ZWEITES KAPITEL
DIE REITER VON ROHAN
Die Dämmerung wurde dunkler. Nebel hing hinter ihnen zwischen den
tiefer stehenden Bäumen und schwebte über den bleichen Rändern des
Anduin, doch war der Himmel klar. Sterne kamen hervor. Der zuneh-
mende Mond stand im Westen, und die Schatten der Felsen waren
schwarz. Sie hatten den Fuß steiniger Berge erreicht, und ihr Schritt
wurde langsamer, denn es war nicht mehr so einfach, der Spur zu folgen.
Hier erstreckten sich die Ausläufer des Emyn Muil in zwei langen, zer-
klüfteten Höhenzügen. Die westliche Seite der beiden Höhenzüge war
steil und beschwerlich, doch die östlichen Hänge waren sanfter, durch-
furcht von vielen Wasserrinnen und schmalen Schluchten. Die ganze
Nacht kletterten die drei Gefährten durch dieses öde Land, erklommen den
Kamm des ersten und höchsten Höhenzuges und stiegen wieder hinunter
in die Dunkelheit eines riefen, gewundenen Tals auf der anderen Seite.
In der stillen, kalten Stunde vor dem Morgengrauen hielten sie dort
eine kurze Rast. Vor ihnen war der Mond schon untergegangen, und über
ihnen funkelten die Sterne; hinter ihnen war das Licht des Tages noch
nicht über die dunklen Berge heraufgekommen. Einen Augenblick war
Aragorn ratlos: die Spur der Orks hatte in das Tal hinuntergeführt, dort
aber war sie verschwunden.
»In welcher Richtung werden sie gegangen sein, was glaubst du?«
fragte Legolas. »Nach Norden, um einen geraderen Weg nach Isengart
einzuschlagen, oder nach Fangorn, wenn das, wie du vermutest, ihr Ziel
ist? Oder nach Süden, um auf die Entwasser zu stoßen?«
»Auf den Fluß werden sie nicht zuhalten, welches ihr Ziel auch immer
sein mag«, sagte Aragorn. »Und sofern die Dinge in Rohan nicht sehr
schlecht stehen und Sarumans Macht nicht erheblich zugenommen hat,
werden sie den kürzesten Weg nehmen, den sie finden können, über die
Weiden der Rohirrim. Laßt uns im Norden suchen!«
Das Tal lag wie ein steinerner Trog zwischen den Berggraten, und ein
schmaler Bach rieselte zwischen Findlingen auf der Talsohle. Eine
Felswand drohte zu ihrer Rechten; zur Linken erhoben sich graue Hänge,
undeutlich und schattenhaft in der späten Nacht. Sie gingen weiter, eine
Meile oder mehr nach Norden. Aragorn suchte, zum Boden gebückt, zwi-
schen den Bodenfalten und Wasserrinnen, die zu dem westlichen Kamm
führten. Legolas war ein Stück voraus. Plötzlich stieß der Elb einen Ruf
aus, und die anderen rannten zu ihm.
»Wir haben schon einige überholt von denen, die wir suchen«, sagte er.
»Schaut!« Er zeigte auf etwas, und sie sahen, daß das, was sie zuerst für
Findlinge gehalten hatten, die am Fuß des Abhangs lagen, zusammenge-
kauerte Körper waren. Fünf tote Orks lagen da. Sie waren mit vielen
grausamen Hieben niedergestreckt, und zweien war der Kopf abgeschla-
gen worden. Der Boden war naß von ihrem dunklen Blut.
»Hier ist ein weiteres Rätsel«, sagte Gimli. »Aber es bedarf des Tages-
lichts, und darauf können wir nicht warten.«
»Und dennoch, wie immer du es auslegst, es scheint nicht ohne Hoff-
nung zu sein«, sagte Legolas. »Feinde der Orks sind vermutlich unsere
Freunde. Lebt irgend jemand in diesen Bergen?«
»Nein«, sagte Aragorn. »Die Rohirrim kommen selten hierher, und
von Minas Tirith ist es weit. Vielleicht haben irgendwelche Menschen
aus Gründen, die wir nicht kennen, hier gejagt. Indes glaube ich es nicht.«
»Was glaubst du denn?« fragte Gimli.
»Ich glaube, daß der Feind seinen eigenen Feind mitgebracht hat«, ant-
wortete Aragorn. »Diese hier sind Nördliche Orks von weither. Unter
den Erschlagenen sind keine der großen Orks mit den seltsamen Zeichen.
Es hat Streit gegeben, vermute ich: nichts Ungewöhnliches bei diesem ab-
scheulichen Volk. Vielleicht gab es eine Meinungsverschiedenheit über
den Weg.«
»Oder über die Gefangenen«, sagte Gimli. »Hoffen wir, daß nicht auch
sie hier den Tod gefunden haben.«
Aragorn suchte den Boden in einem großen Kreis ab, aber keine ande-
ren Spuren des Kampfes waren zu sehen. Sie gingen weiter. Schon wurde
der östliche Himmel fahl; die Sterne verblaßten, und ein graues Licht
breitete sich langsam aus. Etwas weiter nördlich kamen sie zu einer
Bodenfalte, in der ein winziger Bach, herabstürzend und sich windend,
einen steinigen Pfad hinunter in das Tal gebahnt hatte. Dort wuchsen ein
paar Büsche und an den Seiten stellenweise Gras.
»Endlich!« sagte Aragorn. »Hier sind die Spuren, die wir suchen.
Diese Wasserrinne hinauf: das ist der Weg, den die Orks nach ihrer
Auseinandersetzung eingeschlagen haben.«
Rasch folgten die Jäger jetzt dem neuen Pfad. Als seien sie erfrischt
nach nächtlicher Ruhe, sprangen sie von Stein zu Stein. Schließlich er-
reichten sie die Kuppe des grauen Bergs, und eine plötzliche Brise ließ ihr
Haar wehen und erfaßte ihre Mäntel: der kalte Wind der Morgendämme-
rung.
Als sie sich umwandten, sahen sie jenseits des Flusses die fernen Berge
in Flammen. Der Tag nahm den Himmel in Besitz. Der rote Rand der
Sonne stieg über die Grate des dunklen Landes. Vor ihnen im Westen lag
die Welt still, formlos und grau; aber während sie noch schauten, lösten
sich die Schatten der Nacht auf, die Farben der erwachenden Erde kehrten
zurück: Grün überflutete die weiten Wiesen von Rohan; der weiße Nebel
schimmerte in den Wassertälern; und zur Linken erhob sich blau und
purpurrot in weiter Feme, dreißig oder mehr Meilen mochten es sein, das
Weiße Gebirge, und seine kohlschwarzen Gipfel waren mit schimmern-
dem Schnee bedeckt und von der Morgenröte rosig überhaucht.
»Gondor! Gondor!« rief Aragorn. »Ich wollte, ich hätte dich in einer
glücklicheren Stunde wiedergesehen! Noch führt mein Weg nicht süd-
wärts zu deinen klaren Strömen.
Gondor! Gondor vom Gebirg zum Küstenstrich!
Westwind wehte; das Licht der Königsgärten glich
Hellem Regen: so fiel es auf den Silberbaum
Einstmals. Türme, Thron und Krone, goldner Traum!
Gondor! Gondor! Wird der Westwind wieder wehn?
Werden Menschen den Silberbaum dort wiedersehn?
»Nun laßt uns gehen!« sagte er, wandte seinen Blick vom Süden ab
und hielt im Westen und Norden nach dem Weg Ausschau, den er ein-
schlagen mußte.
Der Grat, auf dem die Gefährten standen, fiel vor ihren Füßen jäh ab.
Zwanzig Klafter oder mehr unter ihm lag ein breiter und zerklüfteter Fel-
senvorsprung, der plötzlich in den Rand einer steilen Felswand auslief:
der Ostwall von Rohan. So endete der Emyn Muil, und die grünen Ebenen
der Rohirrim erstreckten sich vor ihnen, soweit das Auge reichte.
»Schaut!« rief Legolas und wies hinauf in den blassen Himmel. »Da ist
der Adler wieder! Er ist sehr hoch. Er scheint jetzt fortzufliegen aus die-
sem Land zurück nach dem Norden. Er bewegt sich mit großer Schnellig-
keit. Schaut!«
»Nein, nicht einmal meine Augen können ihn sehen, mein guter Lego-
las«, sagte Aragorn. »Er muß wahrlich hoch droben sein. Ich frage mich,
welchen Auftrag er hat, wenn es derselbe Vogel ist, den ich schon zuvor
gesehen habe. Doch schaut! Ich sehe etwas, das näher ist und dringender;
dort auf der Ebene bewegt sich etwas!«
»Vieles«, sagte Legolas. »Es ist eine große Schar zu Fuß, aber mehr
kann ich nicht sagen und auch nicht sehen, was für Leute es sein mögen.
Sie sind noch viele Wegstunden entfernt: zwölf, vermute ich; aber bei der
Flachheit der Ebene läßt sich die Entfernung schwer schätzen.«
»Dennoch glaube ich, daß wir nicht länger irgendeine Spur brauchen,
die uns sagt, welchen Weg wir gehen sollen«, sagte Gimli. »Laßt uns so
rasch als möglich einen Pfad hinunter zu den Weiden finden.«
»Ich bezweifle, ob wir einen rascheren Pfad finden werden als den von
den Orks gewählten«, sagte Aragorn.
Sie folgten ihren Feinden nun bei hellem Tageslicht. Es schien, daß die
Orks mit größtmöglicher Schnelligkeit vorwärts gehastet waren. Ab und
zu fanden die Verfolger Dinge, die fallengelassen oder weggeworfen wor-
den waren: Beutel mit Wegzehrung, Rinden und Kanten von hartem,
grauem Brot, einen zerrissenen, schwarzen Mantel, einen schweren, eisen-
beschlagenen Schuh, der auf den Steinen entzwei gegangen war. Die Spur
führte sie nach Norden am Kamm des Steilhangs entlang, und schließlich
kamen sie zu einer tiefen Spalte, die ein geräuschvoll herabsprudelnder
Bach in den Fels eingeschnitten hatte. In der schmalen Schlucht führte ein
holpriger Pfad wie eine Treppe hinunter in die Ebene.
Unten kamen sie mit einer seltsamen Plötzlichkeit auf das Gras von
Rohan. Wie ein grünes Meer wogte es bis zum Fuß des Emyn Muil. Der
herabstürzende Bach verschwand im dichten Wuchs von Kresse und Was-
serpflanzen, und sie hörten ihn unter dem Grün dahinplätschern, lange
sanfte Abhänge hinunter zu den Sümpfen im fernen Tal der Entwasser. Den
Winter, der sich noch in den Bergen hielt, schienen sie hinter sich gelassen
zu haben. Hier war die Luft weicher und wärmer und duftete schwach, als
ob sich der Frühling schon rege und der Saft wieder steige in Kraut und
Blatt. Legolas holte tief Luft wie einer, der nach langem Dürsten in kar-
gen Gegenden einen kräftigen Schluck trinkt.
