ACHTES KAPITEL
DIE TREPPEN VON CIRITH UNGOL

Gollum zerrte an Frodos Mantel und zischte vor Angst und Ungeduld.
»Wir müssen gehen«, sagte er. »Wir dürfen hier nicht stehen bleiben. Eilt
Euch!«
Widerstrebend wandte Frodo dem Westen den Rücken und folgte sei-
nem Führer, der ihm voranging in die Dunkelheit des Ostens. Sie verlie-
ßen den Kreis der Bäume und schlichen entlang der Straße auf das Ge-
birge zu. Auch diese Straße lief eine Weile geradeaus, aber bald bog sie
nach Süden ab, bis sie genau unter den großen Felsvorsprung kam, den
sie aus der Feme gesehen hatten. Schwarz und drohend ragte er über
ihnen auf, dunkler als der dunkle Himmel dahinter. Unter seinem Schat-
ten kroch die Straße weiter, umrundete ihn, drehte dann wieder nach
Osten und begann steil zu steigen.
Frodo und Sam schleppten sich schweren Herzens voran und vermoch-
ten sich nicht mehr groß um ihre Gefahr zu sorgen. Frodo hielt den Kopf
gesenkt; seine Last zog ihn wieder nach unten. Kaum war die große Weg-
scheide überschritten, da nahm ihr Gewicht, das er in Ithilien fast verges-
sen hatte, wieder zu. Jetzt, da er merkte, daß der Weg vor seinen Füßen
steil wurde, blickte er müde auf; und dann sah er sie, wie Gollum es vor-
ausgesagt hatte: die Stadt der Ringgeister. Er verkroch sich an die stei-
nige Böschung.
Ein lang ansteigendes Tal, ein tiefer Abgrund des Schattens, zog sich
weit hinauf in das Gebirge. Jenseits, aber noch vom Tal umschlossen, er-
hoben sich auf einem Felsen über den schwarzen Knien des Ephel Dúath
die Mauern und der Turm von Minas Morgul. Alles war ringsum dunkel,
Erde und Himmel, aber Minas Morgul war von Licht erhellt. Es war nicht
das eingefangene Mondlicht, das vor langer Zeit durch die Marmorwälle
von Minas Ithil flutete, dem Turm des Mondes, der schön und strahlend
in der Senke zwischen den Bergen stand. Bleicher vielmehr als der an
einer langsamen Verfinsterung siechende Mond war das Licht jetzt, flak-
kemd und wehend wie eine ungesunde Ausdünstung von Verwesung, ein
Leichenlicht, ein Licht, das nichts erhellte. In den Mauern und im Turm
waren Fenster zu sehen wie unzählige schwarze Löcher, die nach innen
ins Leere schauten; aber die oberste Steinschicht des Turms drehte sich
langsam, zuerst hierhin und dann dorthin, ein riesiger gespenstischer
Kopf, der in die Nacht hinausschielte. Einen Augenblick standen die drei
Gefährten verschreckt da und starrten hinauf mit unwilligen Augen.
Gollum war der erste, der sich faßte. Wieder zerrte er drängend an ihren
Mänteln, aber er sprach kein Wort. Fast zog er sie mit sich. Jeder Schritt
war widerstrebend, und die Zeit schien sich zu verlangsamen, so daß zwi-
schen dem Anheben und dem Aufsetzen eines Fußes Minuten des Wider-
willens vergingen.
So kamen sie langsam zu der weißen Brücke. Hier überquerte die
schwach schimmernde Straße den Bach in der Mitte des Tals und zog sich
in Windungen hinauf zum Tor der Stadt: eine schwarze Öffnung im
äußeren Ring der nördlichen Wälle. Breite Niederungen erstreckten sich
auf beiden Ufern, schattige Wiesen voll blasser, weißer Blumen. Leuch-
tend waren auch sie, schön und dennoch von schauerlicher Form, wie
Wahngebilde in einem unruhigen Traum; und sie strömten einen schwa-
chen, widerwärtigen Leichengeruch aus; ein Hauch von Fäulnis lag in der
Luft. Von Wiese zu Wiese sprang die Brücke. Steinbilder standen am
Brückenkopf, gekonnt in menschlicher und tierischer Gestalt gemeißelt,
aber alle waren entstellt und ekelhaft. Das Wasser, das unten floß, war
still, aber es dampfte, doch der Dampf, der aufstieg und um die Brücke
wogte und wallte, war tödlich kalt. Frodo spürte, wie seine Sinne sich
vernebelten und sein Verstand sich verdunkelte. Dann plötzlich, als ob
eine andere Kraft als sein eigener Wille am Werk sei, begann er zu eilen,
vorwärts zu taumeln, die Hände tastend ausgestreckt, sein Kopf von einer
Seite zur anderen baumelnd. Sam und Gollum rannten ihm beide nach.
Sam fing seinen Herrn in den Armen auf, als er stolperte und gerade auf
der Schwelle der Brücke fast gefallen wäre.
»Nicht da lang! Nein, nicht da lang!« flüsterte Gollum, aber der Atem
zwischen seinen Zähnen schien die drückende Stille wie ein Pfiff zu zer-
reißen, und er kauerte sich voll Entsetzen auf den Boden.
»Halt an, Herr Frodo!« sagte Sam Frodo ins Ohr. »Komm zurück!
Nicht da lang. Gollum sagt nein, und diesmal bin ich seiner Meinung.«
Frodo fuhr sich mit der Hand über die Stirn und zwang sich, den Blick
von der Stadt auf dem Berg abzuwenden. Der leuchtende Turm zog ihn in
seinen Bann, und er kämpfte gegen den Wunsch, der ihn gepackt hatte,
die schimmernde Straße bis zu dem Tor hinaufzulaufen. Mit Mühe drehte
er sich schließlich um, und dabei spürte er, wie der Ring ihm Widerstand
leistete und an der Kette zog, die er um den Hals trug; auch schienen
seine Augen, als er fortschaute, für einen Augenblick blind geworden zu
sein. Die Dunkelheit vor ihm war undurchdringlich.
Gollum, der wie ein erschrecktes Tier auf dem Boden kroch, ver-
schwand schon in der Düsternis. Sam stützte und führte seinen taumeln-
den Herrn und folgte ihm, so rasch er konnte. Nicht weit vom diesseiti-
gen Ufer des Bachs war ein Loch in der Steinmauer neben der Straße.
Dort gingen sie hindurch, und Sam sah, daß sie auf einem schmalen Pfad
waren, der wie die Hauptstraße zuerst schwach schimmerte. Doch nach-
dem er die Wiesen der tödlichen Blumen hinter sich gelassen hatte, ver-
blaßte er und wurde dunkel, während er sich im Zickzack an den nörd-
lichen Hängen des Tals hinaufwand.
Auf diesem Pfad schleppten sich die Hobbits voran; sie gingen neben-
einander und konnten Gollum vor sich nicht sehen, außer wenn er sich
umdrehte und ihnen winkte. Dann schimmerten seine Augen grünlich-
weiß; vielleicht spiegelten sie den ungesunden Morgul-Schein wider oder
waren entflammt von einer entsprechenden inneren Stimmung. Dieses
tödlichen Glanzes und der dunklen Augenhöhlen waren sich Frodo und
Sam immer bewußt, dauernd blickten sie ängstlich über die Schulter und
dauernd zwangen sie ihren Blick wieder auf den dunkel werdenden Pfad.
Langsam schleppten sie sich voran. Als sie über den Gestank und die
Dämpfe des giftigen Bachs hinauskamen, wurde ihr Atem leichter und
ihre Köpfe klarer; aber jetzt waren ihre Glieder todmüde, als ob sie die
ganze Nacht schwer beladen gelaufen oder lange gegen eine starke Strö-
mung geschwommen seien. Schließlich konnten sie nicht weitergehen
ohne eine Unterbrechung.
Frodo blieb stehen und setzte sich auf einen Stein. Sie hatten jetzt den
Gipfel eines kahlen, felsigen Höckers erklommen. Vor ihnen lag eine Ein-
senkung in der Talseite, und um deren oberen Rand herum ging der Pfad
weiter, und er war nicht mehr als ein breites Gesims mit einem Abgrund
zur Rechten; über die steile Flanke des Gebirges kroch er hinauf, bis er
oben in der Schwärze verschwand.
»Ich muß eine Weile rasten, Sam«, flüsterte Frodo. »Er ist so schwer,
Sam, mein Junge, sehr schwer. Ich möchte mal wissen, wie weit ich ihn
noch tragen kann? Jedenfalls muß ich mich ausruhen, ehe ich mich da
hinauf wage.« Er zeigte auf den schmalen Weg.
»Pst! Pst!« zischte Gollum und eilte zu ihnen zurück. »Pst!« Er legte
den Finger auf die Lippen und schüttelte nachdrücklich den Kopf. Er zog
Frodo am Ärmel und deutete auf den Pfad. Aber Frodo wollte nicht wei-
tergehen.
»Noch nicht«, sagte er, »noch nicht.« Müdigkeit und mehr als Müdig-
keit bedrückte ihn; es schien, als ob ein starker Zauberbann auf seinem
Geist und seinem Körper läge. »Ich muß mich ausruhen«, murmelte er.
Nun wurden Gollums Angst und Unruhe so groß, daß er wieder
sprach und hinter der vorgehaltenen Hand zischte, als wolle er verhin-
dern, daß ungesehene Lauscher in der Luft das Geräusch hören. »Nicht
hier, nein. Nicht hier rasten, Narren! Augen können uns sehen. Wenn sie
auf die Brücke kommen, werden sie uns sehen. Kommt weg! Klettert,
klettert! Kommt!«
»Komm, Herr Frodo«, sagte Sam. »Er hat wieder recht. Wir können
hier nicht bleiben.«
»Nun gut«, sagte Frodo mit einer fernen Stimme wie einer, der halb im
Schlaf spricht. »Ich will's versuchen.« Müde stand er auf.
Aber es war zu spät. In diesem Augenblick erbebte der Fels und zit-
terte unter ihnen. Das mächtige rumpelnde Geräusch, lauter als zuvor,
dröhnte im Boden und hallte in den Bergen wider. Dann kam mit versen-
gender Plötzlichkeit ein großer roter Blitz. Weit hinter dem östlichen Ge-
birge fuhr er über den Himmel und färbte die finster drohenden Wolken
mit hellem Rot. In diesem Tal des Schattens und des kalten, tödlichen
Lichts erschien das unerträglich gewalttätig und heftig. Wie gezackte
Dolche hoben sich Felsgipfel und Grate in greller Schwärze von der auflo-
dernden Flamme in Gorgoroth ab. Dann kam ein gewaltiger Donner-
schlag.
Und Minas Morgul antwortete. Fahle Blitze flammten auf: gezackte
blaue Flammen schössen vom Turm und den umgebenden Bergen empor
in die dunklen Wolken. Die Erde stöhnte; und aus der Stadt kam ein
Schrei. Vermischt mit rauhen, hohen Stimmen wie von Raubvögeln und
dem schrillen Wiehern von Pferden, wild vor Raserei und Angst, kam ein
zerreißender Schrei, zitternd und rasch zu einer durchdringenden Ton-
höhe ansteigend, die nicht mehr anzuhören war. Die Hobbits fuhren
herum, warfen sich zu Boden und hielten sich mit den Händen die Ohren
Als der entsetzliche Schrei endete und über ein langes, abscheuliches
Wehklagen in Stille überging, hob Frodo langsam den Kopf. Jenseits des
engen Tals, fast auf gleicher Höhe mit seinen Augen, standen die Wälle
der bösen Stadt, und ihr höhlenartiges Tor, das wie ein offener Mund mit
schimmernden Zähnen gestaltet war, öffnete sich weit. Und aus dem Tor
kam ein Heer.
Die ganze Feldschar war schwarz gekleidet, dunkel wie die Nacht. Vor
den düsteren Mauern und dem leuchtenden Pflaster der Straße konnte
Frodo sie sehen, kleine, schwarze Gestalten, eine Reihe hinter der anderen
rasch und leise marschierend, und sie ergossen sich aus dem Tor in einem
endlosen Strom. Vor ihnen ritt eine große Schar Reiter, die sich wie be-
fohlene Schatten bewegten, und an ihrer Spitze war einer, der größer war
als alle anderen; ein Reiter, ganz schwarz bis auf den Helm, den er auf
dem kapuzenbedeckten Kopf trug und der wie eine Krone aussah und mit
einem gefährlichen Licht flackerte. Jetzt näherte er sich unten der Brücke,
und Frodos starrende Augen folgten ihm, unfähig zu zwinkern oder sich
abzuwenden. Gewiß war das der Herr der Neun Reiter, der zur Erde zu-
rückgekehrt war, um sein gespenstisches Heer in die Schlacht zu führen.
Hier, ja, hier war tatsächlich der hagere König, dessen kalte Hand den
Ringträger mit seinem tödlichen Dolch niedergestreckt hatte. Die alte
Wunde bebte vor Schmerz, und eine große Kälte griff nach Frodos Her-
zen.
Während diese Gedanken ihn mit Grauen erfüllten und er festgebannt
war wie durch einen Zauber, hielt der Reiter plötzlich, unmittelbar vor
dem Zugang zur Brücke, und hinter ihm blieb das ganze Heer stehen. Er
zögerte, und es herrschte Totenstille. Vielleicht war es der Ring, der den
Geisterfürsten rief, und einen Augenblick war er beunruhigt, denn er
spürte irgendeine andere Macht in seinem Tal. Hierhin und dorthin
wandte er voll Furcht den behelmten und gekrönten Kopf und suchte mit
seinen unsichtbaren Augen die Schatten ab. Frodo wartete wie ein Vogel
auf das Näherkommen einer Schlange, unfähig, sich zu bewegen. Und
während er wartete, vernahm er drängender denn je zuvor den Befehl, den
Ring aufzusetzen. Aber so stark der Drang auch war, so verspürte er
jetzt keine Neigung, ihm nachzugeben. Er wußte, daß der Ring ihn nur
verraten würde und daß er, selbst wenn er ihn aufsetzte, nicht die Macht
hatte, dem Morgul-König die Stirn zu bieten — noch nicht. Es gab in sei-
nem eigenen Willen nichts mehr, was diesem Befehl Folge zu leisten be-
reit war, obwohl er doch in Angst und Schrecken versetzt war, und er
spürte nur, daß eine große Macht von außen auf ihn einstürmte. Sie er-
griff seine Hand, und während Frodo im Geist zuschaute, es nicht wollte,
aber gespannt war (als ob er irgendeine weit zurückliegende Geschichte
betrachte), schob sie seine Hand Zoll um Zoll zu der Kette um seinen
Hals. Dann regte sich sein eigener Wille; langsam zwang er die Hand zu-
rück und veranlaßte sie, etwas anderes zu suchen, etwas, das an seiner
Brust verborgen lag. Kalt und hart schien es zu sein, als sein Griff es um-
schloß : Galadriels Phiole, die er so lange wie einen Schatz gehütet und bis
zu dieser Stunde fast vergessen hatte. Als er sie berührte, war für eine
Weile jeder Gedanke an den Ring aus seinem Sinn verbannt. Er seufzte
und senkte den Kopf.
In diesem Augenblick wandte sich der Geisterkönig ab, gab seinem
Pferd die Sporen und ritt über die Brücke, und sein ganzes dunkles Heer
folgte ihm. Vielleicht trotzten die Elbenkapuzen seinen unsichtbaren
Augen, und der Geist seines kleinen Feindes, der gestärkt worden war,
hatte sein Denken abgelenkt. Aber er war in Eile. Schon hatte die Stunde
geschlagen, und auf seines großen Herrn Geheiß mußte er gegen den
Westen in den Krieg ziehen.
Bald war er vorbeigeritten, wie ein Schatten in den Schatten, die sich
schlangelnde Straße hinunter, und hinter ihm überquerten die dunklen
Reihen noch immer die Brücke. Seit den Tagen von Isildurs Macht war
niemals ein so großes Heer aus diesem Tal gekommen; kein so grausames
und waffenstarkes Heer hatte je die Furten des Anduin angegriffen; und
dennoch war es nur eins und nicht das größte der Heere, die Mordor jetzt
aussandte.
Frodo bewegte sich. Und plötzlich schlug sein Herz Faramir entgegen.
»Der Sturm ist endlich losgebrochen«, dachte er. »Dieses große Aufgebot
an Speeren und Schwertern geht nach Osgiliath. Wird Faramir rechtzeitig
hinkommen? Er vermutete es, aber wußte er die Stunde? Und wer kann
jetzt die Furten halten, wenn der König der Neun Reiter kommt? Und
noch andere Heere werden kommen. Ich bin zu spät dran. Alles ist verlo-
ren. Zu lange säumte ich unterwegs. Alles ist verloren. Selbst wenn mein
Auftrag ausgeführt wird, wird niemand es erfahren. Niemand wird da
sein, dem ich es sagen kann. Es wird vergebens sein.« Übermannt von
Schwäche, weinte er. Und immer noch zog das Heer von Mordor über die
Brücke.
Dann hörte er aus großer Feme, als ob es aus den Erinnerungen des
Auenlandes käme, an einem sonnenhellen frühen Morgen, wenn der Tag
sich meldete und Türen geöffnet wurden, Sams Stimme. »Wach auf, Herr
Frodo! Wach auf!« Hätte die Stimme hinzugefügt: »Dein Frühstück ist
fertig«, dann wäre er kaum überrascht gewesen. Sam machte es gewiß
sehr dringend. »Wach auf, Herr Frodo! Sie sind weg«, sagte er.
Es gab einen dumpfen Klang. Die Tore von Minas Morgul hatten sich
geschlossen. Die letzte Reihe von Speerträgern war die Straße hinunterge-
zogen und verschwunden. Der Turm zeigte noch über das Tal hinweg die
Zähne, aber das Licht in ihm verblaßte. Die ganze Stadt verfiel wieder in
einen dunklen, schwer lastenden Schatten und in Stille. Wenngleich still,
so war sie doch voller Wachsamkeit.
»Wach auf, Herr Frodo! Sie sind weg, und wir gehen besser auch. Da
ist irgend etwas noch lebendig in dieser Gegend, etwas mit Augen, oder
mit einem sehenden Verstand, wenn du weißt, was ich meine; und je län-
ger wir an einer Stelle bleiben, um so eher wird es uns ausfindig machen.
Komm weiter, Herr Frodo.«
Frodo hob den Kopf und stand dann auf. Die Verzweiflung war nicht
von ihm gewichen, aber die Schwäche war vorbei. Er lächelte sogar grim-
mig, denn er empfand jetzt ebensoklar, wie er einen Augenblick zuvor
noch das Gegenteil empfunden hatte, daß er nämlich das, was er zu tun
hatte, tun mußte, wenn er konnte, und daß es unwichtig war, ob Faramir
oder Aragorn oder Elrond oder Galadriel oder Gandalf oder sonst jemand
es je erführe. Er nahm seinen Stock in eine Hand und die Phiole in die an-
dere. Als er sah, daß das klare Licht ihm schon durch die Finger strömte,
schob er die Phiole unter seinen Mantel und drückte sie ans Herz. Dann
wandte er sich ab von der Stadt Morgul, die jetzt nicht mehr war als ein
grauer Schimmer über einem dunklen Abgrund, und schickte sich an, den
Weg nach oben einzuschlagen.
Offenbar war Gollum auf dem Gesims weiter in die Dunkelheit gekro-
chen, als sich die Tore von Minas Morgul auftaten, und hatte die Hobbits
gelassen, wo sie waren. Jetzt kroch er zurück, mit klappernden Zähnen
und zuckenden Fingern. »Töricht! Dumm!« zischte er. »Eilt euch! Sie
dürfen nicht glauben, daß die Gefahr vorbei ist. Ist sie nicht. Eilt euch!«
Sie antworteten nicht, folgten ihm aber auf das ansteigende Gesims. Es
gefiel ihnen beiden nicht sehr, nicht einmal, nachdem sie so vielen ande-
ren Gefahren ins Auge gesehen hatten; aber es war nicht lang. Bald er-
reichte der Pfad eine abgerundete Kante, wo sich der Berghang wieder
ausbauchte, und dort tauchte er plötzlich durch eine schmale Öffnung in
den Fels ein. Sie waren zu der ersten Treppe gekommen, von der Gollum
gesprochen hatte. Es war fast völlig dunkel, und sie konnten nicht viel
weiter sehen als bis zu ihren ausgestreckten Händen; doch schimmerten
Gollums Augen blaß, mehrere Fuß über ihnen, als er sich zu ihnen um-
drehte.
»Vorsichtig!« flüsterte er. »Stufen. Eine Menge Stufen. Müßt vorsich-
tig sein!«
Vorsicht war gewiß vonnöten. Zuerst war Frodo und Sam wohler zu-
mute, weil sie nun auf beiden Seiten eine Wand hatten, aber die Treppe
war fast so steil wie eine Leiter, und während sie immer höher hinaufstie-
gen, wurden sie sich mehr und mehr des langen schwarzen Gefälles hinter
ihnen bewußt. Und die Stufen waren schmal, in ungleichmäßigem Ab-
stand und oft tückisch: sie waren abgetreten und glatt an den Kanten,
manche waren geborsten und manche zersprangen, wenn man den Fuß
darauf setzte. Die Hobbits quälten sich voran, bis sie sich schließlich mit
verzweifelten Fingern an den oberen Stufen festklammerten und ihre
schmerzenden Knie zwangen, sich zu beugen und zu strecken; und je tie-
fer sich die Treppe in den steilen Berg hineinfraß, um so höher reckten
sich die Felswände über ihren Köpfen.
Endlich, als sie gerade das Gefühl hatten, sie könnten es nicht mehr er-
tragen, sahen sie Gollums Augen wieder zu ihnen herunterschauen. »Wir
sind oben«, flüsterte er. »Die erste Treppe ist vorbei. Kluge Hobbits, daß
sie so hoch klettern, sehr kluge Hobbits. Nur noch ein paar Stufen, und
das ist alles, ja.«
Schwindlig und sehr müde folgten Sam und Frodo ihm, krochen die
letzten Stufen hinauf, setzten sich dann hin und rieben ihre Beine und
Knie. Sie waren in einem tiefen, dunklen Durchgang, der immer noch
vor ihnen zu steigen schien, wenn auch mählicher und ohne Stufen. Gol-
lum ließ sie nicht lange rasten.
»Es kommt noch eine Treppe«, sagte er. »Eine viel längere Treppe.
Ruht euch aus, wenn wir oben sind auf der nächsten Treppe. Jetzt noch
nicht.«
Sam stöhnte. »Länger, sagtest du?« fragte er.
»Ja, ja, länger«, sagte Gollum. »Aber nicht so schwierig. Die Hobbits
sind die Gerade Treppe hinaufgeklettert. Jetzt kommt die Gewundene
Treppe.«
»Und was dann?« fragte Sam.
»Wir werden sehen«, sagte Gollum sanft. »O ja, wir werden sehen!«
»Ich dachte, du hast gesagt, da sei ein unterirdischer Gang«, sagte Sam.
»Ist da nicht ein Gang oder irgend etwas, durch das wir durchmüssen?«
»O ja, da ist ein Gang«, sagte Gollum. »Aber die Hobbits können sich
ausruhen, ehe sie es mit ihm versuchen. Wenn sie da durchkommen, dann
sind sie schon beinahe oben. Sehr nahe, wenn sie da durchkommen. 0
ja!«
Frodo fröstelte. Das Klettern hatte ihn in Schweiß gebracht, aber jetzt
war ihm kalt, und es zog entsetzlich in dem dunklen Durchgang, kalt
blies es von den unsichtbaren Höhen oben herab. Er stand auf und schüt-
telte sich. »Na ja, gehen wir weiter«, sagte er. »Das hier ist kein Platz
zum Sitzen.«
Der Durchgang schien sich meilenweit hinzuziehen, und immer strömte
die eisige Luft über sie hinweg, die allmählich zu einem bitterkalten Wind
wurde. Das Gebirge schien zu versuchen, sie mit seinem tödlichen Atem
einzuschüchtern, sie zur Umkehr zu veranlassen, ehe sie zu den Geheimnis-
sen auf den Höhen gelangten, oder sie wegzublasen in die Dunkelheit
hinter ihnen. Sie merkten nur, daß sie das Ende des Ganges erreicht hat-
ten, als sie plötzlich zu ihrer Rechten keine Wand mehr fühlten. Sie konn-
ten sehr wenig sehen. Große schwarze, formlose Bergmassen und tiefe
graue Schatten türmten sich über ihnen und ringsum auf, aber dann und
wann flackerte ein schwaches rotes Licht unter den drohenden Wolken
auf, und für einen Augenblick merkten sie, daß hohe Gipfel vor ihnen
und auf beiden Seiten wie Säulen ein riesiges, durchhängendes Dach tru-
gen. Sie schienen Hunderte von Fuß geklettert und nun auf einem breiten
Felsvorsprung zu sein. Eine Felswand war zu ihrer Linken, ein Abgrund
zu ihrer Rechten.
Gollum ging voran, dicht unter der Felswand. Vorläufig stiegen sie
nicht mehr, aber der Boden war jetzt zerklüfteter und gefährlich im Dun-
keln, und es lagen Felsblöcke und herabgefallene Steinbrocken auf dem
Weg. Sie gingen langsam und vorsichtig. Wie viele Stunden verstrichen
waren, seit sie ins Morgul-Tal gekommen waren, konnten weder Sam
noch Frodo schätzen. Die Nacht erschien endlos.
Schließlich wurden sie wiederum einer sich auftürmenden Wand ge-
wahr, und wiederum lag eine Treppe vor ihnen. Wieder blieben sie ste-
hen, und wieder begannen sie zu klettern. Es war ein langer und mühse-
liger Aufstieg; aber diese Treppe grub sich nicht in die Bergseite ein.
Hier war die gewaltige Felswand nach hinten geneigt, und wie eine
Schlange wand sich der Weg über sie hin und her. An einer Stelle kroch
er genau am Rand des dunklen Abgrunds entlang, und als Frodo hinun-
terblickte, sah er unter sich wie eine riesige tiefe Grube die große
Schlucht am oberen Ende des Morgul-Tals. In ihrer Tiefe schimmerte wie
eine Glühwürmchen-Kette die Geisterstraße von der toten Stadt zum
Namenlosen Paß. Er wandte sich hastig ab.
Immer weiter und höher hinauf zog und wand sich die Treppe, bis sie
schließlich mit einem letzten kurzen und geraden Lauf zu einer weiteren
ebenen Fläche heraufklomm. Der Pfad hatte sich von dem Hauptpaß in
der großen Schlucht entfernt und verfolgte jetzt seinen eigenen gefähr-
lichen Weg auf dem Grund einer kleineren Schlucht in den höheren Berei-
chen des Ephel Dúath. Undeutlich konnten die Hobbits hohe Pfeiler und
gezackte Felszinnen auf beiden Seiten erkennen, und dazwischen waren
große Spalten und Risse, die schwärzer als die Nacht gähnten, wo verges-
sene Winter genagt und den sonnenlosen Stein geformt hatten. Und jetzt
schien das rote Licht am Himmel stärker zu werden; allerdings wußten
sie nicht, ob tatsächlich ein furchtbarer Morgen zu diesem Ort des Schat-
tens kam, oder ob sie nur die Flammen irgendeiner Gewalttätigkeit von
Sauron bei der Folterung von Gorgoroth auf der anderen Seite sahen.
Immer noch weit entfernt und immer noch hoch oben sah Frodo, als er
aufschaute, wie er vermutete, die Krönung dieses bitteren Weges. Gegen die
dunkle Röte des östlichen Himmels zeichnete sich in dem obersten Grat
eine Schlucht ab, schmal und tief eingeschnitten zwischen zwei schwarzen
Vorsprüngen; und auf jedem Vorsprung waren zwei Hörner aus Stein.
Er blieb stehen und schaute aufmerksamer. Das Horn zur Linken war
hoch und schlank; und in ihm brannte ein rotes Licht, oder aber das rote
Licht im Land dahinter schimmerte durch ein Loch hindurch. Jetzt sah er
es: es war ein schwarzer Turm, der über dem äußeren Paß aufragte. Er be-
rührte Sams Arm und zeigte dorthin.
»Das gefällt mir nicht!« sagte Sam. »Also ist dieser geheime Weg von
dir doch bewacht«, brummte er, zu Gollum gewandt. »Wie du die ganze
Zeit wußtest, nehme ich an?«
»Alle Wege sind bewacht, ja«, sagte Gollum. »Natürlich sind sie be-
wacht. Aber irgendeinen Weg müssen die Hobbits versuchen. Es könnte
sein, daß dieser am wenigsten bewacht ist. Vielleicht sind sie alle in die
große Schlacht gezogen, vielleicht!«
»Vielleicht«, murrte Sam. »Na, es scheint noch weit weg zu sein, und
es geht noch ein ganzes Stück 'rauf, bis wir da sind. Und dann kommt
noch der unterirdische Gang. Ich glaube, du solltest dich jetzt ausruhen,
Herr Frodo. Ich weiß nicht, wie spät es ist, ob Tag oder Nacht, aber wir
sind schon Stunden und Stunden gegangen.«
»Ja, wir müssen Rast machen«, sagte Frodo. »Laßt uns irgendeinen
windgeschützten Winkel suchen und Kraft sammeln — für die letzte
Runde.« Denn so, glaubte er, wäre es. