FÜNFTES KAPITEL
DER WEISSE REITER
»Mir ist kalt bis auf die Knochen«, sagte Gimli, schlug die Arme unter
sich und stampfte mit den Füßen auf. Endlich war es Tag geworden. Im
Morgengrauen hatten sie sich ein Frühstück bereitet, so gut sie konnten;
jetzt machten sie sich in der zunehmenden Helligkeit daran, den Boden
wieder nach Spuren der Hobbits abzusuchen.
»Und vergeßt den alten Mann nicht!« sagte Gimli. »Ich wäre glück-
licher, wenn ich den Abdruck eines Stiefels sehen könnte.«
»Warum würde dich das glücklicher machen?« fragte Legolas.
»Weil ein alter Mann mit Füßen, die Spuren hinterlassen, vielleicht
nicht mehr ist, als er zu sein schien«, antwortete der Zwerg.
»Vielleicht«, sagte der Elb. »Aber hier hinterläßt ein schwerer Stiefel
womöglich gar keinen Abdruck: das Gras ist hoch und federnd.«
»Das würde einen Waldläufer nicht täuschen«, sagte Gimli. »Für Ara-
gorn reicht ein umgebogener Halm, um ihn zu deuten. Aber ich erwarte
nicht, daß er irgendwelche Spuren findet. Es war ein böses Trugbild von
Saruman, was wir gestern gesehen haben. Davon bin ich überzeugt, selbst
im hellen Morgenlicht. Seine Augen erblicken uns vielleicht sogar jetzt
von Fangorn aus.«
»Das ist recht wahrscheinlich«, sagte Aragorn, »dennoch bin ich nicht
sicher. Ich denke an die Pferde. Du sagtest in der Nacht, Gimli, er habe
sie so erschreckt, daß sie fortgelaufen seien. Aber das glaube ich nicht.
Hast du sie gehört, Legolas? Klang dir das wie erschreckte Tiere?«
»Nein«, sagte Legolas. »Ich habe sie deutlich gehört. Wäre es nicht
dunkel und wir selbst verängstigt gewesen, hätte ich eher angenommen,
es seien Tiere, die sich plötzlich freuten. Sie gaben Laute von sich, wie
Pferde es tun, wenn sie einen Freund treffen, den sie lange vermißt
haben.«
»Das fand ich auch«, sagte Aragorn. »Aber ich kann das Rätsel nicht
lösen, es sei denn, sie kehrten zurück. Nun kommt! Es wird rasch hell.
Laßt uns zuerst nachschauen und später mutmaßen! Wir sollten hier an-
fangen, in der Nähe unseres Lagerplatzes sorgfältig alles absuchen und
uns dann den Hang hinauf zum Wald vorarbeiten. Die Hobbits zu finden,
ist unsere Aufgabe, was immer wir auch von unserem Besucher in der
Nacht halten mögen. Wenn sie durch irgendeinen glücklichen Umstand
entkommen sind, dann müssen sie sich in den Bäumen versteckt haben,
sonst wären sie gesehen worden. Wenn wir zwischen hier und dem Saum
des Waldes nichts finden, dann werden wir als letztes noch auf dem
Schlachtfeld und in der Asche suchen. Aber da besteht wenig Hoffnung:
die Reiter von Rohan haben ihre Arbeit zu gut gemacht.«
Eine Zeitlang krochen und tasteten die Gefährten auf dem Boden
herum. Der Baum stand trauervoll über ihnen, seine trockenen Blätter
hingen jetzt schlaff herab und raschelten im kalten Ostwind. Aragorn
ging langsam weiter. Er kam zur Asche des Wachfeuers in der Nähe des
Flußufers und begann dann, den Boden nochmals bis zu der Kuppe, wo
der Kampf ausgefochten worden war, sorgfältig zu untersuchen. Plötzlich
bückte er sich so tief, daß sein Gesicht fast im Gras war. Dann rief er die
anderen. Sie kamen angerannt.
»Hier finden wir endlich eine Nachricht«, sagte Aragorn. Er hob ein
beschädigtes Blatt auf, damit sie es sehen konnten, ein großes, fahles Blatt
in goldener Tönung, das jetzt verblaßte und braun wurde. »Hier ist ein
Mallornblatt aus Lórien, und Krümelchen sind darauf, und noch ein paar
Krümel im Gras. Und schaut! da liegen einige Stücke von einem zer-
schnittenen Strick ganz in der Nähe!«
»Und hier ist das Messer, das sie zerschnitten hat«, sagte Gimli. Er
bückte sich und zog aus einem Grasbüschel, in den sie ein schwerer Fuß
hineingetreten hatte, eine kurze, gezackte Klinge. Das abgebrochene Heft
lag daneben. »Es war eine Orkwaffe«, sagte er, hielt sie behutsam und be-
trachtete voll Abscheu den geschnitzten Griff: er war wie ein häßlicher
Kopf gestaltet mit schielenden Augen und einem gierenden Mund.
»Na, das ist das seltsamste Rätsel, das wir je gefunden haben!« rief
Legolas. »Ein gefesselter Gefangener entkommt sowohl den Orks als auch
den umzingelnden Reitern. Dann hält er an, während er noch auf freier
Flur ist, und zerschneidet seine Fesseln mit einem Orkmesser. Aber wie
und warum? Denn wenn seine Beine gebunden waren, wie ging er dann?
Und wenn seine Arme gefesselt waren, wie handhabte er dann das Mes-
ser? Und wenn weder Beine noch Arme gefesselt waren, warum hat er
dann überhaupt den Strick zerschnitten? Erfreut über seine Geschicklich-
keit, hat er sich dann hingesetzt und in aller Ruhe etwas Wegzehrung ge-
gessen! Das zumindest beweist ausreichend, daß es ein Hobbit war, auch
ohne Mallornblatt. Danach, nehme ich an, hat er seine Arme in Flügel
verwandelt und ist singend in die Bäume geflogen. Es müßte leicht sein,
ihn zu finden: wir brauchen nur ebenfalls Flügel!«
»Da war bestimmt Zauberei im Spiel«, sagte Gimli. »Was hat dieser
alte Mann hier gemacht? Was hast du, Aragorn, zu Legolas' Lesart zu
sagen? Kannst du sie verbessern?«
»Vielleicht«, sagte Aragorn lächelnd. »Da sind noch ein paar andere
Zeichen in der Nähe, die ihr nicht berücksichtigt habt. Ich stimme euch
zu, daß der Gefangene ein Hobbit war und entweder Beine oder Hände
frei gehabt haben muß, ehe er hierher kam. Ich vermute, es waren die
Hände, weil das Rätsel dann einfacher wird, und auch deshalb, weil er
nach meiner Deutung der Spuren von einem Ork bis zu dieser Stelle ge-
tragen worden war. Blut ist hier vergossen worden, ein paar Schritte ent-
fernt, Orkblut. Und dann sind überall an dieser Stelle Hufspuren und
Anzeichen dafür, daß etwas Schweres weggeschleift wurde. Der Ork ist
von Reitern erschlagen worden, und später hat man seine Leiche zum
Feuer gezerrt. Aber der Hobbit wurde nicht gesehen: er war nicht >auf
freier Flur<, denn es war Nacht und er trug noch seinen Elbenmantel. Er
war erschöpft und hungrig, und es ist nicht verwunderlich, daß er, nach-
dem er seine Fesseln mit dem Messer seines gefallenen Feindes durch-
schnitten hatte, sich ausruhte und ein wenig aß, ehe er davonkroch. Aber
es ist tröstlich zu wissen, daß er ein paar lembas in der Tasche hatte,
ob-
wohl er ohne Ausrüstung oder Bündel weggerannt war; das ist vielleicht
hobbitähnlich. Ich sage er, obwohl ich hoffe und vermute, daß Merry und
Pippin hier zusammen waren. Allerdings gibt es keinen sicheren Beweis
dafür.«
»Und wie, glaubst du, kam es, daß einer unserer Freunde eine Hand
frei hatte?« fragte Gimli.