»Ah, der frische Duft«, sagte er. »Das ist besser als viel Schlaf. Laßt
uns laufen!«
»Leichte Füße mögen hier geschwind laufen«, sagte Aragorn. »Ge-
schwinder vielleicht als eisenbeschuhte Orks. Jetzt haben wir Aussicht,
ihren Vorsprung zu verringern.«
Einer hinter dem anderen liefen sie wie Jagdhunde auf einer frischen
Fährte, und ihre Augen leuchteten vor Ungeduld. Fast genau nach Westen
hatten die marschierenden Orks ihre häßliche, breite Spur getrampelt; das
duftige Gras von Rohan war zertreten und schwarz geworden, als sie vorüber-
gingen. Plötzlich stieß Aragorn einen Schrei aus und wandte sich zur Seite.
»Bleibt!« rief er. »Folgt mir noch nicht!« Er rannte rasch nach rechts,
fort von der Hauptspur; denn er hatte dort Fußstapfen gesehen, die sich
von den anderen entfernten, die Abdrücke kleiner, unbeschuhter Füße.
Allerdings waren sie nicht weit gelangt, ehe sie von Ork-Abdrücken ein-
geholt wurden, die von vom und von hinten von der Hauptspur gekom-
men waren und gleich wieder umkehrten und sich in dem Getrampel ver-
loren. An der entferntesten Stelle bückte sich Aragorn und hob etwas
vom Gras auf; dann lief er zurück.
»Ja«, sagte er, »es ist ganz klar: die Fußstapfen eines Hobbits. Pippins,
glaube ich. Er ist kleiner als der andere. Und schaut euch das an!« Er hielt
etwas hoch, das im Sonnenschein glitzerte. Es sah aus wie ein Buchen-
blatt, das sich gerade geöffnet hatte, schön und fremdartig in der baumlo-
sen Ebene.
»Die Brosche eines Elbenmantels!« riefen Legolas und Gimli wie aus
einem Munde.
»Nicht zwecklos fallen Lóriens Blätter«, sagte Aragorn. »Dieses ging
nicht zufällig verloren: es ist fortgeworfen worden als Zeichen für irgend
jemanden, der folgen könnte. Ich glaube, Pippin ist zu diesem Zweck von
der Spur fortgelaufen.«
»Dann war er wenigstens am Leben«, sagte Gimli. »Und konnte seinen
Verstand gebrauchen, und seine Beine auch. Das ist ermutigend. Unsere
Verfolgung ist nicht vergeblich.«
»Hoffen wir, daß er für seine Kühnheit nicht zu teuer bezahlen mußte«,
sagte Legolas. »Kommt! Laßt uns weitergehen. Der Gedanke an diese fröh-
lichen jungen Leute, die wie Vieh dahingetrieben werden, tut mir in der
Seele weh.«
Die Sonne erklomm den Mittag und zog dann am Himmel langsam ab-
wärts. Leichte Wolken trieben vom Meer im fernen Süden herauf und
wurden vom Wind fortgeblasen. Die Sonne sank. Schatten stiegen in der
Feme auf und streckten vom Osten her lange Arme aus. Noch gaben die
Jäger nicht auf. Ein Tag war jetzt vergangen, seit Boromir fiel, und die
Orks waren noch weit voraus. Es war nichts mehr von ihnen zu sehen in
dem ebenen Flachland.
Als die Schatten der Nacht sie umschlossen, hielt Aragorn an. Nur
zweimal während des Tagesmarschs hatten sie eine kurze Weile gerastet,
und zwölf Meilen lagen jetzt zwischen ihnen und dem östlichen Wall, wo
sie im Morgengrauen gestanden hatten.
»Eine schwierige Entscheidung liegt jetzt vor uns«, sagte er. »Sollen
wir bei Nacht ruhen oder weitergehen, solange unser Wille und unsere
Kraft reichen?«
»Sofern unsere Feinde nicht auch ruhen, werden sie uns weit zurücklas-
sen, wenn wir hierbleiben, um zu schlafen«, sagte Legolas.
»Sicher werden doch selbst Orks auf dem Marsch eine Rast machen
müssen?« fragte Gimli.
»Selten wandern Orks in der Sonne durch offenes Land, doch diese
haben es getan«, sagte Legolas. »Gewiß werden sie des Nachts nicht
ruhen.«
»Aber wenn sie des Nachts laufen, können wir ihrer Spur nicht fol-
gen«, sagte Gimli.
»Die Spur verläuft ganz gerade und geht weder nach rechts noch nach
links, soweit meine Augen sehen können«, sagte Legolas.
»Vielleicht könnte ich euch aufs Geratewohl in der Dunkelheit führen
und die Richtung einhalten«, sagte Aragorn. »Aber wenn wir uns verir-
ren oder sie abbiegen, dann könnte es, wenn es hell wird, lange dauern,
bis wir die Spur wiederfinden.«
»Und auch das ist zu bedenken«, sagte Gimli, »nur bei Tage können
wir irgendwelche Spuren sehen, die vom Wege fortführen. Sollte ein Ge-
fangener entkommen oder einer weggeschleppt werden nach Osten, sagen
wir zum Großen Strom, nach Mordor, dann könnten wir die Anzeichen
übersehen und es niemals erfahren.«
»Das ist wahr«, sagte Aragorn. »Aber wenn ich die Zeichen an jener
Stelle dort hinten richtig gelesen habe, dann setzten sich die Orks der
Weißen Hand durch, und die ganze Gruppe ist jetzt auf dem Weg nach
Isengart. Ihre bisherige Richtung bestätigt meine Annahme.«
»Dennoch wäre es voreilig, ihrer Absichten ganz sicher zu sein«, sagte
Gimli. »Und wie ist es mit dem Entkommen? Im Dunkeln wären wir an
den Zeichen vorbeigegangen, die dich zu der Brosche führten.«
»Die Orks werden jetzt doppelt auf der Hut sein, und die Gefangenen
noch müder«, sagte Legolas. »Es wird kein Entkommen mehr geben,
sofern wir es nicht zuwege bringen. Wie das bewerkstelligt werden soll,
läßt sich nicht mutmaßen, aber zuerst müssen wir sie einholen.«
»Doch selbst ich, Zwerg vieler Wanderungen und nicht der am wenig-
sten ausdauernde meines Volkes, kann nicht den ganzen Weg nach Isen-
gart ohne Rast zurücklegen«, sagte Gimli. »Auch mir tut die Seele weh,
und ich wäre gern früher aufgebrochen; aber jetzt muß ich ein wenig
ruhen, um besser laufen zu können. Und wenn wir rasten, dann ist die
sichtlose Nacht die richtige Zeit, es zu tun.«
»Ich sagte, es sei eine schwierige Entscheidung«, sagte Aragorn. »Wie
wollen wir diese Frage lösen?«
»Du bist unser Führer«, sagte Gimli, »und du bist erfahren in der Ver-
folgung. Du sollst entscheiden.«
»Mein Herz heißt mich weitergehen«, sagte Legolas. »Aber wir müssen
zusammenbleiben. Ich werde mich eurer Meinung anschließen.«
»Ihr überlaßt die Wahl einem schlechten Wähler«, sagte Aragorn.
»Seit wir durch Argonath gekommen sind, waren meine Entscheidungen
falsch.« Er schwieg und schaute lange nach Norden und Westen in die
dunkler werdende Nacht.
»Wir werden nicht im Dunkeln gehen«, sagte er schließlich. »Die Ge-
fahr, die Spur oder andere Zeichen des Kommens und Gehens zu überse-
hen, scheint mir die größere zu sein. Wenn der Mond hell genug wäre,
könnten wir sein Licht ausnützen, aber leider geht er früh unter und ist
noch schmal und bleich.«
»Und heute nacht ist er sowieso verhangen«, murmelte Gimli. »Ich
wünschte, die Herrin hätte uns ein solches Licht gegeben, wie sie es Frodo
geschenkt hat!«
»Es wird dort nötiger sein, wo es bewahrt wird«, sagte Aragorn. »Bei
ihm liegt die wahre Aufgabe. Die unsere ist nur eine kleine Angelegen-
heit unter den großen Tagen dieser Zeit. Eine vergebliche Verfolgung von
Anfang an, vielleicht, die keine Entscheidung von mir zum Scheitern ver-
urteilen oder zum Guten wenden kann. Nun, ich habe mich entschieden.
So laßt uns die Zeit nützen, so gut wir können!«
Er warf sich auf den Boden und schlief sofort ein, denn er hatte nicht
geschlafen seit jener Nacht unter dem Schatten von Tol Brandir. Ehe die
Morgendämmerung am Himmel erschien, wachte er auf und erhob sich.
Gimli schlummerte noch fest, aber Legolas stand schon und schaute nach
Norden in die Dunkelheit, nachdenklich und schweigend wie ein junger
Baum in einer windlosen Nacht.
»Sie sind weit, weit fort«, sagte er traurig und wandte sich zu Ara-
gorn. »Ich weiß es in meinem Herzen, daß sie in dieser Nacht nicht gera-
stet haben. Nur ein Adler könnte sie jetzt noch einholen.«
»Trotzdem werden wir ihnen folgen, so gut wir können«, sagte Ara-
gorn. Er bückte sich und weckte den Zwerg. »Komm! Wir müssen weiter«,
sagte er. »Die Fährte wird kalt.«
»Aber es ist noch dunkel«, sagte Gimli. »Selbst Legolas auf einer Berg-
kuppe könnte sie nicht sehen, ehe die Sonne aufgegangen ist.«
»Ich fürchte, sie sind so weit, daß mein Auge sie nicht vom Berg aus
noch in der Ebene, nicht unter dem Mond noch in der Sonne erblicken
kann«, sagte Legolas.
»Wenn das Auge versagt, bringt die Erde uns vielleicht Botschaft«,
sagte Aragorn. »Das Land muß stöhnen unter ihren verhaßten Füßen.«
Er streckte sich auf dem Boden aus und preßte das Ohr aufs Gras. Dort
lag er so lange reglos, daß Gimli sich fragte, ob er wohl ohnmächtig ge-
worden oder wieder eingeschlafen sei. Schimmernd kam die Morgendäm-
merung, und langsam breitete sich ein graues Licht um sie aus. Schließ-
lich stand Aragorn auf, und jetzt konnten seine Freunde sein Gesicht
sehen: es war bleich und eingefallen, und er sah verwirrt aus.
