SECHSTES KAPITEL
DER KÖNIG DER GOLDENEN HALLE
Sie ritten weiter, während die Sonne unterging, durch die lange Däm-
merung und die zunehmende Nacht. Als sie schließlich anhielten und ab-
saßen, war selbst Aragorn steif und müde. Gandalf gestand ihnen nur ein
paar Stunden Rast zu. Legolas und Gimli schliefen, und Aragorn lag
flach ausgestreckt auf dem Rücken; doch Gandalf blieb stehen, stützte
sich auf seinen Stab und starrte in die Dunkelheit nach Ost und West.
Alles war still, und kein Lebewesen war zu sehen oder zu hören. Als sie
dann aufstanden, war die Nacht von langen Wolken bedeckt, die in einem
eisigen Wind segelten. Unter dem kalten Mond ging es wieder weiter, so
schnell wie bei Tageslicht.
Stunden vergingen, und immer noch ritten sie dahin. Gimli nickte ein
und wäre von seinem Sitz heruntergefallen, wenn Gandalf ihn nicht ge-
packt und geschüttelt hätte. Hasufel und Arod, müde, aber stolz, folgten
ihrem rastlosen Führer, ein grauer Schatten vor ihnen, kaum zu sehen.
Meile auf Meile legten sie zurück. Der zunehmende Mond versank im
wolkigen Westen.
Die Luft wurde bitterkalt. Langsam verblaßte im Osten die Dunkelheit
zu einem kühlen Grau. In weiter Ferne zu ihrer Linken sprangen rote
Lichtstrahlen über die schwarzen Wälle des Emyn Muil. Die Morgendäm-
merung kam klar und strahlend; ein Wind strich über ihren Pfad und
raschelte durch die sich biegenden Gräser. Plötzlich blieb Schattenfell ste-
hen und wieherte. Gandalf deutete nach vom.
»Schaut!« rief er, und sie schlugen die müden Augen auf. Vor ihnen
erhob sich das Gebirge des Südens: weißgekrönt und schwarzgestreift.
Die Graslande erstreckten sich bis zu den Vorbergen, die sich um den Fuß
des Gebirges scharten, und zogen sich hinauf in viele der Täler, die noch
düster und dunkel waren, unberührt vom Licht der Morgendämmerung,
und bahnten sich den Weg bis ins Herz des großen Gebirges. Unmittelbar
vor den Reitern öffnete sich das breiteste dieser Täler wie eine lange
Schlucht zwischen den Bergen. Weit drinnen sahen sie undeutlich einen
faltigen Gebirgsstock mit einem hohen Gipfel; am Ausgang des Tals
stand wie eine Schildwache eine einsame Anhöhe. Zu ihren Füßen floß
wie ein Silberfaden der Fluß, der in dem Tal entsprang; am Rand dieser
Anhöhe sahen sie, noch weit entfernt, ein Glitzern in der aufgehenden
Sonne, einen Schimmer von Gold.
»Sprich, Legolas!« sagte Gandalf. »Sage uns, was du dort vor uns
siehst.«
Legolas schaute nach vorn und beschattete seine Augen vor den niedri-
gen Strahlen der aufgehenden Sonne. »Ich sehe einen weißen Fluß, der
vom Schnee herabkommt«, sagte er. »Wo er aus dem Schatten des Tals
heraustritt, erhebt sich im Osten ein grüner Berg. Ein Erdwall und mäch-
tige Mauern und eine Dornenhecke umgeben ihn. Darinnen erheben sich
die Dächer von Häusern; und in der Mitte steht auf einem grünen Berg-
sattel hoch oben eine große Halle der Menschen. Und meinen Augen
scheint es, als habe sie ein goldenes Dach. Sein Glanz leuchtet weit über
das Land. Golden sind auch die Pfosten ihrer Türen. Dort stehen Männer
in schimmernder Rüstung; doch alles sonst in den Höfen scheint noch zu
schlafen.«
»Edoras werden diese Höfe genannt«, sagte Gandalf, »und Meduseld ist
die goldene Halle. Dort wohnt Théoden, Thengels Sohn, König der Mark
von Rohan. Wir sind mit der aufgehenden Sonne zugleich gekommen.
Nun liegt der Weg klar vor uns. Doch müssen wir vorsichtiger reiten;
denn der Krieg ist ausgebrochen, und die Rohirrim, die Herren der Rös-
ser, schlafen nicht, auch wenn es von ferne so aussieht. Zieht keine
Waffe, sprecht kein hochmütiges Wort, rate ich euch allen, ehe wir vor
Théodens Thron stehen.«
Der Morgen war strahlend und klar, und Vögel sangen, als die Reiter
zum Fluß kamen. Er strömte rasch hinab in die Ebene, kreuzte jenseits des
Fußes der Berge ihren Pfad in einem großen Bogen und floß dann nach
Osten, um sich mit der fernen Entwasser in ihrem schilfigen Bett zu ver-
einen. Das Land war grün: auf den feuchten Wiesen und an den grasbe-
standenen Ufern des Flusses wuchsen viele Weiden. In diesem südlichen
Land röteten sie sich schon an den Zweigspitzen, da sie das Nahen des
Frühlings spürten. Durch den Fluß führte eine Furt zwischen niedrigen
Ufern, die stark zertreten war von Pferdehufen. Die Reiter durchquerten
sie und kamen auf einen breiten, zerfurchten Weg, der sich zu dem höher
gelegenen Land hinaufzog.
Am Fuße des mauerbewehrten Bergs verlief der Weg zwischen den
Schatten vieler hoher und grüner Hügelgräber. Auf ihrer westlichen Seite
war das Gras weiß wie nach einem Schneetreiben: gleich unzähligen Ster-
nen blühten dort kleine Blumen im Rasen.
»Schaut!« sagte Gandalf. »Wie schön sind diese leuchtenden Augen im
Gras! Immertreu werden sie genannt, Simbelmynë in der Sprache der
Menschen dieses Landes, denn sie blühen zu allen Jahreszeiten und wach-
sen, wo tote Männer ruhen. Seht! Wir sind zu den großen Hügelgräbern
gekommen, in denen Théodens Ahnherren ruhen.«
»Sieben Hügelgräber auf der Linken und neun auf der Rechten«, sagte
Aragorn. »Viele lange Menschenleben sind vergangen, seit die goldene
Halle erbaut wurde.«
»Fünfhundertmal sind seitdem in meiner Heimat im Düsterwald die
roten Blätter gefallen«, sagte Legolas, »und doch scheint uns das nur eine
kurze Spanne zu sein.«
»Aber den Reitern der Mark kommt die Zeit so lang vor«, sagte Ara-
gorn, »daß die Erbauung dieses Hauses nur noch eine Erinnerung im Lied
ist, und die Jahre davor sind versunken im Nebel der Zeit. Jetzt nennen
sie dieses Land ihre Heimat, ihr Eigen, und ihre Sprache hat sich getrennt
von der ihrer nördlichen Verwandten.« Dann begann er leise zu singen in
einer dem Elb und dem Zwerg unbekannten getragenen Sprache; indes
lauschten sie aufmerksam, denn sie war sehr melodisch.
»Das, nehme ich an, ist die Sprache der Rohirrim«, sagte Legolas.
»Denn sie ist wie dieses Land: teils weich und wogend, und dann wieder
hart und streng wie das Gebirge. Aber ich kann nicht erraten, was das
Lied bedeutet, nur daß es erfüllt ist von der Traurigkeit sterblicher Men-
schen.«
»So lautet es in der Gemeinsamen Sprache«, sagte Aragorn, »so wort-
getreu, wie ich es übersetzen kann:
Wo sind Reiter und Roß und das Horn, das weithin hallende?
Wo sind Harnisch und Helm und das Haar, das glänzend wallende?
Wo ist die Hand an der Harfe? Wo ist das lodernde Feuer?
Wo nun Frühling und Herbst und voll reifen Kornes die Scheuer?
Lang vergangen wie Regen im Wald und Wind in den Ästen;
Im Schatten hinter den Bergen versanken die Tage im Westen.
Wer wird den Rauch des toten Holzes sammeln gehen
Oder die flutenden Jahre vom Meer wiederkehren sehen?
So sprach ein vergessener Dichter in Rohan vor langer Zeit und erinnerte
daran, wie groß und schön Eorl der Junge war, der vom Norden hierher
ritt; und es waren Flügel an den Füßen seines Rosses Felaróf, des Vaters
der Pferde. Das singen die Menschen noch des Abends.«
Mit diesen Worten ritten die Reisenden an den stillen Hügelgräbern
vorbei. Sie folgten dem sich an der grünen Schulter der Berge hinaufzie-
henden Weg und kamen schließlich zu den windgepeitschten Mauern und
den Toren von Edoras.
Dort saßen viele Männer in glänzender Rüstung, und sie sprangen
sofort auf und versperrten den Weg mit Speeren. »Haltet an. Ihr Frem-
den, die Ihr hier unbekannt seid!« riefen sie in der Sprache der Ridder-
mark und fragten nach den Namen und dem Vorhaben der Fremden. Er-
staunen lag in ihrem Blick, aber wenig Freundlichkeit; und finster schau-
ten sie auf Gandalf.