»Ich weiß nicht, wie das kam«, antwortete Aragorn. »Und ich weiß
auch nicht, warum Orks sie wegtrugen. Nicht um ihnen bei der Flucht zu
helfen, dessen können wir sicher sein. Nein, ich glaube eher, daß ich jetzt
einen Punkt zu verstehen beginne, der mir von Anfang an rätselhaft
war: warum haben sich die Orks, als Boromir gefallen war, damit be-
gnügt, Merry und Pippin gefangenzunehmen? Sie haben nicht nach uns
anderen gesucht und auch unser Lager nicht angegriffen; statt dessen sind
sie in höchster Eile nach Isengart zu gegangen. Nahmen sie an, sie hätten
den Ringträger und seinen getreuen Gefährten gefangen? Das glaube ich
nicht. Ihre Herren hätten nicht gewagt, Orks so eindeutige Befehle zu er-
teilen, nicht einmal, wenn sie selbst so viel gewußt hätten; sie hätten
ihnen gegenüber nicht so offen von dem Ring gesprochen: Orks sind
keine vertrauenswürdigen Diener. Vielmehr glaube ich, daß ihnen befoh-
len wurde, Hobbits gefangenzunehmen, lebendig, um jeden Preis. Jemand
unternahm den Versuch, vor der Schlacht mit den wertvollen Gefangenen
davonzuschleichen. Verrat vielleicht, ziemlich wahrscheinlich bei diesen
Leuten; irgendein großer und kühner Ork mag versucht haben, allein mit
der Beute zu entkommen, zu eigenem Nutz und Frommen. So, das ist
meine Lesart. Es mag andere geben. Aber auf eines können wir jedenfalls
rechnen: zumindest einer unserer Freunde konnte fliehen. Es ist unsere
Aufgabe, ihn zu finden und ihm zu helfen, ehe wir nach Rohan zurück-
kehren. Wir dürfen uns nicht schrecken lassen von Fangorn, da ihn die
Not in diese finstere Gegend trieb.«
»Ich weiß nicht, was mich mehr schreckt: Fangorn oder der Gedanke
an den langen Weg durch Rohan zu Fuß«, sagte Gimli.
»Dann laßt uns in den Wald gehen«, sagte Aragorn.
Es dauerte nicht lange, da fand Aragorn neue Zeichen. An einer Stelle
nahe dem Ufer der Entwasser stieß er auf Fußabdrücke: Hobbit-
Abdrücke, aber zu schwach, um viel daraus zu entnehmen. Dann ent-
deckte er weitere Spuren unter dem Stamm eines großen Baumes ge-
nau am Waldrand. Der nackte und trockene Boden verriet nicht viel.
»Zumindest ein Hobbit stand hier eine Weile und blickte zurück; und
dann wandte er sich ab und dem Wald zu«, sagte Aragorn.
»Dann müssen wir auch hineingehen«, sagte Gimli. »Aber dieser
Fangorn gefällt mir nicht; und wir sind vor ihm gewarnt worden. Ich
wünschte, die Jagd hätte woanders hingeführt!«
»Ich glaube nicht, daß der Wald böse ist, was immer die Sagen berich-
ten mögen«, sagte Legolas. Er stand am Saum des Waldes, nach vom ge-
bückt, als ob er lausche, und starrte mit weit offenen Augen in die Schat-
ten. »Nein, er ist nicht böse; oder das Böse, das es in ihm gibt, ist weit
weg. Ich empfange nur ein ganz schwaches Echo von dunklen Orten, wo
die Herzen der Bäume schwarz sind. In unserer Nähe ist keine Bosheit;
aber ich spüre Wachsamkeit und Zorn.«
»Nun, er hat keinen Grund, auf mich zornig zu sein«, sagte Gimli. »Ich
habe ihm nichts zuleide getan.«
»Das ist gut«, sagte Legolas. »Aber dennoch hat er Schaden genom-
men. Irgend etwas geschieht da drinnen oder wird geschehen. Spürt ihr
nicht die Spannung? Es nimmt mir den Atem.«
»Ich spüre, daß die Luft stickig ist«, sagt der Zwerg. »Dieser Wald ist
lichter als Düsterwald, aber er ist muffig und schäbig.«
»Er ist alt, sehr alt«, sagte der Elb. »So alt, daß ich mich fast wieder
jung fühle, wie ich mich nicht gefühlt habe, seit ich mit euch Kindern
wandere. Er ist alt und voller Erinnerung. Ich könnte hier glücklich sein,
wenn ich in friedlichen Tagen hergekommen wäre.«
»Das will ich glauben«, schnaubte Gimli. »Du bist sowieso ein Wald-
elb, obwohl Elben aller Art seltsame Leute sind. Dennoch tröstest du
mich. Wo du hingehst, da will ich auch hingehen. Aber halte deinen
Bogen griffbereit, und ich will meine Axt locker im Gürtel tragen. Nicht,
um sie bei Bäumen zu verwenden«, fügte er hastig hinzu und schaute zu
dem Baum auf, unter dem sie standen. »Ich möchte nicht unversehens
diesen alten Mann treffen, ohne etwas Schlagkräftiges bei der Hand zu
haben, das ist alles. Laßt uns gehen!«
Damit machten sich die drei Jäger in den Wald auf. Legolas und
Gimli überließen es Aragorn, die Spur zu finden. Es gab wenig für ihn zu
sehen. Der Waldboden war trocken und mit einer Schicht Blätter bedeckt;
aber da er vermutete, daß die Flüchtenden sich nahe am Wasser gehalten
hatten, kehrte er oft zum Flußufer zurück. So kam er zu der Stelle, an der
Merry und Pippin getrunken und ihre Füße gebadet hatten. Dort waren,
für alle deutlich zu sehen, die Fußabdrücke von zwei Hobbits, der eine
etwas kleiner als der andere.
»Das ist eine gute Botschaft«, sagte Aragorn. »Allerdings sind die
Spuren zwei Tage alt. Und es scheint, daß die Hobbits an dieser Stelle das
Ufer verlassen haben.«
»Was sollen wir denn nun tun?« sagte Gimli. »Wir können sie doch
nicht durch die ganze Festung Fangorn verfolgen. Wir sind schlecht aus-
gerüstet hierhergekommen. Finden wir sie nicht bald, werden wir ihnen
nichts mehr nützen, sondern uns nur neben sie setzen können und ihnen
unsere Freundschaft dadurch beweisen, daß wir gemeinsam verhungern.«
»Wenn das wirklich alles ist, was wir tun können, dann müssen wir es
tun«, sagte Aragorn. »Laßt uns weitergehen.«
Schließlich kamen sie zu dem jähen Steilhang von Baumbarts Berg und
schauten hinauf zu der Felswand und den unebenen Stufen, die zu der
hohen Felsplatte führten. Sonnenstrahlen brachen durch die eilenden
Wolken, und der Wald sah jetzt weniger grau und düster aus.
»Laßt uns hinaufgehen und uns umschauen«, sagte Legolas. »Mir
stockt immer noch der Atem. Ich würde gern eine Weile frischere Luft
genießen.«
Die Gefährten kletterten hinauf. Aragorn kam als letzter und ging
langsam: er überprüfte die Stufen und Vorsprünge genau.
»Ich bin fast sicher, daß die Hobbits hier oben waren«, sagte er. »Aber
da sind noch andere Spuren, sehr seltsame Spuren, die ich nicht begreife.
Ich bin gespannt, ob wir von diesem Felsgesims aus etwas sehen werden,
das uns erraten läßt, wie sie weitergegangen sind!«
Er trat hinauf und blickte sich um, aber er sah nichts, was irgend-
wie nützte. Die Felsplatte schaute nach Süden und Osten; aber nur im
Osten war die Aussicht frei. Dort konnte er die Wipfel der Bäume sehen,
die in Reihen zur Ebene abfielen, aus der die Gefährten gekommen
waren.
»Wir haben einen langen Umweg gemacht«, sagte Legolas. »Wir hätten
alle zusammen gefahrlos hierher gelangen können, wenn wir den Großen
Strom am zweiten oder dritten Tag verlassen und uns nach Westen ge-
schlagen hätten. Wenige können voraussehen, wohin ihr Weg sie führt,
ehe sie an seinem Ende angelangt sind.«
»Aber wir wollten gar nicht nach Fangorn kommen«, sagte Gimli.
»Dennoch sind wir hier — und hübsch im Netz gefangen«, sagte Lego-
las. »Schaut!«
»Wohin schauen?« fragte Gimli.
»Dort zwischen den Bäumen.«
»Wo? Ich habe keine Elbenaugen.«
»Pst! Sprich leiser! Schau!« sagte Legolas und zeigte hinunter. »Dort
unten im Wald, auf dem Weg, den wir gerade gekommen sind. Er ist es.
Kannst du ihn nicht sehen, wie er von Baum zu Baum geht?«
»Ja, jetzt sehe ich ihn!« zischte Gimli. »Schau, Aragorn! Habe ich
euch nicht gewarnt? Da ist der alte Mann. Ganz in schmutzigen, grauen
Lumpen: darum habe ich ihn zuerst nicht sehen können.«
Aragorn erblickte eine gebeugte Gestalt, die sich langsam bewegte. Der
Mann war nicht weit weg und sah wie ein alter Bettler aus, der müde
dahinzog und sich auf einen derben Stock stützte. Er hielt den Kopf ge-
senkt und schaute nicht zu ihnen auf. In anderen Landen hätten sie ihn
mit freundlichen Worten begrüßt; doch jetzt standen sie stumm da, und
jeder empfand eine seltsame Erwartung: etwas näherte sich, das eine ver-
borgene Macht besaß — oder etwas Bedrohliches.
Gimli starrte eine Weile mit weit aufgerissenen Augen, während die
Gestalt Schritt um Schritt näherkam. Dann vermochte er sich plötzlich
nicht mehr zu beherrschen und platzte heraus: »Dein Bogen, Legolas!
Spanne ihn! Mach dich bereit! Es ist Saruman. Laß ihn nicht reden oder
uns durch einen Zauber blenden! Schieß zuerst!«
Legolas nahm seinen Bogen und spannte ihn, langsam, und als ob ein
anderer Wille ihm Widerstand leiste. Er hielt einen Pfeil locker in der
Hand, legte ihn aber nicht auf die Sehne. Aragorn stand schweigend da,
sein Gesicht war wachsam und angespannt.
»Warum wartest du? Was ist mit dir los?« zischte Gimli flüsternd.
»Legolas hat recht«, sagte Aragorn ruhig. »Wir dürfen nicht auf einen
alten Mann schießen, so unvermutet und ohne ihn angerufen zu haben,
welche Furcht oder welcher Zweifel auch immer auf uns liegt. Beobachtet
ihn und wartet ab!«
In diesem Augenblick beschleunigte der alte Mann seinen Schritt und
kam mit überraschender Schnelligkeit zum Fuß der Felswand. Dann
schaute er plötzlich auf, während die anderen reglos dastanden und zu
ihm hinunterblickten. Es war kein Laut zu hören.
Sie konnten sein Gesicht nicht sehen: er trug eine Kapuze und über der
Kapuze einen breitkrempigen Hut, so daß seine Züge bis auf die Nasen-
spitze und den grauen Bart beschattet waren. Dennoch glaubte Aragorn
ein Funkeln scharfer und leuchtender Augen unter den von der Kapuze
beschatteten Brauen gesehen zu haben.
Schließlich brach der alte Mann das Schweigen. »Wahrlich gut, daß ich
euch treffe, meine Freunde«, sagte er mit leiser Stimme, »ich möchte
mit euch reden. Wollt ihr herunterkommen oder soll ich hinaufkommen?«
Ohne eine Antwort abzuwarten, begann er hinaufzusteigen.
»Jetzt!« rief Gimli. »Halte ihn auf, Legolas!«
»Habe ich nicht gesagt, daß ich mit euch reden möchte?« fragte der alte
Mann. »Leg den Bogen weg, Herr Elb!«
Bogen und Pfeil fielen Legolas aus den Händen, und seine Arme hin-
gen schlaff herab.
»Und du, Herr Zwerg, nimm bitte die Hand vom Axtgriff, bis ich oben
bin! Du wirst keine solchen schlagkräftigen Mittel brauchen.«
Gimli fuhr zusammen und stand reglos wie ein Stein da und starrte,
während der alte Mann die rohen Stufen hurtig wie eine Ziege hinauf-
sprang. Alle Müdigkeit schien von ihm abgefallen zu sein. Als er auf die
Felsplatte trat, leuchtete etwas auf, zu kurz, als daß man hätte sicher sein
können, aber ein rasches Aufblitzen von Weiß ließ vermuten, daß ein
von den grauen Lumpen verhülltes weißes Gewand einen kurzen Augen-
blick durchschimmerte. Gimlis Atemholen war in der Stille als ein lautes
Zischen zu hören.
»Gut, daß ich euch treffe, wiederhole ich«, sagte der alte Mann, als er
auf sie zukam. Als er ein paar Schritt vor ihnen war, blieb er stehen,
beugte sich über seinen Stab, streckte den Kopf vor und sah sie unter sei-
ner Kapuze scharf an. »Und was mögt ihr wohl in dieser Gegend tun? Ein
Elb, ein Mensch und ein Zwerg, und alle auf elbische Weise gekleidet.
Zweifellos gibt es eine Geschichte hinter alledem, die zu hören sich ver-
lohnt. Solche Dinge sieht man hier nicht oft.«
»Ihr sprecht wie einer, der Fangorn gut kennt«, sagte Aragorn. »Ist
dem so?«
»Nicht gut«, sagte der alte Mann. »Das würde den Lerneifer vieler
Lebenszeiten erfordern. Aber ich komme ab und zu hierher.«
»Dürften wir Euren Namen erfahren und dann hören, was Ihr uns zu
sagen habt?« fragte Aragorn. »Der Morgen vergeht, und wir haben eine
Aufgabe, die nicht unerledigt bleiben kann.«
»Was ich zu sagen wünschte, das habe ich gesagt: Was mögt ihr hier
tun, und welche Geschichte könnt ihr über euch berichten? Was meinen
Namen betrifft ...« Er unterbrach sich und lachte lange und leise. Ara-
gorn spürte, wie ihn bei diesem Klang ein Schauer überlief, ein seltsames,
kaltes Erbeben: und dennoch war es nicht Furcht oder Entsetzen, was ihn
befiel: es war eher wie die plötzliche Schärfe einer frischen Brise oder das
Klatschen von kaltem Regen, der einen unruhigen Schläfer weckt.
»Mein Name!« sagte der alte Mann noch einmal. »Habt ihr ihn nicht
bereits erraten? Ihr habt ihn schon früher gehört, glaube ich. Ja, ihr habt
ihn schon früher gehört. Aber wie ist das nun mit eurer Geschichte?«
Die drei Gefährten standen stumm da und gaben keine Antwort.
»Manche Leute würden zu zweifeln beginnen, ob euer Auftrag über-
haupt aussprechbar ist«, sagte der alte Mann. »Zum Glück weiß ich etwas
darüber. Ihr verfolgt die Spuren zweier junger Hobbits, glaube ich. Ja,
Hobbits. Starrt mich nicht so an, als hättet ihr diesen seltsamen Namen
noch nie gehört. Ihr habt ihn gehört, und ich auch. Ja, vorgestern sind
sie hier herauf geklettert; und sie trafen jemanden, den sie nicht erwartet
hatten. Tröstet euch das? Und nun wollt ihr gern wissen, wo sie hinge-
bracht wurden? Nur ruhig, vielleicht kann ich euch darüber etwas Neues
sagen. Aber warum steht ihr? Euer Auftrag ist, wie ihr seht, nicht mehr
so dringend, wie ihr glaubtet. Wir wollen uns setzen und es uns behag-
licher machen.«
Der alte Mann wandte sich um und ging zu einem Haufen herabgefal-
lener Steine und Felsbrocken am Fuß der hinteren Steilwand. Als ob ein
Zauberbann gebrochen sei, entspannten sich die anderen sofort und be-
wegten sich. Gimlis Hand griff gleich nach dem Schaft seiner Axt. Ara-
gorn zog sein Schwert. Legolas hob seinen Bogen auf.
Der alte Mann kümmerte sich nicht darum, sondern setzte sich auf einen
niedrigen, flachen Stein. Dann schlug sein grauer Mantel auf, und sie
sahen unbezweifelbar, daß er darunter ganz in Weiß gekleidet war.
»Saruman!« rief Gimli und sprang mit der Axt in der Hand auf ihn
zu. »Sprecht! Sagt uns, wo Ihr unsere Freunde verborgen habt. Was habt
Ihr mit ihnen gemacht? Sprecht, oder ich mache Euch eine Delle in den
Hut, mit der fertigzuwerden selbst einem Zauberer schwerfallen wird!«
Der alte Mann war zu schnell für ihn. Er sprang auf die Füße und mit
einem Satz auf einen großen Felsblock hinauf. Dort stand er, plötzlich
groß geworden, sie überragend. Seine Kapuze und die grauen Lumpen
warf er ab. Sein weißes Gewand schimmerte. Er hob seinen Stab, und
Gimlis Axt entwand sich seinem Griff und fiel klirrend auf den
Boden. Aragorns Schwert, das er fest in der reglosen Hand hielt, loderte
von einem plötzlichen Feuer. Legolas stieß einen lauten Ruf aus und
schoß einen Pfeil hoch in die Luft; er verschwand in einem Flammenblitz.
»Mithrandir!« rief er. »Mithrandir!«
»Gut, daß ich dich treffe, sage ich wiederum zu dir, Legolas«, sagte der
alte Mann.
Sie alle starrten ihn an. Sein Haar war weiß wie Schnee in der Sonne,
und schimmernd weiß war sein Gewand; die Augen unter den dichten
Brauen funkelten und waren durchdringend wie die Strahlen der Sonne;
Macht war in seiner Hand. Hin- und hergerissen zwischen Staunen,
Freude und Furcht standen sie da und brachten kein Wort heraus.
Endlich rührte Aragorn sich. »Gandalf!« schrie er. »Wider alle Hoff-
nung kehrst du in unserer Not zu uns zurück! Welcher Schleier lag auf
meinem Blick. Gandalf!« Gimli sagte nichts, sondern sank auf die Knie
und legte die Hand vor die Augen.
»Gandalf«, wiederholte der alte Mann, als ob er sich aus alten Erinne-
rungen eines lange nicht gebrauchten Wortes entsinne. »Ja, das war der
Name. Ich war Gandalf.«
Er stieg von dem Felsen herab, nahm seinen grauen Mantel und zog ihn
um sich: es war, als habe die Sonne geschienen und sei jetzt wieder in
Wolken verborgen. »Ja, ihr dürft mich noch Gandalf nennen«, sagte er,
und die Stimme war die Stimme ihres alten Freundes und Führers. »Steh
auf, mein guter Gimli! Keine Schuld trifft dich, und mir ist kein Leid ge-
schehen. Fürwahr, meine Freunde, keiner von euch hat eine Waffe, die
mich verletzen könnte. Freut euch. Wir sind wieder beisammen. Am
Wendepunkt. Der große Sturm kommt, aber das Glück hat sich gewendet.«
Er legte Gimli die Hand auf den Kopf, und der Zwerg schaute auf und
lachte plötzlich. »Gandalf!« sagte er. »Aber du bist ja ganz in Weiß!«
»Ja, jetzt bin ich weiß«, sagte Gandalf. »Tatsächlich bin ich
Saruman,
könnte man fast sagen, Saruman, wie er sein sollte. Aber nun kommt, er-
zahlt mir von euch! Ich bin durch Feuer und tiefes Wasser gegangen, seit
wir uns getrennt haben. Vieles habe ich vergessen, wovon ich glaubte,
daß ich es wisse, und wiederum viel erfahren, das ich vergessen hatte.
Viele Dinge kann ich von weither sehen, aber viele Dinge, die ganz nah
sind, kann ich nicht sehen. Erzählt mir von euch!«
»Was möchtest du wissen?« fragte Aragorn. »Alles, was geschehen ist,
seit wir uns auf der Brücke trennten, wäre eine lange Erzählung. Willst
du uns nicht erst Nachricht über die Hobbits geben? Hast du sie
gefunden, und sind sie in Sicherheit?«
»Nein, ich habe sie nicht gefunden«, sagte Gandalf. »Es lag Dunkelheit
über den Tälern des Emyn Muil, und ich wußte nichts von ihrer Gefan-
gennahme, bis der Adler es mir sagte.«
»Der Adler!« sagte Legolas. »Ich habe einen Adler gesehen, hoch und
weit weg: das letzte Mal vor drei Tagen, über dem Emyn Muil.«
»Ja«, sagte Gandalf, »das war Gwaihir, der Herr der Winde, der mich
von Orthanc gerettet hat. Ich schickte ihn voraus, um den Fluß zu beob-
achten und Nachrichten zu sammeln. Sein Auge ist scharf, aber er kann
nicht alles sehen, was unter Berg und Baum geschieht. Einiges hat er ge-
sehen, und anderes habe ich gesehen. Dem Ring vermag ich nun nicht
mehr zu helfen, und auch keiner von der Gemeinschaft, die sich von
Bruchtal aufgemacht hat, vermag es. Um ein Haar wäre er dem Feind
enthüllt worden, aber er entkam. Ich war daran beteiligt; denn ich
saß an einem hohen Ort und kämpfte mit dem Dunklen Turm; und der
Schatten zog vorüber. Dann war ich müde, sehr müde; und ich wanderte
lange in dunklen Gedanken.«
»Dann weißt du etwas von Frodo?« fragte Gimli. »Wie geht es ihm?«
»Das kann ich nicht sagen. Er wurde vor einer großen Gefahr gerettet,
aber viele liegen noch vor ihm. Er beschloß, allein nach Mordor zu gehen,
und er machte sich auf den Weg: das ist alles, was ich sagen kann.«
»Nicht allein«, sagte Legolas. »Wir glauben, daß Sam mit ihm ging.«
»Ach?« sagte Gandalf, und seine Augen leuchteten auf, und er
lächelte. »Wirklich? Das ist mir neu, und dennoch überrascht es mich
nicht. Gut! Sehr gut! Ihr erleichtert mir das Herz. Ihr müßt mir mehr er-
zählen. Nun setzt euch zu mir und berichtet von eurer Fahrt.«
Die Gefährten setzten sich auf den Boden zu seinen Füßen, und Ara-
gorn begann die Erzählung. Eine ganze Weile sagte Gandalf nichts und
stellte keine Fragen. Er hatte die Hände auf die Knie gelegt und die
Augen geschlossen. Als Aragorn schließlich von Boromirs Tod sprach
und von seiner letzten Fahrt auf dem Großen Strom, da seufzte der alte
Mann.
»Du hast nicht alles gesagt, was du weißt oder errätst, Aragorn, mein
Freund«, sagte er leise. »Armer Boromir! Ich konnte nicht sehen, was
ihm widerfahren war. Es war eine schwere Versuchung für einen solchen
Mann: ein Krieger, ein Fürst der Menschen. Galadriel sagte mir, er sei in
Gefahr. Aber er entkam zuletzt. Dessen bin ich froh. Es war nicht verge-
bens, daß die jungen Hobbits mit uns kamen, und sei's nur um Boromirs
willen. Aber das ist nicht die einzige Rolle, die sie zu spielen haben. Sie
sind nach Fangorn gebracht worden, und ihr Kommen war wie das Fallen
kleiner Steine, das eine Lawine im Gebirge einleitet. Während wir uns
hier unterhalten, höre ich das erste Gepolter. Saruman sollte besser nicht
fern von daheim sein, wenn der Damm bricht!«
»In einem Punkt hast du dich nicht geändert, lieber Freund«, sagte
Aragorn. »Du sprichst immer noch in Rätseln.«
»Was? In Rätseln?« sagte Gandalf. »Nein! Denn ich sprach laut mit
mir selbst. Eine Angewohnheit der Alten: sie wählen den Klügsten der
Anwesenden aus, um mit ihm zu reden; die langen Erklärungen, die die
Jungen brauchen, sind ermüdend.« Er lachte, aber es klang jetzt warm
und freundlich wie ein Sonnenstrahl.
»Ich bin nicht mehr jung, nicht einmal nach der Rechnung der Men-
schen der Alten Häuser«, sagte Aragorn. »Willst du mir nicht deine Ge-
danken etwas deutlicher offenbaren?«
»Was soll ich denn sagen?« fragte Gandalf und hielt eine Weile nach-
denklich inne. »So sehe ich, kurz gesagt, die Dinge im Augenblick, wenn
du meine Meinung so klar wie möglich erfahren willst. Der Feind hat
natürlich seit langem gewußt, daß der Ring unterwegs ist und daß ein
Hobbit ihn trägt. Er weiß jetzt, wie viele zu unserer Gemeinschaft gehör-
ten, die sich von Bruchtal auf den Weg machte, und welcher Art wir
waren. Aber er erkennt unsere Absicht noch nicht genau. Er nimmt an,
daß wir alle nach Minas Tirith gehen; denn das ist es, was er an unserer
Stelle getan hätte. Und nach seinem Wissen wäre das ein schwerer Schlag
für seine Macht gewesen. Tatsächlich fürchtet er sich sehr, weil er nicht
weiß, welcher Mächtige plötzlich auftaucht, den Ring besitzt und ihn mit
Krieg überzieht, um ihn niederzuwerfen und seinen Platz einzunehmen.
Daß wir den Wunsch haben könnten, ihn niederzuwerfen und niemanden
an seine Stelle zu setzen, ist ein Gedanke, der ihm gar nicht in den Sinn
kommt. Daß wir versuchen könnten, den Ring selbst zu zerstören, das
stellt er sich auch in seinen dunkelsten Träumen nicht vor. Worin du
zweifellos unser Glück und unsere Hoffnung erkennst. Denn da er sich
Krieg vorstellt, hat er den Krieg entfesselt, weil er glaubt, er habe keine
Zeit zu verlieren; denn derjenige, der den ersten Schlag führt, wenn er
hart genug zuschlägt, braucht dann vielleicht nicht weiter zuzuschlagen.
Deshalb hat er die Heerscharen, die er längst aufgestellt hat, jetzt in Be-
wegung gesetzt, früher, als er vorgehabt hatte. Weiser Narr. Denn hätte
er seine ganze Macht eingesetzt, um Mörder zu schützen, so daß niemand
hineinkann, und seine ganze Arglist darauf gerichtet, dem Ring nachzu-
jagen, dann wäre die Hoffnung wahrlich geschwunden: weder Ring noch
Träger hätten ihm lange entgehen können. Aber jetzt starrt sein Auge
mehr in die Feme als in das eigene Land: und vor allem schaut er auf
Minas Tirith. Sehr bald wird seine Heeresmacht wie ein Sturm darüber
herfallen.
Denn schon weiß er, daß die Boten, die er ausgesandt hat, um der Ge-
meinschaft aufzulauern, wiederum gescheitert sind. Sie haben den Ring
nicht gefunden. Und ebensowenig haben sie irgendwelche Hobbits als
Geiseln weggeschleppt. Hätten sie auch nur das vollbracht, wäre es ein
schwerer Schlag für uns gewesen, und er hätte tödlich sein können. Aber
wir wollen uns nicht das Herz schwermachen, indem wir uns ausmalen,
wie ihre anständige Treue im Dunklen Turm auf die Probe gestellt wor-
den wäre. Der Feind war erfolglos — bisher. Dank Saruman.«
»Dann ist Saruman also kein Verräter?« fragte Gimli.
»Oh doch«, sagte Gandalf. »Doppelt sogar. Und ist es nicht seltsam?
Nichts, was wir in letzter Zeit erduldet haben, schien so schmerzlich zu
sein wie Isengarts Verrat. Selbst wenn man ihn als Landesherrn und Heer-
führer betrachtet, ist Saruman sehr stark geworden. Er bedroht die Men-
schen von Rohan und entzieht Minas Tirith ihre Hilfe, während doch der
Hauptschlag vom Osten kommt. Aber eine verräterische Waffe ist immer
eine Gefahr für die Hand. Auch Saruman hatte im Sinn, den Ring für
sich selbst zu erbeuten, oder zumindest einige Hobbits gefangenzuneh-
men für seine bösen Zwecke. So haben unsere Feinde gemeinsam nur er-
reicht, daß Merry und Pippin mit wunderbarer Schnelligkeit und gerade
zur rechten Zeit nach Fangorn gelangten, wo sie sonst überhaupt nicht
hingekommen wären!
Auch sind ihnen jetzt neue Zweifel aufgestiegen, die ihre Pläne stören.
Keine Nachricht über die Schlacht wird nach Mordor gelangen, dank den
Reitern von Rohan; doch weiß der Dunkle Herrscher, daß zwei Hobbits
im Emyn Muil ergriffen und gegen den Willen seiner eigenen Diener nach
Isengart verschleppt wurden. Jetzt hat er Isengart ebenso zu fürchten wie
Minas Tirith. Wenn Minas Tirith fällt, wird es Saruman schlecht erge-
hen.«
»Es ist ein Jammer, daß unsere Freunde dazwischen liegen«, sagte
Gimli. »Wenn kein Land Isengart von Mordor trennte, dann könnten sie
kämpfen, während wir zuschauen und abwarten.«
»Der Sieger würde stärker aus dem Kampf hervorgehen, als sie jetzt
beide sind, und frei von Zweifeln«, sagte Gandalf. »Aber Isengart kann
nicht gegen Mordor kämpfen, sofern Saruman nicht zuerst den Ring er-
hält. Den wird er jetzt niemals erhalten. Er weiß noch nicht, in welcher
Gefahr er ist. Es gibt vieles, was er nicht weiß. Er war so begierig, seine
Beute in die Hand zu bekommen, daß er es nicht zu Hause erwarten
konnte, sondern herauskam, um seinen Boten entgegenzugehen und sie zu
belauern. Aber er kam ausnahmsweise zu spät, die Schlacht war vorbei,
und es gab schon nichts mehr zu helfen, ehe er diese Gegend erreichte. Er
ist nicht lange hiergeblieben. Ich blicke ihm ins Herz und sehe seinen
Zweifel. Er hat keine Zaubermacht über den Wald. Er glaubt, daß die
Reiter auf dem Schlachtfeld alle erschlagen und verbrannt haben; aber er
weiß nicht, ob die Orks irgendwelche Gefangenen mitgebracht hatten,
oder nicht. Und er weiß nichts von dem Streit zwischen seinen Dienern
und den Orks von Mordor; ebensowenig weiß er von dem Geflügelten
Boten.«
»Der Geflügelte Bote!« rief Legolas. »Oberhalb von Sam Gebir habe
ich mit Galadriels Bogen auf ihn geschossen und ihn vom Himmel herab-
geholt. Er erfüllte uns mit Furcht. Was für ein neuer Schrecken ist das?«
»Einer, den du mit Pfeilen nicht töten kannst«, sagte Gandalf. »Du hast
nur sein Roß getötet. Es war eine gute Tat; doch der Reiter bekam bald
ein neues Pferd. Denn er war ein Nazgûl, einer der Neun, die jetzt
auf geflügelten Rössern reiten. Bald wird ihr Schrecken die letzten
Heere unserer Freunde überschatten und die Sonne verdunkeln. Aber noch
haben sie keine Erlaubnis, den Strom zu überqueren, und Saruman weiß
nichts von dieser neuen Gestalt, die den Ringgeistern verliehen worden
ist. Seine Gedanken kreisen immer um den Ring. War er bei der
Schlacht? Ist er gefunden worden? Was geschieht, wenn Théoden, der
Herr der Mark, ihn erhalten und von seiner Macht erfahren sollte? Das ist
die Gefahr, die er sieht, und er ist nach Isengart zurückgeeilt, um seinen
Angriff auf Rohan zu verdoppeln und zu verdreifachen. Und die ganze
Zeit droht noch eine Gefahr ganz in der Nähe, die er nicht sieht, weil er so
mit seinen leidenschaftlichen Gedanken beschäftigt ist. Er hat Baumbart
vergessen.«
»Jetzt sprichst du wieder mit dir selbst«, sagte Aragorn lächelnd.
»Baumbart ist mir nicht bekannt. Und ich habe einen Teil von Sarumans
doppelter Niedertracht erraten; dennoch begreife ich nicht, was es genützt
hat, daß zwei Hobbits nach Fangorn kamen, abgesehen davon, daß es uns
eine lange und vergebliche Jagd eingetragen hat.«
»Warte eine Minute«, rief Gimli. »Da ist noch etwas, was ich zuerst
gern wüßte. Warst du es, Gandalf, oder Saruman, den wir gestern abend
sahen?«
»Mich habt ihr gewiß nicht gesehen«, antwortete Gandalf, »daher muß
ich annehmen, daß ihr Saruman saht. Offenbar sind wir uns so ähnlich,
daß dein Wunsch, eine unheilbare Delle in meinen Hut zu machen, ent-
schuldigt werden muß.«
»Gut, gut!«, sagte Gimli. Ich freue mich, daß du es nicht warst.«
Gandalf lachte wieder. »Ja, mein guter Zwerg, es ist tröstlich, sich
nicht in allen Punkten geirrt zu haben. Als ob ich das nicht nur zu gut
wüßte! Aber natürlich habe ich dir nie einen Vorwurf deswegen gemacht,
wie du mich begrüßt hast. Wie hätte ich das tun können, der ich meinen
Freunden so oft den Rat gegeben habe, selbst ihren eigenen Händen zu
mißtrauen, wenn sie sich mit dem Feind befassen. Gelobt sollst du sein,
Gimli, Glóins Sohn! Vielleicht wirst du uns beide eines Tages zusammen
sehen und dir ein Urteil über uns bilden!«
»Aber die Hobbits!« warf Legolas ein. »Wir sind von weither gekom-
men, um sie zu suchen, und du scheinst zu wissen, wo sie jetzt sind?«
»Bei Baumbart und den Ents«, sagte Gandalf.
»Die Ents!« rief Aragorn. »Dann sind die alten Sagen wahr über die
Bewohner der tiefen Wälder und die riesenhaften Hirten der Bäume? Gibt
es noch Ents auf der Welt? Ich dachte, sie seien nur eine Erinnerung an
alte Zeiten, wenn sie überhaupt mehr sind als eine Sage von Rohan.«
»Eine Sage von Rohan!« rief Legolas. »Nein, jeder Elb in Wilderland
hat Lieder von den alten Onodrim und ihrem langwährenden Kummer ge-
sungen. Dennoch sind sie selbst für uns nur eine Erinnerung. Wenn ich
einem begegnen sollte, der noch auf dieser Welt wandelt, dann würde ich
mich wahrlich wieder jung fühlen! Aber Baumbart: das ist nur eine
Übersetzung von Fangorn in die Gemeinsame Sprache; doch scheinst du
von einer Person zu sprechen. Wer ist dieser Baumbart?«
»Ah, jetzt fragst du viel«, sagte Gandalf. »Das wenige, was ich von
seiner langen und langwierigen Geschichte weiß, würde eine Erzählung
ergeben, für die wir jetzt keine Zeit haben. Baumbart ist Fangorn, der
Hüter des Waldes; er ist der älteste der Ents, das älteste Lebewesen, das
noch unter der Sonne in Mittelerde wandelt. Ich hoffe wirklich, Legolas,
daß du ihm begegnen wirst. Merry und Pippin waren glücklich dran; sie
trafen ihn hier, just wo wir sitzen. Denn er kam vor zwei Tagen her und
brachte sie dann zu seiner fernen Behausung am Fuße des Gebirges. Er
kommt oft hierher, besonders wenn er sich Sorgen macht und die Ge-
rüchte aus der Welt draußen ihn beunruhigen. Ich sah ihn vor vier Tagen
durch die Bäume streichen, und ich glaube, er sah mich auch, denn er
blieb stehen; aber ich sprach nicht, weil ich tief in Gedanken war und
müde nach meinem Kampf mit dem Auge von Mordor; und er redete
auch nicht und rief auch nicht meinen Namen.«
»Vielleicht hat er dich ebenfalls für Saruman gehalten«, sagte Gimli.
»Aber du sprichst von ihm, als sei er ein Freund. Ich dachte, Fangorn sei
gefährlich.«
»Gefährlich!« rief Gandalf. »Das bin ich auch, sehr gefährlich: gefähr-
licher als alles, was dir je begegnen wird, es sei denn, du würdest lebendig
vor den Thron des Dunklen Herrschers gebracht werden. Und Aragorn
ist gefährlich, und Legolas ist gefährlich. Du bist umgeben von Gefahren,
Gimli, Glóins Sohn; denn du selbst bist gefährlich auf deine Weise. Ge-
wiß ist der Wald von Fangorn gefahrvoll — nicht am wenigsten für jene,
die zu schnell mit ihren Äxten bei der Hand sind; und Fangorn selbst, er
ist auch gefährlich; indes ist er trotzdem weise und freundlich. Doch jetzt
brodelt sein lange aufgestauter Zorn über, und der ganze Wald ist davon
erfüllt. Die Ankunft der Hobbits und die Nachrichten, die sie mitbrach-
ten, haben seinen Zorn zum Überlaufen gebracht: bald wird er reißend
sein wie eine Flut; aber die Flut richtet sich gegen Saruman und die Äxte
von Isengart. Etwas ist im Begriff zu geschehen, das seit der Altvorde-
renzeit nicht geschehen ist: die Ents erwachen und merken, daß sie stark
sind.«
»Was werden sie tun?« fragte Legolas voll Staunen.
»Das weiß ich nicht«, sagte Gandalf. »Ich glaube nicht, daß sie selbst
es wissen. Ich bin gespannt.« Er schwieg und senkte den Kopf, tief in Ge-
danken.
Die anderen schauten ihn an. Ein Sonnenstrahl fiel durch rasch dahin-
ziehende Wolken auf seine Hände, die jetzt mit der Innenfläche nach oben
auf seinem Schoß lagen: sie schienen mit Licht gefüllt zu sein wie eine
Schale mit Wasser. Schließlich blickte er auf und starrte in die Sonne.
»Der Morgen vergeht«, sagte er. »Bald müssen wir aufbrechen.«
»Werden wir aufbrechen, um unsere Freunde zu finden und Baumbart
zu sehen?« fragte Aragorn.
»Nein«, sagte Gandalf. »Das ist nicht der Weg, den ihr einschlagen
müßt. Ich habe Worte der Hoffnung gesprochen. Aber nur der Hoffnung.
Hoffnung ist noch kein Sieg. Krieg steht uns und allen unseren Freunden
bevor, ein Krieg, in dem nur die Verwendung des Ringes uns die Gewiß-
heit des Sieges geben könnte. Er erfüllt mich mit großer Sorge und großer
Furcht: denn viel wird zerstört werden, und alles mag verloren werden.
Ich bin Gandalf, Gandalf der Weiße, aber noch ist Schwarz mächtiger.«
Er stand auf, blickte nach Osten und beschattete seine Augen, als ob er
Dinge in weiter Feme sehe, die niemand sonst sehen konnte. Dann schüt-
telte er den Kopf. »Nein«, sagte er leise, »er ist für uns nicht mehr er-
reichbar. Darüber zumindest laßt uns froh sein. Wir können nicht länger
in Versuchung geraten, den Ring zu verwenden. Wir müssen hinunterge-
hen und einer Gefahr, die der Hoffnungslosigkeit nahekommt, ins Auge
sehen, doch jene tödliche Gefahr ist beseitigt.«
Er wandte sich um. »Komm, Aragorn, Arathoms Sohn!« sagte er.
»Bereue deine Entscheidung im Tal des Emyn Muil nicht, noch nenne es
eine vergebliche Verfolgung. Du hast unter Zweifeln den Pfad gewählt,
der der richtige schien: die Entscheidung war gut und ist belohnt worden.
Denn so haben wir uns rechtzeitig getroffen, die wir uns sonst vielleicht
zu spät getroffen hätten. Doch die Aufgabe deiner Gefährten ist beendet.
Deine nächste Fahrt ist bestimmt durch dein gegebenes Wort. Du mußt
nach Edoras gehen und Théoden in seiner Halle aufsuchen. Denn du wirst
gebraucht. Andúrils Glanz muß jetzt in der Schlacht enthüllt werden, wor-
auf er so lange gewartet hat. Es ist Krieg in Rohan, und schlimmer noch:
es steht schlecht um Théoden.«
»Dann sollen wir die fröhlichen jungen Hobbits nicht wiedersehen?«
fragte Legolas.
»Das habe ich nicht gesagt«, erwiderte Gandalf. »Wer weiß? Habt Ge-
duld. Geht, wohin ihr gehen müßt, und hofft! Nach Edoras. Ich gehe auch
dorthin.«
»Es ist ein langer Weg für einen Mann zu Fuß, jung oder alt«, sagte
Aragorn. »Ich fürchte, die Schlacht wird längst vorbei sein, ehe ich dort
hinkomme.«
»Wir werden sehen, wir werden sehen«, sagte Gandalf. »Willst du nun
mit mir kommen?«
»Ja, wir werden zusammen aufbrechen«, sagte Aragorn. »Aber ich
zweifle nicht, daß du vor mir ankommen wirst, wenn du es wünschst.« Er
Stand auf und schaute Gandalf lange an. Die anderen betrachteten sie
schweigend, wie sie einander gegenüber standen. Aragorn, Arathoms
Sohn, war groß und hart wie Stein, die Hand auf dem Heft seines
Schwertes; er sah aus, als habe ein König aus den Nebeln des Meeres die
Gestade geringerer Menschen betreten. Gegen ihn wirkte die alte Gestalt
demütig, weiß, schimmernd jetzt, als ob ein Licht in ihr flackere, gebeugt
unter der Last der Jahre und dennoch über eine Macht gebietend, die die
Stärke von Königen übertraf.
»Spreche ich nicht wahr, Gandalf«, sagte Aragorn schließlich, »daß
du, wo immer du hingehen möchtest, schneller als ich dort eintreffen
könntest? Und auch dies sage ich: du bist unser Heerführer und unser
Banner. Der Dunkle Gebieter hat Neun: Aber wir haben Einen, mächtiger
als sie: den Weißen Reiter. Er hat das Feuer und den Abgrund überstan-
den, und sie sollen ihn fürchten. Wir werden dorthin gehen, wohin er uns
führt.«
»Ja, gemeinsam werden wir dir folgen«, sagte Legolas. »Doch zuerst
würde es mein Herz erleichtern, Gandalf, zu hören, was dir in Moria
widerfuhr. Willst du es uns nicht erzählen? Kannst du nicht solange blei-
ben, um deinen Freunden zu erzählen, wie du errettet wurdest?«
»Ich bin schon zu lange geblieben«, antwortete Gandalf. »Zeit ist
knapp. Aber wenn wir ein Jahr dafür aufwenden könnten, würde ich
euch nicht alles erzählen.«
»Dann erzähle uns, was du willst und die Zeit erlaubt«, sagte Gimli.
»Komm, Gandalf, erzähle uns, wie es dir mit dem Balrog erging.«
»Nenne ihn nicht!« sagte Gandalf, und einen Augenblick schien es, als
ob ein Schatten des Schmerzes über sein Gesicht glitt, und er saß schwei-
gend da und sah alt aus wie der Tod. »Lange Zeit fiel ich«, sagte er
schließlich zögernd, als ob es schwierig sei daran zurückzudenken. »Lange
fiel ich, und er fiel mit mir. Sein Feuer war um mich. Es verbrannte mich.
Dann stürzten wir in das tiefe Wasser, und alles war dunkel. Kalt war es
wie die Stunde des Todes: fast erstarrte mein Herz.«
»Tief ist der Abgrund, der von Durins Brücke überspannt wird, und
niemand hat ihn ermessen«, sagte Gimli.
»Dennoch hat er einen Grund, jenseits von Licht und Wissen«, sagte
Gandalf. »Dorthin kam ich zuletzt, zum äußersten Grund des Gesteins. Er
war noch bei mir. Sein Feuer war erstickt, aber jetzt war er ein Wesen aus
Schleim, stärker als eine würgende Schlange.
Wir kämpften miteinander tief unter der lebendigen Erde, wo Zeit nicht
gezählt wird. Immer wieder umschlang er mich, immer wieder hieb ich auf
ihn ein, bis er zuletzt in dunkle Gänge entfloh. Sie waren nicht von
Durins Volk angelegt, Gimli, Glóins Sohn. Weit, weit unter den tiefsten
Grabungen der Zwerge nagen namenlose Wesen an der Welt. Selbst Sau-
ron kennt sie nicht. Sie sind älter als er. Nun bin ich dort gewandert,
doch will ich nicht darüber berichten, um das Licht des Tages nicht zu
verdunkeln. In dieser Verzweiflung war mein Feind meine einzige Hoff-
ung, und ich verfolgte ihn und blieb ihm auf den Fersen. So brachte er
mich schließlich zurück zu den geheimen Wegen von Khazad-dûm: allzu
gut kannte er sie alle. Immer hinauf gingen wir nun, bis wir zur Endlosen
Treppe kamen.«
»Lange ist sie vergessen gewesen, sagte Gimli. »Viele haben gesagt, sie
sei nie gebaut worden außer in der Sage, aber andere sagen, sie sei zer-
stört worden.«
»Sie ist gebaut worden und nicht zerstört«, sagte Gandalf. »Von dem
tiefsten Verlies bis zum höchsten Gipfel führte sie empor, eine sich un-
aufhörlich hinaufschraubende Wendeltreppe von vielen tausend Stufen,
bis sie endlich in Durins Turm herauskam, der in den lebenden Fels von
Zirakzigil hineingemeißelt ist, der Spitze der Silberzinne.
Dort auf dem Celebdil war ein einsames Fenster im Schnee, und davor
lag eine schmale Fläche, ein schwindelnd hoher Horst über den Nebeln
der Welt. Die Sonne strahlte dort feurig, aber unten war alles in Wolken
gehüllt. Dort sprang er hinaus, und als ich eben hinterdreinkam, ging er
von neuem in Flammen auf. Es war niemand da, der es sah, sonst würde
der Kampf auf dem Gipfel vielleicht noch in späteren Zeitaltern in Lie-
dern besungen werden.« Plötzlich lachte Gandalf. »Aber was würden sie
im Lied sagen? Jene, die von weither hinauf schauten, glaubten, ein Gewit-
ter tobe auf dem Berg. Donner hörten sie, und Blitze, sagten sie, schlugen
auf Celebdil ein und sprangen zurück als züngelnde Flammen. Ist das
nicht genug? Ein mächtiger Rauch stieg um uns auf, Brodem und Dampf.
Eis fiel wie Regen. Ich warf meinen Feind nieder, und er stürzte von der
Höhe und zertrümmerte die Seite des Berges, wo er bei seinem Fall auf-
schlug. Dann umfing mich Dunkelheit, und ich irrte umher ohne Gedan-
ken und Zeitgefühl, und ich wanderte auf Wegen, die ich nicht nen-
nen will.
Nackt wurde ich zurückgeschickt — für eine kurze Zeit, bis meine Auf-
gabe erfüllt ist. Und nackt lag ich auf dem Berggipfel. Der Turm hinter
mir war zu Staub zerfallen, das Fenster verschwunden; die eingestürzte
Treppe versperrt durch verbranntes und zerbrochenes Gestein. Ich war
allein, vergessen, ohne Entrinnen auf der rauhen Zinne der Welt. Dort lag
ich und starrte empor, während die Sterne im Kreise zogen, und jeder Tag
war so lang wie ein Lebensalter auf der Erde. Schwach drangen an mein
Ohr die gesammelten Geräusche aller Lande: Geburt und Tod, Singen und
Weinen und das langsame, immerwährende Ächzen von überlastetem Ge-
stein. Und so fand mich schließlich wiederum Gwaihir, der Herr der
Winde, und er hob mich auf und trug mich davon.
>Immer ist es mein Schicksal, deine Last zu sein, Freund in Not<, sagte
ich.
>Eine Last bist du gewesene antwortete er, >aber jetzt nicht. Leicht wie
eine Schwanenfeder bist du nun in meinen Klauen. Die Sonne scheint
durch dich hindurch. Ich glaube wirklich nicht, daß du mich noch
brauchst: ließe ich dich fallen, würdest du im Wind dahintreiben.<
>Laß mich nicht f allen !< keuchte ich, denn ich spürte wieder Leben in
mir. >Trage mich nach Lothlórien!<
>Das ist auch der Befehl der Frau Galadriel, die mich ausgesandt hat,
nach dir zu suchen<, antwortete er.
So kam ich nach Caras Galadhon und erfuhr, daß ihr erst kürzlich auf-
gebrochen wart. Ich verweilte in der alterlosen Zeit dieses Landes, wo die
Tage Heilung bringen, nicht Verfall. Heilung fand ich, und ich wurde in
Weiß gekleidet. Rat gab ich und erhielt Rat. Von dort kam ich auf
seltsamen Wegen, und Botschaften bringe ich einigen von euch. Für Ara-
gorn wurde mir folgendes aufgetragen:
Elessar, Elessar, wo sind nun die Dúnedain?
Eure Sippe soll nicht mehr ferne sein.
Bald schlägt die Stunde der Wiederkehr:
Schon reiten die Grauen von Norden her.
Doch dunkel liegt vor Euch der Pfad:
Die Fahrt durch das Land der Toten naht.
Legolas sandte sie dieses Wort:
Legolas Grünblatt, Ihr lebtet bisher
Im Wald voller Freude. Meidet das Meer!
Habt Ihr einmal das Schreien der Möwen gehört,
Ist der Friede der Bäume für Euch zerstört."
Gandalf schwieg und schloß die Augen.
»Dann hat sie mir keine Botschaft geschickt?« fragte Gimli und
senkte den Kopf.