»Die Botschaft der Erde ist verschwommen und unklar«, sagte er.
»Nichts geht auf ihr auf viele Meilen im Umkreis. Schwach und fern sind
die Füße unserer Feinde. Aber laut sind die Hufe der Pferde. Mir fällt ein,
daß ich sie schon gehört habe, als ich noch im Schlaf auf dem Boden lag,
und sie störten meine Träume: galoppierende Pferde, die in den Westen
ritten. Aber jetzt entfernen sie sich noch weiter von uns und reiten nach
Norden. Ich frage mich, was in diesem Land geschieht!«
»Laßt uns gehen«, sagte Legolas.
So begann der dritte Tag ihrer Verfolgung. Während all ihrer langen
Stunden mit Wolken und launischer Sonne hielten sie kaum inne; bald
schritten sie kräftig aus, bald rannten sie, als ob keine Müdigkeit das
Feuer löschen könne, das sie verzehrte. Sie sprachen selten. Durch die
große Einsamkeit eilten sie dahin, und ihre Elbenmäntel waren wie Schat-
ten vor dem Hintergrund der graugrünen Wiesen; sogar im kalten Son-
nenschein des Mittags hätten nur wenige elbische Augen sie bemerkt,
ehe sie ganz nahe waren. Oft dankten sie in ihrem Herzen der Herrin von
Lórien für die Gabe der lembas, denn selbst beim Laufen konnten sie
davon essen und neue Kraft schöpfen.
Den ganzen Tag führte die Spur ihrer Feinde geradeaus nach Nordwe-
sten ohne eine Unterbrechung oder Abweichung. Als sich wiederum der
Tag seinem Ende zuneigte, kamen sie zu langen, baumlosen Abhängen;
das Land stieg an und zog sich zu einer Kette buckliger Hügel vor
ihnen hinaus. Die Orkspur wurde schwächer, als sie nach Norden zu
ihnen abschwenkte, denn der Boden war härter und das Gras kürzer. In
weiter Feme schlängelte sich zur Linken der Fluß Entwasser, ein silbernes
Band auf grünem Grund. Kein sich bewegendes Geschöpf war zu sehen.
Oft fragte sich Aragorn, warum sie keinerlei Anzeichen von Tier oder
Mensch sahen. Die Behausungen der Rohirrim lagen zumeist viele Weg-
stunden entfernt im Süden, unter den bewaldteten Ausläufern des Wei-
ßen Gebirges, das jetzt in Nebel und Wolken verborgen war; indes hatten
die Herren der Rösser früher viele Herden und Gestüte in Ostemnet un-
terhalten, diesem östlichen Teil ihres Bereichs, und die Hirten waren viel
gewandert und hatten sogar zur Winterszeit in Lagern und Zelten gelebt.
Doch jetzt war das ganze Land verlassen, und es herrschte ein Schweigen,
das nicht die Stille des Friedens zu sein schien.
In der Dämmerung hielten sie wieder an. Zweimal zwölf Wegstunden
hatten sie jetzt auf den Ebenen von Rohan zurückgelegt, und der Wall des
Emyn Muil war in den Schatten des Ostens verschwunden. Der Neumond
schimmerte an einem nebligen Himmel, aber er gab nur wenig Licht, und
die Sterne waren verschleiert.
»Jetzt ist mir eine Rastzeit oder überhaupt eine Unterbrechung unserer
Jagd höchst ärgerlich«, sagte Legolas. »Die Orks sind uns vorausgerannt,
als ob Saurons Peitschen hinter ihnen seien. Ich fürchte, sie haben schon
den Wald und die dunklen Berge erreicht und verschwinden nun in den
Schatten der Bäume.«
Gimli knirschte mit den Zähnen. »Das ist ein bitteres Ende unserer
Hoffnung und all unserer Mühe!« sagte er.
»Der Hoffnung vielleicht, aber nicht der Mühe«, sagte Aragorn. »Wir
werden hier nicht umkehren. Dennoch bin ich müde.« Er blickte den
Weg, den sie gekommen waren, zurück, zur Nacht hin, die sich im Osten
zusammenzog. »Irgend etwas Seltsames ist in diesem Land am Werk. Ich
mißtraue der Stille. Ich mißtraue selbst dem bleichen Mond. Die Sterne
sind matt; und ich bin müde, wie ich es selten zuvor war, müde, wie kein
Waldläufer sein sollte, der eine deutliche Spur zu verfolgen hat. Da ist
irgendein Wille, der unseren Feinden Schnelligkeit verleiht und vor uns
eine unsichtbare Schranke errichtet: eine Müdigkeit, die mehr im Herzen
als in den Gliedern sitzt.«
»Fürwahr«, sagte Legolas. »Das habe ich gewußt, seit wir zuerst vom
Emyn Muil herabkamen. Denn der Wille ist nicht hinter uns, sondern vor
uns.« Er zeigte weit über das Land Rohan in den dunkelnden Westen un-
ter der Mondsichel.
»Saruman!« murmelte Aragorn. »Aber er soll uns nicht dazu bringen,
daß wir umkehren! Anhalten müssen wir noch einmal; denn, schaut!
selbst der Mond gerät in die sich zusammenziehenden Wolken. Doch un-
ser Weg liegt im Norden zwischen Höhenzug und Fenn, wenn der Tag zu-
rückkehrt.«
Wie zuvor war Legolas als erster auf den Beinen, wenn er überhaupt
geschlafen hatte. »Erwacht! Erwacht!« rief er. »Rot ist die Morgendäm-
merung. Seltsame Dinge erwarten uns am Rande des Waldes. Ob gute
oder böse, das weiß ich nicht; aber wir werden gerufen. Erwacht!«
Die anderen sprangen auf und machten sich fast sogleich wieder auf
den Weg. Langsam kamen die Höhenzüge näher. Es war noch eine Stunde
vor dem Mittag, als sie sie erreichten: grüne Hänge stiegen auf zu kahlen
Kämmen, die in einer Reihe genau nach Norden verliefen. Zu ihren Füßen
war der Boden trocken und das Gras kurz, aber ein langer Streifen tiefer
gelegenes Landes, etwa zehn Meilen breit, erstreckte sich zwischen ihnen
und dem Fluß, der in düsteren Dickichten von Schilf und Binsen dahin-
zog. Genau westlich des südlichsten Hanges war ein großer Kreis, wo die
Grasnarbe aufgerissen war und niedergetreten von vielen stampfenden
Füßen. Von hier aus ging die Orkspur weiter und wandte sich nach Nor-
den den kahlen Rändern der Berge entlang. Aragorn blieb stehen und un-
tersuchte die Fährte genau.
»Sie rasteten hier eine Weile«, sagte er, »aber selbst die weiterführende
Spur ist schon alt. Ich fürchte, dein Herz hat wahr gesprochen, Legolas:
dreimal zwölf Stunden, vermute ich, ist es her, daß die Orks hier standen,
wo wir jetzt stehen. Wenn sie ihren Schritt beibehielten, müssen sie ge-
stern bei Sonnenuntergang die Grenzen von Fangorn erreicht haben.«
»Ich kann im Norden oder Westen nichts sehen als Gras, das in Nebel
übergeht«, sagte Gimli. »Könnten wir den Wald sehen, wenn wir auf die
Berge stiegen?«
»Er ist noch weit weg«, sagte Aragorn. »Wenn ich mich recht erin-
nere, erstrecken sich diese Höhen acht oder mehr Wegstunden nach Nor-
den, und nordwestlich vom Austritt der Entwasser liegt noch ein ausge-
dehntes Land, weitere fünfzehn Wegstunden mögen es sein.«
»Gut, laßt uns weitergehen«, sagte Gimli. »Meine Füße müssen die
Meilen vergessen. Sie wären williger, wenn mein Herz weniger schwer wäre.«
Die Sonne ging unter, als sie sich endlich dem Ende der Höhenzüge
näherten. Viele Stunden waren sie ohne Rast marschiert. Jetzt gingen sie
langsam, und Gimlis Rücken war gebeugt. Steinhart sind die Zwerge beim
Arbeiten oder Wandern, aber diese endlose Jagd nahm ihn allmählich mit,
da alle Hoffnung aus seinem Herzen schwand. Aragorn ging hinter ihm,
düster und schweigend, und ab und zu bückte er sich, um eine Fußspur
oder ein Zeichen auf dem Boden zu untersuchen. Nur Legolas schritt so
leicht dahin wie eh und je, und seine Füße schienen das Gras kaum nie-
derzudrücken und hinterließen keine Spuren. Denn in der Wegzehrung
der Elben fand er alle Nährkraft, die er brauchte, und er vermochte zu
schlafen, wenn es von Menschen schlafen genannt werden konnte, indem
er seinen Geist ruhen ließ auf den seltsamen Pfaden elbischer Träume,
während er mit offenen Augen im Licht dieser Welt wanderte.
»Laßt uns weiter auf diesen grünen Berg hinaufgehen«, sagte er. Müde
folgten ihm die anderen und erklommen den langen Hang, bis sie zum
Gipfel kamen. Es war ein kreisrunder Berg, glatt und kahl, der für sich
allein stand, der nördlichste dieses Höhenzugs. Die Sonne sank, und die
Schatten des Abends fielen wie ein Vorhang. Sie waren allein in einer
grauen, gestaltlosen Welt ohne Maß und Ziel. Nur weit entfernt im Nord-
westen war eine tiefere Dunkelheit vor dem ersterbenden Licht: das
Nebelgebirge und der Wald zu seinen Füßen.
»Nichts ist hier zu sehen, das uns leiten könnte«, sagte Gimli. »Nun
müssen wir wieder haltmachen und die Nacht hinter uns bringen. Es wird
kalt!«
»Der Wind kommt vom Schnee im Norden«, sagte Aragorn.
»Und ehe es tagt, wird er von Osten kommen«, sagte Legolas. »Aber
ruht, wenn ihr müßt. Doch gebt nicht alle Hoffnung auf. Das Morgen ist
unbekannt. Rat wird oft gefunden bei Sonnenaufgang.«
»Dreimal ist auf unserer Jagd die Sonne schon aufgegangen und hat
keinen Rat gebracht«, sagte Gimli.
Die Nacht wurde immer kälter. Aragorn und Gimli schliefen unruhig,
und wann immer sie aufwachten, sahen sie Legolas neben sich stehen
oder auf- und abgehen; er sang in seiner eigenen Sprache leise vor sich
hin, und während er sang, traten in dem strengen, schwarzen Gewölbe
über ihnen die Sterne hervor. So verging die Nacht. Gemeinsam beobach-
teten sie, wie sich die Morgendämmerung langsam am Himmel ausbrei-
tete, der jetzt nackt und wolkenlos war, bis schließlich die Sonne aufging.
Sie war fahl und klar. Der Wind kam von Osten, und der ganze Nebel
hatte sich verzogen; weite öde Lande lagen um sie in dem erbarmungslo-
sen Licht.
Vor ihnen und nach Osten sahen sie das dem Wind ausgesetzte Hoch-
land des Ödlands von Rohan, das sie schon vor vielen Tagen vom Großen
Strom aus flüchtig erblickt hatten. Nordwestlich erhob sich der dunkle
Wald von Fangorn; noch zehn Wegstunden waren es bis zu seinen schat-
tigen Rändern, und seine hinteren Hänge verblaßten in der blauen Ferne.
Jenseits des Waldes schimmerte, als schwimme er auf einer grauen
Wolke, der weiße Gipfel des hohen Methedras, der letzten Spitze des
Nebelgebirges. Aus dem Walde heraus floß ihnen entgegen die Entwas-
ser, ihr Strom war jetzt rasch und schmal und ihr Bett tief eingeschnitten.
Die Orkspur hielt von dem Hügelland auf sie zu.
Als Aragorn mit seinen scharfen Augen der Spur zum Fluß folgte
und dann vom Fluß wieder zum Wald blickte, sah er auf dem fernen Grün
einen Schatten, einen dunklen, sich rasch bewegenden Fleck. Er warf sich
auf den Boden und lauschte aufmerksam. Doch Legolas stand neben ihm,
beschattete die klaren Elbenaugen mit seiner langen, schlanken Hand und
sah nicht einen Schatten, nicht einen Fleck, sondern die kleinen Gestalten
von Reitern, vielen Reitern, und der Schein des Morgens auf den Spitzen
ihrer Speere war wie das Funkeln winziger Sterne, das sterbliche Augen
nicht mehr zu sehen vermögen. Weit hinter ihnen stieg dunkler Rauch in
dünnen Ringeln auf.
Es lag eine Stille über den verlassenen Weiden, und Gimli hörte, wie der
Wind im Gras raschelte.
»Reiter!« rief Aragorn und sprang auf. »Viele Reiter auf schnellen
Pferden kommen uns entgegen!«
»Ja«, sagte Legolas, »es sind einhundertundfünf. Goldblond ist ihr
Haar, und ihre Speere leuchten. Ihr Führer ist sehr groß.«
Aragorn lächelte. »Scharf sind die Augen der Elben«, sagte er.
»Nein! Die Reiter sind wenig mehr als fünf Wegstunden entfernt«,
sagte Legolas.
»Fünf Wegstunden oder eine«, sagte Gimli, »entkommen können wir
ihnen nicht in diesem kahlen Land. Sollen wir hier auf sie warten oder
weitergehen?«
»Wir wollen warten«, sagte Aragorn. »Ich bin müde, und unsere Jagd
ist gescheitert. Oder zumindest sind uns andere zuvorgekommen; denn
diese Reiter kommen auf der Orkspur zurück. Wir können Nachrichten
von ihnen bekommen.«
»Oder Speere«, sagte Gimli.
»Ich sehe drei leere Sättel, aber keine Hobbits«, sagte Legolas.
»Ich habe nicht gesagt, daß wir gute Nachrichten hören würden«, sagte
Aragorn. »Doch ob schlecht oder gut, wir werden es hier erwarten.«
Die drei Gefährten verließen jetzt die Bergkuppe, wo sie ein leichtes
Ziel gegen den blassen Himmel gewesen wären, und gingen langsam den
nördlichen Abhang hinunter. Ein wenig oberhalb des Fußes des Berges
hielten sie an, hüllten sich in ihre Mäntel und setzten sich zusammenge-
kauert auf das ausgebleichte Gras. Die Zeit verging langsam und schlep-
pend. Der Wind war frisch und durchdringend. Gimli war unruhig.
»Was weißt du über diese Reiter, Aragorn?« fragte er. »Sitzen wir hier
und warten auf einen plötzlichen Tod?«
»Ich bin bei ihnen gewesen«, antwortete Aragorn. »Sie sind stolz und
eigenwillig, aber aufrichtig und großzügig im Denken und Handeln;
kühn, aber nicht grausam; klug, aber nicht gelehrt; sie schreiben keine
Bücher, doch singen sie viele Lieder nach Art der Kinder der Menschen
vor den Dunklen Jahren. Aber ich weiß nicht, was in letzter Zeit hier ge-
schehen ist oder welchen Sinnes die Rohirrim jetzt sind angesichts des
Verräters Saruman und Saurons Drohung. Sie sind lange Zeit Freunde des
Volks von Gondor gewesen, obwohl sie nicht mit ihm verwandt sind. Das
war in jenen vergessenen Jahren, lange bevor Eorl der Junge sie aus
dem Norden hierherbrachte, und verwandt sind sie eher mit den Bardin-
gern von Thai und den Beorningern vom Wald, unter denen man noch
viele Menschen sieht, die so groß und schön sind wie die Reiter von
Rohan. Die Orks werden sie zumindest nicht lieben.«
»Aber Gandalf sprach von einem Gerücht, daß sie Tribut an Mordor
entrichten«, sagte Gimli.
»Das glaube ich ebensowenig wie Boromir«, antwortete Aragorn.
»Die Wahrheit wirst du bald erfahren«, sagte Legolas. »Sie nähern sich
schon.«
Schließlich konnte selbst Gimli den fernen Hufschlag galoppierender
Pferde hören. Die Reiter, die der Orkspur folgten, verließen den Fluß und
wandten sich dem Höhenzug zu. Sie ritten wie der Wind.
Jetzt schallten die Rufe klarer, kräftiger Stimmen über die Weiden.
Plötzlich fegten sie mit Donnergetöse heran, und als der vorderste Reiter,
am Fuß des Berges vorbeikam, bog er ab und führte die Schar zurück nach
Süden den westlichen Rändern der Höhenzüge entlang. Ihm ritten sie
nach: eine große Schar von Männern in Panzerhemden, pfeilgeschwind,
schimmernd, schrecklich und schön anzusehen.
Ihre Pferde waren sehr groß, stark und wohlgestaltet; das graue Fell
glänzte, die langen Schweife flatterten im Wind, die Mähnen auf den
stolzen Hälsen waren geflochten. Die Menschen, die auf ihnen ritten,
waren ihnen ebenbürtig; das flachsblonde Haar quoll unter ihren leichten
Helmen hervor und wallte in langen Flechten hinter ihnen; die Gesichter wa-
ren ernst und kühn.In den Händen hielten sie kräftige Eschenspeere, bemalte
Schilde hingen ihnen über den Rücken, lange Schwerter steckten in ihren
Gehängen, und die glänzenden Panzerhemden reichten ihnen bis auf die Knie.
Paarweise galoppierten sie vorbei, und obwohl sich von Zeit zu Zeit
einer im Steigbügel erhob und nach vorn und nach beiden Seiten schaute,
schienen sie die drei Fremden nicht zu bemerken, die still dasaßen und sie
beobachteten. Die Heerschar war fast vorüber, als Aragorn plötzlich auf-
stand und mit lauter Stimme rief:
»Was gibt es Neues im Norden, ihr Reiter von Rohan?«
Mit erstaunlicher Schnelligkeit und Geschicklichkeit brachten sie
ihre Pferde zum Stehen, wendeten und kamen angreifend zurück. Bald be-
fanden sich die drei Gefährten in einem Ring von Reitern, die einen ge-
schlossenen Kreis um sie zogen, auf den Berghang hinter ihnen hinauf
und hinunter in die Ebene, rund um sie herum, und immer mehr nach
innen drängten. Aragorn stand schweigend da, und die beiden anderen
saßen reglos und fragten sich, welche Wendung die Dinge wohl nehmen
würden.
Ohne ein Wort oder einen Ruf hielten die Reiter plötzlich. Ein Dickicht
von Speeren war auf die Fremden gerichtet; und einige der Reiter hatten
Bogen in den Händen, die Pfeile bereits auf den Sehnen angelegt.
Dann ritt einer vorwärts, ein großer Mann, größer als die übrigen; sein
Helmbusch war ein weißer Pferdeschweif. Er näherte sich, bis die Spitze
seines Speers einen Fuß von Aragorns Brust entfernt war. Aragorn rührte
sich nicht.
»Wer seid Ihr und was tut Ihr in diesem Land?« fragte der Reiter in
der Gemeinsamen Sprache des Westens; seine Redeweise und sein Tonfall
waren denen von Boromir, des Menschen aus Gondor, ähnlich.
»Streicher werde ich genannt«, antwortete Aragorn. »Ich kam aus dem
Norden. Ich jage Orks.«
Der Reiter sprang vom Pferd. Er gab seinen Speer einem anderen, der
neben ihn geritten und ebenfalls abgestiegen war, und zog sein Schwert.
Er stand Aragorn gegenüber und betrachtete ihn prüfend und nicht ohne
Erstaunen. Schließlich sprach er wieder.
»Zuerst dachte ich. Ihr seid selbst Orks«, sagte er. »Aber jetzt sehe
ich, daß dem nicht so ist. Ihr wißt wahrlich wenig von Orks, wenn
Ihr Euch auf diese Weise aufmacht, sie zu jagen. Sie waren geschwind
und wohlbewaffnet, und es waren viele. Ihr wäret bald nicht mehr
Jäger, sondern Beute gewesen, hättet Ihr sie je eingeholt. Aber etwas ist
seltsam an Euch, Streicher.« Er ließ seine klaren, leuchtenden Augen wie-
der auf dem Waldläufer ruhen. »Das ist kein Name für einen Menschen,
den Ihr angebt. Und seltsam ist auch Eure Kleidung. Seid Ihr aus dem
Gras entsprungen? Wie kam es, daß Ihr unserem Blick entgingt? Seid Ihr
elbisches Volk?«
»Nein«, sagte Aragorn. »Nur einer ist ein Elb, Legolas aus dem
Waldland-Reich im fernen Düsterwald. Aber wir sind durch Lothlórien
gekommen, und die Geschenke und die Gunst der Herrin begleiten uns.«
Der Reiter sah sie erneut voll Erstaunen an, aber sein Blick wurde hart.
»Dann gibt es also wirklich eine Herrin im Goldenen Wald, wie alte
Sagen berichten!« sagte er. »Wenige entgehen ihren Netzen, heißt es. Es
sind seltsame Zeiten! Aber wenn Ihr in ihrer Gunst steht, dann seid viel-
leicht auch Ihr Netzknüpfer und Zauberer.« Er warf plötzlich Legolas und
Gimli einen kalten Blick zu. »Warum sprecht Ihr nicht. Ihr Schweigsa-
men?« fragte er.