»Ich verstehe Eure Rede gut«, antwortete er in derselben Sprache,
»doch wenige Fremde tun das. Warum sprecht Ihr nicht die Gemeinsame
Sprache, wie es Sitte ist im Westen, wenn Ihr eine Antwort erhalten
wollt?«
»Es ist König Théodens Befehl, daß niemand durch seine Tore eintreten
darf außer jenen, die unsere Sprache verstehen und unsere Freunde sind«,
erwiderte einer der Wächter. »Niemand ist uns willkommen, es sei denn,
er gehöre zu unserem Volk oder komme aus Mundburg im Lande Gondor.
Wer seid Ihr, die Ihr sorglos über die Ebene kommt, so seltsam gekleidet
seid und auf Pferden reitet, die wie unsere eigenen Pferde sind? Lange
haben wir hier Wache gehalten und Euch schon von weither beobachtet.
Niemals haben wir so seltsame Reiter gesehen noch ein Pferd, das stolzer
wäre als eines von diesen, die Ihr reitet. Es ist eines der Mearas,
sofern
unsere Augen nicht durch irgendeinen Zauber getäuscht werden. Sagt,
seid Ihr nicht ein Zauberer, irgendein Späher von Saruman, oder seid Ihr
Gaukelbilder seiner Zauberkraft? Sprecht nun, und zwar rasch!«
»Wir sind keine Gaukelbilder«, sagte Aragorn, »und Eure Augen täu-
schen Euch nicht. Denn dies sind wahrlich Eure Pferde, die wir reiten, wie
Ihr vermutlich sehr wohl wußtet, ehe Ihr fragtet. Doch selten reitet der
Dieb heim zum Stall. Hier sind Hasufel und Arod, die Éomer, der Dritte
Marschall der Mark, uns erst vor zwei Tagen lieh. Wir bringen sie jetzt
zurück, wie wir es ihm versprochen haben. Ist Éomer denn nicht heimge-
kehrt, und hat er unser Kommen nicht angekündigt?«
Ein betrübter Ausdruck trat in die Augen des Wächters. »Über Éomer
habe ich nichts zu sagen«, antwortete er. »Wenn Ihr die Wahrheit
sprecht, wird Théoden zweifellos davon gehört haben. Vielleicht ist Euer
Kommen nicht völlig unerwartet. Aber erst vor zwei Nächten kam
Schlangenzunge zu uns und sagte, daß auf Befehl von Théoden kein
Fremder diese Tore durchreiten darf.«
»Schlangenzunge?« sagte Gandalf und sah den Wächter scharf an.
»Sagt nichts mehr! Meine Botschaft ist nicht für Schlangenzunge, son-
dem für den Herrn der Mark bestimmt. Ich bin in Eile. Wollt Ihr nicht
gehen oder jemanden schicken, um zu melden, daß wir gekommen sind?«
Seine Augen funkelten unter den dichten Brauen, als er seinen Blick auf
den Mann richtete.
»Ja, ich will gehen«, antwortete er zögernd. »Aber welche Namen soll
ich nennen? Und was soll ich von Euch sagen? Alt und müde erscheint
Ihr jetzt, und doch seid Ihr grausam und hart unter Eurem Äußeren,
deucht mir.«
»Scharf seht Ihr und sprecht gut«, sagte der Zauberer. »Denn ich bin
Gandalf. Ich bin zurückgekehrt. Und siehe da! auch ich bringe ein Pferd
zurück. Hier ist Schattenfell der Große, den keine andere Hand zähmen
kann. Und neben mir steht Aragorn, Arathorns Sohn, der Erbe von
Königen, und er ist auf dem Wege nach Mundburg. Und hier sind Lego-
las, der Elb, und Gimli, der Zwerg, unsere Gefährten. Geht nun und sagt
Eurem Herrn, daß wir an seinem Tor stehen und mit ihm reden möchten,
wenn er uns erlaubt, in seine Halle zu kommen.«
»Seltsame Namen wahrlich nennt Ihr! Aber ich werde sie melden, wie
Ihr es erbittet, und den Befehl meines Herrn entgegennehmen«, sagte der
Wächter. »Wartet hier eine kleine Weile, und ich werde Euch die Ant-
wort bringen, die er für richtig hält. Hofft nicht zu viel! Die Tage sind
dunkel.« Er ging rasch von dannen und ließ die Fremden in der wachsa-
men Obhut seiner Gefährten.
Nach einiger Zeit kam er zurück. »Folgt mir«, sagte er. »Théoden er-
laubt Euch, einzutreten; aber alle Waffen, die Ihr tragt, und sei es auch
nur ein Stab, müßt Ihr an der Schwelle ablegen. Die Türhüter werden sie
verwahren.«
Die dunklen Tore wurden geöffnet. Die Reisenden traten ein und folg-
ten einer hinter dem anderen ihrem Führer. Sie fanden einen breiten Pfad,
mit behauenen Steinen gepflastert; bald schlängelte er sich den Berg hin-
auf, bald erklomm er ihn in kurzen Treppenläufen mit gut angelegten
Stufen. An vielen, aus Holz erbauten Häusern und vielen dunklen Türen
kamen sie vorbei. Neben dem Weg floß in einer steinernen Rinne ein
Bach mit klarem Wasser, glitzernd und plätschernd. Schließlich kamen sie
zum Gipfel des Bergs. Dort ragte ein hoher Söller über den grünen Berg-
sattel; an seinem Fuß sprudelte eine klare Quelle aus einem Stein, in den
das Abbild eines Pferdekopfs eingemeißelt war; darunter war ein großes
Becken, aus dem das Wasser überlief und den hinabströmenden Bach spei-
ste. Zu dem grünen Bergsattel führte eine Steintreppe, hoch und breit,
und auf beiden Seiten der obersten Stufe waren in Stein gehauene Sitze.
Dort saßen weitere Wächter, die gezogenen Schwerter auf den Knien. Das
goldblonde Haar hing ihnen in Flechten bis auf die Schultern; die Sonne
war das Wappen auf ihren grünen Schilden, ihre langen Harnische waren
blankgeputzt, und als sie aufstanden, schienen sie größer zu sein als
sterbliche Menschen.
»Dort vor Euch sind die Türen«, sagte der Führer. »Ich muß jetzt zu
meinem Dienst am Tor zurück. Lebt wohl! Und möge der Herr der Mark
gnädig zu Euch sein!«
Rasch ging er den Weg wieder hinunter. Die anderen stiegen unter den
Blicken der hochgewachsenen Wächter die lange Treppe empor. Reglos
standen sie oben und sprachen kein Wort, bis Gandalf den gepflasterten
Söller am obersten Absatz der Treppe betrat. Dann plötzlich sagten sie mit
klaren Stimmen höfliche Worte der Begrüßung in ihrer eigenen Sprache.
»Heil, Ihr Ankömmlinge von weit her!« sagten sie, und sie richteten
die Griffe ihrer Schwerter auf die Reisenden als Zeichen des Friedens.
Grüne Edelsteine blitzten im Sonnenlicht. Nun trat einer der Wächter vor
und redete in der Gemeinsamen Sprache.
»Ich bin Théodens Torwart«, sagte er. »Háma ist mein Name. Ich muß
Euch bitten, hier Eure Waffen abzulegen, ehe Ihr eintretet.«
Legolas gab ihm seinen Dolch mit dem silbernen Heft, seinen Köcher
und Bogen. »Verwahrt sie gut«, sagte er, »denn sie kommen aus dem Gol-
denen Wald, und die Herrin von Lothlórien hat sie mir geschenkt.«
Staunen trat in die Augen des Mannes, und er legte die Waffen hastig
an die Wand, als ob er sich fürchte, sie in der Hand zu halten. »Kein
Mensch wird sie berühren, das verspreche ich Euch«, sagte er.
Aragorn stand eine Weile zögernd da. »Es ist nicht mein Wunsch«,
sagte er, »mein Schwert abzulegen und Andúril irgendeinem anderen
Menschen in die Hand zu geben.«
»Es ist Théodens Wunsch«, sagte Háma.
»Es leuchtet mir nicht ein, daß der Wunsch von Théoden, Thengels
Sohn, und sei er auch der Herr der Mark, mehr gelten soll als der Wunsch
von Aragorn, Arathoms Sohn, Elendils Erbe von Gondor.«
»Dies ist Théodens Haus, nicht Aragorns, und wäre er auch König von
Gondor auf Denethors Thron«, sagte Háma, trat rasch vor die Tür und
versperrte den Weg. Sein Schwert war jetzt in seiner Hand, und die Spitze
auf die Fremden gerichtet.