»Dunkel sind ihre Worte«, sagte Legolas, »und wenig bedeuten sie de-
nen, die sie erhalten.«
»Das ist kein Trost«, sagte Gimli.
»Wie denn?« sagte Legolas. »Hättest du es lieber, wenn sie offen zu dir
von deinem Tod spräche?«
»Ja, wenn sie nichts anderes zu sagen hätte.«
»Was ist los?« fragte Gandalf und öffnete die Augen. »Ja, ich glaube,
ich kann erraten, was ihre Worte bedeuten mögen. Entschuldige, Gimli.
Ich habe noch einmal über die Botschaften nachgegrübelt. Doch, sie hat
dir eine Nachricht gesandt, und sie ist weder unverständlich noch traurig.
>Gimli, Glóins Sohn<, sagte sie, >bestellt die Grüße seiner Herrin.
Lok-
kenträger, wo immer Ihr geht, begleiten Euch meine Gedanken. Doch
nehmt Euch in acht, daß Ihr Eure Axt an den richtigen Baum legt!««
»In einer glücklichen Stunde bist du zu uns zurückgekehrt, Gandalf«,
rief Gimli und machte einen Luftsprung, während er laut in der seltsamen
Zwergensprache sang. »Kommt, kommt!« rief er. »Da Gandalfs Kopf jetzt
heilig ist, laßt uns einen anderen finden, den zu spalten richtig ist!«
»Da werden wir nicht weit zu suchen brauchen«, sagte Gandalf und
stand von seinem Sitz auf. »Kommt! Wir haben die ganze Zeit vertan, die
einem Wiedersehen getrennt gewesener Freunde zugebilligt werden muß.
Jetzt ist Eile vonnöten.«
Er hüllte sich wieder in seinen alten zerlumpten Mantel und ging
voran. Die anderen folgten ihm; rasch stiegen sie von der hohen Fels-
platte hinunter und nahmen den Weg zurück durch den Wald bis zum
Ufer der Entwasser. Sie sprachen erst wieder, als sie jenseits des Saums
von Fangorn auf dem Gras standen. Von ihren Pferden war keine Spur zu
sehen.
»Sie sind nicht zurückgekommen«, sagte Legolas. »Es wird eine mühse-
lige Wanderung werden!«
»Ich werde nicht zu Fuß gehen. Die Zeit drängt«, sagte Gandalf. Dann
hob er den Kopf und stieß einen langen Pfiff aus. So klar und durchdrin-
gend war der Ton, daß die anderen erstaunt waren, eine solche Klangfülle
von diesen alten, bärtigen Lippen zu hören. Dreimal pfiff er; und dann
schien es, als hörten sie schwach und von fern das Wiehern eines Pferdes,
das der Ostwind von der Ebene herübertrug. Sie warteten verwundert. Es
dauerte nicht lange, da kam das Geräusch von Hufen, zuerst kaum mehr
als ein Zittern des Bodens, nur für Aragorn vernehmbar, der im Gras
lag, dann stetig lauter und deutlicher zu einem raschen Trab wer-
dend.
»Da kommt mehr als ein Pferd«, sagte Aragorn.
»Gewiß«, sagte Gandalf. »Wir sind eine zu schwere Last für eins.«
»Es sind drei«, sagte Legolas, der über die Ebene schaute. »Seht, wie sie
rennen! Da ist Hasufel und mein Freund Arod neben ihm! Aber da ist
noch ein drittes, das vorausgaloppiert: ein sehr großes Pferd. Seinesglei-
chen habe ich noch nie gesehen.«
»Und wirst du auch nie wieder«, sagte Gandalf. »Das ist Schattenfell.
Er ist das Haupt der Mearas, der Fürsten unter den Pferden, und nicht
einmal Théoden, König von Rohan, hat je ein besseres Roß erblickt.
Schimmert es nicht wie Silber und läuft es nicht so sanft und gleichmäßig
wie ein flinker Bach? Er ist für mich gekommen: das Pferd des Weißen
Reiters. Wir ziehen zusammen in die Schlacht.«
Während der alte Zauberer noch sprach, sprengte das große Pferd den
Abhang herauf auf sie zu; sein Fell glänzte, und seine Mähne flatterte im
Wind. Die beiden anderen waren jetzt weit hinter ihm. Sobald Schatten-
fell Gandalf sah, mäßigte er seinen Schritt und wieherte laut; dann
trabte er leicht auf ihn zu, senkte den stolzen Kopf und schnupperte mit
seinen großen Nüstern am Hals des alten Mannes.
Gandalf streichelte ihn. »Es ist ein langer Weg von Bruchtal, mein
Freund«, sagte er. »Aber du bist klug und schnell und in der Not gekom-
men. Weit laß uns jetzt zusammen reiten und in dieser Welt uns nicht
mehr trennen!«
Bald kamen die anderen Pferde und standen still in der Nähe, als
ob sie Befehle erwarteten. »Wir reiten sogleich nach Meduseld, der
Halle eures Herrn Théoden«, sagte Gandalf ernst zu ihnen. Sie neig-
ten die Köpfe. »Die Zeit drängt, also wenn ihr erlaubt, wollen wir reiten.
Wir bitten euch, so viel Schnelligkeit aufzubieten, wie ihr vermögt. Hasu-
fel soll Aragorn tragen und Arod Legolas. Ich will Gimli vor mich set-
zen, und mit Schattenfells Erlaubnis wird er uns beide tragen. Wir wollen
nur vorher ein wenig trinken.«
»Jetzt verstehe ich einen Teil des Rätsels der letzten Nacht«, sagte
Legolas, als er leicht auf Arods Rücken sprang. »Ob sie zuerst aus Angst
flohen oder nicht, jedenfalls trafen unsere Pferde Schattenfell, ihren An-
führer, und begrüßten ihn voll Freude. Wußtest du, daß er in der Nähe
war, Gandalf?«
»Ja, ich wußte es«, sagte der Zauberer. »Ich richtete meine Gedanken
auf ihn und bat ihn, sich zu eilen; denn gestern war er noch fern im
Süden dieses Landes. Schnell möge er mich wieder zurücktragen!«
Gandalf sprach jetzt mit Schattenfell, und das Pferd schlug einen guten
Schritt an, doch nicht zu schnell für die anderen. Nach einer kleinen
Weile wandte er sich plötzlich vom Weg ab, und an einer Stelle, wo die
Ufer niedriger waren, watete er durch den Fluß und hielt dann in süd-
licher Richtung auf ein flaches Land zu, baumlos und weit. Wie graue
Wellen fuhr der Wind durch die endlosen Meilen von Gras. Es war kein
Weg und keine Spur zu sehen, aber Schattenfell zögerte und schwankte
nicht.
»Er schlägt jetzt den geraden Weg zu Théodens Hallen unter den Hän-
gen des Weißen Gebirges ein«, sagte Gandalf. »Es wird so schneller ge-
hen. Der Boden ist fest im Ostemnet, wo der Hauptpfad nach Norden
liegt, jenseits des Flusses, aber Schattenfell kennt den Weg durch jeden
Sumpf und jede Senke.«
Viele Stunden ritten sie durch die Wiesen und Flußlande. Oft war das
Gras so hoch, daß es den Reitern bis über die Knie reichte, und ihre
Pferde schienen in einem graugrünen Meer zu schwimmen. An vielen
verborgenen Teichen kamen sie vorbei und an ganzen Feldern von Ried-
gras, das über nassen und heimtückischen Sümpfen wogte; doch Schat-
tenfell fand den Weg, und die anderen Pferde folgten ihm auf seiner Spur.
Langsam sank die Sonne vom Himmel herab in den Westen. Als die Rei-
ter über die große Ebene blickten, sahen sie sie einen Augenblick wie ein
rotes Feuer, das im Gras untertauchte. Auf beiden Seiten erstreckten sich
am Saum des Blickfeldes niedrige Bergrücken, die rot schimmerten. Ein
Rauch schien aufzusteigen und die Sonnenscheibe zu verdunkeln, bis sie
die Farbe von Blut hatte, als ob sie auf ihrem Weg unter den Rand der Er-
de das Gras in Brand gesteckt habe.
»Dort liegt die Pforte von Rohan«, sagte Gandalf. »Sie ist jetzt fast ge-
nau westlich von uns. In dieser Richtung liegt Isengart.«
»Ich sehe einen großen Rauch«, sagte Legolas. »Was mag das sein?«
»Kampf und Krieg!« sagte Gandalf. »Reitet zu!«