Gimli stand auf und stellte sich breitbeinig hin; er packte den Griff sei-
ner Axt, und seine dunklen Augen funkelten. »Nennt mir Euren Namen,
Pferde-Herr, dann werde ich Euch meinen nennen und noch einiges dazu
sagen«, sagte er.
»Was das betrifft«, sagte der Reiter und starrte hinunter auf den
Zwerg, »so sollte sich zuerst der Fremde erklären. Indes heiße ich Éomer,
Éomunds Sohn, und werde der Dritte Marschall der Riddermark ge-
nannt.«
»Dann, Éomer, Éomunds Sohn, Dritter Marschall der Riddermark, laßt
Euch von Gimli, dem Zwerg, Glóins Sohn, vor törichten Worten warnen.
Ihr sprecht schlecht von dem, was schöner ist, als Ihr Euch vorzustellen
vermögt, und nur geringer Verstand kann Euch entschuldigen.«
Éomers Augen blitzten, und die Menschen von Rohan murrten zornig,
drängten heran und hoben die Speere. »Ich würde Euch den Kopf abschla-
gen, mit Bart und allem, Herr Zwerg, wenn er nur etwas höher über den
Erdboden ragte«, sagte Éomer.
»Er steht nicht allein«, sagte Legolas, spannte seinen Bogen und legte
einen Pfeil ein mit Händen, die sich so schnell bewegten, daß ihnen der
Blick nicht folgen konnte. »Ihr würdet sterben, ehe Ihr zum Streich aus-
holtet.«
Éomer hob sein Schwert, und die Sache hätte vielleicht ein böses Ende
genommen, aber Aragorn sprang zwischen sie und hob die Hand. »Ver-
zeiht, Éomer!« rief er. »Wenn Ihr mehr wißt, werdet Ihr verstehen,
warum Ihr meine Gefährten erzürnt habt. Wir haben nichts Böses gegen
Rohan im Sinn und gegen keinen Angehörigen seines Volkes, weder
Mann noch Pferd. Wollt Ihr nicht hören, was wir zu berichten haben, ehe
Ihr zuschlagt?«
»Ja«, sagte Éomer und senkte seine Klinge. »Aber Wanderer in der Rid-
dermark wären gut beraten, wenn sie in diesen Tagen des Zweifels
weniger hochmütig wären. Zuerst nennt mir Euren richtigen Namen.«
»Zuerst sagt mir, wem Ihr dient«, antwortete Aragorn. »Seid Ihr
Freund oder Feind von Sauron, dem Dunklen Gebieter in Mordor?«
»Ich diene nur dem Herrn der Mark, König Théoden, Thengels Sohn«,
erwiderte Éomer. »Wir dienen nicht der Macht des fernen Schwarzen Lan-
des, doch sind wir auch noch nicht in offenem Krieg mit ihm; und wenn
Ihr vor ihm flieht, dann verlaßt Ihr am besten dieses Land. An all unse-
ren Grenzen gibt es Unruhe, und wir sind bedroht; doch wünschen wir
nur, frei zu sein und zu leben, wie wir gelebt haben, unser Eigentum zu
bewahren und keinem fremden Herrn, sei er gut oder böse, zu dienen. In
besseren Zeiten hießen wir Gäste freundlich willkommen, aber heutzutage
findet uns der ungebetene Fremde vorschnell und hart. Nun sprecht! Wer
seid Ihr? Wem dient Ihr? Auf wessen Befehl jagt Ihr Orks in unserm
Land?«
»Ich diene niemandem«, sagte Aragorn, »aber Saurons Diener verfolge
ich in jedem Land, in das sie sich begeben mögen. Unter den sterblichen
Menschen gibt es wenige, die mehr über Orks wissen, und nicht aus
freien Stücken jage ich sie auf diese Weise. Die Orks, die wir verfolgten,
nahmen zwei meiner Freunde gefangen. In solcher Not wird ein Mann,
der kein Pferd hat, zu Fuß gehen, und er wird nicht um Erlaubnis bitten,
der Spur folgen zu dürfen. Auch wird er die Köpfe der Feinde nicht zäh-
len, es sei denn mit dem Schwert. Ich bin nicht waffenlos.«
Aragorn warf seinen Mantel zurück. Die Elbenscheide glitzerte, als er
sie packte, und Andúrils helle Klinge leuchtete wie eine Flamme, als er
sie herauszog. »Elendil!« rief er. »Ich bin Aragorn, Arathoms Sohn, und
werde Elessar, der Elbenstein, und Dúnadan genannt, der Erbe Isildurs,
Elendils Sohn, von Gondor. Hier ist das Schwert, das geborsten war und
neu geschmiedet wurde! Wollt Ihr mir helfen oder mich hindern? Ent-
scheidet Euch rasch!«
Gimli und Legolas betrachteten ihren Gefährten erstaunt, denn sie hat-
ten ihn noch nie in solchem Zorn gesehen. Er schien gewachsen zu sein,
während Éomer geschrumpft war; und in seinem lebendigen Gesicht er-
blickten sie flüchtig das Abbild der Macht und Majestät der Könige aus
Stein. Einen Augenblick schien es Legolas, als flackere eine weiße
Flamme auf Aragorns Stirn wie eine schimmernde Krone.
Éomer trat zurück, und ein Ausdruck ehrfürchtiger Scheu lag auf sei-
nem Gesicht. Er schlug die stolzen Augen nieder. »Es sind wahrlich selt-
same Zeiten«, murmelte er. »Träume und Sagen tauchen aus dem Gras
auf und werden lebendig.«
»Sagt mir, Herr«, fuhr er fort, »was bringt Euch hierher? Und welche
Bedeutung hatten die dunklen Worte? Lange ist Boromir, Denethors Sohn,
schon fort, um nach einer Antwort zu forschen, und das Pferd, das wir
ihm geliehen haben, kam reiterlos zurück. Welches Gebot bringt Ihr aus
dem Norden?«
»Das Gebot der Entscheidung«, sagte Aragorn. »Ihr mögt Théoden,
Thengels Sohn, folgendes sagen: offener Krieg liegt vor ihm, mit Sauron
oder gegen ihn. Keiner vermag jetzt zu leben, wie er gelebt hat, und
wenige werden behalten, was sie ihr eigen nennen. Doch über diese wich-
tigen Fragen werde ich später sprechen. Wenn die Umstände es erlauben,
werde ich selbst zum König kommen. Jetzt bin ich in großer Not und
bitte um Hilfe oder wenigstens um Nachrichten. Ihr habt gehört, daß wir
ein Orkheer verfolgen, das unsere Freunde verschleppt hat. Was könnt
Ihr uns sagen?«
»Daß Ihr sie nicht weiter zu verfolgen braucht«, antwortete Éomer.
»Die Orks sind vernichtet.«
»Und unsere Freunde?«
»Wir fanden nur Orks.«
»Aber das ist wahrlich seltsam«, sagte Aragorn. »Habt Ihr die Er-
schlagenen durchsucht? Waren dort keine anderen Leichen als die von
Orks? Sie wären klein gewesen, nur Kinder in Euren Augen, schuhlos,
doch in Grau gekleidet.«
»Da waren weder Zwerge noch Kinder«, sagte Éomer. »Wir zählten alle
die Erschlagenen und plünderten sie, und dann legten wir sie auf einen Hau-
fen und verbrannten sie, wie es unsere Sitte ist. Die Asche raucht noch.«
»Wir sprechen nicht von Zwergen oder Kindern«, sagte Gimli. »Unsere
Freunde waren Hobbits.«
»Hobbits?« fragte Éomer. »Was mag denn das sein? Es ist ein seltsamer
Name.«
»Ein seltsamer Name für ein seltsames Volk«, sagte Gimli. »Aber diese
Hobbits waren uns sehr teuer. Es scheint, daß Ihr in Rohan von den Wor-
ten gehört habt, die Minas Tirith beunruhigten. Diese Hobbits sind Halb-
linge.«
»Halblinge!« lachte der Reiter, der neben Éomer stand. »Halblinge!
Aber das ist doch nur ein kleines Volk in alten Liedern und Kindermär-
chen aus dem Norden. Leben wir in Sagen oder auf der grünen Erde im
Tageslicht?«
»Ein Mensch mag beides tun«, sagte Aragorn. »Denn nicht wir, son-
dern jene, die nach uns kommen, werden die Sagen unserer Zeit erschaf-
fen. Die grüne Erde, sagt Ihr? Das ist ein gewaltiger Sagenstoff, obwohl
Ihr bei hellichtem Tage auf ihr wandelt!«
»Die Zeit drängt«, sagte der Reiter und achtete Aragorns nicht. »Wir
müssen nach Süden eilen, Herr. Überlassen wir diese närrischen Leute
ihren Hirngespinsten. Oder laßt uns sie fesseln und vor den König brin-
gen.«
»Still, Éothain!« sagte Éomer in seiner eigenen Sprache. »Laß mich eine
Weile allein. Sag den Éored, sie sollen sich auf dem Pfad sammeln und
sich bereitmachen, um zur Entfurt zu reiten.«
Murrend trat Éothain beiseite und sprach mit den anderen. Bald zogen
sie sich zurück und ließen Éomer bei den drei Gefährten.
»Alles, was Ihr sagt, ist merkwürdig, Aragorn«, sagte Éomer. »Den-
noch sprecht Ihr die Wahrheit, das ist klar: denn die Menschen der Mark
lügen nicht, und deshalb werden sie nicht leicht getäuscht. Aber Ihr habt
nicht alles gesagt. Wollt Ihr nicht jetzt ausführlicher über Euren Auftrag
reden, damit ich beurteilen kann, was zu tun ist?«
»Vor vielen Wochen bin ich von Imladris, wie es in dem Vers genannt
wird, aufgebrochen«, antwortete Aragorn. »Mit mir kam Boromir von
Minas Tirith. Mein Auftrag lautete, mit Denethors Sohn in jene Stadt zu
gehen, um sein Volk im Krieg gegen Sauron zu unterstützen. Doch hatte
die Gemeinschaft, mit der ich wanderte, einen anderen Auftrag. Darüber
kann ich jetzt nicht sprechen. Gandalf der Graue war unser Führer.«
»Gandalf!« rief Éomer. »Gandalf Graurock ist in der Mark bekannt.
Aber ich warne Euch, sein Name ist nicht mehr Losungswort für die
Gunst des Königs. Seit Menschengedenken war er viele Male ein Gast des
Landes und kam, wie es ihm beliebte, nach kürzerer Zeit oder nach vielen
Jahren. Immer ist er der Herold seltsamer Geschehnisse: ein Unglücks-
bote, sagen manche jetzt.
Tatsächlich sind seit seinem letzten Kommen im Sommer alle Dinge
schlecht gelaufen. Zu jener Zeit begann unser Verdruß mit Saruman. Bis
dahin zählten wir Saruman zu unseren Freunden, aber Gandalf kam dann
und warnte uns, daß sich ein unerwarteter Krieg vorbereite. Er sagte, er
selbst sei ein Gefangener in Orthanc gewesen und mit knapper Not ent-
kommen, und er bat um Hilfe. Doch Théoden wollte nicht auf ihn hören,
und er ging fort. Sprecht den Namen Gandalf nicht laut vor Théoden aus.
Er ist ergrimmt. Denn Gandalf nahm das Pferd, das Schattenfell heißt,
das kostbarste aller Rösser des Königs, das Haupt der Mearas, die nur
der
Herr der Mark reiten darf. Denn der Ahne ihrer Rasse war Eorls berühm-
tes Pferd, das die Sprache der Menschen verstand. Vor sieben Nächten
kam Schattenfell zurück; doch der Zorn des Königs ist nicht geringer,
denn jetzt ist das Pferd scheu und läßt sich von niemandem anrühren.«
»Dann hat Schattenfell seinen Weg vom fernen Norden allein gefun-
den«, sagte Aragorn. »Denn dort haben er und Gandalf sich getrennt.
Doch wehe! Gandalf wird nicht mehr reiten. Er stürzte in den Minen von
Moria in die Dunkelheit und kehrt nicht wieder.«
»Das ist eine schlimme Nachricht«, sagte Éomer. »Zumindest für mich
und viele andere; wenngleich nicht für alle, wie Ihr merken werdet, wenn
Ihr zum König kommt.«
»Diese Nachricht ist schmerzlicher, als irgendeiner in diesem Lande er-
messen kann, obwohl es schwer davon betroffen werden mag, ehe das
Jahr viel älter ist«, sagte Aragorn. »Aber wenn die Großen fallen, müs-
sen Geringere die Führung übernehmen. Meine Aufgabe war es, unsere
Gemeinschaft auf dem langen Weg von Moria zu führen. Durch Lórien
kamen wir — über das Ihr die Wahrheit erfahren solltet; ehe Ihr wieder
davon sprecht —, und dann die vielen Wegstunden entlang des Großen
Stroms bis zu den Fällen von Rauros. Dort wurde Boromir erschlagen von
denselben Orks, die Ihr vernichtet habt.«
»Alle Eure Nachrichten sind schlimm«, rief Éomer bestürzt. »Großes
Leid bedeutet dieser Tod für Minas Tirith und für uns alle. Das war ein
ehrenwerter Mann. Sein Lob war in aller Munde. Selten kam er in die
Mark, denn er war immer in den Kriegen an den Ostgrenzen; aber ich
habe ihn gesehen. Mehr wie Eorls flinke Söhne denn wie die ernsten
Menschen von Gondor erschien er mir, einer, der sich wahrscheinlich als
ein großer Führer seines Volkes erwiesen hätte, wenn seine Zeit gekom-
men wäre. Aber wir haben über dieses Unglück kein Wort aus Gondor
gehört. Wann ist er gefallen?«
»Heute ist es der vierte Tag, seit er erschlagen wurde«, antwortete
Aragorn. »Und seit dem Abend jenes Tages sind wir vom Schatten des
Tol Brandir bis hierher gewandert.«
»Zu Fuß?« rief Éomer.
»Ja, so wie Ihr uns hier seht.«
Staunen malte sich in Éomers Augen. »Streicher ist ein zu armseliger
Name, Arathoms Sohn«, sagte er. »Flügelfuß nenne ich Euch. Diese Hel-
dentat der drei Freunde sollte in so mancher Halle besungen werden.
Fünfundvierzig Wegstunden habt Ihr zurückgelegt, ehe der vierte Tag
sich neigt. Zäh ist Elendils Geschlecht!
Doch nun, Herr, was wünscht Ihr, daß ich tue? Ich muß in Eile zu
Théoden zurückkehren. Ich sprach vorsichtig vor meinen Männern. Es ist
richtig, daß wir noch nicht im offenen Krieg mit dem Schwarzen Land
sind, und einige, die das Ohr des Königs haben, geben feigen Rat; doch
der Krieg kommt. Wir werden unser altes Bündnis mit Gondor nicht
lösen, und solange sie kämpfen, werden wir ihnen helfen: so sage ich und
alle, die zu mir halten. Die Ostmark, der Bereich des Dritten Marschalls,
ist mir unterstellt, und ich habe alle unsere Herden und Hirten herausge-
holt und hinter die Entwasser zurückgezogen und niemanden hier gelas-
sen als Wachen und schnelle Späher.«
»Dann entrichtet Ihr keinen Tribut an Sauron?« fragte Gimli.
»Das tun wir nicht und haben es niemals getan«, sagte Éomer, und
seine Augen blitzten, »obwohl mir zu Ohren gekommen ist, daß diese
Lüge verbreitet wird. Vor einigen Jahren wünschte der Herr des Schwar-
zen Landes Pferde von uns zu kaufen um einen hohen Preis, aber wir wei-
gerten uns, denn er braucht Tiere für einen bösen Zweck. Dann schickte
er plündernde Orks, und sie schleppen fort, was sie können, und wählen
immer die schwarzen Pferde: wenige von diesen sind jetzt noch da. Aus
diesem Grunde ist unsere Fehde mit den Orks erbittert.
Doch zurzeit ist Saruman unsere Hauptsorge. Er hat die Oberherrschaft
über dieses ganze Land gefordert, und seit vielen Monaten herrscht Krieg
zwischen uns. Er hat Orks in seine Dienste genommen und Wolfreiter
und böse Menschen, und er hat die Pforte vor uns verschlossen, so daß
wir wahrscheinlich von Ost und West bedrängt werden.
Es ist schlimm, mit einem solchen Feind zu tun zu haben: er ist ein
verschlagener, gespenstischer und listenreicher Zauberer und hat viele
Verkleidungen. Er erscheint hier und dort, heißt es, als ein alter Mann in
Kapuze und Mantel, Gandalf sehr ähnlich, wie viele sich jetzt an ihn erin-
nern. Seine Späher schlüpfen durch jedes Netz, und seine unheilverhei-
ßenden Vögel sind überall am Himmel. Ich weiß nicht, wie all das enden
wird, und ich ahne Böses; denn mir scheint, nicht alle seine Freunde woh-
nen in Isengart. Doch wenn Ihr zu des Königs Haus kommt, werdet Ihr es
selbst sehen. Wollt Ihr nicht mitkommen? Ist meine Hoffnung vergebens,
daß Ihr mir gesandt seid als eine Hilfe in Zweifel und Not?«
»Ich werde kommen, wenn ich kann«, sagte Aragorn.
»Kommt jetzt«, sagte Éomer. »Elendils Erbe wäre wahrlich eine Ver-
stärkung für Eorls Söhne in dieser bösen Zeit. Gerade jetzt ist eine
Schlacht auf dem Westemnet im Gange, und ich fürchte, sie mag schlecht
für uns ausgehen.
Tatsächlich bin ich zu dem Ritt nach Norden ohne die Erlaubnis des
Königs aufgebrochen, und in meiner Abwesenheit ist sein Haus nur
schwach bewacht. Aber Späher verständigten mich vor drei Nächten, daß
eine Orkschar vom Ostwall herabkommt, und berichteten, daß einige von
ihnen das weiße Abzeichen von Saruman tragen. Und da ich argwöhnte,
was ich am meisten fürchte, nämlich ein Bündnis zwischen Orthanc und
dem Dunklen Turm, zog ich mit meinen Éored, den Angehörigen meiner
eigenen Hausmacht, aus; und vor zwei Tagen holten wir die Orks bei
Einbruch der Nacht in der Nähe des Entwalds ein. Dort umzingelten wir
sie und lieferten ihnen gestern im Morgengrauen eine Schlacht. Fünfzehn
meiner Leute verlor ich leider, und zwölf Pferde. Denn die Orks waren
zahlreicher, als wir erwartet hatten. Andere hatten sich ihnen ange-
schlossen, die aus dem Osten über den Großen Strom gekommen waren;
ihre Spur ist ein wenig nördlich von dieser Stelle deutlich zu sehen. Und
noch andere kamen aus dem Wald. Große Orks, die auch die Weiße
Hand von Isengart trugen: diese Art ist stärker und grausamer als alle
anderen.
Trotzdem machten wir ein Ende mit ihnen. Aber wir sind schon zu
lange fort gewesen. Wir werden im Süden und Westen gebraucht. Wollt
Ihr nicht mitkommen? Es sind Pferde übrig, wie Ihr seht. Es gibt Arbeit
für das Schwert. Ja, und auch für Gimlis Axt und Legolas' Bogen könn-
ten wir Verwendung finden, wenn sie mir meine voreiligen Worte über
die Herrin des Waldes verzeihen wollen. Ich sprach nur, wie alle Men-
schen in meinem Land sprechen, und gern würde ich eines Besseren be-
lehrt werden.«
»Ich danke Euch für Eure schönen Worte«, sagte Aragorn, »und mein
Herz verlangt, mit Euch zu kommen; aber ich kann meine Freunde nicht
im Such lassen, solange noch Hoffnung besteht.«
»Es besteht keine Hoffnung«, sagte Éomer. »Ihr werdet Eure Freunde
nicht an den Nordgrenzen finden.«
»Dennoch sind unsere Freunde nicht zurückgeblieben. Nicht weit vom
Ostwall fanden wir ein deutliches Zeichen, daß zumindest einer von
ihnen dort noch am Leben war. Doch zwischen dem Wall und den Höhen-
zügen haben wir keine weitere Spur von ihnen gefunden, und keine
Fährte führte nach dieser oder jener Seite vom Wege ab, wenn mich
meine Geschicklichkeit nicht ganz verlassen hat.«
»Was glaubt Ihr denn, was aus ihnen geworden ist?«
»Ich weiß es nicht. Sie mögen erschlagen und zusammen mit den Orks
verbrannt worden sein; aber Ihr werdet sagen, das könne nicht sein, und
ich fürchte es auch nicht. Ich kann mir nur denken, daß sie vor der
Schlacht in den Wald geschleppt worden sind, vielleicht sogar, ehe Ihr
Eure Feinde umzingelt habt. Könnt Ihr beschwören, daß keiner Eurem
Netz auf diese Weise entgangen ist?«
»Ich würde schwören, daß kein Ork entkam, nachdem wir sie gesichtet
hatten«, sagte Éomer. »Wir erreichten den Waldrand vor ihnen, und
wenn danach irgendein Lebewesen unseren Ring durchbrach, dann war es
kein Ork, sondern besaß irgendeine elbische Macht.«
»Unsere Freunde waren gekleidet wie wir«, sagte Aragorn, »und Ihr
seid bei hellem Tageslicht an uns vorübergeritten.«
»Das hatte ich vergessen«, sagte Éomer. »Es ist schwer, irgendeiner
Sache sicher zu sein bei so vielen Wundern. Die Welt ist ganz seltsam ge-
worden. Elben und Zwerge wandern gemeinsam über unsere alltäglichen
Weiden; und Leute sprechen mit der Herrin des Waldes und sind dennoch
am Leben; und das Schwert, das geborsten war in den langen Zeitaltern,
ehe die Väter unserer Väter in die Mark ritten, kehrt zurück in den
Krieg! Wie soll ein Mensch beurteilen, was er in solchen Zeiten tun
soll?«
»Wie er immer geurteilt hat«, sagte Aragorn. »Gut und Böse haben
sich nicht in jüngster Zeit geändert; und sie sind auch nicht zweierlei bei
Elben und Zwergen auf der einen und Menschen auf der anderen Seite.
Ein Mann muß sie unterscheiden können, im Goldenen Wald ebenso wie
in seinem eigenen Haus.«
»Das ist freilich wahr«, sagte Éomer. »Aber ich zweifle weder an Euch
noch an der Tat, die zu tun mein Herz gebietet. Doch steht es mir nicht
frei, alles zu tun, was ich möchte. Fremde in unserem Lande nach Belie-
ben wandern zu lassen, ehe der König selbst ihnen die Erlaubnis gibt, ist
gegen unser Gesetz, und noch strenger ist die Vorschrift in diesen Tagen
der Gefahr. Ich habe Euch gebeten, freiwillig mit mir zu kommen, und Ihr
wollt nicht. Ungern beginne ich einen Kampf von hundert gegen drei.«
»Ich glaube nicht, daß Euer Gesetz für eine solche Gelegenheit gemacht
wurde«, sagte Aragorn. »Und auch bin ich kein Fremder, denn ich war
schon früher in diesem Land, mehr als einmal, und bin mit dem Heer der
Rohirrim geritten, wenngleich unter anderem Namen und in anderer Ver-
kleidung. Euch habe ich noch nie gesehen, denn Ihr seid jung, aber ich
habe mit Éomund gesprochen, Eurem Vater, und mit Théoden Thengels
Sohn. Niemals in früheren Tagen hätte ein hoher Herr dieses Landes
einen Mann gezwungen, eine solche Suche wie die meine aufzugeben.
Meine Pflicht zumindest ist klar, nämlich weiterzugehen. Nun kommt,
Éomunds Sohn, die Entscheidung muß endlich getroffen werden. Helft
uns, oder im schlimmsten Fall laßt uns gutwillig gehen. Oder versucht,
Euer Gesetz durchzuführen. Wenn Ihr das tut, werden weniger zu Eurem
Krieg oder zu Eurem König zurückkehren.«
Éomer schwieg einen Augenblick, dann sprach er. »Uns beiden tut Eile
not«, sagte er. »Meine Schar brennt darauf, fortzureiten, und jede Stunde
verringert Eure Hoffnung. Meine Entscheidung lautet: Ihr dürft gehen;
und überdies werde ich Euch Pferde leihen. Nur um eins bitte ich Euch:
wenn Eure Suche beendet ist oder sich als vergeblich herausstellt, kehrt
mit den Pferden über die Entwasser zurück nach Meduseld, dem hohen
Haus in Edoras, wo Théoden jetzt seinen Wohnsitz hat. So werdet Ihr
ihm beweisen, daß ich nicht falsch geurteilt habe. Mein Ergehen und viel-
leicht sogar mein Leben hängt also davon ab, daß Ihr Euer Wort haltet.
Enttäuscht mich nicht.«
»Das werde ich nicht«, sagte Aragorn.
Es rief großes Erstaunen und viele finstere und zweifelnde Blicke bei
seinen Mannen hervor, als Éomer Befehl gab, den Fremden die überzäh-
ligen Pferde zu leihen; doch nur Éothain wagte ein offenes Wort.
»Es mag gut und richtig sein für diesen Herrn, der dem Geschlecht von
Gondor entstammt, wie er behauptet«, sagte er, »aber wer hat je gehört,
daß ein Pferd der Mark einem Zwergen gegeben wird?«
»Niemand«, sagte Gimli. »Und keine Sorge: niemand wird auch je
davon hören. Ich würde eher laufen als auf dem Rücken eines so großen
Tiers sitzen, ob es mir freiwillig gegeben oder geneidet wird.«
»Aber reiten mußt du, sonst hältst du uns auf«, sagte Aragorn.
»Komm, du sollst hinter mir sitzen, Freund Gimli«, sagte Legolas.
»Dann ist alles gut, und du brauchst weder ein Pferd zu leihen noch dich
damit zu plagen.«
Ein großes, dunkelgraues Pferd wurde Aragorn gebracht, und er be-
stieg es. »Hasufel heißt es«, sagte Éomer. »Möge es dich gut tragen und
einem besseren Geschick entgegen als Gárulf, seinen letzten Herrn!« Ein
kleineres und leichteres, aber ungebärdiges und feuriges Pferd wurde
Legolas gebracht. Arod war sein Name. Legolas aber bat, ihm Sattel und
Zügel abzunehmen. »Ich brauche sie nicht«, sagte er und sprang leicht
hinauf, und zur Verwunderung aller war Arod zahm und willig unter
ihm und ging hierhin und dorthin bloß auf ein gesprochenes Wort hin:
das war die elbische Art mit allen guten Tieren. Gimli wurde hinter sei-
nen Freund hinaufgehoben, und er klammerte sich an ihm fest, denn er
fühlte sich dort ebenso unbehaglich wie Sam Gamdschie in einem Boot.
»Lebt wohl, und möget Ihr finden, was Ihr suchet!« rief Éomer. »Kehrt
zurück, so rasch Ihr könnt, und mögen unsere Schwerter hernach sich ge-
meinsam hervortun!«
»Ich werde kommen«, sagte Aragorn.
»Und ich auch«, sagte Gimli. »Noch steht die Angelegenheit der Frau
Galadriel zwischen uns. Ich muß Euch erst die feine Redeweise lehren.«
»Wir werden sehen«, sagte Éomer. »So viele seltsame Dinge haben sich
ereignet, daß es nicht als das größte Wunder erscheinen wird, die Lob-
preisung einer schönen Frau unter den liebenden Schlägen einer Zwergen-
axt zu lernen. Lebt wohl!«
Nach diesen Worten trennten sie sich. Sehr schnell waren die Pferde
von Rohan. Als Gimli nach einer kurzen Weile zurückschaute, war
Éomers Schar schon klein und weit entfernt. Aragorn schaute nicht zu-
rück: er beobachtete die Spur, während sie dahinsprengten, und er beugte
den Kopf tief auf den Hals von Hasufel. Es dauerte nicht lange, da er-
reichten sie das Ufer der Entwasser, und dort stießen sie auf die andere
Spur, von der Éomer gesprochen hatte, und die vom Osten her aus dem
Ödland kam.
Aragorn saß ab und untersuchte den Boden, dann sprang er wieder in
den Sattel und ritt ein Stück nach Osten, wobei er sich abseits der Spur
hielt, um die Fußabdrücke nicht zu zerstören. Dort stieg er wieder ab und
forschte auf der Erde, indem er zu Fuß hin und her ging.
»Da gibt es wenig zu entdecken«, sagte er, als er zurückkam. »Die
Hauptspur ist ganz verwischt, seit die Reiter auf dem Rückweg hier vor-
beikamen; auf dem Hinweg müssen sie näher am Fluß geritten sein. Doch
diese nach Osten gehende Spur ist frisch und deutlich. Es sind keine An-
zeichen da, daß irgendwelche Füße in der anderen Richtung gingen, zu-
rück zum Anduin. Jetzt müssen wir langsamer reiten und uns vergewis-
sern, daß keine Fährte oder Fußstapfen auf beiden Seiten abzweigen. Die
Orks müssen von diesem Punkt an gemerkt haben, daß sie verfolgt wer-
den; sie haben vielleicht versucht, ihre Gefangenen wegzuschaffen, ehe
sie eingeholt wurden.«
Während sie weiterritten, wurde der Tag trübe. Große, graue Wolken
zogen über dem Wald auf. Ein Nebel verschleierte die Sonne. Immer
näher kamen die baumbestandenen Hänge von Fangorn und wurden lang-
sam dunkler, als die Sonne nach Westen wanderte. Sie sahen kein Zeichen
irgendeiner nach rechts oder links abzweigenden Spur, doch hier und dort
kamen sie an einzelnen Orks vorbei, die gefallen waren, während sie
rannten, und graugefiederte Pfeile steckten ihnen im Rücken oder Hals.
Schließlich, als der Nachmittag verblaßte, kamen sie zum Saum des
Waldes, und auf einer offenen Lichtung zwischen den ersten Bäumen fan-
den sie die Stätte des großen Brandes: die Asche war noch heiß und
rauchte. Daneben lag ein großer Haufen von Helmen und Panzern, gebor-
stenen Schildern und zerbrochenen Schwertern, Bogen und Wurfspeeren
und anderem Kriegsgerät. Auf einen Pfahl in der Mitte war der Kopf
eines großen Bilwiß aufgespießt; an seinem zertrümmerten Helm konnte
man das weiße Abzeichen noch erkennen. Etwas entfernt, nicht weit von
der Stelle, wo der Fluß aus dem Wald heraustrat, war ein Hügelgrab. Es
war neu aufgeworfen; die nackte Erde war mit frisch gestochener Gras-
narbe bedeckt; ein Kreis von fünfzehn in den Boden gerammten Speeren
umgab es.
Aragorn und seine Gefährten suchten das Schlachtfeld weit und breit
ab; aber das Licht wurde schwächer, und bald senkte sich der Abend,
düster und neblig. Als die Nacht hereinbrach, hatten sie keine Spur von
Merry und Pippin gefunden.
»Wir können nichts mehr tun«, sagte Gimli traurig. »Uns sind viele
Rätsel aufgegeben worden, seit wir zum Tol Brandir kamen, aber dies hier
ist am schwersten zu lösen. Ich vermute, die verbrannten Knochen der
Hobbits sind jetzt vermengt mit denen der Orks. Es wird eine traurige
Kunde für Frodo sein, wenn er noch am Leben ist, um sie zu hören, und
auch traurig für den alten Hobbit, der in Bruchtal wartet. Elrond war
dagegen, daß sie mitkamen.«
»Aber Gandalf nicht«, sagte Legolas.
»Doch Gandalf beschloß, selbst mitzukommen, und er war der erste,
der umkam«, antwortete Gimli. »Seine Voraussicht hat ihn getrogen.«
»Gandalfs Entschluß gründete sich nicht auf das Vorherwissen von
Sicherheit für ihn oder für andere«, sagte Aragorn. »Es gibt Dinge, die
zu beginnen besser ist, als sie zu verweigern, selbst wenn ihr Ausgang
dunkel sein mag. Aber ich will noch nicht von diesem Ort aufbrechen.
Jedenfalls müssen wir hier das Morgenlicht erwarten.«
Ein Stück Wegs hinter dem Schlachtfeld machten sie sich ihr Lager un-
ter einem ausladenden Baum: er sah wie eine Kastanie aus, doch trug er
noch viele breite braune Blätter eines früheren Jahrs, wie trockne Hände
mit langen, gespreizten Fingern; sie raschelten traurig im Nachtwind.
Gimli fröstelte. Sie hatten jeder nur eine Decke bei sich. »Laßt uns ein
Feuer anzünden«, sagte er. »Ich mache mir nichts mehr aus der Gefahr.
Laßt die Orks heranschwirren so zahlreich wie Motten im Sommer um
eine Kerze!«
»Wenn diese unglücklichen Hobbits sich im Wald verirrt haben,
könnte es sie hierherlocken«, sagte Legolas.
»Und es könnte auch andere Wesen anlocken, weder Orks noch Hob-
bits«, sagte Aragorn. »Wir sind den Berggemarken des Verräters Saru-
man nahe. Auch sind wir genau am Rande von Fangorn, und wie es
heißt, ist es gefährlich, die Bäume dieses Waldes anzurühren.«
»Aber die Rohirrim haben hier gestern einen großen Brand geschürt«,
sagte Gimli, »und sie haben Bäume gefällt für das Feuer, wie man sehen
kann. Dennoch haben sie die Nacht heil überstanden, nachdem ihre
Arbeit beendet war.«
»Es waren ihrer viele«, sagte Aragorn, »und sie scheren sich nicht um
Fangorns Zorn, denn sie kommen selten hierher und gehen nicht unter die
Bäume. Doch unser Pfad wird uns wahrscheinlich in den Wald selbst hin-
einführen. Also sei vorsichtig! Fälle kein lebendes Holz!«
»Das ist auch nicht nötig«, sagte Gimli. »Die Reiter haben genug Späne
und Zweige übriggelassen, und es liegt massenhaft totes Holz herum.« Er
ging fort, um Brennholz zu sammeln, schichtete es auf und schlug Feuer.
Aragorn saß indes schweigend an den großen Baum gelehnt, tief in Ge-
danken; und Legolas stand allein im Freien, schaute auf den tiefen Schat-
ten des Waldes und beugte sich vor wie einer, der auf Stimmen lauscht,
die aus der Ferne rufen.
Als der Zwerg ein kleines, helles Feuer in Gang gebracht hatte, rück-
ten die drei Gefährten nahe heran und schirmten den Lichtschein mit
ihren kapuzenverhüllten Gestalten ab. Legolas blickte nach oben zu den
Zweigen des Baums über ihnen.
»Schaut!« sagte er. »Der Baum freut sich über das Feuer.«
Es mag sein, daß die tanzenden Schatten ihre Augen narrten, aber ge-
wiß kam es jedem der Gefährten so vor, als beugten sich die Zweige hier-
hin und dorthin, um über die Flammen zu kommen, während die oberen
Äste sich herabneigten; die braunen Blätter standen jetzt steif ab und rie-
ben sich aneinander wie viele kalte aufgesprungene Hände, denen die
Wärme wohltut.
Die Gefährten schwiegen, denn plötzlich machte sich der dunkle und
unbekannte Wald, der so nahe lag, wie ein großes, bedrückendes geister-
haftes Wesen bemerkbar, das ein geheimes Ziel verfolgte. Nach einer
Weile sprach Legolas wieder.
»Celeborn hat uns davor gewarnt, zu weit nach Fangorn hineinzuge-
hen«, sagte er. »Weißt du, Aragorn, warum? Was für Sagen über den
Wald hat Boromir gehört?«
»In Gondor und anderswo habe ich viele Geschichten gehört«, sagte
Aragorn, »aber hätte Celeborn nicht diese Worte gesprochen, hätte ich
sie nur für Märchen gehalten, die sich die Menschen ausgedacht haben,
seit das wahre Wissen schwindet. Ich hatte dich schon fragen wollen, was
an der Sache eigentlich wahr ist. Und wenn ein Elb des Waldes es nicht
weiß, wie soll ein Mensch darauf antworten?«
»Du bist weiter gewandert als ich«, sagte Legolas. »Ich habe in meinem
Land nichts davon gehört, außer einigen Liedern, in denen es heißt, daß
die Onodrim, die die Menschen Ents nennen, hier vor langer Zeit lebten;
denn Fangorn ist alt, alt sogar nach den Maßstäben der Elben.«
»Ja, er ist alt«, sagte Aragorn, »so alt wie der Wald an den Hügelgrä-
berhöhen, und er ist viel größer. Elrond sagt, die beiden seien verwandt,
die letzten Bollwerke der mächtigen Wälder der Altvorderenzeit, als die
Erstgeborenen wanderten, während die Menschen noch schliefen. Doch hat
Fangorn irgendein besonderes Geheimnis. Was es ist, weiß ich nicht.«
»Und ich will es nicht wissen«, sagte Gimli. »Stört nichts, was in Fan-
gorn haust, um meinetwillen!«
Sie losten die Wachen aus, und für die erste Wache fiel das Los auf
Gimli. Die beiden anderen legten sich nieder. Fast sofort übermannte sie
der Schlummer. »Gimli«, sagte Aragorn schlaftrunken, »denke dran, es
ist gefährlich, Ast oder Zweig von einem lebenden Baum in Fangorn ab-
zuhauen. Aber laufe auf der Suche nach totem Holz nicht weit fort. Laß
lieber das Feuer ausgehen. Wecke mich im Notfall!«
Damit schlief er fest ein. Legolas lag schon reglos da, die schönen
Hände über der Brust gefaltet, und seine Augen, in denen sich die leben-
dige Nacht und der tiefe Traum vermengten, waren nicht geschlossen, wie
es die Art der Elben ist. Gimli saß zusammengekauert am Feuer und fuhr
mit dem Daumen nachdenklich über die Schneide seiner Axt. Der Baum
raschelte. Kein anderes Geräusch war zu hören.
Plötzlich schaute Gimli auf, und da stand am Rande des Feuerscheins
ein alter, gebeugter Mann, auf einen Stab gestützt und in einen grauen
Mantel gehüllt; sein breitkrempiger Hut war bis auf die Augen herunter-
gezogen. Gimli sprang auf, im Augenblick zu verblüfft, um aufzu-
schreien, obwohl ihm sofort der Gedanke durch den Kopf schoß, daß Saru-
man sie aufgespürt habe. Aragorn und Legolas, durch seine rasche Bewe-
gung geweckt, setzten sich auf und starrten. Der alte Mann sprach nicht
und gab auch kein Zeichen.
»Nun, Vater, was können wir für Euch tun?« fragte Aragorn und
sprang auf die Füße. »Kommt und wärmt Euch, wenn Euch kalt ist!« Er
tat einen Schritt vorwärts, aber der alte Mann war fort. In der Nähe
konnten sie keine Spur von ihm finden, und sie wagten nicht, weit zu
wandern. Der Mond war untergegangen und die Nacht sehr dunkel.
Plötzlich stieß Legolas einen Schrei aus: »Die Pferde, die Pferde!«
Die Pferde waren fort. Sie hatten ihre Pflöcke herausgerissen und
waren verschwunden. Eine Zeitlang standen die drei Gefährten still und
schweigend da, bekümmert über diesen neuen Schicksalsschlag. Sie waren
am Saum von Fangorn, und endlose Meilen lagen zwischen ihnen und den
Menschen von Rohan, ihren einzigen Freunden in diesem weiten, gefähr-
lichen Land. Während sie dort standen, war es ihnen, als hörten sie fern
in der Nacht Pferdegewieher. Dann war wieder alles still bis auf das kalte
Rascheln des Windes.
»Nun, sie sind fort«, sagte Aragorn schließlich. »Wir können sie nicht
suchen oder einfangen; kommen sie nicht aus freiem Willen wieder, müs-
sen wir uns also ohne sie behelfen. Wir sind zu Fuß aufgebrochen, und
die Füße haben wir noch.«
»Füße!« sagte Gimli. »Wir können sie aber nicht ebenso gut essen wie
auf ihnen laufen.« Er warf etwas Holz auf das Feuer und hockte sich
daneben.
»Erst vor ein paar Stunden warst du nicht bereit, dich auf ein Pferd
von Rohan zu setzen«, lachte Legolas. »Du wirst noch ein Reiter werden.«
»Es ist unwahrscheinlich, daß ich Gelegenheit dazu haben werde«,
sagte Gimli.
»Wenn ihr wissen wollt, was ich glaube«, begann er nach einer Weile
wieder, »ich glaube, daß es Saruman war. Wer sonst? Erinnert euch an
Éomers Worte: er erscheint hier und dort als ein alter Mann in Kapuze
und Mantel. Das waren seine Worte. Er hat unsere Pferde fortgeführt
oder so erschreckt, daß sie fortgelaufen sind, und wir sitzen nun da. Wir
werden noch mehr Ärger bekommen, merkt euch meine Worte!«
»Ich merke sie mir«, sagte Aragorn. »Aber ich habe auch gemerkt,
daß dieser alte Mann einen Hut trug, keine Kapuze. Dennoch zweifle ich
nicht, daß du richtig vermutest und wir hier bei Nacht oder Tag in Ge-
fahr sind. Indes können wir einstweilen nichts tun als uns ausruhen,
solange es geht. Ich werde jetzt eine Zeitlang wachen, Gimli. Ich habe es
nötiger, nachzudenken als zu schlafen.«
Langsam verging die Nacht. Legolas löste Aragorn ab, und Gimli löste
Legolas ab, und ihre Wachen verstrichen. Aber nichts geschah. Der alte
Mann erschien nicht wieder, und die Pferde kehrten nicht zurück.