DRITTES KAPITEL
DIE URUK-HAI

Pippin hatte einen häßlichen und beängstigenden Traum: er schien den
Widerhall seiner eigenen kleinen Stimme in schwarzen Tunneln zu hören,
die Frodo! Frodo! rief. Aber nicht Frodo kam, sondern Hunderte von ab-
scheulichen Orkgesichtern grinsten ihn aus den Schatten an, Hunderte
von abscheulichen Armen griffen von allen Seiten nach ihm. Wo war
Merry?
Er erwachte. Kalte Luft blies ihm ins Gesicht. Er lag auf dem Rücken.
Der Abend kam, und der Himmel über ihm wurde dämmrig. Er drehte
sich um und fand, daß der Traum nur wenig schlimmer gewesen war als
das Erwachen. Seine Handgelenke, Beine und Knöchel waren mit Stricken
gebunden. Neben ihm lag Merry mit bleichem Gesicht und einem schmutzi-
gen Lappen auf der Stirn. Rings um sie her saßen oder standen viele Orks.
In Pippins schmerzendem Kopf reihte sich die Erinnerung langsam an-
einander und löste sich von den Traumschatten. Natürlich: er und Merry
waren in den Wald gelaufen. Was war ihnen bloß eingefallen? Warum
waren sie so weggestürzt und hatten sich gar nicht um den guten Strei-
cher gekümmert? Sie waren lange gelaufen und hatten gerufen — Pippin
konnte sich nicht erinnern, wie weit oder wie lange; und dann plötzlich
waren sie genau in eine Gruppe Orks hineingerannt: sie standen lau-
schend da und schienen Merry und Pippin gar nicht zu sehen, bis sie fast
in ihren Armen gelandet waren. Dann schrien sie, und noch Dutzende
von Bilwissen sprangen zwischen den Bäumen hervor. Merry und er hat-
ten ihre Schwerter gezogen, aber die Orks wollten nicht kämpfen, son-
dern versuchten nur, sie zu ergreifen, selbst nachdem Merry verschiede-
nen die Arme und Hände abgeschlagen hatte. Der gute Merry!
Dann war Boromir zwischen den Bäumen hervorgestürmt. Er hatte sie
in einen Kampf verwickelt. Viele von ihnen erschlug er, und die übrigen
flohen. Aber sie waren noch nicht weit auf dem Weg zurückgegangen,
als sie erneut angegriffen wurden, diesmal von mindestens hundert Orks,
von denen einige sehr groß waren, und sie schössen einen Hagel von Pfei-
len ab: immer auf Boromir. Boromir hatte sein großes Horn geblasen, bis
die Wälder widerhallten, und zuerst waren die Orks erschrocken zurück-
gewichen; als aber keine Antwort auf die Echos kam, hatten sie wütender
denn je angegriffen. An viel mehr entsann sich Pippin nicht. Seine letzte
Erinnerung war, daß Boromir an einem Baum lehnte und sich einen Pfeil
herauszog; dann hatte sich plötzlich Dunkelheit herabgesenkt.
»Ich nehme an, daß ich einen Schlag auf den Kopf bekam«, sagte Pip-
pin bei sich. »Ich wüßte gern, ob der arme Merry schwer verwundet ist.
Was ist mit Boromir geschehen? Warum haben uns die Orks nicht getö-
tet? Wo sind wir und wohin gehen wir?«
Er konnte die Fragen nicht beantworten. Er fror und fühlte sich elend.
»Ich wünschte, Gandalf hätte Elrond nicht überredet, uns mitgehen zu
lassen«, dachte er. »Was bin ich schon nütze gewesen? Nur eine Last:
eine Last, ein Gepäckstück. Und jetzt bin ich gestohlen worden und ge-
nauso ein Gepäckstück für die Orks. Ich hoffe, Streicher oder sonst wer
wird kommen und uns abholen! Aber darf ich überhaupt darauf hoffen?
Würde das nicht alle unsere Pläne umstoßen? Ich wollte, ich könnte mich
befreien!«
Er strampelte ein wenig, ganz vergeblich. Einer der in der Nähe sitzen-
den Orks lachte und sagte zu einem Gefährten etwas in ihrer abscheu-
lichen Sprache. »Ruh dich aus, solange du kannst, kleiner Narr!« sagte er
dann zu Pippin in der Gemeinsamen Sprache, die bei ihm fast so häßlich
klang wie seine eigene. »Ruh dich aus, solange du kannst! Bald werden
wir Verwendung finden für deine Beine. Du wirst noch wünschen, daß du
keine hättest, ehe wir nach Hause kommen.«
»Wenn's nach mir ginge, würdest du wünschen, tot zu sein«, sagte der
andere. »Ich werde dich zum Quietschen bringen, du jämmerliche Ratte.«
Er beugte sich über Pippin und hielt ihm seine gelben Klauen dicht vors
Gesicht. Er hatte ein schwarzes Messer mit einer langen, gezackten Klinge
in der Hand. »Lieg still, oder ich kitzle dich damit«, zischte er. »Lenke
nicht die Aufmerksamkeit auf dich, sonst vergesse ich vielleicht meine
Befehle. Verflucht seien die Isengarter! Uglúk u bagronk sha pushdug
Saruman-glob búbhosh skai.«
Er erging sich in seiner eigenen Sprache in
einer langen wütenden Rede, die allmählich mit Brummen und Knurren
endete.
Erschrocken lag Pippin ganz still, obwohl der Schmerz an seinen Hand-
gelenken und Knöcheln zunahm und die Steine, auf denen er lag, sich in
seinen Rücken bohrten. Um seine Gedanken von sich selbst abzulenken,
lauschte er angespannt auf alles, was er hören konnte. Es waren viele
Stimmen um ihn herum, und obschon die Orksprache immer nach Haß
und Wut klang, schien doch deutlich ein Streit ausgebrochen zu sein und
immer hitziger zu werden.
Pippin merkte zu seiner Überraschung, daß ein Großteil der Unterhal-
tung verständlich war; viele der Orks bedienten sich der gewöhnlichen
Sprache. Offenbar gehörten sie zwei oder drei verschiedenen Stämmen an
und verstanden ihre jeweiligen Orksprachen nicht. Es war eine wütende
Auseinandersetzung darüber im Gange, was jetzt zu tun sei: welcher
Weg einzuschlagen sei und was mit den Gefangenen geschehen solle.
»Wir haben keine Zeit, sie richtig zu töten«, sagte einer. »Keine Zeit
zum Spielen auf der Fahrt.«
»Das läßt sich nicht ändern«, sagte ein anderer. »Aber warum sie
nicht rasch töten, sie jetzt töten? Sie sind eine verdammte Last, und wir
haben es eilig. Der Abend kommt, und wir sollten uns dranhalten.«
»Befehl«, sagte eine dritte, tief knurrende Stimme. »Tötet alle, aber
NICHT die Halblinse; sie sollen so schnell als möglich LEBENDIG
hergebracht werden. Das ist mein Befehl.«
»Wofür will man sie?« fragten mehrere Stimmen. »Warum lebendig?
Bereiten sie viel Spaß?«
»Nein! Ich habe gehört, daß einer von ihnen etwas hat, etwas, das für
den Krieg gebraucht wird, irgendwelche elbischen Ränke. Jedenfalls sollen
sie verhört werden.«
»Ist das alles, was du weißt? Warum durchsuchen wir sie nicht und
schauen nach? Vielleicht finden wir etwas, das wir selbst brauchen könn-
ten.«
»Das ist eine sehr aufschlußreiche Bemerkung«, höhnte eine Stimme,
weicher als die anderen, aber böser. »Ich werde das vielleicht melden
müssen. Die Gefangenen dürfen NICHT durchsucht oder ausgeplündert
werden: so lautet mein Befehl.«
»Und meiner auch«, sagte die tiefe Stimme. »Lebendig und so wie sie
gefangengenommen wurden; nicht ausgeraubt.