»Das ist müßiges Gerede«, sagte Gandalf. »Unnötig ist Théodens Ver-
langen, doch ist es sinnlos, es abzulehnen. Ein König setzt seinen Willen
in seiner eigenen Halle durch, ob es nun Torheit oder Weisheit ist.«
»Wahrlich«, sagte Aragorn. »Und ich würde tun, um was der Herr des
Hauses mich bittet, und wäre dies auch nur eine Holzfällerhütte, wenn ich
jetzt irgendein anderes Schwert trüge, und nicht Andúril.«
»Wie immer sein Name sein mag«, sagte Háma, »hier sollt Ihr es able-
gen, wenn Ihr nicht allein gegen alle Mannen in Edoras kämpfen wollt.«
»Nicht allein!« sagte Gimli, befühlte die Schneide seiner Axt und
blickte finster auf den Wächter, als ob er ein junger Baum sei, den zu fäl-
len Gimli Lust verspürte. »Nicht allein!«
»Ruhig, ruhig«, sagte Gandalf. »Wir alle sind hier Freunde. Oder soll-
ten es sein, denn das Gelächter von Mordor wird unser einziger Lohn
sein, wenn wir uns streiten. Mein Auftrag ist eilig. Hier zumindest ist
mein Schwert, Burgsaß Háma. Verwahrt es gut. Glamdring heißt es, denn
die Elben haben es vor langer Zeit geschmiedet. Nun laßt mich durch.
Komm, Aragorn!«
Langsam schnallte Aragorn sein Gehänge ab und stellte selbst sein
Schwert aufrecht an die Wand. »Hier stelle ich es hin«, sagte er. »Doch
befehle ich Euch, es nicht zu berühren und nicht zuzulassen, daß ein an-
derer die Hand darauf legt. In dieser elbischen Scheide ruht die Klinge,
die geborsten war und neu geschmiedet wurde. Telchar hat sie zuerst ge-
arbeitet vor unendlicher Zeit. Zu Tode kommen soll jeder Mann, der Elen-
dils Schwert zieht, außer Elendils Erbe.«
Der Wächter trat zurück und blickte Aragorn verwundert an. »Es
scheint. Ihr seid auf den Flügeln des Liedes aus vergessenen Tagen ge-
kommen«, sagte er. »Es soll so sein, wie Ihr befehlt.«
»Gut«, sagte Gimli, »wenn meine Axt Andúril zur Gesellschaft hat,
kann sie auch hier bleiben, ohne daß es eine Schande wäre«, und er legte
die Axt auf den Fußboden. »Nun also, wenn alles so ist, wie Ihr es
wünscht, dann wollen wir gehen und mit Eurem Herrn sprechen.«
Der Wächter zögerte immer noch. »Euer Stab«, sagte er zu Gandalf.
»Verzeiht mir, aber auch er muß an der Tür bleiben.«
»Torheit«, sagte Gandalf. »Vorsicht und Unhöflichkeit sind zweierlei.
Ich bin alt. Wenn ich mich beim Gehen nicht auf meinen Stab stützen
kann, dann werde ich hier draußen sitzen bleiben, bis es Théoden beliebt,
selbst herauszuhumpeln, um mit mir zu reden.«
Aragorn lachte. »Jeder hat etwas, das ihm zu lieb ist, um es einem an-
deren anzuvertrauen. Aber wollt Ihr wirklich einem alten Mann seine
Stütze nehmen? Wollt Ihr uns nun nicht eintreten lassen?«
»Der Stab in der Hand eines Zauberers mag mehr sein als eine Hilfe
für das Alter«, sagte Háma. Er sah den Eschenstab scharf an, auf den
Gandalf sich stützte. »Im Zweifelsfall wird indes ein verantwortungsvol-
ler Mann auf seine eigene Klugheit vertrauen. Ich glaube. Ihr seid
Freunde und ehrenwerte Leute, die keine bösen Absichten haben. Ihr
dürft hineingehen.«
Die Wächter schoben jetzt die schweren Riegel an den Türen zurück
und stießen sie langsam nach innen auf, und sie knarrten in ihren großen
Angeln. Die Reisenden traten ein. Drinnen erschien es ihnen dunkel und
warm nach der klaren Luft auf dem Berg. Die Halle war lang und breit
und von Schatten und Halblicht erfüllt; mächtige Säulen trugen das hohe
Dach. Doch hier und dort fielen helle Sonnenstrahlen in schimmernden
Bündeln durch die östlichen Fenster hoch unter dem breiten Dachgesims.
Durch den Rauchabzug im Dach schimmerte über den dünnen aufsteigen-
den Rauchschwaden der Himmel blaß und blau. Als sich ihre Augen an
das Dämmerlicht gewöhnt hatten, bemerkten die Reisenden, daß der Fuß-
boden mit vielfarbigen Steinen gepflastert war; verästelte Runen und selt-
same Sinnbilder verflochten sich unter ihren Füßen. Jetzt sahen sie auch,
daß die Säulen reich geschnitzt waren und matt glänzten in Gold und nur
halb erkannten Farben. Viele gewebte Decken waren an den Wänden auf-
gehängt, und auf ihren weiten Flächen ergingen sich Gestalten der alten
Sage, einige im Laufe der Jahre verblaßt, einige im Schatten nachgedun-
kelt. Aber auf eine Gestalt fiel das Sonnenlicht: ein junger Mann auf
einem weißen Pferd. Er blies ein großes Horn, und sein goldblondes Haar
flatterte im Wind. Das Pferd hatte den Kopf gehoben, und seine Nüstern
waren breit und rot, als es wieherte, da es die Schlacht von ferne witterte.
Schäumendes Wasser, grün und weiß, rauschte und wallte um seine Knie.
»Schaut! Eorl der Junge!« sagte Aragorn. »So ritt er aus dem Norden
zu der Schlacht auf dem Feld von Celebrant.«
Nun schritten die vier Gefährten voran, vorbei an dem hell brennenden
Holzfeuer auf dem Herd in der Mitte der Halle. Dann blieben sie stehen.
Am hinteren Ende des Hauses, jenseits der Feuerstelle und nach Norden
zu den Türen blickend, war ein erhöhter Sitz mit drei Stufen; und in der
Mitte des erhöhten Sitzes stand ein großer, vergoldeter Sessel. Darauf saß
ein vom Alter so gebeugter Mann, daß er fast ein Zwerg zu sein schien;
aber sein weißes Haar war lang und dicht und fiel in großen Flechten un-
ter einem dünnen, goldenen Stirnreif herab. In der Mitte seiner Stirn
schimmerte ein einziger weißer Diamant. Sein Bart lag wie Schnee auf
seinen Knien; doch seine Augen strahlten noch hell und funkelten, als er
die Fremden betrachtete. Hinter seinem Sessel stand eine weißgekleidete
Frau. Auf den Stufen zu seinen Füßen saß die zusammengeschrumpfte
Gestalt eines Mannes mit einem bleichen, klugen Gesicht und schwerlidri-
gen Augen.
Es herrschte Schweigen. Der alte Mann rührte sich nicht auf seinem
Sessel. Schließlich sprach Gandalf: »Heil, Théoden, Thengels Sohn! Ich
bin zurückgekehrt. Denn seht! Der Sturm kommt, und jetzt sollten sich
alle Freunde zusammenscharen, damit nicht jeder einzeln vernichtet
werde.«
Langsam erhob sich der alte Mann und stützte sich schwer auf einen
kurzen, schwarzen Stab mit einem Griff aus weißem Bein; und jetzt
sahen die Fremden, daß er zwar gebeugt, aber noch immer groß war und
in seiner Jugend wahrlich stattlich und stolz gewesen sein mußte.
»Ich grüße Euch«, sagte er, »und vielleicht erwartet Ihr ein Willkom-
men. Doch um die Wahrheit zu sagen, es ist zweifelhaft, ob Ihr hier will-
kommen seid, Herr Gandalf. Immer seid Ihr ein Vorbote des Leids gewe-
sen. Das Unheil folgt Euch wie Krähen, und je häufiger, um so schlim-
mer. Ich will Euch nicht darüber täuschen: als ich hörte, daß Schattenfell
reiterlos zurückgekommen war, freute ich mich über die Heimkehr des
Pferdes, aber mehr noch über das Fehlen des Reiters; und als Éomer die
Nachricht brachte, daß Ihr endlich in Euere letzte Heimat gegangen seid,
habe ich nicht getrauert. Doch Nachrichten aus der Feme sind selten
wahr. Hier seid Ihr wieder! Und mit Euch kommt schlimmeres Unglück
denn zuvor, wie zu erwarten war. Warum sollte ich Euch willkommen
heißen, Gandalf Sturmkrähe? Sagt mir das.« Langsam setzte er sich wie-
der auf seinen Sessel.
»Ihr sprecht wahr, Herr«, sagte der bleiche Mann, der auf den Stufen
des erhöhten Sitzes saß. »Keine fünf Tage sind vergangen, seit die bittere
Botschaft kam, daß Théored, Euer Sohn, in den Westmarken erschlagen
wurde; Eure rechte Hand, der Zweite Marschall der Mark. Auf Éomer ist
nicht viel Verlaß. Wenige Mannen wären zurückgeblieben, um Eure
Mauem zu schützen, wenn er hätte bestimmen dürfen. Und eben jetzt er-
fahren wir aus Gondor, daß der Dunkle Herrscher sich im Osten regt. Das
ist die Stunde, die dieser Wanderer für seine Rückkehr wählt. Fürwahr,
warum sollten wir Euch willkommen heißen, Herr Sturmkrähe? Láthspell
nenne ich Euch, Schlechte Botschaft; und eine schlechte Botschaft ist ein
schlechter Gast, heißt es.« Er lachte grimmig, als er kurz die schweren
Lider hob und die Fremden mit dunklen Augen betrachtete.
»Ihr geltet für weise, mein Freund Schlangenzunge, und zweifellos seid
Ihr eine große Stütze Eures Herrn«, antwortete Gandalf mit sanfter
Stimme. »Dennoch mag ein Mann auf zweierlei Art mit schlechten Nach-
richten kommen. Er mag ein Urheber des Bösen sein; oder er mag einer
sein, der nicht bessern will, was schon gut ist, sondern nur kommt, um in
Zeiten der Not Hilfe zu bringen.«
»So ist es«, sagte Schlangenzunge. »Aber es gibt noch eine dritte Art:
Knochenpicker, Leute, die sich in anderer Menschen Trauer einmischen,
Aasgeier, die vom Krieg fett werden. Welche Hilfe habt Ihr je gebracht,
Sturmkrähe? Und welche Hilfe bringt Ihr jetzt? Von uns habt Ihr Hilfe
erbeten, als Ihr das letzte Mal hier wart. Damals hieß Euch mein Herr,
irgendein Pferd zu wählen, das Ihr wolltet, und dann zu verschwinden;
und zur Verwunderung aller nahmt Ihr in Eurer Unverschämtheit Schat-
tenfell. Mein Herr war überaus betrübt; dennoch schien es manchen, daß
kein Preis zu hoch sei, um Euch schnell aus dem Land zu bringen. Ich
vermute, jetzt wird es wahrscheinlich wieder einmal auf dasselbe heraus-
laufen: Ihr werdet eher Hilfe erbitten als gewähren. Bringt Ihr Mannen?
Bringt Ihr Pferde, Schwerter, Speere? Das würde ich Hilfe nennen; das ist
es, was wir jetzt brauchen. Aber wer sind jene, die an Euren Rockschö-
ßen hängen? Drei zerlumpte Wanderer in Grau, und Ihr selbst seid der
bettlerähnlichste von den vieren!«
»Die Höflichkeit in Eurer Halle hat letzthin etwas nachgelassen, Theo-
den, Thengels Sohn«, sagte Gandalf. »Hat der Bote von Eurem Tor nicht
die Namen meiner Gefährten gemeldet? Selten hat ein Herr von Rohan
drei solche Gäste empfangen. Waffen haben sie an Eurer Tür abgelegt, die
so manch einen sterblichen Mann, selbst von den mächtigsten, wert sind.
Grau sind ihre Gewänder, denn die Elben haben sie gekleidet, und so sind
sie durch den Schatten großer Gefahren bis zu Eurer Halle gelangt.«
»Dann ist es wahr, wie Éomer berichtete, daß Ihr verbündet seid mit
der Zauberin des Goldenen Waldes?« fragte Schlangenzunge. »Das ist
nicht verwunderlich: Immer wurden Ränke in Dwimordene gesponnen.«
Gimli trat einen Schritt vor, doch spürte er plötzlich Gandalfs Hand
auf seiner Schulter, die ihn packte, und er blieb stocksteif stehen.
0 Dwimordene, o Lórien,
Selten betreten von Sterblichen
Wenige Menschen bekamen dein Licht,
Das immer leuchtende, je zu Gesicht.
Galadriel! Galadriel!
Klar ist das Wasser in deinem Quell,
Weiß der Stern in weißer Hand,
Schöner noch sind Laub und Land
In Dwimordene, in Lórien
Als die Gedanken der Sterblichen.
So sang Gandalf leise, und dann plötzlich verwandelte er sich. Er warf
seinen zerlumpten Mantel ab, reckte sich und stützte sich nicht mehr auf
seinen Stab; und er sprach mit einer klaren, kalten Stimme.
»Die Weisen reden nur über das, was sie wissen, Gríma, Gálmóds
Sohn. Eine einfältige Schlange seid Ihr geworden. Deshalb schweigt und
behaltet Eure gespaltene Zunge hinter Euren Zähnen. Ich bin nicht durch
Feuer und Tod gegangen, um verlogene Worte mit einem Diener zu wech-
seln, bis der Blitz einschlägt.«
Er hob seinen Stab. Ein Donner grollte. Das Sonnenlicht von den öst-
lichen Fenstern war ausgelöscht; die ganze Halle wurde plötzlich dunkel
wie die Nacht. Das Feuer verblaßte zu düsterer Glut. Nur Gandalf war zu
sehen, er stand weiß und groß vor dem schwarz gewordenen Herd.
In der Finsternis hörten sie Schlangenzunges Stimme zischen: »Habe
ich Euch nicht geraten, Herr, seinen Stab zu verbieten? Dieser Narr Háma
hat uns betrogen!« Es gab ein Aufflammen, als ob ein Blitz das Dach
durchschlagen habe. Dann war alles still. Schlangenzunge lag flach auf
dem Bauch, das Gesicht auf den Boden gedrückt.
»Nun, Théoden, Thengels Sohn, wollt Ihr mich anhören?« fragte Gan-
dalf. »Erbittet Ihr Hilfe?« Er hob seinen Stab und zeigte auf ein hohes
Fenster. Dort schien sich die Dunkelheit aufzuklären, und durch die Öff-
nung war, hoch und fern, ein Stückchen des strahlenden Himmels zu
sehen. »Nicht alles ist dunkel. Faßt Mut, Herr der Mark; denn bessere
Hilfe werdet Ihr nicht finden. Keinen Rat habe ich denen zu geben, die
verzweifeln. Doch Rat könnte ich geben, und Botschaft könnte ich Euch
übermitteln. Wollt Ihr sie hören? Sie ist nicht für alle Ohren. Ich bitte
Euch, kommt hinaus vor Eure Tür und schaut Euch um. Zu lange habt Ihr
im Schatten gesessen und entstellten Berichten und verlogenen Einflüste-
rungen vertraut.«
Langsam erhob sich Théoden von seinem Sessel. Ein schwaches Licht
verbreitete sich wieder in der Halle. Die Frau eilte an des Königs Seite
und nahm seinen Arm, und mit taumelnden Schritten stieg der alte
Mann von dem erhöhten Sitz herab und ging durch die Halle. Schlangen-
zunge blieb auf dem Boden liegen. Sie kamen zur Tür, und Gandalf
klopfte.
»öffnet!« rief er. »Der Herr der Mark kommt heraus!«
Die Türen öffneten sich, und ein frischer Luftzug blies herein. Ein
Wind wehte auf dem Berg.
»Schickt Eure Wächter hinunter zur Treppe«, sagte Gandalf. »Und Ihr,
Herrin, laßt mich eine Weile mit ihm allein. Ich will für ihn sorgen.«
»Geh, Éowyn, Schwestertochter«, sagte der alte König. »Die Zeit der
Furcht ist vorbei. <
Die Frau ging langsam zurück ins Haus. Als sie zur Tür kam, wandte
sie sich um und schaute zurück. Ernst und fürsorglich war ihr Blick, als
sie den König voller Mitleid ansah. Sehr schön war ihr Gesicht, und ihr
langes Haar war wie eine Flut von Gold. Schlank und groß war sie in
ihrem weißen Gewand mit dem silbernen Gürtel; doch stark schien sie zu
sein, und hart wie Stahl, eine Tochter von Königen. So erblickte Aragorn
zum ersten Mal im hellen Licht des Tages Éowyn, die Herrin von Rohan,
und fand sie schön, schön und kalt wie ein Morgen im bleichen Frühling,
noch nicht zur Fraulichkeit gereift. Und sie wurde plötzlich seiner ge-
wahr: des kühnen Erben von Königen, weise nach vielen Wintern, grau-
gekleidet und eine Macht verbergend, die sie dennoch spürte. Einen
Augenblick stand sie reglos wie ein Stein, dann wandte sie sich rasch um
und ging hinein.
»Nun, Herr«, sagte Gandalf, »schaut auf Euer Land! Atmet wieder die
frische Luft!«
Von dem hohen Söller auf dem hohen Bergsattel sahen sie jenseits des
Stroms die grünen Weiden von Rohan in der grauen Ebene verblassen.
Vorhänge von windgetriebenem Regen sanken schräg herab. Der Himmel
über ihnen und im Westen war noch dunkel vom Gewitter, und in weiter
Ferne flackerten Blitze zwischen den Gipfeln verborgener Berge. Doch
hatte der Wind auf Nord gedreht, und schon ließ der Sturm nach, der aus
dem Osten gekommen war, und verzog sich nach Süden zum Meer. Plötz-
lich brach durch einen Wolkenspalt ein Sonnenstrahl. Die herabströmen-
den Regenschauer glänzten wie Silber, und in der Ferne glitzerte der Fluß
wie ein schimmerndes Glas.
»Es ist nicht so dunkel hier«, sagte Théoden.
»Nein«, sagte Gandalf. »Und auch das Alter liegt nicht so schwer auf
Euren Schultern, wie manche Euch glauben machen. Werft Eure Stütze
fort!«
Aus des Königs Hand fiel der schwarze Stab klappernd auf die Steine.
Er richtete sich auf, langsam, wie ein Mann, der steif geworden ist, nach-
dem er sich lange über eine mühselige Arbeit gebeugt hatte. Jetzt stand
er stolz und aufrecht da, und seine Augen waren blau, als er in den
sich öffnenden Himmel blickte.
»Dunkel waren meine Träume in letzter Zeit«, sagte er, »aber ich fühle
mich wie neu belebt. Jetzt wünschte ich. Ihr wäret früher gekommen,
Gandalf. Denn ich fürchte. Ihr seid schon zu spät gekommen und werdet
nur die letzten Tage meines Hauses sehen. Nicht lange mehr wird die
hohe Halle stehen, die Brego, Eorls Sohn, gebaut hat. Feuer wird den
Thron verzehren. Was ist zu tun?«
»Viel«, sagte Gandalf. »Doch zuerst schickt nach Éomer. Vermute ich
nicht mit Recht, daß Ihr ihn gefangen haltet, auf Rat von Gríma, den alle
außer Euch die Schlangenzunge nennen?«
»Das stimmt«, sagte Théoden. »Er hatte sich gegen meine Befehle auf-
gelehnt und Gríma in meiner Halle mit dem Tode bedroht.«
»Ein Mann mag Euch lieben und dennoch Schlangenzunge oder seine
Ratschläge nicht lieben«, sagte Gandalf.
»Das mag sein. Ich werde tun, was Ihr begehrt. Ruft mir Háma. Da er
sich als Torwart als unzuverlässig erwiesen hat, soll er Laufbursche wer-
den. Der Schuldige soll den Schuldigen vor Gericht bringen«, sagte Theo-
den, und seine Stimme klang streng, doch schaute er Gandalf an und
lächelte, und während er das tat, glätteten sich viele Sorgenfalten und
kamen nicht wieder.
Als Háma gerufen worden war und wieder ging, führte Gandalf Theo-
den zu einer steinernen Bank und setzte sich vor dem König auf die ober-
ste Treppenstufe. Aragorn und seine Gefährten standen nahebei.
»Die Zeit reicht nicht, alles zu sagen, was Ihr hören solltet«, sagte
Gandalf. »Indes, wenn meine Hoffnung nicht trügt, wird bald eine Zeit
kommen, da ich ausführlicher sprechen kann. Schaut! Ihr seid in eine
noch größere Gefahr geraten, als Schlangenzunges Verstand in Eure
Träume weben konnte. Doch seht! Ihr träumt nicht länger. Ihr lebt. Gon-
dor und Rohan stehen nicht allein. Der Feind ist stärker, als wir ermessen
können, doch haben wir eine Hoffnung, an die er nicht gedacht hat.«
Rasch sprach Gandalf jetzt. Seine Stimme war leise und heimlich, und
niemand außer dem König hörte, was er sagte. Doch während er sprach,
leuchteten Théodens Augen immer heller, und schließlich stand er von
seiner Bank auf, streckte sich zu seiner ganzen Größe, und Gandalf trat
neben ihn, und gemeinsam schauten sie von der Höhe hinaus nach
Osten.
»Wahrlich«, sagte Gandalf nun mit lauter Stimme, scharf und klar, »in
dieser Richtung liegt unsere Hoffnung, wo auch unsere größte Furcht
sitzt. Das Schicksal hängt noch an einem Faden. Indes besteht Hoff-
nung, wenn wir nur eine kleine Weile unbesiegt bleiben können.«
Auch die anderen wandten nun ihren Blick nach Osten. Über die tren-
nenden Meilen des Landes schauten sie, soweit das Auge reichte, und
Hoffnung und Furcht trugen ihre Gedanken noch weiter, über das dunkle
Gebirge hinweg in das Land des Schattens. Wo war jetzt der Ringträger?
Wie dünn war fürwahr der Faden, an dem das Schicksal noch hing! Es
schien Legolas, als er seine weitblickenden Augen anstrengte, daß er
einen weißen Schimmer erspähte: vielleicht funkelte in der Ferne die
Sonne auf einer Zinne des Turms der Wacht. Und noch weiter weg, un-
endlich fern und dennoch eine gegenwärtige Drohung, war eine kleine
Flammenzunge.
Langsam setzte sich Théoden wieder, als ob die Müdigkeit noch darum
kämpfte, ihn gegen Gandalfs Willen zu beherrschen. Er wandte sich
um und betrachtete sein großes Haus. »O weh!« sagte er, »daß diese
schlimmen Tage meine sein müssen und in meinem Alter kommen statt
des Friedens, den ich verdient habe. Wehe um Boromir, den Tapferen! Die
Jungen gehen dahin, und die Alten bleiben, verdorrend.« Er umklam-
merte die Knie mit seinen runzligen Händen.
»Eure Finger würden sich ihrer alten Kraft besser erinnern, wenn sie
einen Schwertgriff packten«, sagte Gandalf.
Théoden stand auf und legte die Hand an die Seite; aber kein Schwert
war an seinem Gehänge. »Wo hat Gríma es verwahrt?« murmelte er flü-
sternd.
»Nehmt dieses, lieber Herr!« sagte eine helle Stimme. »Es war Euch
immer zu Diensten.« Zwei Männer waren leise die Treppe heraufgekom-
men und standen nun ein paar Stufen unter dem Söller, Éomer war dort.
Kein Helm war auf seinem Kopf, kein Harnisch an seiner Brust, doch in
der Hand hielt er ein gezogenes Schwert; und als er niederkniete, bot er
seinem Herrn das Heft dar.
»Wie kommt das?« fragte Théoden streng. Er wandte sich zu Éomer,
und die Männer blickten ihn verwundert an, wie er jetzt stolz und auf-
recht dastand. Wo war der alte Mann, der auf seinem Sessel gekauert
oder sich auf seinen Stock gestützt hatte?
»Ich habe es getan, Herr«, sagte Háma zitternd. »Ich nahm an, daß
Éomer freigelassen werden sollte. So groß war die Freude meines Herzens,
daß ich vielleicht gefehlt habe. Indes, da er wieder frei war und ein Mar-
schall der Mark ist, brachte ich ihm sein Schwert, wie er mir gebot.«
»Um es Euch zu Füßen zu legen, mein Gebieter«, sagte Éomer. Einen
Augenblick sah Théoden schweigend auf Éomer hinab, der vor ihm
kniete. Beide rührten sich nicht.
»Wollt Ihr nicht das Schwert nehmen?« fragte Gandalf.
Langsam streckte Théoden die Hand aus. Als seine Finger den Griff
umschlossen, schien es den Umstehenden, daß Festigkeit und Kraft in sei-
nen schwachen Arm zurückkehrten. Plötzlich hob er die Klinge und
schwang sie, so daß sie in der Luft schimmerte und pfiff. Dann stieß er
einen lauten Ruf aus. Seine Stimme klang klar, als er in der Sprache von
Rohan einen Aufruf zu den Waffen sang.
Erhebt euch und hört, Reiter Théodens!
Finstere Tat regt sich im Osten.
Die Rösser gezäumt! Das Horn erschalle!
Auf, Eorlingas!
Die Wächter glaubten, sie werden gerufen, und eilten die Treppe her-
auf. Sie schauten ihren Herrn voller Verwunderung an, und wie ein Mann
zogen sie dann ihre Schwerter und legten sie ihm zu Füßen. »Gebietet
über uns!« sagten sie.
»Westu Théoden hol!« rief Éomer. »Wir sehen es mit Freude,
daß Ihr
wieder erlangt, was Euch zusteht. Niemals mehr soll gesagt werden, Gan-
dalf, daß Ihr nur Unglück bringt!«
»Nimm dein Schwert zurück, Éomer, Schwestersohn!« sagte der König.
»Geh, Háma, und hole mir mein eigenes Schwert. Gríma hat es in Ver-
wahrung. Bringe ihn ebenfalls zu mir. Nun, Gandalf, Ihr sagtet, Ihr habet
Rat zu erteilen, wenn ich ihn hören wollte. Welches ist Euer Rat?«
»Ihr habt ihn schon angenommen«, antwortete Gandalf. »Euer Ver-
trauen auf Éomer setzen und nicht auf einen Mann von unaufrichtiger
Gesinnung. Trauer und Furcht abschütteln. Die nächstliegende Tat tun.
Jeder Mann, der reiten kann, sollte sofort nach Westen geschickt werden,
wie Éomer Euch geraten hat: wir müssen zuerst die Bedrohung durch
Saruman ausschalten, solange wir Zeit haben. Wenn wir scheitern, wer-
den wir untergehen. Wenn wir Erfolg haben — dann werden wir uns der
nächsten Aufgabe zuwenden. Derweil sollte Euer Volk, das zurückbleibt,
die Frauen und die Kinder und die Alten, sich zu den Zufluchtstätten zu-
rückziehen, die Ihr im Gebirge habt. Waren sie nicht für einen schlimmen
Tag wie diesen vorgesehen? Laßt die Leute Vorräte mitnehmen, aber sie
sollen nicht säumen und sich nicht mit Schätzen, großen oder kleinen, be-
lasten. Ihr Leben steht auf dem Spiel.«
»Dieser Rat erscheint mir jetzt gut«, sagte Théoden. »Mein ganzes
Volk soll sich bereitmachen. Doch Ihr, meine Gäste — mit Recht sagtet
Ihr, Gandalf, daß die Höflichkeit in meiner Halle nachgelassen hat. Ihr
seid die Nacht hindurch geritten, und der Vormittag vergeht. Ihr habt
weder Schlaf noch eine Mahlzeit gehabt. Ein Gästehaus soll bereitgemacht
werden: dort sollt Ihr schlafen, wenn Ihr gegessen habt.«
»Nein, Herr«, sagte Aragorn. »Es gibt keine Rast für die Müden. Die
Mannen von Rohan müssen heute reiten, und wir werden mit ihnen rei-
ten, Axt, Schwert und Bogen. Wir brachten sie nicht mit, damit sie an
Eurer Wand lehnen, Herr der Mark. Und ich habe Éomer versprochen,
daß mein Schwert und sein Schwert zusammen gezogen werden sollen.«
»Nun besteht wirklich Hoffnung auf Sieg!« sagte Éomer.
»Hoffnung ja«, sagte Gandalf. »Aber Isengart ist stark. Und andere
Gefahren sind im Verzuge. Säumt nicht, Théoden, wenn wir fort sind.
Führt Euer Volk geschwind zur Festung Dunharg in den Bergen!«
»Nein, Gandalf«, sagte der König. »Ihr kennt Eure eigene Heilkunst
nicht. So soll es nicht sein. Ich selbst will in den Krieg ziehen und in der
ersten Schlachtreihe fallen, wenn es sein muß. Dann werde ich besser
schlafen.«
»Dann wird selbst die Niederlage von Rohan ruhmreich im Lied besun-
gen werden«, sagte Aragorn. Die Krieger, die in der Nähe standen, klirr-
ten mit ihren Waffen und riefen: »Der Herr der Mark wird reiten! Auf,
Eorlingas!«
»Doch Euer Volk darf nicht unbewaffnet und führerlos sein«, sagte
Gandalf. »Wer soll es leiten und an Eurer Statt befehligen?«
»Darüber werde ich nachdenken, ehe ich gehe«, antwortete Théoden.
»Hier kommt mein Ratgeber.«
In diesem Augenblick trat Háma aus der Halle. Hinter ihm kam, sich
zwischen zwei anderen Männern duckend, Gríma, die Schlangenzunge.
Sein Gesicht war aschfahl. Seine Augen blinzelten im Sonnenschein.
Háma kniete nieder und reichte Théoden ein langes Schwert in einer
Scheide mit goldenen Schnallen und mit grünen Edelsteinen besetzt.
»Hier, Herr, ist Herugrim, Eure alte Klinge«, sagte er. »Sie wurde in
seiner Truhe gefunden. Nur widerwillig gab er die Schlüssel heraus. Viele
andere Dinge sind dort, die Mannen vermißt haben.«
»Du lügst«, sagte Schlangenzunge. »Und dieses Schwert hat mir dein
Herr selbst zur Aufbewahrung gegeben.«
»Und jetzt fordert er es zurück«, sagte Théoden. »Mißfällt Euch das?«
»Ganz gewiß nicht, Herr«, sagte Schlangenzunge. »Ich sorge für Euch
und die Euren, so gut ich kann. Doch ermüdet Euch nicht und bean-
sprucht Eure Kraft nicht zu schwer. Überlaßt es anderen, sich mit diesen
lästigen Gästen zu befassen. Eure Mahlzeit wird gleich auf die Tafel ge-
stellt. Wollt Ihr nicht hingehen?«
»Das will ich«, sagte Théoden. »Und laßt Essen für meine Gäste dane-
ben auf die Tafel stellen. Das Heer reitet heute. Sendet die Herolde aus!
Laßt alle zusammenrufen, die nahe wohnen! Jeder Mann und jeder kräf-
tige Bursche, der fähig ist, Waffen zu tragen, alle, die Pferde haben, sol-
len sich gesattelt am Tor bereithalten vor der zweiten Stunde nach dem
Mittag!«
»Lieber Herr!« rief Schlangenzunge. »Es ist, wie ich gefürchtet habe.
Dieser Zauberer hat Euch verhext. Soll niemand hier bleiben, um die Gol-
dene Halle Eurer Väter und alle Eure Schätze zu verteidigen? Niemand,
um den Herrn der Mark zu schützen?«
»Wenn das Verhexung ist«, sagte Théoden, »dann scheint sie mir heil-
samer als Eure Einflüsterungen. Eure Heilkunst hätte mich binnen kurzem
dazu gebracht, wie ein Tier auf allen vieren zu gehen. Nein, keiner soll
zurückbleiben, nicht einmal Gríma. Auch Gríma soll reiten. Geht! Ihr
habt noch Zeit, den Rost von Eurem Schwert zu kratzen.«
»Habt Erbarmen, Herr«, winselte Schlangenzunge, auf dem Boden krie-
chend. »Habt Mitleid mit einem, der sich in Eurem Dienst aufgerieben
hat. Schickt mich nicht von Eurer Seite! Ich zumindest will Euch beiste-
hen, wenn alle anderen fort sind. Schickt Euren treuen Gríma nicht fort!«
»Ihr habt mein Mitleid«, sagte Théoden. »Und ich schicke Euch nicht
von meiner Seite. Ich selbst ziehe mit meinen Mannen in den Krieg. Ich
heiße Euch, mit mir zu kommen und Eure Treue zu beweisen.«
Schlangenzunge blickte von einem zum anderen. In seinen Augen war
der gejagte Blick eines Tieres, das irgendeine Lücke im Kreis seiner Feinde
sucht. Er leckte sich die Lippen mit einer langen, blassen Zunge. »Ein sol-
cher Entschluß war vielleicht zu erwarten von einem Fürsten aus Eorls
Haus, wenn er auch alt ist«, sagte er. »Doch jene, die ihn aufrichtig lie-
ben, würden ihn in seinen letzten Jahren schonen. Doch sehe ich, daß ich
zu spät komme. Andere, denen der Tod meines Herrn vielleicht weniger
Kummer bereiten würde, haben ihn schon überredet. Wenn ich ihr Werk
nicht ungeschehen machen kann, dann hört wenigstens insoweit auf
mich, Herr! Einer, der Eure Gedanken kennt und Eure Befehle in Ehren
hält, sollte in Edoras bleiben. Ernennt einen treuen Verwalter. Laßt Euren
Ratgeber alles verwahren bis zu Eurer Rückkehr — ich bete, daß wir
sie erleben mögen, obwohl kein kluger Mann viel Hoffnung haben darf.«
Éomer lachte. »Und wenn dieser Vorwand Euch nicht vom Krieg be-
freit, edelste Schlangenzunge«, sagte er, »welches weniger ehrenvolle
Amt würdet Ihr annehmen? Einen Sack Mehl ins Gebirge tragen — wenn
irgend jemand Euch einen anvertraute?«
»Nein, Éomer, Ihr habt die Absicht von Herrn Schlangenzunge nicht
völlig verstanden«, sagte Gandalf und schaute Gríma durchbohrend an.
»Er ist kühn und listig. Sogar jetzt spielt er noch mit der Gefahr und ge-
winnt einen Wurf. Stunden meiner kostbaren Zeit hat er bereits ver-
schwendet. Nieder, Schlange!« sagte er plötzlich mit entsetzlicher Stimme.
»Auf den Bauch mit dir! Wie lange ist es her, daß Saruman dich gekauft
hat? Was war der versprochene Preis? Wenn alle Männer tot wären, soll-
test du dir deinen Teil des Schatzes nehmen und die Frau, die du be-
gehrtest? Zu lange hast du sie unter deinen Augenlidern beobachtet und
ihre Schritte belauert.«
Éomer packte sein Schwert. »Das wußte ich schon«, murmelte er. »Aus
diesem Grunde wollte ich ihn bereits erschlagen und das Gesetz der Halle
mißachten. Aber es gibt noch andere Gründe.« Er trat vor, doch Gandalf
gebot ihm mit einer Handbewegung Halt.
»Éowyn ist jetzt in Sicherheit«, sagte er. »Aber du, Schlangenzunge,
hast getan, was du konntest, für deinen wahren Herrn. Einigen Lohn hast
du zumindest verdient. Doch Saruman könnte seine Abmachungen leicht
übersehen. Ich würde dir raten, rasch zu ihm zu gehen und ihn zu erin-
nern, damit er deine treuen Dienste nicht vergißt.«
»Ihr lügt«, sagte Schlangenzunge.
»Das Wort kommt zu oft und zu leicht von deinen Lippen«, sagte Gan-
dalf. »Ich lüge nicht. Schaut, Théoden, hier ist eine Schlange. Es ist
gefährlich, sie mitzunehmen und ebenso, sie hierzulassen. Sie zu erschla-
gen wäre gerecht. Aber sie war nicht immer so, wie sie jetzt ist. Einst
war sie ein Mann und diente Euch auf ihre Weise. Gebt ihm ein Pferd
und laßt ihn sofort gehen, wohin er immer will. Nach seiner Entschei-
dung könnt Ihr ihn beurteilen.«
»Hört Ihr das. Schlangenzunge?« fragte Théoden. »Das steht für Euch
zur Wahl: mit mir in den Krieg zu reiten und uns in der Schlacht sehen
zu lassen, ob Ihr aufrichtig seid; oder zu gehen, wohin Ihr wollt. Aber
wenn wir uns dann wiedertreffen, werde ich nicht barmherzig sein.«
Langsam erhob sich Schlangenzunge. Er sah sie mit halb geschlossenen
Augen an. Zuletzt blickte er Théoden scharf an und öffnete den Mund,
als ob er sprechen wollte. Dann plötzlich richtete er sich auf. Seine Hände
zuckten. Seine Augen funkelten. Eine solche Bosheit lag in ihnen, daß die
Männer vor ihm zurückwichen. Er entblößte seine Zähne; und mit einem
zischenden Ausatmen spuckte er dem König vor die Füße, sprang zur
Seite und floh die Treppe hinunter.
»Ihm nach!« sagte Théoden. »Seht zu, daß er niemandem Schaden zu-
fügt, aber verletzt ihn nicht und hindert ihn nicht. Gebt ihm ein Pferd,
wenn er es wünscht.«
»Und wenn eins ihn tragen will«, sagte Éomer.
Einer der Wächter lief die Treppe hinunter. Ein anderer ging zu der
Quelle am Fuß des Bergsattels und schöpfte Wasser mit seinem Helm.
Damit wusch er die Steine sauber, die Schlangenzunge besudelt hatte.
»Nun, meine Gäste, kommt«, sagte Théoden. »Kommt und nehmt das
an Erfrischungen zu Euch, was die Eile erlaubt.«
Sie gingen zurück in das große Haus. Schon hörten sie unten in der
Stadt die Herolde rufen und die Kriegshörner blasen. Denn der König
sollte ausreiten, sobald die Männer der Stadt und jene, die nahe wohnten,
bewaffnet und versammelt werden konnten.
An des Königs Tafel saßen Éomer und die vier Gäste, und auch Frau
Éowyn war da und wartete dem König auf. Sie aßen und tranken rasch.
Die anderen schwiegen, während Théoden Gandalf über Saruman be-
fragte.
»Wie weit sein Verrat zurückgeht, wer kann das erraten?« sagte Gan-
dalf. »Er war nicht immer böse. Einstmals, daran zweifle ich nicht, war er
ein Freund von Rohan; und selbst als sein Herz kälter wurde, fand er
Euch noch nützlich. Aber seit langem hat er nun schon Euer Verderben
geplant und die Maske der Freundschaft getragen, bis er bereit war. In
jenen Jahren war Schlangenzunges Aufgabe leicht, und alles, was Ihr
tatet, wurde in Isengart rasch bekannt; denn Euer Land war offen, und
Fremde kamen und gingen. Und immer hattet Ihr Schlangenzunges Ein-
flüsterungen im Ohr, sie vergifteten Eure Gedanken, entmutigten Euer
Herz, schwächten Eure Glieder, während andere es beobachteten und
nichts tun konnten, denn er hielt Euren Willen gefangen.
Aber als ich entfloh und Euch warnte, da war die Maske für jene, die
sehen wollten, zerrissen. Danach spielte Schlangenzunge ein gefährliches
Spiel und trachtete immer, Euch zurückzuhalten. Euch daran zu hindern,
Eure ganze Kraft zu sammeln. Er war geschickt: lullte die Vorsicht der
Menschen ein oder schürte die Ängste, wie es dem Zweck dienlich war.
Erinnert Ihr Euch nicht, wie hartnäckig er darauf bestand, daß bei einer
Wildgansjagd im Norden kein Mann entbehrt werden könne, während die
unmittelbare Gefahr im Westen lag? Er überredete Euch, Éomer zu verbie-
ten, die plündernden Orks zu verfolgen. Hätte Éomer nicht Schlangenzun-
ges Stimme, die mit Eurem Munde sprach. Trotz geboten, dann hätten
diese Orks inzwischen Isengart erreicht und einen hohen Preis mitge-
bracht. Nicht gerade den Preis, den Saruman mehr als alles andere be-
gehrt, aber zumindest zwei Angehörige meiner Gemeinschaft, Beteiligte
an einer geheimen Hoffnung, über die ich selbst mit Euch, Herr, noch
nicht offen sprechen kann. Wagt Ihr Euch vorzustellen, was sie jetzt
womöglich erleiden würden oder was Saruman inzwischen zu unserem
Unheil erfahren haben könnte?«
»Ich verdanke Éomer viel«, sagte Théoden. »Ein treues Herz mag eine
trotzige Zunge haben.«
»Sagt auch«, sagte Gandalf, »daß für schielende Augen die Wahrheit
ein schiefes Gesicht haben mag.«
»Meine Augen waren tatsächlich fast blind«, sagte Théoden. »Am
meisten von allen verdanke ich Euch, mein Gast. Wieder einmal seid Ihr
rechtzeitig gekommen. Ich möchte Euch gern ein Geschenk machen, ehe
wir aufbrechen, nach Eurer Wahl. Ihr braucht nur irgend etwas zu nen-
nen, das mir gehört. Allein mein Schwert nehme ich aus!«
»Ob ich rechtzeitig kam oder nicht, bleibt abzuwarten«, sagte Gandalf.
»Doch was Euer Geschenk betrifft, Herr, so will ich eins wählen, das
mir bietet, was ich brauche: Schnelligkeit und Sicherheit. Gebt mir Schat-
tenfell! Er war mir bisher nur geliehen, wenn man es eine Leihgabe nen-
nen kann. Aber jetzt werde ich ihn in große Gefahr bringen und Silber
gegen Schwarz ausspielen: ich möchte nichts gefährden, was mir nicht
gehört. Und schon besteht ein Band der Liebe zwischen uns.«
»Ihr habt gut gewählt«, sagte Théoden, »und ich gebe ihn jetzt gern.
Immerhin ist es ein großes Geschenk. Schattenfell hat nicht seinesglei-
chen. In ihm ist eines der mächtigen Rösser der alten Zeit wiedergekehrt.
Ein solches wird nicht wiederkommen. Und Euch, meinen anderen Gästen
will ich das anbieten, was in meiner Waffenkammer zu finden ist.
Schwerter braucht Ihr nicht, doch sind dort Helme und Harnische von
trefflicher Arbeit, Geschenke, die mein Vater aus Gondor erhielt. Wählt un-
ter diesen, ehe wir aufbrechen, und mögen sie Euch gute Dienste tun!«
Nun kamen Männer und brachten Kriegsausrüstung aus des Königs
Hort, und sie kleideten Aragorn und Legolas in schimmernde Panzer.
Auch Helme wählten sie und Rundschilde: ihre Buckel waren mit Gold
überzogen und mit grünen, roten und weißen Edelsteinen besetzt. Gandalf
nahm keine Rüstung; und Gimli brauchte keinen Kettenpanzer, selbst
wenn einer in seiner Größe dagewesen wäre, denn es gab unter den Schät-
zen von Edoras keine bessere Halsberge als seine kurze Brünne, die unter
dem Berg im Norden geschmiedet worden war. Doch wählte er einen
Eisenhut mit Leder, der gut auf seinen runden Kopf paßte; und einen klei-
nen Schild nahm er auch. Er zeigte das laufende Pferd, weiß auf grün, das
Wahrzeichen des Hauses von Eorl.
»Möge er Euch gut beschützen«, sagte Théoden. »Er wurde zu Thengels
Zeit für mich gemacht, als ich noch ein Knabe war.«
Gimli verneigte sich. »Ich bin stolz, Herr der Mark, Euer Wappen zu
tragen«, sagte er. »Tatsächlich möchte ich eher ein Pferd tragen, als von
einem getragen werden. Mir sind meine Füße lieber. Aber vielleicht
komme ich noch dorthin, wo ich stehen und kämpfen kann.«
»Es mag wohl sein«, sagte Théoden.
Der König erhob sich jetzt, und sofort kam Éowyn herbei und brachte
Wein. »Ferthu Théoden hall« sagte sie. »Nimm nun den Humpen und
trinke in glücklicher Stunde. Möge Gesundheit dein Kommen und Gehen
begleiten!«
Théoden trank aus dem Humpen, und sie bot ihn dann den Gästen an.
Als sie vor Aragorn stand, hielt sie plötzlich inne, schaute zu ihm auf,
und ihre Augen leuchteten. Und er blickte hinunter auf ihr schönes Ge-
sicht und lächelte; doch als er den Humpen nahm, trafen sich ihre Hände,
und er merkte, wie sie bei der Berührung erzitterte. »Heil, Aragorn,
Arathorns Sohn!« sagte sie. »Heil, Herrin von Rohan!« antwortete er,
aber sein Gesicht war jetzt bekümmert, und er lächelte nicht.
Als sie alle getrunken hatten, ging der König durch die Halle zur Tür.
Dort erwarteten ihn die Wächter, und Herolde und alle Ritter und An-
führer waren versammelt, die in Edoras geblieben waren oder nahebei
wohnten.
»Seht! Ich breche auf, und es mag vielleicht mein letzter Ritt sein«,
sagte Théoden. »Ich habe kein Kind. Théodred, mein Sohn, ist erschla-
gen. Ich bestimme Éomer, meinen Schwestersohn, zu meinem Erben. Keh-
ren wir beide nicht zurück, dann wählt einen neuen Herrn nach euren
Wünschen. Aber irgend jemandem muß ich nun mein Volk anvertrauen,
das ich zurücklasse, um es an meiner Statt zu führen. Wer von euch will
bleiben?«
Niemand sprach.
»Gibt es keinen, den ihr nennen wollt? Zu wem hat mein Volk Ver-
trauen?«
»Zu Eorls Haus«, antwortete Háma.
»Aber Éomer kann ich nicht entbehren, und er würde auch nicht zu-
rückbleiben wollen«, sagte der König. »Und er ist der Letzte dieses Hau-
»Ich habe nicht Éomer gesagt«, antwortete Háma. »Und er ist nicht der
Letzte. Da ist Éowyn, Éomunds Tochter, seine Schwester. Sie ist furchtlos
und kühn. Alle lieben sie. Laßt sie Herrscherin der Eorlingas sein, wäh-
rend wir fort sind.«
»So soll es sein«, sagte Théoden. »Laßt die Herolde dem Volk verkün-
den, daß Frau Éowyn es führen wird!«
Dann setzte sich der König auf die Bank vor seiner Tür, und Éowyn
kniete vor ihm nieder und empfing von ihm ein Schwert und einen schö-
nen Harnisch. »Lebewohl, Schwestertochter!« sagte er. »Dunkel ist die
Stunde, dennoch werden wir vielleicht zur Goldenen Halle zurückkehren.
Doch in Dunharg kann sich das Volk lange verteidigen, und wenn die
Schlacht schlecht ausgeht, werden dorthin alle kommen, die entrinnen.«
»Sprich nicht so«, antwortete sie. »Ein Jahr wird für mich jeder Tag
dauern, der bis zu deiner Rückkehr vergeht.« Doch als sie sprach, wan-
derte ihr Blick zu Aragorn, der nahebei stand.
»Der König wird zurückkehren«, sagte er. »Fürchtet Euch nicht! Nicht
im Westen, sondern im Osten erwartet uns unser Schicksal.«
Der König ging nun die Treppe hinunter, und Gandalf war an seiner
Seite. Die anderen folgten. Aragorn blickte zurück, als sie zum Tor
kamen. Allein stand Éowyn vor der Tür des Hauses oben an der Treppe;
das Schwert hatte sie senkrecht vor sich gestellt, und ihre Hände lagen
auf dem Heft. Sie trug jetzt den Harnisch und schimmerte wie Silber in
der Sonne.
Gimli ging neben Legolas, die Axt auf der Schulter. »Na, endlich bre-
chen wir auf!« sagte er. »Die Menschen brauchen vor Taten viele Worte.
Meine Axt ist unruhig in meiner Hand. Obwohl ich nicht daran zweifle,
daß diese Rohirrim hart zuschlagen können, wenn es so weit ist. Dennoch
ist das nicht die Kriegführung, die mir zusagt. Wie soll ich zum Kampf
kommen? Ich wünschte, ich könnte zu Fuß gehen und würde nicht wie
ein Sack gegen Gandalf s Sattelbaum bumsen.«
»Ein sicherer Sitz als mancher andere, vermute ich«, sagte Legolas.
»Doch wird Gandalf dich zweifellos gern absetzen, wenn das Handge-
menge beginnt; oder auch Schattenfell selbst. Eine Axt ist keine Waffe
für einen Reiter.«
»Und ein Zwerg ist kein Reiter. Orkhälse möchte ich abhauen, nicht
die Schädel von Menschen scheren«, sagte Gimli und klopfte auf den
Griff seiner Axt.
Am Tor fanden sie ein großes Kriegsheer, alte und junge Männer, und
alle saßen schon im Sattel. Mehr als Tausend waren dort versammelt. Ihre
Speere waren wie ein aufragender Wald. Laute und freudige Rufe stießen
sie aus, als Théoden herankam. Einige hielten des Königs Pferd, Schnee-
mähne, bereit, und andere hielten die Pferde von Aragorn und Legolas.
Gimli fühlte sich unbehaglich und runzelte die Stirn, aber Éomer kam zu
ihm, sein Pferd am Zügel führend.
»Heil, Gimli, Glóins Sohn!« rief er. »Ich habe noch keine Zeit gehabt,
unter Eurer Zuchtrute die feine Redeweise zu lernen, wie Ihr mir verspro-
chen habt. Aber wollen wir unseren Streit nicht auf sich beruhen lassen?
Zumindest werde ich nichts Schlechtes mehr über die Herrin des Waldes
sagen.«
»Ich will meinen Zorn eine Weile vergessen, Éomer, Éomunds Sohn«,
sagte Gimli. »Aber wenn Ihr je Gelegenheit habt, Frau Galadriel mit
eigenen Augen zu sehen, dann sollt Ihr bestätigen, daß sie die schönste
aller Frauen ist, sonst wird unsere Freundschaft enden.«
»So sei es!« sagte Éomer. »Doch bis dahin vergebt mir, und zum Zei-
chen Eurer Vergebung, bitte ich Euch, reitet mit mir. Gandalf wird mit
dem Herrn der Mark an der Spitze sein; doch Feuerfuß, mein Pferd, wird
uns beide tragen, wenn Ihr wollt.«
»Ich danke Euch sehr«, sagte Gimli hocherfreut. »Ich will gern mit
Euch kommen, wenn Legolas, mein Gefährte, neben uns reiten darf.«
»So soll es sein«, sagte Éomer. »Legolas zu meiner Linken und Aragorn
zu meiner Rechten, und keiner wird wagen, uns die Stirn zu bieten!«
»Wo ist Schattenfell?« fragte Gandalf.
»Er ist auf der Weide und nicht zu bändigen«, antworteten sie. »Von
keinem Menschen läßt er sich anrühren. Dort läuft er, unten an der Furt,
wie ein Schatten zwischen den Weidenbäumen.«
Gandalf pfiff und rief laut den Namen des Pferdes, und in weiter Feme
hob es den Kopf und wieherte, wandte sich um und schoß wie ein Pfeil
auf das Heer zu.
»Könnte der Atem des Westwindes eine sichtbare Gestalt annehmen,
dann würde er so aussehen«, sagte Éomer, als das große Pferd herbeieilte
und vor dem Zauberer stehen blieb.
»Das Geschenk scheint schon gegeben zu sein«, sagte Théoden. »Doch
hört mich alle an! Hier ernenne ich jetzt meinen Gast, Gandalf Graurock,
den weisesten aller Ratgeber, den willkommensten der Wanderer, zum
Herzog der Mark, zu einem Führer der Eorlingas, solange unser Ge-
schlecht währt, und schenke ihm Schattenfell, den Fürsten der Rösser.«
»Ich danke Euch, König Théoden«, sagte Gandalf. Dann warf er plötz-
lich seinen grauen Mantel ab, schleuderte den Hut fort und sprang aufs
Pferd. Er trug weder Helm noch Hämisch. Sein schneeiges Haar flatterte
im Wind, sein weißes Gewand schimmerte blendend in der Sonne.
»Sehet den Weißen Reiter!« rief Aragon, und alle nahmen die Worte
auf.
»Unser König und der Weiße Reiter!« riefen sie. »Auf, Eorlingas!«
Die Trompeten erklangen. Die Pferde bäumten sich auf und wieherten.
Speere klirrten an Schilde. Dann hob der König die Hand, und so unver-
mutet wie der plötzliche Ausbruch eines Sturms ritt das letzte Heer von
Rohan donnernd gen Westen.
Weit über die Ebene sah Éowyn das Glitzern ihrer Speere, als sie still
und allein vor den Türen des schweigenden Hauses stand.