ERSTES KAPITEL
BOROMIRS TOD

Aragorn eilte weiter den Berg hinauf. Dann und wann bückte er
sich und untersuchte den Boden. Hobbits haben einen leichten Schritt,
und selbst für einen Waldläufer sind ihre Fußspuren nicht leicht zu lesen;
doch nicht weit vom Gipfel kreuzte eine Quelle den Pfad, und auf der nas-
sen Erde sah er, was er suchte.
»Ich habe die Zeichen richtig gelesen«, sagte er zu sich. »Frodo ist zum
Berggipfel gelaufen. Was mag er dort wohl gesehen haben? Aber er kam
auf demselben Weg zurück und ist bergab gegangen.«
Aragorn zögerte. Er hatte selbst den Wunsch, zu dem Hochsitz zu ge-
hen, denn er hoffte, dort etwas zu sehen, das ihn aus seiner Ratlosigkeit
herausführen könnte; doch die Zeit drängte. Plötzlich sprang er voran und
rannte zum Gipfel, über die großen Steinplatten und die Stufen hinauf.
Als er dann auf dem Hochsitz saß, blickte er sich um. Aber die Sonne
schien verdunkelt und die Welt verschwommen und entrückt. Er wandte
sich von Norden ringsum wieder nach Norden zurück, und er sah nichts
als die fernen Berge; nur dort, wo sie in ganz weiter Ferne lagen, sah er
wiederum einen großen Vogel, vielleicht einen Adler, der in weiten Krei-
sen langsam zur Erde niederschwebte.
Während er noch schaute, vernahmen seine scharfen Ohren Geräusche
in dem Waldgelände unten am Westufer des Flusses. Er fuhr zusammen.
Es waren Schreie, und zu seinem Entsetzen erkannte er darunter die rau-
hen Stimmen von Orks. Dann plötzlich erklang das tieftönende Schmet-
tern eines großen Horns, und sein Schall traf auf die Berge und hallte in
den Tälern wider und erhob sich zu einem mächtigen Ruf, der das Brau-
sen des Wasserfalls übertönte.
»Das Horn von Boromir!« rief er. »Er ist in Not!« Aragorn sprang über
die Stufen und eilte den Pfad hinunter. »O weh! Ein böses Geschick liegt
heute auf mir, und alles, was ich tue, läuft falsch. Wo ist Sam?«
Während er rannte, waren die Schreie erst lauter geworden und dann
leiser, und das Horn blies verzweifelt. Wütend und schrill stiegen die
Schreie der Orks auf, und plötzlich verstummte das Horn. Aragorn eilte
über den letzten Hang, doch ehe er den Fuß des Berges erreicht hatte,
wurden die Geräusche schwächer; und als er sich nach links wandte und
auf sie zulief, entfernten sie sich, bis er sie schließlich nicht mehr hörte.
Er zog sein blankes Schwert und brach mit dem Ruf Elendil! Elendil! zwi-
schen den Bäumen hindurch.
Eine Meile vielleicht von Parth Galen, auf einer kleinen Lichtung nicht
weit vom See, fand er Boromir. Er saß mit dem Rücken an einem großen
Baum, als ob er ruhe. Aber Aragorn sah, daß er von vielen schwarzge-
fiederten Pfeilen durchbohrt war; sein Schwert hielt er noch in der Hand,
doch war es dicht am Heft abgebrochen; sein in zwei Teile geborstenes
Horn lag neben ihm. Viele erschlagene Orks lagen um ihn herum und zu
seinen Füßen.
Aragorn kniete neben ihm nieder. Boromir öffnete die Augen und
mühte sich zu sprechen. Schließlich kamen zögernde Worte. »Ich habe
versucht, Frodo den Ring wegzunehmen«, sagte er. »Es tut mir leid. Ich
habe dafür bezahlt.« Sein Blick wanderte über die gefallenen Feinde;
zumindest zwanzig lagen dort. »Sie sind fort, die Halblinge; die Orks
haben sie mitgenommen. Ich glaube, sie sind nicht tot. Orks haben sie ge-
fesselt.« Er hielt inne und schloß ermattet die Augen. Nach einem
Augenblick sprach er noch einmal.
»Leb wohl, Aragon! Geh nach Minas Tirith und rette mein Volk! Ich
habe versagt.«
»Nein!« sagte Aragorn, nahm seine Hand und küßte ihn auf die Stirn.
»Du hast gesiegt. Wenige haben einen solchen Sieg errungen. Sei beru-
higt! Minas Tirith soll nicht fallen!«
Boromir lächelte.
»In welcher Richtung sind sie gegangen? War Frodo da?« fragte Ara-
gorn.
Aber Boromir sprach nicht mehr.
»O weh!« sagte Aragorn. »So stirbt der Erbe von Denethor, des Herrn
des Turms der Wache! Das ist ein bitteres Ende. Jetzt ist die Gemeinschaft
ganz zerstört. Ich bin es, der versagt hat. Vergeblich war Gandalfs Ver-
trauen zu mir. Was soll ich nun tun? Boromir hat mir auferlegt, nach
Minas Tirith zu gehen, und mein Herz wünscht es; aber wo sind der Ring
und sein Träger? Wie soll ich sie finden und die Fahrt vor dem Scheitern
bewahren?«
Eine Weile kniete er noch, gebeugt vom Schmerz, und umklammerte
Boromirs Hand. So fanden ihn Legolas und Gimli. Sie kamen von den
westlichen Hängen des Bergs, lautlos, und krochen zwischen den
Bäumen hindurch, als ob sie auf Jagd seien. Gimli hatte die Axt in der
Hand und Legolas sein langes Messer; alle seine Pfeile waren verschossen.
Als sie auf die Lichtung kamen, hielten sie bestürzt inne; und dann blie-
ben sie einen Augenblick stehen, die Köpfe voll Trauer gesenkt, denn es
schien ihnen klar, was geschehen war.
»O weh!« sagte Legolas und kam zu Aragorn. »Wir haben im Wald
viele Orks gejagt und erschlagen, aber hier wären wir nützlicher gewesen.
Wir kamen, als wir das Horn hörten — doch zu spät offenbar. Ich fürchte,
du hast eine tödliche Wunde erhalten.«
»Boromir ist tot«, sagte Aragorn. »Ich bin unverletzt, denn ich war
nicht bei ihm. Er fiel, als er die Hobbits verteidigte, während ich auf dem
Berg war.«
»Die Hobbits!« rief Gimli. »Wo sind sie nun? Wo ist Frodo?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Aragorn müde. »Ehe er starb, hat
Boromir gesagt, daß die Orks sie gefesselt hätten; er glaubte nicht, daß sie
tot seien. Ich schickte ihn aus, Merry und Pippin zu folgen; aber ich habe
ihn nicht gefragt, ob Frodo oder Sam bei ihm war; erst als es zu spät war.
Alles, was ich heute getan habe, ist falsch gelaufen. Was ist jetzt zu tun?«
»Zuerst müssen wir den Gefallenen bestatten«, sagte Legolas. »Wir
können ihn hier nicht wie Aas zwischen diesen abscheulichen Orks lie-
gen lassen.«
»Aber wir müssen uns eilen« sagte Gimli. »Er würde nicht wollen, daß
wir uns hier lange aufhalten. Wir müssen die Orks verfolgen, wenn Hoff-
nung besteht, daß irgend welche von unserer Gemeinschaft noch am
Leben und ihre Gefangenen sind.«
»Doch wissen wir nicht, ob der Ringträger bei ihnen ist oder nicht«,
sagte Aragorn. »Sollen wir ihn in Stich lassen? Müssen wir nicht zuerst
ihn suchen? Eine schwere Entscheidung steht uns bevor!«
»Dann laßt uns zuerst tun, was wir tun müssen«, sagte Legolas. »Wir
haben weder die Zeit noch die Werkzeuge, um unseren Gefährten ange-
messen zu begraben oder ihm einen Hügel aufzuschütten. Ein Steingrab
könnten wir vielleicht bauen.«
»Die Arbeit würde hart und langwierig sein: hier in der Nähe gibt es
keine Steine, die wir gebrauchen könnten, nur am Ufer«, sagte Gimli.
»Dann laßt uns ihn mit seinen Waffen und den Waffen seiner besieg-
ten Feinde in ein Boot legen«, sagte Aragorn. »Wir werden ihn zu den
Wasserfällen des Rauros schicken und ihn dem Anduin übergeben. Der
Strom von Gondor wird zumindest dafür sorgen, daß kein böses Lebewe-
sen seine Gebeine entehrt.«
Rasch durchsuchten sie die Leichen der Orks und schichteten ihre
Schwerter, gespaltenen Helme und Schilde auf einen Haufen.
»Seht!« rief Aragorn. »Hier finden wir Beweise!« Aus dem Haufen
grausamer Waffen nahm er zwei Messer mit Blattklingen und in Gold und
Rot damasziert; und als er weitersuchte, fand er auch die Scheiden,
schwarz und mit kleinen roten Edelsteinen besetzt. »Das hier ist kein
Kriegsgerät der Orks«, sagte er. »Die Hobbits hatten sie getragen. Zwei-
fellos haben die Orks sie geraubt, aber sie fürchteten sich, die Messer zu
behalten, denn sie erkannten sie als das, was sie sind: Waffen von
Westernis, mit Zauberkräften ausgestattet zum Verderben von Mordor.
Ja, wenn unsere Freunde noch leben, sind sie jetzt waffenlos. Ich werde
die Sachen an mich nehmen, denn wenngleich kaum Hoffnung be-
steht, hoffe ich doch immer noch, sie ihnen zurückgeben zu können.«
»Und ich«, sagte Legolas, »werde alle Pfeile nehmen, die ich finden
kann, denn mein Köcher ist leer.« Er durchstöberte den Haufen und
suchte den Boden ab und fand nicht wenige, die unbeschädigt waren und
einen längeren Schaft hatten als jene Pfeile, die die Orks gewöhnlich be-
nutzten. Er sah sie sich sehr genau an.
Und Aragorn sah sich die Gefallenen an und sagte: »Hier liegen viele,
die nicht Diener von Mordor sind. Einige stammen aus dem Norden, aus
dem Nebelgebirge, wenn ich überhaupt etwas von Orks und ihren Rassen
verstehe. Und hier sind andere, die mir fremd sind. Ihre Ausrüstung ist
ganz und gar nicht nach der Art von Orks!«
Da lagen vier Bilwiß-Krieger von größerer Gestalt, schwärzlich, schlitz-
äugig, mit dicken Beinen und großen Händen. Ihre Waffen waren kurze
Schwerter mit breiten Klingen, nicht die bei Orks üblichen Krummsäbel;
und sie hatten Eibenholzbogen, die ihrer Länge und Form nach wie die
Bogen der Menschen waren. Auf ihren Schilden hatten sie ein fremdes
Wappen: eine kleine weiße Hand inmitten eines schwarzen Feldes; auf
der Stirnseite ihrer eisernen Helme war eine aus einem weißen Metall ge-
schmiedete S-Rune angebracht.
»Ich habe diese Zeichen noch nie gesehen«, sagte Aragorn. »Was be-
deuten sie wohl?«
»S steht für Sauron«, sagte Gimli. »Das ist leicht zu lesen.«
»Nein«, sagte Legolas. »Sauron gebraucht keine Elbenrunen.«
»Und ebensowenig gebraucht er seinen richtigen Namen und erlaubt
auch nicht, daß er geschrieben oder ausgesprochen wird«, sagte Aragorn.
»Und er gebraucht kein Weiß. Die Orks im Dienste von Barad-dûr tragen
das Zeichen des Roten Auges.« Er stand einen Augenblick in Gedanken
versunken da. »S bedeutet Saruman, vermute ich«, sagte er schließlich.
»Da ist Böses im Gange in Isengart, und der Westen ist nicht länger
sicher. Es ist, wie Gandalf gefürchtet hatte: auf irgendeine Weise hat der
Verräter Saruman Nachricht über unsere Fahrt erhalten. Ebenso wahr-
scheinlich wird er auch über Gandalfs Ende Bescheid wissen. Verfolger
aus Moria mögen Lóriens Wachsamkeit entgangen sein oder haben viel-
leicht dieses Land gemieden und sind auf anderen Pfaden nach Isengart
gelangt. Orks wandern schnell. Doch hat Saruman viele Möglichkeiten,
Neues zu erfahren. Erinnert ihr euch der Vögel?«
»Nun, wir haben jetzt keine Zeit, über Rätsel nachzugrübeln«, sagte
Gimli. »Laßt uns Boromir forttragen!«
»Aber danach werden wir die Rätsel lösen müssen, wenn wir die rich-
tige Entscheidung über unseren Weg treffen sollen«, antwortete Aragorn.
»Vielleicht gibt es keine richtige Entscheidung«, sagte Gimli.
Der Zwerg nahm seine Axt und hieb mehrere Äste ab. Sie banden sie
mit Bogensehnen zusammen und breiteten ihre Mäntel über das Gestell.
Auf dieser rohen Bahre trugen sie ihren toten Gefährten zum Ufer und
nahmen an Siegesbeute von seinem letzten Kampf mit, was sie ihm mit-
zugeben gedachten. Es war nur ein kurzer Weg, dennoch fanden sie die
Aufgabe nicht leicht, denn Boromir war ein großer und starker Mann.
Aragorn blieb am Ufer und hielt Wache an der Bahre, während Lego-
las und Gimli zu Fuß nach Parth Galen zurückeilten. Es war eine Meile
oder noch weiter, und es dauerte einige Zeit, ehe sie zurückkamen und
zwei Boote geschwind am Ufer entlangpaddelten.
»Etwas Seltsames haben wir zu berichten«, sagte Legolas. »Es waren
nur zwei Boote am Steilufer. Von dem dritten konnten wir keine Spur
entdecken.« »Sind Orks dort gewesen?« fragte Aragorn.
»Wir sahen keine Spuren von ihnen«, antwortete Gimli. »Und Orks
hätten alle Boote genommen oder zerstört, und das Gepäck ebenso.«
»Ich werde mir den Boden ansehen, wenn wir dort hinkommen«, sagte
Aragorn.
Nun legten sie Boromir in die Mitte des Bootes, das ihn davontragen
sollte. Die graue Kapuze und den Elbenmantel falteten sie zusammen und
legten sie ihm unter den Kopf. Sie kämmten sein langes, dunkles Haar
und ordneten es auf seinen Schultern. Der goldene Gürtel von Lórien fun-
kelte um seinen Leib. Den Helm legten sie neben ihn und auf seinen
Schoß das gespaltene Horn und das Heft und die Bruchstücke seines
Schwerts. Zu seinen Füßen lagen die Schwerter seiner Feinde. Dann befe-
stigten sie den Bug des Boots am Heck des anderen und zogen es hinaus
auf das Wasser. Traurig ruderten sie am Ufer entlang, und als sie in die
schnell fließende Stromrinne einbogen, kamen sie an dem grünen Rasen
von Parth Galen vorbei. Die steilen Hänge des Tol Brandir erglühten: der
Nachmittag war schon fortgeschritten. Als sie nach Süden fuhren, stieg
vor ihnen der Sprühregen des Rauros auf und schimmerte wie ein golde-
ner Nebel. Das Tosen und Donnern des Wasserfalls erschütterte die wind-
lose Luft.
Gramerfüllt lösten sie die Vertäuung des Bestattungsboots: dort lag
Boromir, ruhig, friedlich über die Tiefe des fließenden Wassers hinweg-
gleitend. Der Strom nahm ihn zu sich, während sie ihr Boot mit den Pad-
deln zurückhielten. Er trieb an ihnen vorbei, und langsam entfernte sich
sein Boot und wurde kleiner, bis es ein dunkler Fleck vor dem goldenen
Licht war; und dann verschwand es plötzlich. Rauros dröhnte unverän-
dert weiter. Der Fluß hatte Boromir, Denethors Sohn, zu sich genommen,
und nie wieder ward er in Minas Tirith auf dem Weißen Turm gesehen,
wo er des Morgens zu stehen pflegte. Doch in späteren Zeiten hieß es in
Gondor noch lange, das Elbenboot sei den Wasserfall hinunter und durch
die schäumende Flut gefahren und habe ihn durch Osgiliath und an den
zahlreichen Mündungen des Anduin vorbei bei Nacht unter den Sternen
hinausgetragen in das Große Meer.
Eine Weile schwiegen die drei Gefährten und blickten ihm nach. Dann
sprach Aragorn. »Sie werden Ausschau nach ihm halten vom Weißen
Turm«, sagte er, »doch wird er nicht heimkehren vom Gebirge oder vom
Meer.« Dann begann er langsam zu singen:
Durch Rohan über Moor und Feld und grünes Weideland
Bis an die Mauern zieht der Wind, von Westen ausgesandt.
»Was bringst du Neues aus Westen, o Wind, was sagst du zu Abend
mir an?
Sahst du im Mondlicht Boromir, den hohen Rittersmann?
»Über sieben Ströme sah ich ihn, über Wasser breit und grau
Gen Norden reiten durch leeres Land, das öde ist und rauh.
Vielleicht sah ihn der Nordwind dort, wo ich seine Spur verlorn,
Und vernahm den Schall, den Denethors Sohn noch einmal stieß ins

Horn.
»O Boromir! Von hoher Wehr blick ich gen Westen aus,
Doch aus dem menschenleeren Land kamst du nicht mehr nach Haus.

Dann sang Legolas:
Von der Mündung herauf, von der fernen See kommt der Südwind
herangejagt;

Das Schreien der Möwen begleitet ihn, wie er an den Toren klagt.
»Was bringst du Neues aus Süden, o Wind, was sagst du mir an
zur Nacht?
Wo blieb er, der Schöne? Um Boromir halt' ich traurige Wacht.
»Frag nicht nach seinem Aufenthalt — auf sturmgepeitschtem Strand
Unter dunklem Himmel liegt Totengebein zuhauf im weißen Sand.
So viele kamen den Anduin herab ins brandende Meer.
Frage den Nordwind! Wen er schickt, weiß niemand als nur er.

O Boromir! Zur Küste führt vom Tor der Straße Lauf,
Doch mit den Möwen kamst du nicht von der grauen See herauf.

Dann sang Aragorn wieder:
Vom Tor der Könige her und vorbei an Rauros tosendem Fall
Reitet der Nordwind; am Turm erklingt seines Harnes kalter Schall.
"Was bringst du Neues aus Norden, o Wind, welche Kunde am heu-
tigen Tag?
Weißt du, wo der kühne Boromir so lange weilen mag?
»Ich vernahm seinen Ruf am Amon Hen. Dort schlug er seine Schlacht.
Geborsten wurden Schild und Schwert zum Anduin gebracht.
Sie betteten das stolze Haupt, den edlen Leib zur Ruh,
Stromabwärts trug ihn Rauros Fall dem fernen Meere zu.

O Boromir! Für immer soll fortan der Turm der Wacht
Gen Norden schaun zum Wasserfall, zu Rauros' goldner Pracht.
So endeten sie. Dann wendeten sie ihr Boot und paddelten, so rasch sie
gegen die Strömung ankamen, zurück nach Parth Galen.
»Den Ostwind habt ihr mir überlassen«, sagte Gimli, »aber ich will
nichts über ihn sagen.«
»So sollte es auch sein«, sagte Aragorn. »In Minas Tirith ertragen sie
den Ostwind, aber sie fragen ihn nicht nach seinen Botschaften. Doch
jetzt hat Boromir seinen Weg angetreten, und wir müssen uns eilen, den
unseren zu wählen.«
Er untersuchte die grüne Wiese, rasch, aber gründlich, und bückte sich
oft zur Erde. »Keine Orks sind hier gewesen«, sagte er. »Sonst kann ich
nichts genau feststellen. Unser aller Fußstapfen sind da und gehen hierhin
und dorthin. Ich kann nicht sagen, ob irgendwelche Hobbits zurückge-
kommen sind, seit die Suche nach Frodo begann.« Er kehrte zum Steilufer
zurück, nahe der Stelle, wo das Rinnsal von der Quelle hinaus in den Fluß
tröpfelte. »Hier sind ein paar deutliche Abdrücke«, sagte er. »Ein Hobbit
ist in das Wasser gewatet und wieder zurück; aber ich kann nicht sagen,
wie lange es her ist.«
»Wie erklärst du dir dann das Rätsel?« fragte Gimli.
Aragorn antwortete nicht sofort, sondern ging zurück zum Lagerplatz
und sah sich das Gepäck an. »Zwei Bündel fehlen«, sagte er, »und eins
davon ist gewiß Sams: es war ziemlich groß und schwer. Das scheint also
die Lösung zu sein: Frodo ist mit dem Boot fortgefahren, und sein Diener
ist mit ihm gefahren. Frodo muß zurückgekommen sein, als wir alle fort
waren. Ich traf Sam, als er den Berg hinaufging, und sagte ihm, er solle
mir folgen; aber offenbar hat er das nicht getan. Er erriet die Gedanken
seines Herrn und kam hierher zurück, ehe Frodo fort war. Frodo fand es
nicht leicht, Sam zurückzulassen!«
»Aber warum ließ er uns zurück und ohne ein Wort?« fragte Gimli.
»Das war eine seltsame Tat!«
»Und eine tapfere Tat«, sagte Aragorn. »Sam hatte recht, glaube ich.
Frodo wollte nicht, daß ihn irgendeiner seiner Freunde auf der Todesfahrt
nach Mordor begleite. Aber er wußte, daß er selbst gehen mußte. Irgend
etwas geschah, nachdem er uns verlassen hatte, das stärker war als seine
Angst und sein Zweifel.«
»Vielleicht haben ihn Orks, die nach ihm suchten, aufgespürt, und er
floh«, sagte Legolas.
»Er floh gewiß« sagte Aragorn, »aber nicht vor Orks, glaube ich.«
Was seiner Meinung nach der Grund für Frodos plötzlichen Entschluß
und seine Flucht war, sagte Aragorn nicht. Boromirs letzte Worte hielt er
lange geheim.
»Nun, so viel ist jetzt wenigstens klar«, sagte Legolas. »Frodo ist nicht
mehr auf dieser Seite des Flusses: nur er kann das Boot genommen haben.
Und Sam ist bei ihm; nur er hätte sein Bündel genommen.«
»Wir stehen nun vor der Entscheidung«, sagte Gimli, »entweder das
letzte Boot zu nehmen und Frodo zu folgen, oder aber zu Fuß die Orks zu
verfolgen. Beides ist nicht sehr hoffnungsvoll. Wir haben bereits kostbare
Stunden verloren.«
»Laßt mich nachdenken«, sagte Aragorn. »Und möge ich jetzt eine
richtige Entscheidung treffen und das böse Geschick dieses unseligen
Tages wenden!« Er verharrte einen Augenblick schweigend. »Ich werde
die Orks verfolgen«, sagte er schließlich. »Ich hätte Frodo nach Mordor
geführt und wäre bis zum Ende mit ihm gegangen; aber wenn ich ihn
jetzt in der Wildnis suche, muß ich die Gefangenen im Stich lassen und
sie der Folter und dem Tod ausliefern. Mein Herz spricht endlich deutlich:
das Schicksal des Trägers liegt nicht länger in meiner Hand. Die Gemein-
schaft hat ihre Rolle gespielt. Dennoch können wir, die wir übrig geblie-
ben sind, nicht unsere Gefährten preisgeben. Kommt! Wir wollen jetzt ge-
hen. Laßt alles zurück, was entbehrlich ist. Wir wollen vorwärtseilen bei
Tag und bei Nacht!«
Sie zogen das letzte Boot heraus und trugen es zu den Bäumen. Darun-
ter legten sie diejenigen ihrer Sachen, die sie nicht brauchten und nicht
mitnehmen konnten. Dann verließen sie Parth Galen. Der Nachmittag
verblaßte, als sie zu der Lichtung zurückkamen, wo Boromir gefallen war.
Dort nahmen sie die Spur der Orks auf. Es bedurfte keiner großen Kunst,
sie zu finden.
»Kein anderes Volk trampelt derartig herum«, sagte Legolas. »Es
scheint ihnen Freude zu machen. Pflanzen, die ihnen nicht einmal im
Wege sind, zu zerstören und abzuhauen.«
»Aber trotz alledem gehen sie mächtig schnell«, sagte Aragorn, »und
werden nicht müde. Und später mag es sein, daß wir unseren Weg in
ödem, kahlem Gelände suchen müssen.«
»Also, ihnen nach!« sagte Gimli. »Auch Zwerge vermögen schnell zu
gehen und werden nicht eher müde als Orks. Aber es wird eine lange
Verfolgung werden: sie haben einen großen Vorsprung.«
»Ja«, sagte Aragorn, »wir alle werden die Ausdauer von Zwergen
brauchen. Aber kommt! Mit Hoffnung oder ohne Hoffnung werden wir
der Spur unserer Feinde folgen. Und wehe ihnen, wenn wir uns als
schneller erweisen! Wir werden eine solche Hetzjagd veranstalten, daß sie
als ein Wunder betrachtet werden wird unter den Drei Geschlechtern:
Elben, Zwergen und Menschen. Vorwärts, die Drei Jäger!«
Wie ein Hirsch sprang er davon. Durch die Bäume eilte er. Weiter und
immer weiter führte er sie, unermüdlich und schnell, da er nun endlich zu
einem Entschluß gekommen war. Die Wälder um den See ließen sie hinter
sich. Lange Hänge erklommen sie, die sich dunkel und scharfkantig gegen
den schon vom Sonnenuntergang geröteten Himmel abhoben. Die Däm-
merung senkte sich herab. Sie verschwanden, graue Schatten in einem
steinigen Land.

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