ist. Was immer geschehen mag, ihr steht am Ende von Gon-
dor, das ihr gekannt habt. Laßt mich durch!«
Die Männer wichen zurück vor seiner gebieterischen Stimme und stell-
ten ihm keine Fragen mehr, obwohl sie voll Staunen auf den Hobbit
blickten, der vor ihm saß, und auf das Pferd, das ihn trug. Denn das Volk
der Stadt brauchte kaum Pferde, und selten waren in den Straßen wel-
che zu sehen außer jenen der reitenden Boten ihres Herrn. Und sie sagten:
»Gewiß ist das doch eines der mächtigen Rösser des Königs von Rohan?
Vielleicht kommen die Rohirrim bald zu unserer Verstärkung.« Doch
Schattenfell schritt stolz die lange, gewundene Straße hinauf.
Denn das Eigentümliche an Minas Tirith war, daß es auf sieben Stufen
erbaut war; jede von ihnen war in den Berg hineingegraben und mit einer
Mauer umgeben worden, und in jeder Mauer war ein Tor. Doch die Tore
lagen nicht in einer Reihe übereinander: das Große Tor in der Stadtmauer
war im Osten des Ringes, doch das nächste blickte halb nach Süden und
das dritte halb nach Norden, und so immer abwechselnd bis nach oben;
der gepflasterte Weg, der zur Veste hinaufführte, erklomm den Berg
daher im Zickzack. Und jedesmal, wenn er über dem Großen Tor ange-
langt war, verschwand er in einem überwölbten Gang, der einen gewalti-
gen Felsenpfeiler durchschnitt, dessen riesige Außenseite alle Ringe der
Stadt mit Ausnahme des ersten in zwei Abschnitte teilte. Denn teilweise
in der urzeitlichen Gestalt des Berges und teilweise durch die große
Kunstfertigkeit und Arbeit von einst erhob sich vom rückwärtigen Teil
des breiten Platzes hinter dem Tor eine sich auftürmende Bastion aus
Stein, deren Rand scharf wie ein Schiffskiel nach Osten blickte. Sie stieg
empor bis zum obersten Ring und wurde dort von einer Brustwehr ge-
krönt, so daß die Besatzung der Veste von ihrem Gipfel aus wie Seeleute
auf einem riesigen Schiff steil hinunterblicken konnten auf das Tor, das
siebenhundert Fuß darunter lag. Auch der Eingang zur Veste blickte nach
Osten, aber er war tief in den Felsen eingegraben; von dort führte eine
von Lampen erhellte Böschung hinauf zum siebenten Tor. So gelangte
man schließlich zum Hohen Hof und dem Platz des Springbrunnens zu
Füßen des Weißen Turms: hoch und schöngeformt, fünfzig Klafter vom
Sockel bis zur Spitze, wo das Banner der Truchsesse tausend Fuß hoch
über der Ebene flatterte.
Eine wahrlich starke Veste, die kein feindliches Heer einzunehmen ver-
mochte, wenn Männer darinnen waren, die Waffen führen konnten; es sei
denn, ein Feind hätte, von hinten kommend, die unteren Säume des Min-
dolluin erklimmen und so den schmalen Bergsattel erreichen können, der
den Berg der Wacht mit dem Gebirgsstock verband. Doch dieser Bergsat-
tel, der in Höhe der fünften Mauer verlief, war mit großen Wallanlagen
gesichert bis hinauf zu dem Steilhang, der über sein westliches Ende hin-
ausragte. Und an dieser Stelle standen die Häuser und mit Kuppeln ge-
krönten Grabmäler vergangener Könige und Gebieter für immer stumm
zwischen dem Berg und dem Turm.
Mit wachsendem Erstaunen betrachtete Pippin die große, steinerne
Stadt, die gewaltiger und prächtiger war als alles, was er sich in seinen
Träumen vorgestellt hatte; größer und mächtiger als Isengart und sehr
viel schöner. Dennoch geriet sie in Wirklichkeit Jahr um Jahr mehr in
Verfall; und schon fehlte ihr die Hälfte der Menschen, die mit Leichtig-
keit dort hätten leben können. In jeder Straße kamen sie an irgendeinem
großen Haus oder Hof vorbei, über dessen Türen und gewölbten Torwe-
gen viele schöne Buchstaben von seltsamer und altertümlicher Form ein-
gemeißelt waren: Namen, vermutete Pippin, von großen Männern und
von Sippen, die einst hier gewohnt hatten; doch nun waren sie still, und
kein Schritt hallte über das breite Pflaster, keine Stimme war in den Hal-
len zu hören, kein Gesicht blickte aus der Tür oder den leeren Fenstern.
Schließlich kamen sie aus dem Schatten heraus zum siebenten Tor, und
die warme Sonne, die jenseits des Flusses herabschien, während Frodo
durch den lichten Wald von Ithilien wanderte, leuchtete hier auf den glat-
ten Mauern und standfesten Säulen und dem großen Gewölbebogen, in
dessen Schlußstein ein gekrönter und königlicher Kopf eingemeißelt war.
Gandalf saß ab, denn kein Pferd durfte in die Veste, und Schattenfell ließ
es zu, daß er auf ein leises Wort seines Herrn weggerührt wurde.
Die Torwächter waren schwarz gekleidet, und ihre Helme waren von
seltsamer Form, mit hoher Helmglocke und dicht am Gesicht anliegenden
langen Wangenschützern, und über den Wangenschützern saßen die wei-
ßen Schwingen von Seevögeln; doch schimmerten die Helme in einem sil-
bernen Glanz, denn sie waren aus mithril geschmiedet, Erbstücke der
ruhmreichen alten Zeiten. Auf den schwarzen Überwürfen war ein blü-
hender Baum weiß wie Schnee eingestickt unter einer silbernen Krone und
vielgezackten Sternen. Das war die Hoftracht von Elendils Erben, und in
ganz Gondor trug sie jetzt niemand außer den Wächtern der Veste vor
dem Hof des Springbrunnens, wo einst der Weiße Baum gewachsen war.
Es schien, als sei die Nachricht von ihrem Kommen schon vor ihnen
eingetroffen; denn sie wurden sofort eingelassen, stumm und ohne Fra-
gen. Rasch schritt Gandalf über den weißgepflasterten Hof. Ein lieblicher
Springbrunnen sprudelte dort in der Morgensonne, umgeben von leuch-
tend grünem Rasen; doch in der Mitte, über den Weiher geneigt, stand
ein toter Baum, und traurig rannen die herabfallenden Tropfen von seinen
dürren, abgestorbenen Zweigen wieder zurück in das klare Wasser.
Pippin betrachtete den Baum flüchtig, als er Gandalf nacheilte. Er sah
jämmerlich aus, fand er und wunderte sich, warum der tote Baum dort
stehen gelassen wurde, wo doch sonst alles so gepflegt war.
Sieben Sterne und sieben Steine und ein weiter Baum.
Die Worte, die Gandalf gemurmelt hatte, kamen ihm wieder in den
Sinn. Und dann stand er mit einemmal an den Türen der großen Halle
unter dem schimmernden Turm; und hinter dem Zauberer schritt er an
hochgewachsenen, stummen Türwächtern vorbei und betrat die kühlen,
widerhallenden Schatten des steinernen Hauses.
Sie gingen durch einen gepflasterten Gang, der lang und leer war, und
während sie gingen, sprach Gandalf leise mit Pippin. »Sei vorsichtig mit
deinen Worten, Herr Peregrin! Jetzt ist nicht die Zeit für Hobbit-Keck-
heit. Théoden ist ein freundlicher, alter Mann. Denethor ist von anderer
Art, stolz und schlau, ein Mann aus einem weit vornehmeren Geschlecht
und mächtiger, obwohl er nicht König genannt wird. Doch wird er haupt-
sächlich mit dir sprechen und dich viel fragen, da du ihm über seinen
Sohn Boromir berichten kannst. Er liebte ihn sehr: zu sehr vielleicht; und
um so mehr, als sie einander unähnlich waren. Aber unter dem Deck-
mantel dieser Liebe wird er glauben, daß er von dir leichter als von mir
erfahren kann, was er wissen möchte. Sage ihm nicht mehr, als du mußt,
und schweige über Frodos Auftrag. Ich werde das zur rechten Zeit vor-
bringen. Und sage auch nichts über Aragorn, es sei denn, du mußt.«
»Warum nicht? Was ist gegen Streicher einzuwenden?« flüsterte Pip-
pin. »Er hat doch vor herzukommen, nicht wahr? Und er wird sowieso
bald hier sein.«
»Vielleicht, vielleicht«, sagte Gandalf. »Doch wenn er kommt, wird es
wahrscheinlich auf eine Weise sein, die niemand erwartet, nicht einmal
Denethor. Es wird so besser sein. Zumindest sollte seine Ankunft nicht
von uns angekündigt werden.«
Gandalf blieb vor einer hohen Tür aus geglättetem Metall stehen.
»Schau, Herr Pippin, es ist keine Zeit mehr, dich jetzt über die Geschichte
von Gondor zu unterrichten, obwohl es besser wäre, du hättest etwas
davon gelernt, als du noch Vogelnester ausnahmst und in den Wäldern
des Auenlandes umherstreiftest. Tu, was ich dich heiße! Wenn man
einem mächtigen Herrn die Nachricht vom Tode seines Erben überbringt,
ist es nicht gerade klug, allzu viel von jemandes Ankunft zu reden, der,
wenn er kommt, Anspruch auf die Königswürde erheben wird.«
»Die Königswürde?« fragte Pippin erstaunt.
»Ja«, sagte Gandalf. »Wenn du all diese Tage mit geschlossenen
Augen und verschlafenem Sinn einhergegangen bist, dann wache jetzt
auf!« Er klopfte an die Tür.
Die Tür öffnete sich, aber niemand war zu sehen, der sie geöffnet hatte.
Pippin blickte in eine große Halle. Sie erhielt Licht durch tiefe Fenster in
den breiten Seitenschiffen hinter den Reihen hoher Säulen, die das Dach
trugen. Die Säulen waren jeweils aus einem einzigen schwarzen Marmor-
block herausgehauen, und in ihre großen Kapitelle waren viele seltsame
Figuren von Tieren und Blättern eingemeißelt; und hoch oben im Schat-
ten funkelte das Gewölbe von dunklem Gold, unterbrochen von ver-
schlungenem Maßwerk in vielen Farben. Keine Wandbehänge oder Bild-
teppiche und überhaupt keine Gegenstände aus gewebtem Stoff oder aus
Holz waren in dieser langen, feierlichen Halle zu sehen; doch zwischen
den Säulen erhob sich eine stumme Gruppe großer Standbilder aus kaltem
Stein.
Plötzlich fielen Pippin die behauenen Felsen von Argonath ein, und
eine ehrfürchtige Scheu überkam ihn, als er die lange Reihe längst verstor-
bener Könige entlangblickte. Auf einer Empore am anderen Ende des
Raums, zu der viele Stufen hinaufführten, stand unter einem Baldachin
aus Marmor in Form eines bekrönten Helms ein Herrschersitz; hinter ihm
war das Abbild eines blühenden Baumes in die Wand eingemeißelt und
mit Edelsteinen besetzt. Doch der Hochsitz war leer. Am Fuß der Empore,
auf der untersten Stufe, die breit und tief war, stand ein steinerner Sitz,
schwarz und unverziert, und darauf saß ein alter Mann und starrte auf sei-
nen Schoß. In der Hand hielt er einen weißen Stab mit goldenem Knauf.
Er blickte nicht auf. Gemessen schritten sie durch den langen Gang, bis
sie drei Schritte vor seinem Schemel stehenblieben. Dann sprach Gandalf.
»Heil, Herr und Truchseß von Minas Tirith, Denethor, Ecthelions
Sohn! Ich komme mit Rat und Botschaft in dieser dunklen Stunde.«
Nun blickte der alte Mann auf. Pippin sah sein scharf geschnittenes
Gesicht mit stolzen Zügen, einer Haut wie Elfenbein und einer langen, ge-
bogenen Nase zwischen dunklen, tiefliegenden Augen; und es erinnerte
ihn nicht so sehr an Boromir als vielmehr an Aragorn. »Wahrlich dun-
kel ist die Stunde«, sagte der alte Mann, »und zu solchen Zeiten ist es
Eure Gewohnheit zu kommen, Mithrandir. Doch obwohl alle Zeichen
künden, daß Gondors Untergang nahe ist, bedeutet mir diese Düsternis
weniger als meine eigene Düsternis. Mir ist gesagt worden. Ihr bringt
einen mit, der meinen Sohn sterben sah. Ist er das?«
»Das ist er«, sagte Gandalf. »Einer der beiden. Der andere ist bei Theo-
den von Rohan und kommt vielleicht später her. Halblinge sind es, wie
Ihr seht, doch dieser hier ist nicht derjenige, von dem die Weissagungen
sprachen.«
»Dennoch ein Halbling«, sagte Denethor bitter, »und wenig Liebe
bringe ich dem Namen entgegen, seit jene verfluchten Worte bekannt
wurden, unsere Pläne störten und meinen Sohn veranlaßten, zu seiner un-
besonnenen Fahrt aufzubrechen und seinem Tod entgegenzugehen. Mein
Boromir! Jetzt brauchen wir dich. Faramir hätte an deiner Stelle gehen
sollen.«
»Er wäre auch gegangen«, sagte Gandalf. »Seid nicht ungerecht in
Eurem Schmerz! Boromir beanspruchte den Auftrag für sich und wollte
nicht dulden, daß ein anderer ihn erhielt. Er war ein herrischer Mann, der
sich nahm, was er begehrte. Ich bin weit mit ihm gewandert und lernte
ihn gut kennen. Doch Ihr sprecht von seinem Tod. Hattet Ihr Nachricht
darüber, ehe wir kamen?«
»Das hier habe ich erhalten«, sagte Denethor, legte seinen Stab nieder
und hob von seinem Schoß das Ding auf, auf das er gestarrt hatte. In
jeder Hand hielt er eine Hälfte eines in der Mitte gespaltenen großen
Horns: das silberbeschlagene Horn eines wilden Ochsen.
»Das ist das Horn, das Boromir immer trug!« rief Pippin.
»Fürwahr«, sagte Denethor. »Und zu meiner Zeit trug ich es, und
ebenso jeder älteste Sohn unseres Hauses bis zurück zu den entschwunde-
nen Jahren, ehe die Könige ausstarben, seit Vorondil, Mardils Vater, die
wilden Rinder von Araw auf den fernen Feldern von Rhun jagte.
Schwach hörte ich es vor dreizehn Tagen in den nördlichen Grenzlanden
blasen, und der Strom hat es mir gebracht, geborsten. Es wird nimmer-
mehr erschallen.« Er hielt inne, und es herrschte ein bedrücktes Schwei-
gen. Plötzlich wandte er seinen schwarzen Blick auf Pippin. »Was hast du
dazu zu sagen, Halbling?«
»Dreizehn, dreizehn Tage«, stammelte Pippin. »Ja, ich glaube, so wird
es gewesen sein. Ja, ich stand neben ihm, als er das Horn blies. Aber
keine Hilfe kam. Nur noch mehr Orks.«
»So«, sagte Denethor und sah Pippin scharf an. »Du warst also da? Er-
zähle mir mehr! Warum kam keine Hilfe? Und wie bist du entkommen, er
aber nicht, der doch ein so starker Mann war und nur Orks gegen sich
hatte?«
Pippin errötete und vergaß seine Angst. »Der stärkste Mann kann von
einem einzigen Pfeil erschlagen werden«, sagte er, »und Boromir wurde
von vielen durchbohrt. Als ich ihn zuletzt sah, sank er neben einem
Baum nieder und zog sich einen schwarzgefiederten Schaft aus der Seite.
Dann verlor ich das Bewußtsein und wurde gefangengenommen.
Ich sah ihn nicht mehr und weiß nichts mehr. Aber ich halte sein Ange-
denken in Ehren, denn er war sehr tapfer. Er starb, um uns zu retten, mei-
nen Vetter Meriadoc und mich, als die Soldaten des Dunklen Herrschers
uns in den Wäldern auflauerten; und obwohl er fiel und uns nicht retten
konnte, ist meine Dankbarkeit um nichts geringer.«
Dann blickte Pippin dem alten Mann in die Augen, denn seltsam regte
sich in ihm sein Stolz, der noch verletzt war durch die Verachtung und
das Mißtrauen in jener kalten Stimme. »Als wenig nützlich wird zweifel-
los ein so mächtiger Gebieter der Menschen einen Hobbit erachten, einen
Halbling aus dem nördlichen Auenland. Doch was ich an Diensten lei-
sten kann, will ich anbieten, um meine Schuld abzutragen.« Er zerrte sei-
nen grauen Mantel beiseite, zog sein kleines Schwert und legte es Dene-
thor zu Füßen.
Ein bleiches Lächeln wie der matte Schimmer der kalten Sonne eines
Winterabends zog über das Gesicht des alten Mannes; doch er senkte den
Kopf, streckte die Hand aus und legte die Bruchstücke des Horns beiseite.
»Gib mir die Waffe!« sagte er.
Pippin hob sie auf und reichte ihm das Heft. »Woher kam sie?« fragte
Denethor. »Viele, viele Jahre liegen auf ihr. Gewiß ist das eine Klinge, die
in grauer Vorzeit von unserer eigenen Sippe im Norden geschmiedet
wurde?«
»Sie kam aus den Hügelgräbern, die an den Grenzen meines Landes lie-
gen«, sagte Pippin. »Doch jetzt hausen dort nur böse Unholde, und nicht
gern möchte ich mehr von ihnen erzählen.«
»Ich sehe, daß seltsame Geschichten um dich verwoben sind«, sagte
Denethor, »und wieder einmal zeigt sich, daß das Äußere eines Mannes —
oder eines Halblings — täuschen mag. Ich nehme deine Dienste an. Denn
du läßt dich von Worten nicht einschüchtern; und du rührst eine höfliche
Sprache, obwohl ihr Klang uns im Süden seltsam erscheinen mag. Und in
den kommenden Tagen werden wir alle höflichen Leute brauchen, seien
sie groß oder klein. Leiste mir jetzt den Eid!«
»Nimm das Heft«, sagte Gandalf, »und sprich dem Herrn nach, wenn
du dazu entschlossen bist.« — »Das bin ich«, sagte Pippin.
Der alte Mann legte das Schwert auf seinen Schoß, und Pippin berührte
das Heft mit der Hand und sprach Denethor langsam nach:
»Hier gelobe ich Lehnstreue und Dienst für Gondor und für den Herrn
und Truchseß des Reiches, zu sprechen und zu schweigen, zu tun und ge-
schehen zu lassen, zu kommen und zu gehen, in der Not und in guten
Zeiten, im Frieden oder Krieg, im Leben oder Sterben, von dieser Stunde
an, bis mein Herr mich freigibt oder der Tod mich nimmt oder die Welt
endet. So sage ich, Peregrin, Paladins Sohn, aus dem Auenland der Halb-
linge.«
»Und das höre ich, Denethor, Ecthelions Sohn, Herr von Gondor,
Truchseß des Hohen Königs, und ich werde es nicht vergessen noch ver-
säumen, das zu vergelten, was gegeben wird: Lehnstreue mit Liebe, Tap-
ferkeit mit Ehre, Eidbruch mit Strafe.« Dann erhielt Pippin sein Schwert
zurück und steckte es in die Scheide.
»Und nun«, sagte Denethor, »mein erster Befehl an dich: sprich und
schweige nicht! Erzähle mir die ganze Geschichte und rufe dir alles, was
du von Boromir, meinem Sohn, weißt, ins Gedächtnis zurück. Setze dich
nun und beginne!« Während er sprach, schlug er auf ein kleines silbernes
Schallbecken, das neben seinem Schemel stand, und sofort kamen Diener.
Pippin sah dann, daß sie unbemerkt in Alkoven zu beiden Seiten der Tür
gestanden hatten, als Gandalf und er hereingekommen waren.
»Bringt Wein und Speise und Stühle für die Gäste«, sagte Denethor,
»und sorgt dafür, daß wir eine Stunde lang von niemandem gestört wer-
den.«
»Das ist alles, was ich erübrigen kann, denn vieles andere ist zu beden-
ken«, sagte er zu Gandalf. »Vieles, was wichtiger ist, wie es scheinen
mag, und doch für mich weniger dringend. Aber vielleicht können wir am
Ende des Tages wieder miteinander reden.«
»Und früher, will ich hoffen«, sagte Gandalf. »Denn ich bin nicht
von Isengart hierher geritten, einhundertfünfzig Wegstunden, mit Win-
deseile, nur um Euch einen kleinen Krieger zu bringen, wie höflich er
auch sein mag. Bedeutet es Euch nichts, daß Théoden eine große Schlacht
geschlagen hat, daß Isengart zerstört ist und ich Sarumans Stab zer-
brochen habe?«
»Es bedeutet mir viel. Aber ich weiß bereits genug von diesen Taten
für meine eigenen Pläne gegen die Drohung des Ostens.« Er richtete seine
dunklen Augen auf Gandalf, und jetzt bemerkte Pippin eine Ähnlichkeit
zwischen den beiden, und er spürte eine Spannung zwischen ihnen, fast
als sähe er eine schwelende Zündschnur, die von einem Auge zum ande-
ren gezogen war und plötzlich in Flammen aufgehen könnte.
Denethor sah in Wirklichkeit viel mehr wie ein großer Zauberer aus als
Gandalf, königlicher, schön und mächtig; und älter. Doch mit einem an-
deren Sinn als dem Sehvermögen erkannte Pippin, daß Gandalf die grö-
ßere Macht und die tiefere Weisheit besaß und eine Hoheit, die ver-
schleiert war. Und er war älter, weit älter. »Wieviel älter?« fragte er
sich,
und dann dachte er, wie merkwürdig es sei, daß er nie zuvor darüber
nachgedacht hatte. Baumbart hatte etwas über Zauberer gesagt, aber
selbst da hatte er nicht an Gandalf als einen von ihnen gedacht. Was
war Gandalf eigentlich? In welcher fernen Zeit und an welchem Ort
war er auf die Welt gekommen, und wann würde er sie verlassen?
Und dann brachen seine Grübeleien ab, und er sah, daß Denethor und
Gandalf sich immer noch in die Augen blickten, als wollten sie in der
Seele des anderen lesen. Aber Denethor war es, der zuerst den Blick
abwandte.
»Ja«, sagte er. »Obwohl die Steine, wie es heißt, verloren sind, haben
die Herren von Gondor immer noch ein schärferes Auge als geringere
Menschen, und viele Botschaften gelangen zu ihnen. Doch setzt Euch
nun!«
Dann kamen Männer und brachten einen Stuhl und einen niedrigen
Hocker, und einer brachte ein Auftragebrett mit einem silbernen Krug
und Bechern und weißen Kuchen. Pippin setzte sich hin, aber er konnte
seine Augen nicht von dem alten Gebieter abwenden. War es so, oder
hatte er es sich nur eingebildet, daß Denethor, als er von den Steinen
sprach, plötzlich einen Blick auf Pippin geworfen hatte?
»Nun erzähle mir deine Geschichte, mein Lehnsmann«, sagte Denethor,
halb freundlich, halb spöttisch. »Denn die Worte von einem, mit dem
mein Sohn so gut Freund war, werden fürwahr willkommen sein.«
Niemals vergaß Pippin jene Stunde in der großen Halle unter dem
durchbohrenden Blick des Herrn von Gondor, immer wieder aufge-
schreckt durch seine geschickten Fragen, und alldieweil war er sich Gan-
dalfs an seiner Seite bewußt, der beobachtete und zuhörte und (wie Pippin
merkte) seinen aufsteigenden Zorn und seine Ungeduld im Zaum hielt.
Als die Stunde um war und Denethor wieder an das Schallbecken schlug,
war Pippin erschöpft. »Es kann nicht später als neun Uhr sein«, dachte er.
»Ich könnte jetzt dreimal hintereinander frühstücken.«
»Führt den Herrn Mithrandir zu der für ihn vorbereiteten Unterkunft«,
sagte Denethor, »und sein Gefährte mag fürs erste bei ihm wohnen, wenn
er will. Und es soll bekanntgemacht werden, daß ich ihn in Eid und
Pflicht genommen habe, und als Peregrin, Paladins Sohn soll er bekannt
sein und die minderen Losungsworte erfahren. Schickt den Heerführern
Nachricht, daß sie mich sobald als möglich hier aufsuchen sollen, nach-
dem die dritte Stunde geschlagen hat.«
»Und Ihr, Herr Mithrandir, sollt auch kommen, wann immer Ihr wollt.
Niemand soll Euch hindern, jederzeit zu mir zu kommen, außer in
den kurzen Stunden meines Schlafs. Laßt Euren Zorn über die Torheit
eines alten Mannes abkühlen und kommt dann zurück zu meinem
Trost.«
»Torheit?« sagte Gandalf. »Nein, Herr, wenn Ihr ein schwachsinniger
Greis seid, dann werdet Ihr sterben. Selbst Euren Schmerz vermögt Ihr als
einen Deckmantel zu benutzen. Glaubt Ihr, ich verstehe Eure Absicht
nicht, wenn Ihr eine Stunde lang den verhört, der am wenigsten weiß,
während ich daneben sitze?«
»Wenn Ihr es versteht, dann seid zufrieden«, erwiderte Denethor.
»Stolz, der in der Not Hilfe und Rat verschmähte, wäre Torheit; doch
Ihr verteilt solche Gaben entsprechend Euren eigenen Plänen. Dennoch
darf der Herr von Gondor nicht zum Werkzeug der Absichten anderer
Männer gemacht werden, wie ehrenwert sie auch sein mögen. Und für ihn
gibt es kein höheres Ziel in der Welt, so, wie die Dinge jetzt liegen, als
Gondors Wohl, und in Gondor herrsche ich, mein Herr, und kein ande-
rer, es sei denn, der König käme wieder.«
»Es sei denn, der König käme wieder?« sagte Gandalf. »Nun, Herr
Truchseß, Eure Aufgabe ist es, einen Teil des Königreichs zu bewahren
bis zu diesem Ereignis, das zu erleben wenige jetzt erwarten. Bei dieser
Aufgabe sollt Ihr alle Hilfe erhalten, die zu erbitten Euch beliebt. Aber
das will ich sagen: kein Reich beherrsche ich, weder Gondor noch irgendein
anderes, ob groß oder klein. Doch alles, was Wert hat in der Welt, so wie
die Dinge jetzt liegen, das steht unter meinem Schutz. Und ich für mein
Teil werde mit meiner Aufgabe nicht ganz scheitern, sollte Gondor auch
zugrunde gehen, wenn irgend etwas diese Nacht übersteht, das noch gut
werden oder Frucht tragen oder in zukünftigen Tagen wieder blühen
kann. Denn auch ich bin ein Truchseß. Wußtet Ihr das nicht?« Und damit
wandte er sich ab und verließ mit Pippin, der neben ihm herlief, die
Halle.
Gandalf schaute Pippin nicht an und sprach kein Wort mit ihm, wäh-
rend sie gingen. Ihr Führer brachte sie von den Toren der Halle über den
Hof des Springbrunnens zu einer Gasse zwischen hohen Steinhäusern.
Nach mehreren Kehren kamen sie zu einem Haus dicht an der Mauer der
Veste auf der Nordseite, nicht weit von dem Sattel, der den Berg mit dem
Gebirge verband. Drinnen, im ersten Stock über der Straße, zu dem sie
über eine breite, geschnitzte Treppe gelangt waren, geleitete er sie in
einen schönen Raum, hell und luftig, mit prächtigen Wandbehängen in
dunkelgoldenem Ton und ungemustert. Das Zimmer war spärlich ausge-
stattet und hatte nur einen kleinen Tisch, zwei Stühle und eine Bank,
doch zu beiden Seiten waren Alkoven, und darinnen standen hinter Vor-
hängen gut gedeckte Betten und Wasserkrüge und Becken zum Waschen.
Drei Fenster gab es; sie gingen nach Norden, und jenseits der großen
Schleife des Anduin, die noch in Nebel gehüllt war, konnte man in der
Feme den Emyn Muil und Rauros sehen. Pippin mußte auf die Bank klet-
tern, um über die breite steinerne Fensterbank zu blicken.
»Bist du böse auf mich, Gandalf?« fragte Pippin, als ihr Führer gegan-
gen war und die Tür geschlossen hatte. »Ich habe es so gut gemacht, wie
ich nur konnte.«
»Das hast du wirklich«, sagte Gandalf und lachte plötzlich; und er kam
zu Pippin, stellte sich neben ihn, legte dem Hobbit den Arm um die
Schulter und starrte aus dem Fenster hinaus. Pippin schaute erstaunt auf
das Gesicht, das jetzt so dicht neben seinem war, denn das Lachen hatte
fröhlich und vergnügt geklungen. Dennoch sah er im Gesicht des Zaube-
rers Kummer- und Sorgenfalten; doch als er genauer hinschaute, erkannte
er, daß sich unter alledem eine große Freude verbarg: eine Quelle der Hei-
terkeit, die gereicht hätte, ein Königreich zum Lachen zu bringen, wenn
sie zu sprudeln begänne.
»Wirklich, du hast dein Bestes getan«, sagte der Zauberer. »Und ich
hoffe, daß es lange dauern möge, bis du dich wieder in einer so mißlichen
Lage zwischen zwei so entsetzlichen alten Männern befindest. Immerhin
erfuhr der Herr von Gondor mehr von dir, als du vermuten magst, Pip-
pin. Du konntest die Tatsache nicht verheimlichen, daß nicht Boromir die
Gemeinschaft von Moria aus führte, und daß unter euch einer von hohem
Rang war, der nach Minas Tirith kommt; und daß er ein berühmtes
Schwert hatte. Die Menschen denken viel nach über die Geschichten aus
den alten Zeiten von Gondor, und Denethor hat lange über den
Vers und die Worte Isildurs Fluch nachgegrübelt, seit Boromir fortging.
Er ist nicht wie andere Männer dieser Tage, Pippin, und wie immer
seine Abstammung von Vater zu Sohn auch war, durch irgendeinen Zu-
fall rinnt das Blut von Westernis fast unverfälscht in seinen Adern;
ebenso wie bei seinem anderen Sohn, Faramir, indes nicht bei Boromir,
den er am meisten liebte. Er vermag weit zu blicken. Wenn er Seinen Wil-
len darauf richtet, kann er viel von dem wahrnehmen, was im Geiste an-
derer Menschen vor sich geht, selbst derer, die in weiter Feme weilen. Es
ist schwer, ihn zu täuschen, und gefährlich, es zu versuchen.
Denke daran! Denn du hast ihm nun den Diensteid geleistet. Ich weiß
nicht, warum du es dir in den Kopf gesetzt hast oder dein Herz dir befahl,
das zu tun. Aber es war gut getan. Ich habe es nicht verhindert, denn
großmütigen Taten sollte nicht durch kalten Rat Einhalt geboten werden.
Es rührte sein Herz und (wenn ich das sagen darf) besserte auch seine
Stimmung. Und zumindest kannst du dich nun in Minas Tirith frei bewe-
gen, wie es dir gefällt — wenn du nicht gerade Dienst hast. Du unterstehst
seinem Befehl, und er wird es nicht vergessen. Sei also immer noch vor-
sichtig!«
Er schwieg und seufzte. »Nun, es ist nicht nötig, darüber nachzugrü-
beln, was der morgige Tag bringen mag. Denn gewiß wird das Morgen
Schlechteres bringen als das Heute, und so wird es viele Tage gehen. Und
ich kann nichts mehr tun, um es zu ändern. Das Schachbrett ist aufge-
stellt, und die Figuren sind in Bewegung. Eine Figur, die zu finden ich
sehr wünschte, ist Faramir, der nun Denethors Erbe ist. Ich glaube, er ist
nicht in der Stadt; aber ich hatte noch keine Zeit, mich umzuhören. Ich
muß gehen, Pippin. Ich muß zu dem Kriegsrat des Herrn gehen und ver-
suchen, etwas zu erfahren. Doch der Feind ist am Zuge und im Begriff,
sein Spiel voll zu eröffnen. Und die Bauern werden wahrscheinlich ebenso
viel davon zu sehen bekommen wie alle anderen Figuren, Peregrin, Pala-
dins Sohn, Gefolgsmann von Gondor. Schärfe dein Schwert!«
Gandalf ging zur Tür, und dort wandte er sich noch einmal um. »Ich
bin in Eile, Pippin«, sagte er. »Tu mir einen Gefallen, wenn du hinaus-
gehst. Sogar ehe du dich ausruhst, wenn du nicht zu müde bist. Geh und
suche Schattenfell und sieh nach, wie er untergebracht ist. Diese Leute
sind gütig zu Tieren, denn sie sind ein gutes und kluges Volk, aber sie
haben weniger Erfahrung mit Pferden als andere.«
Damit ging Gandalf hinaus, und in eben dem Augenblick erschallte
vom Turm in der Veste ein klarer, lieblicher Glockenton. Dreimal schlug
es silberhell und verklang: die dritte Stunde nach Sonnenaufgang.
Gleich darauf ging Pippin zur Tür und die Treppe hinunter und schaute
sich auf der Straße um. Die Sonne schien jetzt warm und hell, und die
Türme und hohen Häuser warfen lange, scharf umrissene Schatten nach
Westen. Hoch in die blauen Lüfte erhob der Mindolluinberg seinen wei-
ßen Helm und schneeigen Mantel. Bewaffnete Mannen liefen auf den
Wegen der Stadt hin und her, als ob sie beim Stundenschlag zur Ablö-
sung von Posten und Wachen gingen.
»Neun Uhr würden wir es im Auenland nennen«, sagte Pippin laut vor
sich hin. »Gerade die Zeit für ein gutes Frühstück am offenen Fenster
in der Frühlingssonne. Und wie gern hätte ich ein Frühstück! Ob es das
bei diesen Leuten überhaupt gibt, oder ist es schon vorbei? Und wann
nehmen sie ihre Hauptmahlzeit ein, und wo?«
Plötzlich bemerkte er einen in Schwarz und Weiß gekleideten Mann, der
die schmale Straße geradenwegs von der Veste herunter und auf ihn zu-
kam. Pippin fühlte sich einsam und beschloß, den Mann anzusprechen,
wenn er vorbeiging; aber er brauchte es nicht. Der Mann kam schnur-
stracks auf ihn zu.
»Seid Ihr Peregrin der Halbling?« fragte er. »Mir wurde gesagt. Ihr
seid für den Herrn und die Stadt in Eid und Pflicht genommen worden.
Willkommen!« Er streckte ihm die Hand hin, und Pippin nahm sie.
»Ich heiße Beregond, Baranors Sohn. Heute morgen habe ich keinen
Dienst und bin ausgesandt worden, um Euch über die Losungsworte zu
unterrichten und Euch einige der vielen Dinge zu erzählen, die Ihr
zweifellos wissen wollt. Und ich für mein Teil möchte auch gern
einiges von Euch erfahren. Denn niemals zuvor haben wir einen Halb-
ling in diesem Land gesehen, und obwohl wir Gerüchte über sie ge-
hört haben, wird wenig über sie gesagt in irgendeiner Erzählung, die
wir kennen. Überdies seid Ihr ein Freund von Mithrandir. Kennt Ihr
ihn gut?«
»Nun«, sagte Pippin, »von ihm habe ich mein ganzes kurzes Leben ge-
wußt, wie man sagen könnte; und in letzter Zeit bin ich weit mit ihm ge-
wandert. Aber in diesem Buch gibt es viel zu lesen, und ich kann nicht
behaupten, mehr als ein oder zwei Seiten gesehen zu haben. Immerhin
kenne ich ihn vielleicht so gut wie irgendeiner mit Ausnahme einiger
weniger. Aragorn war der einzige in unserer Gemeinschaft, glaube ich,
der ihn wirklich kannte.«
»Aragorn?« sagte Beregond. »Wer ist das?«
»Ach«, stammelte Pippin, »ein Mann, der mit uns wanderte. Ich
glaube, er ist jetzt in Rohan.«
»Ihr seid in Rohan gewesen, wie ich höre. Auch über dieses Land
würde ich Euch gern viel fragen; denn zu einem gut Teil gründet sich die
geringe Hoffnung, die wir haben, auf dieses Volk. Aber ich vergesse mei-
nen Auftrag, wonach ich zuerst beantworten soll, was Ihr fragen wollt.
Was möchtet Ihr wissen, Herr Peregrin?«
»Hm«, sagte Pippin, »wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, es ist
eine ziemlich brennende Frage, die mich zur Zeit beschäftigt, nämlich wie
es mit dem Frühstück und alledem steht? Ich meine, wann sind die Mahl-
zeiten, versteht Ihr, und wo ist der Speisesaal, wenn es einen gibt? Und
Wirtshäuser? Ich habe mich umgeschaut, aber ich sah keins, als wir her-
aufritten, obwohl mich die Hoffnung auf einen Schluck Bier, sobald wir
zu den Behausungen kluger und gesitteter Menschen kämen, aufrechter-
halten hat.«
Beregond sah ihn ernst an. »Ein alter Haudegen, das sehe ich«, sagte
er. »Es heißt, daß Männer, die in den Krieg ziehen, als nächstes immer
auf Essen und Trinken hoffen; obwohl ich selbst kein weitgereister Mann
bin. Dann habt Ihr also heute noch nichts gegessen?«
»Nun ja, ehrlich gesagt, doch«, antwortete Pippin. »Aber es war nicht
mehr als ein Becher Wein und ein oder zwei weiße Kuchen dank der Güte
Eures Herrn; aber er hat mich eine Stunde lang mit Fragen gequält, und
das macht hungrig.«
Beregond lachte. »Bei Tisch mögen kleine Männer die größeren Taten
vollbringen, heißt es bei uns. Aber Ihr habt ebenso gut gefrühstückt wie
jedermann in der Veste, und mit größerer Ehre. Dies ist eine Festung und
ein Turm der Wacht und jetzt im Kriegszustand. Wir stehen vor der
Sonne auf, essen einen Happen in der Dämmerung und gehen zu unserem
Dienst, wenn er beginnt. Doch verzagt nicht!« Er lachte wieder, als er die
Verzweiflung in Pippins Gesicht sah. »Diejenigen, die einen schweren
Dienst hatten, nehmen im Laufe des Vormittags etwas zu sich, um ihre
Kraft wieder aufzufrischen. Dann gibt es einen Imbiß um die Mittags-
stunde oder danach, wie der Dienst es zuläßt; und bei Sonnenuntergang
versammeln sich die Männer zur Hauptmahlzeit und fröhlicher Unterhal-
tung, so weit das noch möglich ist.
»Doch kommt! Wir wollen ein wenig Spazierengehen und uns dann
nach irgendeiner Erfrischung umsehen, auf der Festungsmauer essen und
trinken und den schönen Morgen betrachten.«
»Einen Augenblick«, sagte Pippin errötend. »Gier oder Hunger, wie Ihr
es höflicher Weise nennen würdet, ließ es mich vergessen. Gandalf,
Mithrandir, wie Ihr ihn nennt, hat mich nämlich gebeten, mich um sein
Pferd zu kümmern — Schattenfell, ein prächtiges Roß aus Rohan, der
Liebling des Königs, wie es heißt, obwohl er es Mithrandir für seine
guten Dienste geschenkt hat. Ich glaube, sein neuer Herr liebt das Tier
mehr als manche Menschen, und wenn sein Wohlwollen irgendeinen
Wert für diese Stadt hat, dann werdet Ihr Schattenfell mit allen Ehren be-
handeln: mit noch größerer Freundlichkeit als diesen Hobbit, wenn es
möglich ist.«
»Hobbit?« fragte Beregond.
»So nennen wir uns selbst«, sagte Pippin.
»Das freut mich zu hören«, sagte Beregond. »Denn nun kann ich
sagen, daß fremdländische Aussprache eine schöne Redeweise nicht ver-
hindert, und Hobbits sind ein schön sprechendes Volk. Doch kommt jetzt!
Ihr sollt mich mit dem guten Pferd bekannt machen. Wir sehen selten
Tiere in dieser steinernen Stadt, und ich liebe sie, denn meine Sippe kam
aus den Gebirgstälern und stammt ursprünglich aus Ithilien. Doch fürch-
tet Euch nicht! Der Besuch soll kurz sein, ein bloßer Höflichkeitsbesuch,
und von da aus gehen wir dann zu den Schenken.«
Pippin stellte fest, daß Schattenfell gut untergebracht und versorgt war.
Denn im sechsten Ring der Stadt, außerhalb der Mauern der Veste, gab es
schöne Ställe für einige wenige schnelle Pferde dicht bei den Unterkünf-
ten der reitenden Boten des Herrn: Boten, die immer bereit standen, um
auf dringenden Befehl von Denethor oder seiner Heerführer loszureiten.
Doch jetzt waren alle Pferde und Reiter unterwegs.
Schattenfell wieherte, als Pippin in den Stall kam, und wandte den
Kopf. »Guten Morgen«, sagte Pippin. »Gandalf wird kommen, sobald er
kann. Er ist beschäftigt, aber er schickt Grüße, und ich soll nach-
sehen, ob alles gut ist bei dir; und du ruhst dich aus, hoffe ich, nach dei-
nen langen Mühen.«
Schattenfell warf den Kopf zurück und stampfte. Doch ließ er zu, daß
ihm Beregond sanft den Kopf tätschelte und die großen Flanken strei-
chelte.
»Er sieht aus, als sehne er sich nach einem Wettlauf, und nicht, als sei
er eben erst von einer langen Fahrt gekommen«, sagte Beregond. »Wie
stark und stolz er ist! Wo ist sein Geschirr? Es sollte prächtig und schön
sein.«
»Keins ist prächtig und schön genug für ihn«, sagte Pippin. »Er
will keins haben. Wenn er bereit ist, Euch zu tragen, dann trägt er Euch;
und wenn nicht, dann wird kein Zaum und kein Zügel, keine Peitsche
und kein Riemen ihn gefügig machen. Leb wohl! Schattenfell! Habe Ge-
duld. Die Schlacht kommt.«
Schattenfell hob den Kopf und wieherte so laut, daß der Stall bebte und
sie sich die Ohren zuhielten. Dann nahmen sie Abschied, nachdem sie
sich überzeugt hatten, daß die Krippe gut gefüllt war.
»Und nun zu unserer Krippe«, sagte Beregond, und er führte Pippin zu-
rück zur Veste und dann zu einer Tür an der Nordseite des großen Turms.
Dort stiegen sie eine lange, kühle Treppe hinunter zu einem breiten, von
Lampen erleuchteten Gang. Auf beiden Seiten waren Durchreichen, und
eine stand offen.
»Das ist das Vorratshaus und der Ausschank für meine Schar der
Wache«, sagte Beregond. »Grüß dich, Targon!« rief er durch die Durch-
reiche. »Es ist noch früh, aber hier ist ein Neuer, den der Herr in seinen
Dienst genommen hat. Er ist lange und weit geritten mit eng geschnall-
tem Gürtel und hat heute morgen schwere Arbeit geleistet, und nun ist er
hungrig. Gib uns, was du hast!«
Sie bekamen Brot und Butter, Käse und Äpfel: die letzten aus dem
Wintervorrat, verschrumpelt, aber saftig und süß; und einen ledernen
Bocksbeutel mit frisch gezapftem Bier und hölzerne Teller und Becher.
Alles verstauten sie in einem Weidenkorb und klommen wieder hinauf in
die Sonne; und Beregond brachte Pippin zu einer Stelle am östlichen Ende
der großen herausragenden Brustwehr, an der eine Schießscharte in der
Mauer war und ein steinerner Sitz unter dem Süll. Von hier konnten sie
hinausschauen auf den Morgen allüberall.
Sie aßen und tranken; und sie sprachen bald von Gondor und seinen
Sitten und Bräuchen, bald vom Auenland und den fremden Ländern, die
Pippin gesehen hatte. Und je länger sie sich unterhielten, um so verwun-
derter war Beregond und schaute den Hobbit in immer größerem Erstau-
nen an, wie er da auf der Steinbank saß und die kurzen Beine baumeln
ließ oder sich auf Zehenspitzen stellte, um über das Süll auf die Lande un-
ten zu blicken.
»Ich will Euch nicht verbergen, Herr Peregrin«, sagte Beregond, »daß
Ihr in unseren Augen fast wie eins unserer Kinder ausseht, ein Bub von
neun Jahren oder so; und dennoch habt Ihr Gefahren überstanden und
Wunderdinge gesehen, deren sich wenige unserer Graubärte rühmen
könnten. Ich glaubte, es sei eine Laune unseres Herrn, sich einen Edel-
knaben zu nehmen, so wie es die Könige von einst taten, heißt es.
Aber ich sehe, daß dem nicht so ist, und Ihr müßt meine Torheit ver-
zeihen.«
»Das tue ich«, sagte Pippin. »Obwohl Ihr nicht weit daneben geschos-
sen habt. In den Augen meines eigenen Volkes bin ich immer noch kaum
mehr als ein Junge, denn es dauert noch vier Jahre, bis ich »mündig«
werde, wie wir im Auenland sagen. Aber macht Euch keine Gedanken
um mich. Schaut hinaus und erzählt mir, was ich hier sehe.«
Die Sonne stand jetzt hoch, und die Nebel unten im Tal hatten sich ge-
hoben. Wie weiße Wolkenfetzen zogen die letzten Nebelschwaden gerade
über ihre Köpfe hinweg, davongetragen von der steifen Brise aus dem
Osten, die an den Fahnen und weißen Bannern der Veste zog und
zerrte. Weit unten auf der Talsohle, etwa fünf Wegstunden wie das Auge
schweift, sah man jetzt grau und glitzernd den Großen Strom, der sich,
von Nordwesten kommend, in einer mächtigen Schleife nach Süden
und dann wieder nach Westen zog, und dann verschwand er in einem
Dunst und Schimmer, hinter dem, fünfzig Wegstunden entfernt, das
Meer lag.
Pippin sah den ganzen Pelennor vor sich ausgebreitet, bis in die Ferne
getüpfelt mit Bauerngehöften und kleinen Mauern, Scheunen und Kuh-
ställen, aber nirgends konnte er Rinder oder andere Tiere sehen. Viele
Straßen und Pfade kreuzten die grünen Felder, und es gab viel Kommen
und Gehen: lange Wagenschlangen zogen zum Großen Tor, und andere
kamen heraus. Dann und wann kam ein Reiter, sprang aus dem Sattel
und eilte in die Stadt. Doch der stärkste Verkehr war auf der großen
Hauptstraße, die nach Süden führte, einen kleineren Bogen als der Fluß
beschrieb, sich an den Bergen entlangzog und bald dem Blick entschwand.
Sie war breit und gut gepflastert, und an ihrem östlichen Rand verlief ein
stattlicher, grüner Reitweg und hinter ihm eine Mauer. Auf dem Reitweg
galoppierten Reiter hin und her, aber die ganze Straße schien verstopft zu
sein mit großen, bedeckten Wagen, die nach Süden unterwegs waren.
Doch bald erkannte Pippin, daß in Wirklichkeit alles wohlgeordnet war:
die Wagen fuhren in drei Reihen, eine schneller, mit Pferden bespannt;
langsamer in der zweiten Reihe die mit Ochsen bespannten großen
Wagen mit schönen, vielfarbigen Planen; und viele kleinere Karren am
Westrand der Straße wurden mühselig von Männern gezogen.
»Das ist die Straße zu den Tälern Tumladen und Lossarnach und zu
den Bergdörfern und dann weiter nach Lebennin«, sagte Beregond.
»Dort fahren die letzten der Planwagen, die die Alten und Kinder und die
Frauen, die sie begleiten müssen, in Sicherheit bringen. Vor der Mittags-
stunde müssen sie alle fort sein, und auf eine Wegstunde vom Tor muß
die Straße frei sein: so lautet der Befehl. Es ist traurig, aber unumgäng-
lich.« Er seufzte. »Vielleicht werden sich wenige von denen, die sich jetzt
trennen, wiedersehen. Und es hat immer zu wenig Kinder in dieser Stadt
gegeben; aber jetzt sind gar keine mehr da — außer einigen jungen Bur-
schen, die nicht fort wollten und vielleicht irgendeine Aufgabe zu erfül-
len finden. Mein eigener Sohn ist einer von ihnen.«
Sie schwiegen beide eine Weile. Pippin starrte ängstlich nach Osten, als
ob er jeden Augenblick erwarte, daß Tausende von Orks über die Felder
herankommen. »Was sieht man denn dort?« fragte er und zeigte auf die
Mitte der großen Schleife des Anduin. »Ist das noch eine Stadt, oder was
ist es?«
»Es war eine Stadt«, sagte Beregond. »Die Hauptstadt von Gondor, und
diese hier war nur eine Festung. Was Ihr dort seht, sind die Trümmer von
Osgiliath auf beiden Ufern des Anduin, das unsere Feinde vor langer Zeit
eroberten und niederbrannten. Doch haben wir es in Denethors Jugend-
tagen zurückgewonnen: nicht, um darin zu wohnen, sondern um es als
Feldwache zu halten und die Brücke wieder aufzubauen, damit wir unsere
Waffen hinüberbringen konnten. Und dann kamen die Grausamen Reiter
aus Minas Morgul.«
»Die Schwarzen Reiter?« fragte Pippin und öffnete die Augen, die
groß und dunkel waren von einer wiedererwachten Furcht.
»Ja, sie waren schwarz«, sagte Beregond, »und ich sehe, daß Ihr etwas
über sie wißt, obwohl Ihr in Euren Erzählungen nichts von ihnen gesagt
habt.«
»Ich weiß von ihnen«, sagte Pippin leise, »aber ich will jetzt nicht von
ihnen sprechen, so nah, so nah.« Er brach ab und blickte hinüber über
den Fluß, und ihm schien, daß alles, was er sehen konnte, ein riesiger, be-
drohlicher Schatten war. Vielleicht waren es Berge, die über dem Rand
des Gesichtsfeldes aufragten, und annähernd sechzig Meilen nebliger Luft
ließen ihre gezackten Grate verschwommen erscheinen; vielleicht war es
nur eine Wolkenwand und hinter ihr eine noch tiefere Dunkelheit. Doch
während er noch schaute, schien es seinen Augen, als nehme die Dunkel-
heit zu und wachse, sehr langsam, und steige langsam auf, um die Gefilde
der Sonne einzuhüllen.
»So nahe an Mordor?« sagte Beregond leise. »Ja, dort liegt es. Wir nen-
nen es selten; aber immer haben wir in Sichtweite jenes Schattens gelebt:
manchmal erscheint er schwächer und ferner; manchmal näher und dunk-
ler. Jetzt wächst er und verdunkelt sich; und daher nehmen auch unsere
Angst und Unruhe zu. Und die Grausamen Reiter haben vor weniger als
einem Jahr die Flußübergänge zurückerobert, und viele unserer besten
Mannen wurden erschlagen. Boromir war es, der den Feind schließlich
von diesem westlichen Ufer zurücktrieb, und fast die Hälfte von Osgiliath
halten wir noch immer. Für eine kleine Weile. Aber wir erwarten jetzt
dort einen neuen Angriff. Vielleicht den wichtigsten Angriff des kom-
menden Krieges.«
»Wann?« fragte Pippin. »Habt Ihr eine Vermutung? Denn ich sah in
der letzten Nacht die Leuchtfeuer und die reitenden Boten; und Gandalf
sagte, es sei ein Zeichen, daß der Krieg begonnen habe. Er schien in ver-
zweifelter Eile zu sein. Aber nun scheint alles wieder gemächlicher zu ge-
hen.«
»Nur, weil jetzt alles bereit ist«, sagte Beregond. »Es ist bloß das tiefe
Luftholen vor dem Absprung.«
»Aber warum sind letzte Nacht die Leuchtfeuer angezündet worden?«
»Es ist zu spät, Hilfe herbeizuholen, wenn man belagert wird«, antwor-
tete Beregond. »Doch kenne ich die Pläne des Herrn und seiner Heerfüh-
rer nicht. Sie haben viele Möglichkeiten, Nachrichten zu sammeln. Und
der Herr Denethor ist nicht wie andere Menschen: er blickt weit. Manche
sagen, er sitze des Nachts allein in seinem hohen Gemach im Turm und
richte seine Gedanken hierhin und dorthin, er könne irgendwie in der Zu-
kunft lesen; und manchmal erforsche er sogar die Gedanken des Feindes
und ringe mit ihm. Und daher kommt es, daß er gealtert ist, vorzeitig
verbraucht. Aber wie immer dem sein mag, mein Herr Faramir ist unter-
wegs, jenseits des Flusses, bei irgendeinem gefährlichen Auftrag, und
vielleicht hat er eine Botschaft geschickt.
Aber wenn Ihr wissen wollt, was ich glaube, warum die Leuchtfeuer
angezündet wurden: wegen der Nachrichten, die gestern abend aus Leben-
nin kamen. Dort nähert sich eine große Flotte den Mündungen des An-
duin, bemannt von den Corsaren aus Umbar im Süden. Gondors Macht
fürchten sie schon lange nicht mehr und haben sich mit dem Feind ver-
bündet, und jetzt führen sie einen schweren Schlag für seine Sache. Denn
dieser Angriff wird ein gut Teil der Hilfe ablenken, die wir uns von
Lebennin und Belfalas erhofften, wo das Volk tapfer und zahlreich ist.
Um so mehr richten sich unsere Gedanken auf Rohan, und um so froher
sind wir über die Siegesnachrichten, die Ihr bringt.
Und dennoch ...« Er hielt inne, stand auf und schaute ringsum nach
Norden, Osten und Süden. »Und dennoch sollten die Ereignisse in Isen-
gart eine Warnung für uns sein, daß wir jetzt in ein großes Netz und Rän-
kespiel geraten sind. Es sind nicht länger Plänkeleien an den Furten,
Raubzüge aus Ithilien und aus Anórien, Überfälle und Plünderungen.
Dies ist ein lange geplanter großer Krieg, und wir sind nur eine Schach-
figur darin, was immer unser Stolz auch sagen mag. Im fernen Osten, jen-
seits des Binnenmeeres, sind die Dinge in Bewegung, wie berichtet wird;
und nördlich im Düsterwald und dahinter; und südlich in Harad. Und
jetzt sollen alle Reiche auf die Probe gestellt werden, ob sie standhalten
oder — unter den Schatten fallen.
Immerhin, Herr Peregrin, wird uns diese Ehre zuteil: stets richtet sich
der Haupthaß des Dunklen Herrn gegen uns, denn dieser Haß kommt aus
den Gründen der Zeit und über die Tiefen des Meers. Hier wird der Ham-
merschlag am heftigsten niederfallen. Und aus diesem Grunde kam
Mithrandir in solcher Eile her. Denn wenn wir fallen, wer soll dann
standhalten? Und, Herr Peregrin, seht Ihr irgendwelche Hoffnung, daß
wir standhalten werden?«
Pippin antwortete nicht. Er blickte auf die großen Mauern, die Türme
und tapferen Banner und die Sonne am hohen Himmel, und dann auf die
zunehmende Düsternis im Osten; und er dachte an die langen Finger des
Schattens: an die Orks in den Wäldern und Bergen, an den Verrat von
Isengart, an die Vögel mit dem bösen Blick und die Schwarzen Reiter
sogar auf den Pfaden im Auenland — und an den geflügelten Schrecken,
die Nazgûl. Er erschauerte, und die Hoffnung schien zu schwinden. Und
in eben diesem Augenblick flackerte die Sonne eine Sekunde und verdun-
kelte sich, als ob ein dunkler Flügel über sie hinweggezogen sei. Kaum
hörbar, glaubte er hoch und fern am Himmel einen Schrei zu vernehmen:
schwach, doch herzerschütternd, grausam und kalt. Er erbleichte und
kauerte sich an die Mauer.
»Was war das?« fragte Beregond. »Habt Ihr auch etwas gespürt?«
»Ja«, flüsterte Pippin. »Es ist das Zeichen unseres Untergangs und der
Schatten des Verhängnisses, ein Grausamer Reiter der Luft.«
»Ja, der Schatten des Verhängnisses«, sagte Beregond. »Ich fürchte,
Minas Tirith wird fallen. Die Nacht kommt. Sogar die Wärme meines
Bluts scheint sich davongestohlen zu haben.«
Eine Zeitlang saßen sie mit gesenkten Köpfen beieinander und sprachen
nicht. Dann schaute Pippin plötzlich auf und sah, daß die Sonne noch
schien und die Banner noch im Wind flatterten. Er schüttelte sich. »Es ist
vorbei«, sagte er. »Nein, mein Herz will noch nicht verzweifeln. Gandalf
ist gestürzt, und doch ist er zurückgekehrt und bei uns. Wir mögen stand-
halten, wenn auch nur auf einem Bein oder wenigstens noch auf unseren
Knien.«
»Wohlgesprochen!« rief Beregond, erhob sich und schritt auf und ab.
»Nein, obwohl alles schließlich sein Ende findet, soll Gondor noch nicht
untergehen. Auch nicht, wenn ein verwegener Feind die Mauern einneh-
men und vor ihnen einen Berg von Aas aufhäufen sollte. Es gibt immer
noch andere Festungen und geheime Fluchtwege in das Gebirge. Hoff-
nung und Erinnerung sollen immer noch lebendig bleiben in irgendeinem
verborgenen Tal, wo das Gras grün ist.«
»Trotz alledem, ich wünschte, es wäre vorüber, mag es nun gut oder
schlecht ausgehen«, sagte Pippin. »Ich bin ganz und gar kein Krieger, und
jeder Gedanke an die Schlacht mißfällt mir; aber auf eine Schlacht zu
warten, der man nicht entgehen kann, ist am allerschlimmsten. Wie lang
kommt mir dieser Tag schon vor! Ich wäre glücklicher, wenn wir nicht
dastehen und abwarten müßten, keine Bewegung machen und nirgends
zuerst zuschlagen dürften. Kein Streich wäre in Rohan geführt worden,
glaube ich, wenn Gandalf nicht gewesen wäre.«
»Ah, da legt Ihr den Finger in eine offene Wunde, die viele verspü-
ren«, sagte Beregond. »Aber die Dinge mögen sich ändern, wenn Faramir
zurückkehrt. Er ist kühn, kühner, als viele annehmen. Denn heutzutage
fällt es den Menschen schwer zu glauben, daß ein Heerführer klug sein
kann und bewandert in den alten Schriften der Lehre und des Liedes, wie
er es ist, und dennoch ein Mann von Beherztheit und rascher Entschei-
dung auf dem Schlachtfeld. Aber ein solcher ist Faramir. Nicht so verwe-
gen und stürmisch wie Boromir, doch nicht weniger entschlossen. Was
kann er indes wirklich tun? Die Gebirge von — dem Gebiet da drüben
vermögen wir nicht anzugreifen. Unser Wirkungsbereich ist klein gewor-
den, und wir können erst zuschlagen, wenn ein Feind in unsere Reich-
weite kommt. Dann muß unsere Hand schwer sein!« Er packte das Heft
seines Schwerts.
Pippin schaute ihn an: hochgewachsen und stolz und edel, wie alle
Männer, die er bisher in diesem Land gesehen hatte; und seine Augen
funkelten bei dem Gedanken an die Schlacht. »Ach«, dachte Pippin,
»meine eigene Hand fühlt sich leicht an wie eine Feder«, aber er sagte
nichts. »Ein Bauer, hat Gandalf gesagt? Vielleicht, aber auf dem falschen
Schachbrett.«
So unterhielten sie sich, bis die Sonne den höchsten Punkt erklomm,
und plötzlich wurden die Mittagsglocken geläutet, und es kam Bewegung
in die Veste; denn alle außer den Wächtern gingen zur Mahlzeit.
»Wollt Ihr mit mir kommen?« fragte Beregond — »Ihr könnt heute mit
mir essen. Denn ich weiß nicht, welcher Schar Ihr zugeteilt werdet, oder
ob Euch der Herr zu seiner eigenen Verfügung haben will. Aber bei mei-
ner Schar werdet Ihr willkommen sein. Und für Euch wird es gut sein,
möglichst viele Leute kennenzulernen, solange es noch Zeit ist.«
»Ich werde gern mitkommen«, sagte Pippin. »Ich fühle mich einsam,
um Euch die Wahrheit zu sagen. Meinen besten Freund habe ich in Rohan
zurückgelassen und nun niemanden gehabt, mit dem ich mich unterhalten
und Spaß machen konnte. Vielleicht könnte ich wirklich in Eure Schar
eintreten? Seid Ihr der Hauptmann? Wenn ja, könntet Ihr mich dann auf-
nehmen oder Euch für mich verwenden?«
»Nein, nein«, lachte Beregond, »ich bin kein Hauptmann. Weder Amt
noch Rang noch Macht habe ich, sondern bin ein einfacher Krieger in der
Dritten Schar der Veste. Und dennoch, Herr Peregrin, nur ein Krieger zu
sein, der zur Wache des Turms von Gondor gehört, gilt in der Stadt als
ehrenvoll, und solche Männer werden im Lande hoch geachtet.«
»Dann bin ich bei weitem nicht würdig genug dafür«, sagte Pippin.
»Bringt mich in unser Zimmer zurück, und wenn Gandalf nicht da ist,
werde ich mit Euch gehen, wohin Ihr wollt — als Euer Gast.«
Gandalf war nicht in der Unterkunft und hatte keine Botschaft ge-
sandt; also ging Pippin mit Beregond mit und wurde mit den Mannen der
Dritten Schar bekannt gemacht. Und es schien, als ob es Beregond ebenso
zur Ehre gereichte wie seinem Gast, denn Pippin war sehr willkommen.
Es war in der Veste schon viel über Mithrandirs Gefährten geredet wor-
den und über sein langes Gespräch mit dem Herrn; und es lief das Ge-
rücht um, ein Fürst der Halblinge sei aus dem Norden gekommen, um
Lehnspflicht für Gondor und fünftausend Schwerter anzubieten. Und
einige sagten, wenn die Reiter aus Rohan kämen, würde jeder einen Halb-
ling-Krieger mitbringen, klein vielleicht, aber beherzt.
Obwohl Pippin zu seinem Bedauern dieser hoffnungsvollen Geschichte
den Boden entziehen mußte, konnte er doch seinen neuen Rang nicht ab-
schütteln, der, wie die Leute meinten, einem wohl anstehe, der ein Freund
von Boromir gewesen war und von Denethor ausgezeichnet wurde; und
sie dankten ihm, daß er zu ihnen gekommen sei, und lauschten seinen
Worten und Geschichten über fremde Länder und gaben ihm so viel zu
essen und so viel Bier, wie er sich nur wünschen konnte. Seine einzige
Sorge war es denn auch, »vorsichtig« zu sein, wie Gandalf ihm geraten
hatte, und nicht seiner Zunge freien Lauf zu lassen, wie es die Art eines
Hobbits unter Freunden ist.
Schließlich erhob sich Beregond. »Lebt wohl einstweilen«, sagte er.
»Ich habe jetzt Dienst bis Sonnenuntergang, wie alle anderen hier auch,
glaube ich. Aber wenn Ihr einsam seid, wie Ihr sagt, dann hättet Ihr viel-
leicht gern einen lustigen Führer durch die Stadt. Mein Sohn würde mit
Freuden mit Euch gehen. Ein guter Junge, wenn ich das sagen darf. Falls
Euch das zusagt, geht hinunter zum untersten Kreis und fragt nach dem
Alten Gästehaus in der Rath Celerdain, der Lampenmacher-Straße. Dort
werdet Ihr ihn bei den anderen Burschen finden, die in der Stadt geblie-
ben sind. Es mag sehenswerte Dinge geben am Großen Tor, ehe es ge-
schlossen wird.«
Er ging hinaus, und bald folgten ihm alle anderen. Der Tag war noch
schön, obwohl es dunstig wurde, und es war heiß für März, selbst so weit
südlich. Pippin war schläfrig, doch die Unterkunft erschien ihm freud-
los, und er beschloß, hinunterzugehen und die Stadt zu erforschen. Er
nahm ein paar Leckerbissen, die er für Schattenfell aufgespart hatte und
die gnädig angenommen wurden, obwohl es dem Pferd an nichts zu man-
geln schien. Dann ging er viele gewundene Pfade hinunter.
Das Volk starrte ihn an, wenn er vorüberging. Solange er sie sah,
waren die Menschen ernst und höflich und grüßten ihn nach der Sitte von
Gondor mit gesenktem Kopf und den Händen auf der Brust; aber hinter
seinem Rücken hörte er so manchen Ruf, als ob diejenigen an den Türen
die anderen, die drinnen waren, aufforderten, herauszukommen und sich
den Fürsten der Halblinge anzusehen, Mithrandirs Gefährten. Viele ge-
brauchten eine andere als die Gemeinsame Sprache, aber es dauerte nicht
lange, da hatte er wenigstens gelernt, was Ernil i Pheriannath bedeutete,
und wußte, daß seine Ehrenbezeichnung ihm schon in der Stadt vorausge-
eilt war.
Schließlich kam er durch überwölbte Straßen und viele schöne Gassen
und über gepflasterte Plätze zum untersten und ausgedehntesten Ring und
wurde in die Lampenmacher-Straße gewiesen, einen breiten Weg, der zum
Großen Tor hinunterführte. Dort fand er das Alte Gästehaus, ein großes
Gebäude aus grauem, verwittertem Stein mit zwei Flügeln senkrecht zur
Straße, dazwischen eine schmale Rasenfläche und dahinter das vielfenst-
rige Haus. Es hatte auf der ganzen Breite einen von Säulen getragenen
Vorbau und eine Treppe bis zum Rasen. Jungen spielten zwischen den
Säulen, die einzigen Kinder, die Pippin in Minas Tirith gesehen hatte, und
er blieb stehen, um sie sich anzuschauen. Einer der Jungen erblickte ihn
plötzlich, und mit einem lauten Ruf sprang er über den Rasen und kam
auf die Straße, gefolgt von den anderen. Da stand er nun vor Pippin und
schaute ihn von oben bis unten an.
»Willkommen!« sagte der Junge. »Wo kommt Ihr her? Ihr seid fremd
in der Stadt.«
»Das war ich«, sagte Pippin, »aber es heißt, ich sei Gefolgsmann von
Gondor geworden.«
»Na, hört mal«, sagte der Junge. »Dann sind wir hier alle Männer. Wie
alt seid Ihr denn, und wie heißt Ihr? Ich bin schon zehn und werde bald
fünf Fuß haben. Ich bin größer als Ihr. Aber schließlich ist mein Vater
auch bei der Wache, einer der größten. Was ist Euer Vater?«
»Welche Frage soll ich zuerst beantworten?« sagte Pippin. »Mein Vater
bebaut das Land um Weißbrunn in der Nähe von Buckelstadt im Auen-
land. Ich bin fast neunundzwanzig, also bin ich dir darin über; obwohl
ich nur vier Fuß groß bin und wahrscheinlich nicht mehr wachsen werde,
außer in die Breite.«
»Neunundzwanzig!« sagte der Junge und pfiff. »Da seid Ihr aber ziem-
lich alt. So alt wie mein Onkel Iorlas. Immerhin«, fügte er hoffnungsvoll
hinzu, »ich wette, ich könnte Euch auf den Kopf stellen oder auf den Rük-
ken legen.«
»Das könntest du vielleicht, wenn ich dich ließe«, sagte Pippin lachend.
»Und vielleicht könnte ich dasselbe mit dir machen: wir kennen ein paar
Ringkampfkniffe in meinem kleinen Land. Wo ich, das will ich dir sagen,
als ungewöhnlich groß und stark gelte; und ich habe noch keinem er-
laubt, mich auf den Kopf zu stellen. Wenn es also zu einem Wettkampf
käme und nichts anderes helfen würde, dann werde ich dich vielleicht
töten müssen. Denn wenn du älter bist, wirst du lernen, daß die Leute
nicht immer sind, was sie zu sein scheinen; und obgleich du mich wohl
für einen schwächlichen Ausländerjungen und eine leichte Beute angese-
hen hast, laß dich warnen: das bin ich nicht, ich bin ein Halbling, stark,
tapfer und gefährlich!« Pippin machte ein so grimmiges Gesicht, daß der
Junge einen Schritt zurücktrat, aber sogleich kam er wieder an mit geball-
ten Fäusten und Kampfeslust im Blick.
»Nein!« lachte Pippin. »Du darfst auch nicht alles glauben, was Fremde
von sich selbst sagen! Ich bin kein Kämpfer. Aber es wäre jedenfalls höf-
licher, wenn der Herausforderer sagen würde, wer er ist.«
Der Junge richtete sich stolz auf. »Ich bin Bergil, der Sohn Beregonds
von der Wache«, sagte er.
»Das dachte ich mir«, sagte Pippin, »denn du siehst aus wie dein Vater.
Ich kenne ihn, und er hat mich hergeschickt, um dich zu suchen.«
»Warum habt Ihr denn das nicht gleich gesagt?« rief Bergil, und er sah
mit einemmal ganz erschreckt aus. »Sagt mir nicht, daß er es sich anders
überlegt hat und mich nun doch mit den Mädchen wegschicken will. Ach
nein, die letzten Wagen sind ja schon fort.«
»Die Botschaft ist weniger schlimm, wenn auch nicht gut«, sagte Pip-
pin. »Er sagt, wenn du es lieber tust, als mich auf den Kopf stellen, dann
könntest du mich eine Weile in der Stadt herumführen und mich in mei-
ner Einsamkeit trösten. Ich kann dir als Gegenleistung ein paar Geschich-
ten aus fernen Ländern erzählen.«
Bergil klatschte in die Hände und lachte vor Erleichterung. »Alles ist
gut«, rief er. »Dann kommt! Wir wollten sowieso zum Tor gehen und zu-
schauen. Wir werden jetzt gleich gehen.«
»Was geschieht denn dort?«
»Die Heerführer aus den Außenlehen werden vor Sonnenuntergang
auf der Südstraße erwartet. Kommt mit uns, dann werdet Ihr es sehen.«
Bergil erwies sich als guter Gefährte, die beste Gesellschaft, die Pippin
seit seiner Trennung von Merry gefunden hatte, und bald lachten sie und
unterhielten sich vergnügt, als sie durch die Straßen gingen und der vie-
len Blicke nicht achteten, die die Menschen ihnen zuwarfen. Es dauerte
nicht lange, da waren sie von einer Volksmenge umringt, die zum Großen
Tor strömte. Dort stieg Pippin beträchtlich in Bergils Achtung, denn als
er seinen Namen nannte und das Losungswort aussprach, grüßte ihn der
Wachtposten und ließ ihn durch; und überdies erlaubte er ihm, seinen
Gefährten mitzunehmen.
»Das ist gut«, sagte Bergil. »Wir Jungens dürfen nämlich ohne einen
Erwachsenen nicht mehr aus dem Tor heraus. Nun werden wir besser
sehen können.«
Jenseits des Tors stand eine Menschenmenge am Straßenrand und an
dem großen gepflasterten Platz, auf den alle Wege nach Minas Tirith ein-
mündeten. Aller Augen waren nach Süden gerichtet, und bald erhob sich
ein Gemurmel: »Dort hinten ist Staub! Sie kommen!«
Pippin und Bergil bahnten sich ihren Weg, bis sie vom in der Menge
standen, und warteten. Hörner erklangen in einiger Entfernung, und
das Geräusch von Beifallsrufen drang zu ihnen wie ein aufkommender
Sturm. Dann gab es einen lauten Trompetenstoß, und ringsum schrien
die Leute.
»Forlong! Forlong!« hörte Pippin sie rufen. »Was sagen sie?« fragte er.
»Forlong ist gekommen«, antwortete Bergil, »der alte Forlong der
Dicke, der Herr von Lossarnach. Das ist dort, wo mein Großvater lebt.
Hurra! Da ist er. Der brave alte Forlong!«
An der Spitze des Zuges kam ein großes Pferd mit starken Gliedma-
ßen, und auf ihm saß ein Mann mit breiten Schultern und von gewalti-
gem Umfang, zwar alt und graubärtig, doch im Panzerhemd und mit
schwarzem Helm, einen langen, schweren Speer in der Hand. Hinter ihm
marschierte stolz eine staubige Schar Männer, gut bewaffnet mit großen
Schlachtäxten; grimmige Gesichter hatten sie und waren gedrungener und
irgendwie schwärzlicher als alle Menschen, die Pippin bisher in Gondor
gesehen hatte.
»Forlong!« riefen die Menschen. »Tapferer, treuer Freund! Forlong!«
Aber als die Männer aus Lossarnach vorbei waren, murrten sie: »So
wenige! Zweihundert, was ist das schon? Wir hatten auf zehnmal so viel
gehofft. Das wird an den neuen Nachrichten über die schwarze Flotte lie-
gen. Sie können nur ein Zehntel ihrer Streitmacht entbehren. Immerhin
ist jedes Bißchen ein Gewinn.«
Und so kamen die Heerscharen und wurden begrüßt und bejubelt und
zogen durch das Tor, die Mannen der Außenlehen, die heranmarschier-
ten, um in einer dunklen Stunde die Stadt von Gondor zu verteidigen;
doch immer waren es zu wenige, immer eine geringere Anzahl, als die
Hoffnung erwartete oder die Not erforderte. Die Mannen aus dem Ringlö-
Tal hinter dem Sohn ihres Herrn, Dervorin, der zu Fuß ging: dreihundert.
Aus dem Hochland Morthond, dem großen Schwarzerdental, der hochge-
wachsene Duinhir mit seinen Söhnen Duilin und Derufin und fünfhun-
dert Bogenschützen. Aus Anfalas, dem fernen Langstrand, eine statt-
liche Schar von Männern aller möglicher Berufe, Jäger und Hirten und
Bauern aus kleinen Dörfern, kärglich bewaffnet mit Ausnahme der Ge-
folgsleute ihres Herrn Golasgil. Aus Lamedon ein paar Bergbewohner
ohne einen Hauptmann. Fischerleute aus Ethir, einige Hundert oder mehr,
die man bei den Schiffen entbehren konnte. Hirluin der Schöne von den
Grünen Bergen aus Pinnath Gelin mit dreihundert tapferen, grüngekleide-
ten Mannen. Und zuletzt und am stolzesten Imrahil, Fürst von Dol
Amroth, der Vetter des Herrn Denethor, mit vergoldeten Bannern, die
sein Wappen trugen, das Schiff und den Silberschwan, und eine Schar
Ritter in voller Rüstung auf grauen Pferden; und hinter ihnen siebenhun-
dert Krieger, hochgewachsen wie edle Herren, grauäugig, dunkelhaarig,
und sie sangen, als sie herankamen.
Und das war alles, weniger als dreitausend insgesamt. Mehr würden
nicht kommen. Noch hörte man ihre Rufe und ihre Fußtritte in der Stadt,
dann verhallten sie. Die Zuschauer blieben noch eine Weile schweigend
stehen. Staub hing in der Luft, denn der Wind hatte sich gelegt und der
Abend war drückend. Schon näherte sich die Stunde, da das Tor ge-
schlossen wurde. Die rote Sonne stand hinter dem Mindolluin. Schatten
senkte sich auf die Stadt.
Pippin schaute auf, und ihm schien, daß der Himmel aschgrau gewor-
den war, als ob ein gewaltiger Staub und Rauch über ihnen hänge, und
das Licht drang nur matt hindurch. Doch im Westen hatte die unterge-
hende Sonne den ganzen Dunst in Brand gesteckt, und jetzt hob sich der
Mindolluin schwarz ab vor einem schwelenden Feuer, mit Funken ge-
sprenkelt. »So endet ein schöner Tag im Zorn«, sagte er, den Jungen an
seiner Seite vergessend.
»So wird es sein, wenn ich nicht vor den Abendglocken zurück bin«,
sagte Bergil. »Kommt! Da erschallt die Trompete, daß das Tor geschlossen
wird.«
Hand in Hand gingen sie zurück in die Stadt und waren die letzten, die
das Tor durchschritten, ehe es geschlossen wurde; und als sie die Lampen-
macher-Straße erreichten, läuteten feierlich alle Glocken der Türme. Viele
Fenster wurden hell, und aus den Häusern und Wachräumen der Krieger
entlang den Mauern hörte man Gesang.
»Lebt wohl einstweilen«, sagte Bergil. »Bringt meinem Vater Grüße
und dankt ihm, daß er Euch mir zur Gesellschaft geschickt _hat. Kommt
bald wieder, bitte. Fast wünschte ich jetzt, es wäre nicht Krieg, dann
könnten wir eine fröhliche Zeit miteinander haben. Wir könnten nach
Lossarnach wandern, zum Haus meines Großvaters; es ist schön dort im
Frühling, die Wälder und Felder sind voller Blumen. Aber vielleicht kön-
nen wir doch einmal zusammen dort hingehen. Sie werden niemals unse-
ren Herrn besiegen, und mein Vater ist sehr tapfer. Lebt wohl und kommt
wieder!«
Sie trennten sich, und Pippin eilte hinauf in die Veste. Der Weg er-
schien ihm lang, ihm war heiß und er wurde sehr hungrig; und die Nacht
senkte sich herab, rasch und dunkel. Kein Stern stand am Himmel. Er
kam spät zu der Mahlzeit in den Eßraum, und Beregond begrüßte ihn er-
freut und ließ ihn sich neben ihn setzen, um Neues von seinem Sohn zu
hören. Nach dem Essen blieb Pippin noch eine Weile, und dann verab-
schiedete er sich, denn eine seltsame Schwermut bedrückte ihn, und er
wünschte jetzt sehr, Gandalf wiederzusehen.
»Könnt Ihr den Weg finden?« fragte Beregond an der Tür der kleinen
Halle auf der Nordseite der Veste, wo sie gesessen hatten. »Es ist eine
schwarze Nacht, und um so schwärzer, seit der Befehl kam, daß alle Lam-
pen in der Stadt verdunkelt werden müssen, und kein Licht darf von den
Mauern herausscheinen. Und ich kann Euch noch eine Nachricht von an-
derer Art geben: Ihr werdet morgen in der Frühe zu Herrn Denethor ge-
rufen. Ich fürchte. Ihr werdet nicht zur Dritten Schar kommen. Doch dür-
fen wir hoffen, uns wiederzutreffen. Lebt wohl und schlaft in Frieden!«
Die Unterkunft war dunkel bis auf eine kleine Laterne, die auf dem
Tisch stand. Gandalf war nicht da. Pippins Schwermut wurde noch be-
drückender. Er kletterte auf die Bank und versuchte, aus dem Fenster zu
schauen, aber es war, als blicke man in einen Tintenpfuhl. Er kam wieder
herunter, schloß den Laden und ging zu Bett. Eine Weile lag er wach und
lauschte, ob er Gandalf kommen hörte, und dann versank er in einen un-
ruhigen Schlaf.
In der Nacht wurde er von einem Lichtschein geweckt, und er sah, daß
Gandalf gekommen war und hinter dem Vorhang des Alkovens auf und
ab schritt. Kerzen standen auf dem Tisch, und Pergamentrollen lagen da.
Er hörte den Zauberer seufzen und murmeln: »Wann wird Faramir zu-
rückkehren?«
»He!« sagte Pippin und steckte den Kopf durch den Vorhang. »Ich
dachte, du hättest mich ganz vergessen. Ich freue mich, dich wiederzuse-
hen. Es ist ein langer Tag gewesen.«
»Aber die Nacht wird zu kurz sein«, sagte Gandalf. »Ich bin hierher
zurückgekommen, denn ich muß ein wenig Ruhe haben, allein. Du solltest
schlafen, in einem Bett, solange du es noch kannst. Bei Sonnenaufgang
werde ich dich wieder zu Herrn Denethor bringen. Nein, wenn der Ruf er-
geht, nicht bei Sonnenaufgang. Die Dunkelheit hat begonnen. Es wird
keine Morgendämmerung kommen.«