Das ist mein Befehl.«
»Aber nicht unserer«, sagten einige der ersten Stimmen. »Wir sind die
ganze Strecke von den Minen hergekommen, um zu töten und unsere
Leute zu rächen. Ich wünsche zu töten und dann wieder in den Norden
zurückzukehren.«
»Dann kannst du noch mal wünschen«, sagte die knurrende Stimme.
»Ich bin Uglúk. Ich befehle. Ich kehre auf dem kürzesten Weg nach
Isengart zurück.«
»Ist Saruman der Herr oder das Große Auge?« fragte die böse Stimme.
»Wir sollten sofort nach Lugbúrz zurückkehren.«
»Wenn wir den Großen Strom überqueren könnten, ginge das viel-
leicht«, sagte eine andere Stimme. »Aber wir sind nicht genug, um uns
hinunter zu den Brücken zu wagen.«
»Ich bin herüber gekommen«, sagte die böse Stimme. »Ein geflügelter
Nazgûl erwartet uns nördlich am Ostufer.«
»Mag sein, mag sein! Dann fliegst du mit unseren Gefangenen los und
bekommst all den Lohn und das Lob in Lugbúrz, und wir können sehen,
wie wir zu Fuß durch dieses Pferde-Land kommen. Nein, wir müssen zu-
sammenbleiben. Diese Lande sind gefährlich: voller widerlicher Aufrüh-
rer und Wegelagerer.«
»Freilich müssen wir zusammenbleiben«, knurrte Uglúk. »Ich traue
euch kleinen Schweinen nicht. Ihr habt keinen Schneid, wenn ihr nicht in
euren Schweineställen seid. Ohne uns wärt ihr schon alle davongelaufen.
Wir sind die kämpfenden Uruk-hai! Wir haben den großen Krieger er-
schlagen. Wir haben die Gefangenen gemacht. Wir sind die Diener von
Saruman dem Weisen, der Weißen Hand: die Hand gibt uns Menschen-
fleisch zu essen. Wir sind aus Isengart gekommen und haben euch hierher
geführt, und wir werden euch auch auf dem Weg, den wir wählen, zu-
rückführen. Ich bin Uglúk. Ich habe gesprochen.«
»Du hast mehr als genug gesprochen, Uglúk«, höhnte die böse Stimme.
»Ich möchte mal wissen, wie das denen in Lugbúrz gefallen würde. Sie
glauben vielleicht, Uglúks Schultern müßten von einem aufgeblasenen
Kopf befreit werden. Sie fragen vielleicht, wo seine merkwürdigen Vor-
stellungen herkommen. Kommen sie womöglich von Saruman? Wofür
hält er sich eigentlich, daß er aus sich heraus mit seinen dreckigen weißen
Abzeichen anfängt? In Lugbúrz könnten sie vielleicht mir, Grischnákh,
beistimmen, ihrem vertrauten Boten; und ich, Grischnákh, sage folgendes:
Saruman ist ein Narr, und noch dazu ein dreckiger, verräterischer Narr.
Aber das Große Auge ruht auf ihm.
Schweine hat er gesagt? Wie gefällt es euch, von den Schmutzwühlern
eines dreckigen kleinen Zauberers Schweine genannt zu werden? Ork-
fleisch ist es, was sie essen, möchte ich wetten.«
Viele laute Rufe in der Orksprache antworteten ihm, und laut klirrten
Waffen, die gezogen wurden. Vorsichtig rollte sich Pippin auf die Seite,
denn er wollte sehen, was geschehen würde. Seine Bewacher waren aufge-
standen, um sich dem Kampf anzuschließen. Im Zwielicht sah er einen
großen, schwarzen Ork, wahrscheinlich Uglúk, der Grischnákh gegen-
überstand, einem gedrungenen, krummbeinigen Geschöpf mit sehr breiter
Brust und langen Armen, die fast bis auf den Boden reichten. Um sie
herum standen viele kleinere Bilwisse. Pippin vermutete, daß es die aus
dem Norden waren. Sie hatten ihre Messer und Schwerter gezogen, zöger-
ten aber, Uglúk anzugreifen.
Uglúk brüllte, und eine Menge anderer Orks, fast so groß wie er, rann-
ten vorbei. Dann sprang Uglúk plötzlich ohne Warnung vor und schlug
mit zwei raschen Hieben zweien seiner Gegner die Köpfe ab. Grischnákh
machte einen Schritt zur Seite und verschwand im Schatten. Die anderen
wichen zurück, und einer stolperte, als er zurücktrat, fluchend über den
am Boden liegenden Merry. Das rettete ihm wahrscheinlich das Leben,
denn Uglúks Gefolgsleute sprangen über ihn hinweg und schlugen einen
anderen mit ihren breitklingigen Schwertern nieder. Es war der Bewacher
mit den gelben Klauen. Er fiel wie ein Sack auf Pippin und hielt immer
noch sein langes Messer mit der gezähmten Klinge in der Hand.
»Steckt eure Waffen weg!« schrie Uglúk. »Und macht keinen Unsinn
mehr! Wir gehen von hier schnurstracks nach Westen und die Stiege hin-
unter. Von dort schnurstracks zu den Höhen, dann am Fluß entlang zum
Wald. Und wir marschieren Tag und Nacht. Ist klar?«
»Jetzt«, dachte Pippin, »wenn es diesen häßlichen Kerl bloß ein bißchen
Zeit kostet, bis er seine Schar wieder in der Gewalt hat, habe ich eine Ge-
legenheit.« Ein Hoffnungsschimmer war aufgeflackert. Die Schneide des
schwarzen Messers hatte seinen Arm aufgeritzt und war dann bis zu sei-
nem Handgelenk gerutscht. Er spürte, wie ihm das Blut auf die Hand
tröpfelte, aber er spürte auch den kalten Stahl auf seiner Haut.
Die Orks machten sich fertig, um weiterzumarschieren, doch einige der
Nordländer waren noch störrisch, und die Isengarter erschlugen zwei wei-
tere, ehe die übrigen klein beigaben. Es gab viel Flüche und Durcheinan-
der. Im Augenblick war Pippin unbeobachtet. Seine Beine waren fest ver-
schnürt, seine Arme aber nur an den Handgelenken zusammengebunden,
und seine Hände lagen vor ihm. Er konnte sie beide zusammen bewegen,
obwohl die Fesseln grausam straff waren. Er schob den toten Ork beiseite,
und während er kaum zu atmen wagte, fuhr er mit dem Knoten des
Stricks auf der Schneide des Messers hin und her. Sie war scharf, und die
tote Hand hielt sie fest. Der Strick war durchgeschnitten! Rasch nahm
Pippin ihn und knüpfte ihn wieder zu einem lockeren Armband mit zwei
Schlingen, das er sich über die Gelenke streifte. Dann lag er ganz still.
»Hebt die Gefangenen da auf!« brüllte Uglúk. »Und daß ihr mir keine
Mätzchen mit ihnen macht. Sind sie nicht mehr am Leben, wenn wir zu-
rückkommen, dann wird auch noch jemand sterben.«
Ein Ork nahm Pippin wie einen Sack, steckte seinen Kopf zwischen
Pippins gefesselten Händen durch, packte seine Arme und zog sie nach
unten, bis Pippins Gesicht gegen den Orknacken gepreßt wurde; dann
rannte er mit ihm los. Ein anderer machte es genauso mit Merry. Die
klauenhafte Hand des Orks umklammerte Pippins Arme wie Eisen; die
Nägel schnitten ihm ins Fleisch. Er schloß die Augen und sank wieder in
häßliche Träume.
Plötzlich wurde er von neuem auf den steinigen Boden geworfen. Es
war noch früh in der Nacht, aber der schmale Mond ging schon im
Westen unter. Sie waren am Rande einer Felswand, die über ein Meer von
bleichem Nebel hinausragte. Man hörte einen Wasserfall in der Nähe.
»Die Späher sind endlich zurückgekommen«, sagte ein Ork.
»Nun, was habt ihr entdeckt?« knurrte Uglúks Stimme.
»Nur einen einzigen Reiter, und er verschwand nach Westen. Jetzt ist
alles frei.«
»Na, ich will's glauben. Aber wie lange? Ihr Narren! Ihr hättet ihn er-
schießen sollen. Er wird Lärm schlagen. Am Morgen werden die ver-
dammten Pferdezüchter von uns hören. Jetzt müssen wir doppelt schnell
laufen.«
Ein Schatten beugte sich über Pippin. Es war Uglúk. »Setz dich auf!«,
sagte der Ork. »Meine Jungs haben es satt, dich mitzuschleppen. Wir
müssen jetzt klettern, und da sollst du deine Beine gebrauchen. Jetzt mach
keine Schwierigkeiten. Kein Schreien, kein Fluchtversuch. Wenn du uns
Streiche spielst, haben wir Mittel und Wege, dich zu bestrafen, die dir
nicht gefallen werden, obwohl sie deine Nützlichkeit für den Herrn nicht
beeinträchtigen werden.«
Er schnitt die Riemen um Pippins Beine und Knöchel auf, packte ihn
am Haar und stellte ihn auf die Füße. Pippin fiel um, und Uglúk zog ihn
wieder am Haar hoch. Mehrere Orks lachten. Uglúk steckte ihm eine Fla-
sche zwischen die Zähne und goß ihm eine brennende Flüssigkeit in den
Schlund: Pippin spürte, wie ihn eine gewaltige Wärme durchflutete. Der
Schmerz in seinen Beinen und Knöcheln verschwand. Er konnte stehen.
»Und jetzt der andere«, sagte Uglúk. Pippin sah, wie er zu Merry ging,
der ganz in der Nähe lag, und ihm einen Fußtritt versetzte. Merry
stöhnte. Uglúk packte ihn roh, zog ihn hoch, so daß er saß, und riß ihm
den Verband vom Kopf. Dann schmierte er aus einer kleinen Holzschach-
tel irgendein schwarzes Zeug auf die Wunde. Merry schrie auf und
wehrte sich wie wild.
Die Orks klatschten und johlten. »Will seine Medizin nicht nehmen«,
höhnten sie. »Weiß nicht, was gut für ihn ist. Hei! Wir werden nachher
noch Spaß haben.«
Aber im Augenblick war Uglúk nicht auf Scherze aus. Er brauchte
Eile und mußte unwillige Gefolgsleute bei Laune halten. Er heilte Merry
auf Ork-Weise, und seine Behandlung wirkte rasch. Nachdem er dem
Hobbit mit Gewalt einen Trunk aus seiner Flasche eingeflößt, ihm die
Beinfesseln aufgeschnitten und ihn hochgezerrt hatte, stand Merry auf
und sah zwar blaß, aber grimmig und trotzig aus und ganz und gar
lebendig. Die klaffende Wunde auf seiner Stirn machte ihm kein Be-
schwer mehr, aber er behielt eine braune Narbe bis ans Ende seiner Tage.
»Nanu, Pippin!« sagte er. »Du bist also auch mitgekommen auf diesen
kleinen Ausflug? Wo bekommen wir Bett und Frühstück?«
»Nun aber Schluß«, sagte Uglúk. »Nichts dergleichen. Haltet den
Mund. Keine Gespräche untereinander. Alle Scherereien werden am an-
deren Ende gemeldet, und Er wird schon wissen, wie es euch zu vergelten
ist. Bett und Frühstück werdet ihr schon bekommen: mehr als ihr vertra-
gen könnt.«
Die Orkbande begann, eine schmale Schlucht hinabzusteigen, die nach
unten in die neblige Ebene führte. Merry und Pippin, durch ein Dutzend
oder mehr Orks voneinander getrennt, kletterten mit ihnen hinab. Unten
kamen sie auf Gras, und den Hobbits ging das Herz auf.
»Nun schnurstracks weiter!« brüllte Uglúk. »Westlich und ein bißchen
nördlich. Folgt Lugdusch.«
»Aber was machen wir bei Sonnenaufgang?« fragten einige der Nord-
länder.
»Weiterrennen«, sagte Uglúk. »Was glaubt denn ihr? Uns ins Gras set-
zen und auf die Weißhäute warten, damit sie mit uns frühstücken?«
»Aber wir können nicht im Sonnenlicht rennen.«
»Ihr werdet rennen, wenn ich hinter euch bin«, sagte Uglúk. »Rennt,
oder ihr seht eure geliebten Höhlen nie wieder. Bei der Weißen Hand!
Was hat es für einen Zweck, Bergmaden auf die Reise zu schicken, die
nur halb ausgebildet sind. Rennt, verflucht nochmal! Rennt, solange es
Nacht ist!«
Dann begann die ganze Schar mit den langen, springenden Schritten
der Orks zu rennen. Sie hielten keine Ordnung, sondern drängelten, rem-
pelten und fluchten; dennoch war ihre Geschwindigkeit gewaltig. Jeder
Hobbit hatte eine Wache von dreien. Pippin war am weitesten zurück. Er
fragte sich, wie lange er wohl bei dieser Gangart würde mithalten kön-
nen: er hatte seit dem Morgen nichts gegessen. Einer der Bewacher hatte
eine Peitsche. Aber im Augenblick brannte noch der Ork-Trunk in ihm.
Auch sein Verstand war hellwach.
Dann und wann tauchte in seinem Geist ungerufen das scharfge-
schnittene Gesicht von Streicher auf, der sich über eine dunkle Fährte
beugt und läuft, immer hinterherläuft. Aber was konnte selbst ein Wald-
läufer sehen außer einer verwischten Spur von Orkfüßen? Seine eigenen
kleinen Abdrücke und Merrys waren begraben unter dem Getrampel der
eisenbeschlagenen Schuhe vor ihnen und hinter ihnen und um sie herum.
Sie waren etwa eine Meile von der Felswand aus gegangen, als sich das
Land hinunterzog in eine breite, flache Senke, wo der Boden weich und
naß war. Nebel hing dort, der in den letzten Strahlen der Mondsichel blaß
schimmerte. Die dunklen Gestalten der Orks vor ihm wurden undeutlich
und dann vom Nebel geschluckt.
»He! Vorsichtig jetzt!« brüllte Uglúk von hinten.
Plötzlich schoß Pippin ein Gedanke durch den Kopf, und er führte ihn
sofort aus. Er wandte sich nach rechts und machte einen Satz aus der
Reichweite seiner zupackenden Bewacher kopfüber in den Nebel; er lan-
dete auf allen Vieren im Gras.
»Halt!« schrie Uglúk.
Es gab einen Augenblick Unruhe und Verwirrung. Pippin sprang auf
und rannte. Aber die Orks waren hinter ihm her. Einige tauchten plötz-
lich vor ihm auf.
»Keine Hoffnung, zu entkommen«, dachte Pippin. »Aber es besteht
Hoffnung, daß ich einige meiner Fußspuren unversehrt auf dem nassen
Boden hinterlassen habe.« Er faßte mit seinen beiden zusammengebunde-
nen Händen an den Hals und löste die Brosche seines Mantels. Gerade, als
lange Arme und harte Klauen ihn ergriffen, ließ er sie fallen. »Da wird
sie wohl liegen bis ans Ende der Zeit«, dachte er. »Ich weiß nicht, warum
ich das tat. Wenn die anderen entkommen sind, werden sie wahrschein-
lich alle mit Frodo mitgegangen sein.«
Ein Peitschenriemen ringelte sich um seine Beine, und er unterdrückte
einen Schrei.
»Genug!« schrie Uglúk, als er herbeirannte. »Er muß noch einen weiten
Weg laufen. Laßt sie beide rennen! Gebraucht die Peitsche nur als Mah-
nung.«
»Aber das ist nicht alles«, fauchte er, zu Pippin gewandt. »Ich werde
nichts vergessen. Die Strafe ist nur aufgeschoben. Los jetzt!«
Weder Pippin noch Merry wußten später noch viel von dem letzten Teil
der Wanderung. Schlechte Träume und böses Erwachen vermengten sich
zu einem langen Jammertal, an dessen Ende die Hoffnung immer schwä-
cher schimmerte. Sie rannten und rannten und bemühten sich, den von
den Orks angeschlagenen Schritt einzuhalten, und ab und zu wurden sie
von einem grausamen Riemen geprügelt, der hinterlistig gehandhabt
wurde. Wenn sie stehen blieben oder stolperten, wurden sie gepackt und
eine Strecke mitgeschleift.
Die Wärme des Ork-Trankes war vergangen. Pippin fror wieder, und
ihm war übel. Plötzlich fiel er mit dem Gesicht ins Gras. Harte Hände
mit reißenden Nägeln packten zu und hoben ihn auf. Wieder einmal
wurde er wie ein Sack getragen, und Dunkelheit hüllte ihn ein: ob es die
Dunkelheit einer weiteren Nacht war oder eine Blindheit seiner Augen,
das konnte er nicht sagen.
Undeutlich wurde er sich lärmender Stimmen bewußt: es schien, daß
viele Orks eine Rast verlangten. Uglúk schrie. Pippin wurde auf den
Boden geschleudert und blieb liegen, wie er hingefallen war, bis schwarze
Träume ihn umfingen. Aber nicht für lange entging er dem Schmerz;
bald war er wieder im eisernen Griff unbarmherziger Hände. Lange Zeit
wurde er geschüttelt und gerüttelt, und dann verging die Dunkelheit
langsam, er kehrte zurück in die wache Welt und merkte, daß es Morgen
war. Befehle wurden gebrüllt, und er wurde grob ins Gras geworfen.
Dort lag er eine Weile und kämpfte mit der Verzweiflung. Ihm war
schwindlig, aber nach der Hitze seines Körpers vermutete er, daß ihm
wieder ein Trunk eingeflößt worden war. Ein Ork beugte sich über ihn
und warf ihm etwas Brot und einen Streifen rohes, getrocknetes Fleisch
hin. Heißhungrig aß er das altbackene, graue Brot, aber nicht das Fleisch.
Er war ausgehungert, aber doch nicht so ausgehungert, um Fleisch zu
essen, das ihm ein Ork zugeworfen hatte, Fleisch von welchem Lebewesen
wagte er nicht zu raten.
Er setzte sich auf und schaute sich um. Merry war nicht weit von ihm.
Sie waren am Ufer eines rasch strömenden, schmalen Flusses. In der Feme
türmte sich das Gebirge: ein hoher Gipfel fing die ersten Sonnenstrahlen
auf. Wie ein dunkler Schmutzfleck lag an den unteren Hängen vor ihnen
ein Wald.
Es gab viel Geschrei und Gerede unter den Orks; ein Streit zwischen
den Nordländern und den Isengartern schien gleich ausbrechen zu wollen.
Einige zeigten zurück nach Süden und andere nach Osten.
»Sehr gut«, sagte Uglúk. »Überlaßt sie mir! Kein Töten, wie ich euch
schon gesagt habe; aber wenn ihr das aufgeben wollt, um dessentwillen
wir einen so weiten Weg zurückgelegt haben, um es zu bekommen, dann
gebt es auf! Ich werde mich schon drum kümmern. Laßt die kämpfenden
Uruk-hai die Arbeit tun, wie gewöhnlich. Wenn ihr vor den Weißhäuten
Angst habt, dann lauft! Lauft! Da ist der Wald«, brüllte er und zeigte
nach vom. »Lauft dahin. Das ist das beste, worauf ihr hoffen könnt. Ab
mit euch! Und schnell, ehe ich noch ein paar Köpfe abschlage, um den an-
deren ein wenig Verstand beizubringen.«
Es gab einiges Gefluche und Geschlurre, und dann machte sich die
Mehrzahl der Nordländer davon, und über hundert von ihnen stürzten los
und rannten wie wild am Fluß entlang auf das Gebirge zu. Die Hobbits
blieben bei den Isengartern: einer grausamen, finsteren Bande von minde-
stens achtzig großen, schwarzbraunen, schlitzäugigen Orks mit großen
Bogen und kurzen, breitklingigen Schwertern. Ein paar von den größeren
und kühneren Nordländern waren bei ihnen geblieben.
»Jetzt werden wir uns mit Grischnákh befassen«, sagte Uglúk. Doch
selbst einige seiner eigenen Gefolgsleute schauten besorgt nach Süden.
»Ich weiß«, knurrte Uglúk. »Die verfluchten Pferdejungen haben Wind
von uns bekommen. Aber das ist allein deine Schuld, Snaga. Dir und den
anderen Spähern gehörten die Ohren abgeschnitten. Aber wir sind die
Kämpfer. Wir werden uns noch Pferdefleisch oder sogar was Besseres
schmecken lassen.«
In diesem Augenblick sah Pippin, warum einige aus der Schar nach
Osten gezeigt hatten. Aus dieser Richtung drangen jetzt rauhe Schreie,
und Grischnákh war wieder da und hinter ihm ein paar Dutzend seines-
gleichen: langarmige, krummbeinige Orks. Ein rotes Auge war auf ihren
Schilden aufgemalt. Uglúk ging ihnen entgegen.
»Du bist also zurückgekommen?« sagte er. »Hast es dir anders über-
legt, was?«
»Ja, um dafür zu sorgen, daß die Befehle ausgeführt werden, und um zu
sehen, ob die Gefangenen in Sicherheit sind«, antwortete Grischnákh.
»Ach wirklich!« sagte Uglúk. »Verschwendete Mühe. Ich sorge dafür,
daß die Befehle unter meinem Kommando ausgeführt werden. Und wes-
wegen bist du sonst noch zurückgekommen? Du gingst in Eile fort. Ließest
du etwas zurück?«
»Ich ließ einen Narren zurück«, höhnte Grischnákh. »Aber er hatte ein
paar handfeste Burschen bei sich, die zu schade sind, um sie zu verlieren.
Ich wußte, daß du sie in eine üble Lage bringst. Ich bin gekommen, um
ihnen zu helfen.«
»Großartig!« lachte Uglúk. »Aber sofern du nicht einigen Schneid zum
Kämpfen hast, hast du den falschen Weg eingeschlagen. Lugbúrz war
dein Ziel. Die Weißhäute kommen. Was ist mit deinem schönen Nazgûl
geschehen? Ist wiederum ein Reittier unter ihm erschossen worden? Ja,
hättest du ihn mitgebracht, hätte das nützlich sein können — wenn diese
Nazgûls wirklich alles sind, was sie vorgeben.«
»Nazgûl, Nazgûl«, sagte Grischnákh erschauernd und leckte sich die
Lippen, als ob das Wort einen üblen Geschmack habe, den er qualvoll
auskostete. »Du sprichst von etwas, das du dir nicht einmal in deinen
verworrenen Träumen vorstellen kannst, Uglúk«, sagte er. »Nazgûl! Ah!
Alles, was sie vorgeben! Eines Tages wirst du wünschen, du hättest das
nicht gesagt. Affe!« fauchte er wütend. »Du sollst wissen, daß sie die
Lieblinge des Großen Auges sind. Aber die geflügelten Nazgûl — noch
nicht, noch nicht. Er will nicht, daß sie sich schon jenseits des Großen
Stroms zeigen, nicht zu bald. Sie sind für den Krieg — und für andere
Zwecke.«
»Du scheinst eine Menge zu wissen«, sagte Uglúk. »Mehr, als gut für
dich ist, vermute ich. Vielleicht werden sich die in Lugbúrz fragen, woher
und warum du so viel weißt. Aber inzwischen können wie gewöhnlich
die Uruk-hai von Isengart die Dreckarbeit machen. Steh nicht so geifernd
da! Hol deinen Haufen zusammen! Die anderen Schweine laufen in den
Wald. Du folgst ihnen besser. Du würdest nicht lebend zum Großen
Strom zurückkommen. Los jetzt! Gleich! Ich bleibe dir auf den Fersen.«
Die Isengarter packten Merry und Pippin wieder und hängten sie sich
auf den Rücken. Dann machte sich die Schar auf den Weg. Stunde um
Stunde liefen sie und hielten nur dann und wann inne, um die Hobbits
anderen Trägem aufzupacken. Entweder, weil sie schneller und zäher
waren, oder weil Grischnákh irgendeinen Plan dabei verfolgte, ließen die
Isengarter allmählich die Orks aus Mordor hinter sich, und Grischnákhs
Leute bildeten die Nachhut. Auch der Vorsprung der Nordländer verrin-
gerte sich. Der Wald kam immer näher. Pippin wurde gequetscht und ge-
zerrt, und an seinem schmerzenden Kopf scheuerten die dreckige Backe
und das haarige Ohr des Orks, der ihn trug. Unmittelbar vor ihm waren
gebeugte Rücken und ausdauernde, kräftige Beine, die sich hoben und
senkten, unaufhörlich, als ob sie aus Draht und Horn seien und den Takt
von Albtraumsekunden einer endlosen Zeit schlagen.
Am Nachmittag überholte Uglúks Schar die Nordländer. Sie waren
matt unter den Strahlen der hellen Sonne, obwohl es Wintersonne war,
die an einem blassen, kühlen Himmel stand; die Köpfe hingen ihnen
herab, und die Zungen streckten sie heraus.
»Maden!« höhnten die Isengarter. »Ihr seid erledigt. Die Weißhäute
werden euch fangen und fressen. Sie kommen schon!«
Ein Schrei von Grischnákh zeigte, daß das kein bloßer Witz war. Rei-
ter, die sehr schnell heranfegten, waren tatsächlich gesichtet worden:
noch weit zurück, aber sie kamen auf die Orks zu, sie kamen auf sie zu
wie eine Flut auf Leute im Wattenmeer, die auf dem Treibsand umherir-
ren.
Die Isengarter begannen jetzt mit doppelter Schnelligkeit zu ren-
nen, die Pippin verblüffte, eine erstaunliche Leistung für das Ende eines
Wettlaufs. Dann sah er, daß die Sonne unterging und hinter dem Nebel-
gebirge verschwand; Schatten legten sich auf das Land. Die Krieger von
Mordor hoben die Köpfe und liefen nun auch schneller. Der Wald war
dunkel und dicht. Schon waren sie an ein paar abseits stehenden Bäumen
vorbeigekommen. Das Land begann zu steigen, immer steiler; aber die
Orks hielten nicht an. Uglúk und Grischnákh schrien beide und spornten
sie zu einer letzten Anstrengung an.
»Sie werden es noch schaffen. Sie werden entkommen«, dachte Pippin.
Und dann gelang es ihm, den Hals zu drehen, um einen Blick über die
Schulter zu werfen. Er sah, daß Reiter im Osten, die über die Ebene
galoppierten, schon auf gleicher Höhe mit den Orks waren. Der Sonnen-
untergang vergoldete ihre Speere und Helme und schimmerte auf ihrem
hellen, flatternden Haar. Sie umringten die Orks, verhinderten, daß sie
sich zerstreuten, und trieben sie den Fluß entlang.
Er hätte gern gewußt, welcher Art dieses Volk war. Er wünschte jetzt,
er hätte in Bruchtal mehr gelernt und mehr Landkarten und Dinge be-
trachtet; aber damals schienen die Pläne für die Fahrt in sachverständige-
ren Händen zu sein, und er hatte nie damit gerechnet, daß er von Gandalf
oder Streicher oder selbst Frodo getrennt werden würde. Alles, was er
von Rohan wußte, war, daß Gandalfs Pferd, Schattenfell, aus diesem Land
stammte. Das klang insoweit hoffnungsvoll.
»Aber woher werden sie wissen, daß wir keine Orks sind?« dachte er.
»Ich glaube kaum, daß sie hier unten jemals von Hobbits gehört haben.
Ich sollte vermutlich froh sein, daß es so aussieht, als ob die viehischen
Orks umgebracht werden, aber ich möchte lieber heil davonkommen.«
Wahrscheinlich würden er und Merry zusammen mit ihren Entführern
getötet werden, ehe die Menschen von Rohan sie auch nur bemerkten.
Einige der Reiter schienen Bogenschützen zu sein, die geschickt vom
galoppierenden Pferd aus schössen. Sie ritten rasch auf Schußweite heran
und Schossen Pfeile auf die nachzüglerischen Orks, und mehrere von
ihnen fielen; dann zogen sich die Reiter aus dem Bereich der antworten-
den Bogen ihrer Feinde zurück, die wild schössen, aber nicht anzuhalten
wagten. Das geschah mehrmals, und bei einer Gelegenheit fielen Pfeile
unter die Isengarter. Genau vor Pippin stolperte einer von ihnen und
stand nicht wieder auf.
Die Nacht brach herein, ohne daß die Reiter zur Schlacht antraten.
Viele Orks waren gefallen, aber volle zweihundert waren noch übrig. In
der frühen Dunkelheit kamen die Orks zu einem Hügel. Der Saum des
Waldes war sehr nah, wahrscheinlich nicht mehr als hundertzwanzig
Ruten entfernt, aber sie konnten nicht dahingelangen. Die Reiter hatten
sie eingekreist. Eine kleine Gruppe widersetzte sich Uglúks Befehl und
rannte auf den Wald zu: nur drei kehrten zurück.
»Ja, da sind wir nun«, höhnte Grischnákh. »Eine feine Führung! Ich
hoffe, der große Uglúk wird uns auch wieder hinausführen.«
»Setzt diese Halblinge ab!« befahl Uglúk, ohne sich um Grischnákh zu
kümmern. »Du, Lugdusch, hole noch zwei andere und bewache sie. Sie
dürfen nicht getötet werden, es sei denn, die dreckigen Weißhäute bre-
chen durch. Verstanden? Solange ich am Leben bin, will ich sie haben.
Aber sie dürfen nicht schreien, und sie dürfen nicht befreit werden. Bin-
det ihnen die Beine!«
Der letzte Teil des Befehls wurde unbarmherzig ausgeführt. Aber Pip-
pin stellte fest, daß er zum erstenmal dicht bei Merry war. Die Orks
machten einen gewaltigen Lärm, brüllten und rasselten mit ihren Waffen,
und die Hobbits konnten eine Weile miteinander tuscheln.
»Ich halte nicht viel von alledem«, sagte Merry. »Ich bin ziemlich fer-
tig. Ich könnte wohl kaum weit wegkriechen, selbst wenn ich frei wäre.«
»Lembas*, flüsterte Pippin. »Lembas: ich habe welche. Du auch? Ich
glaube nicht, daß sie uns etwas abgenommen haben außer unseren
Schwertern.«
»Ja, ich hatte ein Päckchen in der Tasche«, antwortete Merry, »aber es
muß völlig zerkrümelt sein. Außerdem kann ich meinen Mund nicht in
die Tasche stecken!«
»Brauchst du auch nicht. Ich habe ...« Aber in diesem Augenblick
zeigte ihm ein roher Tritt, daß der Lärm sich gelegt hatte und die Bewa-
cher aufpaßten.
Die Nacht war kalt und still. Rings um den Hügel, auf dem sich die
Orks gesammelt hatten, wurden kleine Wachfeuer angezündet, rotgolden
in der Dunkelheit, ein vollkommener Kreis. Sie lagen in Reichweite eines
weiten Bogenschusses, aber die Reiter ließen sich nicht im Hellen sehen,
und die Orks vergeudeten viele Pfeile, als sie auf die Feuer zielten, bis
Uglúk es ihnen untersagte. Die Reiter machten kein Geräusch. Später in
der Nacht, als der Mond aus dem Nebel heraustrat, konnte man sie gele-
gentlich sehen, schattenhafte Gestalten, die während ihrer unaufhörlichen
Runden dann und wann in dem weißen Licht aufschimmerten.
»Sie wollen auf die Sonne warten, verflucht sollen sie sein!« brummte
einer der Bewacher. »Warum scharen wir uns nicht zusammen und bre-
chen durch? Was denkt sich der alte Uglúk eigentlich, das möchte ich
gern mal wissen!«
»So, möchtest du?« fauchte Uglúk, der von hinten herankam. »Du
glaubst wohl, ich denke überhaupt nicht, was? Verflucht sollst du sein!
Du bist ebenso schlecht wie der andere Haufen: die Maden und die Affen
aus Lugbúrz. Zwecklos zu versuchen, mit ihnen anzugreifen. Sie würden
bloß winseln und ausreißen, und da sind mehr als genug von diesen drek-
kigen Pferdejungen, um uns allesamt in der Ebene niederzumachen.
Es gibt nur eins, was diese Maden können: wie Holzbohrerkönnen sie im
Dunkeln sehen. Aber die Weißhäute haben bessere Nachtaugen als die mei-
sten Menschen, nach allem, was ich gehört habe; und vergeßt ihre Pferde
nicht! Sie können den Nachtwind sehen, heißt es. Immerhin gibt's noch et-
was, was diese feinen Burschen nicht wissen: Mauhúr und seine Jungs sind
im Wald, und sie müßten jetzt eigentlich jeden Augenblick auftauchen.«
Uglúks Worte genügten offenbar, um die Isengarter zu überzeugen,
aber die anderen Orks waren sowohl entmutigt als auch aufsässig. Sie
stellten ein paar Wachen auf, doch die meisten lagen auf dem Boden und
ruhten sich in der angenehmen Dunkelheit aus. Tatsächlich war es wieder
sehr dunkel geworden; denn der Mond war im Westen in dicken Wolken
verschwunden, und Pippin konnte in ein paar Fuß Entfernung nichts
sehen. Die Feuer warfen keinen Lichtschein auf den Hügel. Indes begnüg-
ten sich die Reiter nicht damit, nur auf die Morgendämmerung zu warten
und ihre Feinde ruhen zu lassen. Ein plötzlicher Aufschrei an der Ost-
seite der Kuppe zeigte, daß etwas nicht stimmte. Offenbar waren einige
der Menschen dicht herangeritten, von den Pferden heruntergeglitten, an
den Rand des Lagers gekrochen und hatten mehrere Orks getötet; dann
waren sie wieder verschwunden. Uglúk stürzte los, um eine wilde Flucht
zu verhindern.
Pippin und Merry setzten sich auf. Ihre Bewacher, Isengarter, waren
mit Uglúk mitgegangen. Aber wenn die Hobbits irgendwie an ein Entrin-
nen gedacht hatten, dann wurde ihre Hoffnung bald zunichte. Ein langer,
haariger Arm packte sie beide am Hals und zog sie nahe zueinander. Un-
deutlich sahen sie Grischnákhs großen Kopf und sein abscheuliches Ge-
sicht zwischen ihnen; sein stinkiger Atem war auf ihren Wangen. Er be-
gann, sie zu betatschen und zu befühlen. Pippin erschauerte, als harte,
kalte Finger seinen Rücken entlangfuhren.
»Nun, meine Kleinen!« flüsterte Grischnákh leise. »Genießt ihr die
hübsche Rast? Oder nicht? Vielleicht ist der Ort ein wenig ungemütlich:
Schwerter und Peitschen auf der einen Seite und garstige Speere auf der
anderen! Kleine Leute sollten sich nicht in Angelegenheiten einmischen,
die zu groß für sie sind.« Seine Finger tasteten immer noch. Ein Glanz
wie von einem schwachen, aber heißen Feuer war in seinen Augen.
Plötzlich schoß Pippin ein Gedanke durch den Kopf, als ob er ihn un-
mittelbar von dem hartnäckigen Gedanken seines Feindes aufgefangen
habe: »Grischnákh weiß von dem Ring! Er sucht nach ihm, während
Uglúk beschäftigt ist: wahrscheinlich will er ihn selbst haben.« Kalte
Furcht war in Pippins Herzen, doch gleichzeitig überlegte er, wie er Gri-
schnákhs Verlangen für sich ausnützen könne.
»Ich glaube nicht, daß du ihn auf diese Weise findest«, flüsterte er. »Er
ist nicht leicht zu finden.«
»Ihn finden?« fragte Grischnákh. Seine Finger hörten auf zu krabbeln,
und packten Pippins Schulter. »Was finden? Wovon redest du denn, Klei-
ner?«
Einen Augenblick schwieg Pippin. Dann plötzlich gab er in der Dun-
kelheit ein kehliges Geräusch von sich: gollum, gollum. »Nichts, mein
Schatz«, fügte er hinzu.
Die Hobbits spürten, wie Grischnákhs Finger zuckten. »Oho!« zischte
der Bilwiß leise. »Das meint er, nicht wahr? Oho! Sehr, sehr gefährlich,
meine Kleinen.«
»Vielleicht«, sagte Merry, jetzt ganz auf der Hut, denn er hatte Pippins
Vermutung erraten. »Vielleicht, und nicht nur für uns. Immerhin weißt du
am besten, was du zu tun hast. Du willst ihn haben, oder nicht? Und was
würdest du für ihn geben?«
»Will ich ihn? Will ich ihn?« fragte Grischnákh, als ob er verblüfft sei;
aber seine Arme zitterten. »Was ich dafür geben würde? Was meint ihr
damit?«
»Wir meinen«, sagte Pippin und wählte seine Worte vorsichtig, »daß es
keinen Zweck hat, im Dunkeln zu tappen. Wir könnten dir Zeit und
Mühe sparen. Aber zuerst mußt du unsere Beine losbinden, oder wir tun
gar nichts und sagen nichts.«
»Meine lieben, empfindlichen kleinen Narren«, zischte Grischnákh,
»alles, was ihr habt, und alles, was ihr wißt, wird zur rechten Zeit schon
aus euch herausgeholt werden: alles! Ihr werdet wünschen, daß es mehr
gäbe, was ihr sagen könntet, um den Verhörenden zufriedenzustellen, das
werdet ihr wirklich wünschen: ziemlich bald. Wir werden die Untersu-
chung nicht überstürzen. O ganz gewiß nicht! Was glaubt ihr denn,
warum ihr am Leben gelassen wurdet? Meine lieben kleinen Burschen,
bitte glaubt mir, wenn ich sage, daß es nicht aus Freundlichkeit geschah:
das ist nicht einmal einer von Uglúks Fehlem.«
»Es fällt mir nicht schwer, es zu glauben«, sagte Merry. »Aber ihr
habt eure Beute noch nicht zuhause. Und es sieht nicht so aus, als ob sie
deinen Weg einschlägt. Wenn wir nach Isengart kommen, dann wird es
nicht der große Grischnákh sein, der daraus Vorteil zieht: Saruman
wird alles nehmen, was er finden kann. Wenn du etwas für dich haben
willst, ist jetzt der Augenblick, etwas zu tun.«
Grischnákh geriet allmählich in Wut. Der Name Saruman schien ihn
besonders zu erbosen. Die Zeit verging, und die Unruhe legte sich. Uglúk
oder die Isengarter konnten jede Minute zurückkommen. »Habt ihr ihn —
einer von euch?« knurrte er.
"Gollum, gollum", sagte Pippin.
»Binde unsere Beine los!« sagte Merry.
Sie spürten, wie die Arme des Orks heftig zitterten. »Verflucht sollt
ihr sein, ihr dreckiges kleines Ungeziefer!« zischte er. »Eure Beine losbin-
den? Jede Sehne eures Körpers werde ich losbinden. Glaubt ihr, ich kann
euch nicht bis auf die Knochen durchsuchen? Euch durchsuchen? Ich
werde euch beide in zuckende Fetzen schneiden. Ich brauche die Hilfe
eurer Beine nicht, um euch wegzubringen — und euch ganz für mich zu
haben!«
Plötzlich packte er sie. Die Kraft in seinen langen Armen und Schul-
tern war entsetzlich. Er klemmte jeden von ihnen in eine Achselhöhle
und preßte sie heftig an seine Seiten; eine große, erstickende Hand legte
sich ihnen beiden auf den Mund. Dann sprang er, tiefgebückt, vorwärts.
Rasch und still ging er, bis er an den Rand des Hügels kam. Dort suchte
er sich eine Lücke zwischen den Wachtposten aus und verschwand wie
ein böser Schatten in der Nacht, den Abhang hinunter und dann nach
Westen auf den Fluß zu, der aus dem Wald herausströmte. In dieser Rich-
tung war ein breiter, offener Raum mit nur einem Feuer.
Nach etwa einem halben Dutzend Klaftern hielt er an, schaute sich um
und horchte. Nichts war zu sehen oder zu hören. Er kroch langsam wei-
ter, fast ganz zusammengekrümmt. Dann hockte er sich hin und lauschte
wieder. Dann aber stand er auf, als wollte er einen plötzlichen Vorstoß
wagen. In eben diesem Augenblick tauchte die dunkle Gestalt eines Rei-
ters genau vor ihm auf. Ein Pferd schnaubte und bäumte sich auf. Ein
Mann stieß einen Ruf aus.
Grischnákh warf sich platt auf den Boden und zerrte die Hobbits unter
sich; dann zog er sein Schwert. Zweifellos wollte er seine Gefangenen
eher töten als zulassen, daß sie entkommen oder befreit werden. Aber es
war sein Verderben. Das Schwert klirrte schwach und glänzte ein wenig
im Schein des Feuers, das weit weg zu seiner Linken war. Ein Pfeil kam
aus der Dunkelheit angeschwirrt: er war geschickt gezielt oder vom
Schicksal gelenkt und durchbohrte seine rechte Hand. Grischnákh ließ das
Schwert fallen und schrie auf. Man hörte ein rasches Stampfen von
Hufen, und gerade, als Grischnákh aufsprang und lief, wurde er niederge-
ritten und von einem Speer durchbohrt. Er stieß einen häßlichen zittern-
den Schrei aus und lag still.
Die Hobbits blieben platt auf dem Boden, wie Grischnákh sie hatte lie-
gen lassen. Noch ein Reiter kam rasch herbei, um seinem Gefährten zu
helfen. Ob es nun an einem besonders guten Sehvermögen oder an einer
anderen Sinneswahrnehmung lag, jedenfalls stieg das Pferd und sprang
leichtfüßig über sie hinweg; aber sein Reiter sah sie nicht, wie sie da in
ihren Elbenmänteln lagen, zu verstört im Augenblick und zu verängstigt,
um sich zu rühren.
Schließlich regte Merry sich und flüsterte leise: »Bisher ist es ja ganz gut
gegangen. Aber wie sollen wir der Gefahr entgehen, aufgespießt zu werden?«
Die Antwort kam fast sofort. Die Schreie von Grischnákh hatten die
Orks aufgeschreckt. Aus dem Geheul und Gekreische, das von dem
Hügel herüberdrang, entnahmen die Hobbits, daß ihr Verschwinden ent-
deckt worden war: Uglúk schlug vermutlich noch ein paar Köpfe ab.
Dann plötzlich kamen antwortende Rufe von Orkstimmen von rechts,
außerhalb des Kreises von Wachtfeuern, aus der Richtung des Waldes und
des Gebirges. Offenbar war Mauhúr gekommen und griff die Belagerer
an. Man hörte Pferde galoppieren. Die Reiter zogen ihren Ring enger um
die Kuppe und nahmen die Gefahr der Orkpfeile auf sich, um jeden
Ausfall zu verhindern, während eine Gruppe fortritt, um sich mit den
Neuankömmlingen auseinanderzusetzen. Plötzlich merkten Merry und
Pippin, daß sie, ohne sich fortzubewegen, nun außerhalb des Kreises
waren: nichts lag zwischen ihnen und der Flucht.
»Wenn wir«, sagte Merry, »nur die Beine und Hände frei hätten, dann
könnten wir jetzt entkommen. Aber ich kann an die Knoten nicht heran
und sie auch nicht durchbeißen.«
»Nicht nötig, es zu versuchen«, sagte Pippin. »Das wollte ich dir vor-
hin sagen: ich konnte meine Hände frei bekommen. Diese Schlingen sind
bloß zur Tarnung drangelassen. Aber iß lieber erst ein wenig lembas.«
Er streifte den Strick vom Handgelenk und holte ein Päckchen heraus.
Die Kuchen waren zerbrochen, aber noch frisch in ihrer Blätterumhül-
lung. Die Hobbits aßen jeder zwei oder drei Stück. Der Geschmack rief
ihnen wieder schöne Gesichter und Gelächter und gesunde Kost aus weit
zurückliegenden ruhigen Tagen ins Gedächtnis. Eine Weile aßen sie nach-
denklich, saßen im Dunklen und achteten nicht auf die Schreie und Ge-
räusche der nahen Schlacht. Pippin kehrte als erster wieder in die Gegen-
wart zurück.
»Wir müssen fort«, sagte er. »Einen kleinen Augenblick!« Grisch-
nákhs Schwert lag ganz dicht bei, aber es war zu schwer und unhand-
lich für ihn; deshalb kroch er weiter, und als er den Leichnam des Bilwiß
fand, zog er ein langes scharfes Messer aus seiner Scheide. Damit zer-
schnitt er rasch ihre Fesseln.
»Nun aber los!« sagte er. »Wenn wir uns ein bißchen warm gemacht
haben, können wir vielleicht sogar wieder stehen und gehen. Aber jeden-
falls fangen wir lieber mit Kriechen an.«
Sie krochen. Die Grasnarbe war tief und federnd, und das half ihnen;
aber es war ein langwieriges, mühseliges Geschäft. Sie machten einen
großen Bogen um das Wachtfeuer und arbeiteten sich Stück für Stück
vor, bis sie zum Fluß kamen, der in den schwarzen Schatten unter seinen
steilen Ufern dahinströmte. Dann schauten sie zurück.
Die Geräusche hatten sich gelegt. Offenbar waren Mauhúr und seine
»Jungs« getötet oder vertrieben worden. Die Reiter hatten ihre stille, be-
drohliche Wache wieder aufgenommen. Sie würde nicht mehr sehr lange
dauern. Schon ging die Nacht ihrem Ende entgegen. Im Osten, der unbe-
wölkt geblieben war, begann der Himmel bleich zu werden.
»Wir müssen in Deckung gehen«, sagte Pippin, »sonst werden wir ge-
sehen. Es wird kein Trost für uns sein, wenn diese Reiter entdecken, daß
wir keine Orks sind, nachdem wir tot sind.« Er erhob sich und stampfte
mit den Füßen auf. »Diese Stricke haben mich wie Draht eingeschnürt;
aber meine Füße werden wieder wann. Ich könnte jetzt weitertorkeln. Wie
steht's mit dir, Merry?«
Merry stand auf. »Ja«, sagte er, »ich kann's schaffen. Lembas geben
einem wirklich neuen Mut. Und außerdem ein gesünderes Gefühl als die
Hitze dieses Ork-Tranks. Woraus der wohl bestehen mag? Aber ich
nehme an, es ist besser, es nicht zu wissen. Laß uns einen Schluck Wasser
trinken, um den Gedanken daran fortzuspülen.«
»Nicht hier, die Ufer sind zu steil«, sagte Pippin. »Nun vorwärts!«
Sie wandten sich um und gingen jetzt nebeneinander langsam den
Flußlauf entlang. Hinter ihnen nahm das Licht im Osten zu. Während sie
gingen, tauschten sie ihre Gedanken aus und redeten nach Hobbit Art
leichthin von dem, was ihnen seit ihrer Gefangennahme widerfahren war.
Kein Zuhörer hätte aus ihren Worten entnommen, daß sie grausam
gelitten hatten, in entsetzlicher Gefahr und ohne Hoffnung gewesen
waren, Folter und Tod zu entgehen; oder daß auch jetzt, wie sie genau
wußten, wenig Aussicht bestand, daß sie jemals wieder ihre Freunde fin-
den und in Sicherheit sein würden.
»Du scheinst deine Sache gut gemacht zu haben, Herr Tuk«, sagte
Merry. »Fast ein ganzes Kapitel im Buch des alten Bilbo wirst du bekom-
men, wenn ich je Gelegenheit habe, es ihm zu berichten. Gute Arbeit:
vor allem, daß du erraten hast, was das haarige Scheusal im Schilde
rührte, und ihm um den Bart gegangen bist. Aber ich frage mich, ob
irgend jemand unsere Spur verfolgen und jemals die Brosche finden
wird. Mir wäre es gräßlich, meine zu verlieren, doch deine, fürchte ich, ist
endgültig weg.
Ich werde mich ein bißchen anstrengen müssen, um mit dir gleichzuzie-
hen. In der Tat wird Vetter Brandybock jetzt vorangehen. Nun ist die
Reihe an ihm. Ich vermute, du hast nicht viel Ahnung, wo wir sind; aber
ich habe meine Zeit in Bruchtal besser ausgenützt. Wir befinden uns
westlich der Entwasser. Das dicke Ende des Nebelgebirges liegt vor uns,
und der Fangorn-Wald.«
Während er noch sprach, ragte unmittelbar vor ihnen der dunkle Saum
des Waldes drohend auf. Die Nacht schien unter seinen grünen Bäumen
Zuflucht gesucht zu haben und vor der kommenden Morgendämmerung
davonzukriechen.
»Geh voran, Herr Brandybock!« sagt Pippin. »Oder geh zurück! Wir
sind vor Fangorn gewarnt worden. Aber einer, der so klug ist, wird das
nicht vergessen haben.«
»Habe ich nicht«, antwortete Merry, »doch der Wald scheint mir trotz-
dem noch besser zu sein, als umzukehren und mitten in eine Schlacht zu
geraten.«
Er führte Pippin unter die riesigen Zweige der Bäume. Wie alt sie
waren, ließ sich nicht erraten. Lange, schleppende Barte von Flechten hin-
gen an ihnen herab, die sich in dem leichten Wind hin- und herwiegten.
Aus den Schatten spähten die Hobbits hinaus und blickten hinunter auf
den Hang: kleine, heimliche Gestalten, und in dem dämmrigen Licht
sahen sie wie Elbenkinder aus, die auf dem Grund der Zeit voll Staunen
aus dem Wilden Wald herausschauen und ihre erste Morgendämmerung
erblicken.
Weit hinter dem Großen Strom und den Braunen Landen, Wegstunden
über graue Wegstunden entfernt, kam die Morgendämmerung, rot wie
eine Flamme. Laut erschallten die Jagdhörner, sie zu grüßen. Die Reiter
von Rohan wurden plötzlich lebendig. Ein Horn antwortete wiederum
dem anderen.
In der kalten Luft hörten Merry und Pippin deutlich das Wiehern von
Schlachtrossen und das plötzliche Singen vieler Männer. Der Rand der
Sonne erhob sich, ein Feuerbogen, über den Saum der Welt. Dann griffen
die Reiter mit einem Schlachtruf vom Osten aus an; das rote Licht glänzte
auf Panzerhemden und Speeren. Die Orks schrien und schössen alle Pfeile
ab, die ihnen geblieben waren. Die Hobbits sahen mehrere Reiter fallen;
aber die anderen sprengten den Berg hinauf und über ihn hinweg und
schwenkten ab und griffen von neuem an. Die meisten Orks, die noch am
Leben war, gerieten in Unordnung und flohen, hierhin und dorthin, und
einer nach dem anderen wurden sie verfolgt bis zum Tod. Aber eine
Schar, die sich zu einem schwarzen Keil zusammengerottet hatte, rannte
entschlossen in Richtung auf den Wald. Geradenwegs den Hang hinauf
stürmten sie auf die Beobachter zu. Jetzt kamen sie näher, und es schien
sicher zu sein, daß sie entkommen würden: schon hatten sie drei Reiter
niedergehauen, die ihnen den Weg verlegten.
»Wir haben zu lange zugeschaut«, sagte Merry. »Da ist Uglúk! Ich will
ihn nicht wiedertreffen.« Die Hobbits wandten sich ab und flohen tief
hinein in den schattigen Wald.
So kam es, daß sie den letzten Kampf nicht sahen, als Uglúk eingeholt
und genau am Saum von Fangorn gestellt wurde. Dort wurde er schließ-
lich von Éomer, dem Dritten Marschall von Rohan, erschlagen, der abge-
sessen war und mit ihm Schwert gegen Schwert kämpfte. Und über die
weiten Weiden jagten die scharfäugigen Reiter die wenigen Orks, die
entkommen waren und noch Kraft hatten, zu fliehen.
Als sie dann ihre gefallenen Gefährten in ein Hügelgrab gelegt und die
Heldenklage gesungen hatten, machten die Reiter ein großes Feuer und
zerstreuten die Asche ihrer Feinde. So endete der Streifzug, und keine
Kunde davon gelangte jemals nach Mordor oder Isengart; doch der Rauch
des Brandes stieg zum Himmel empor und wurde von vielen wachsamen
Augen gesehen.

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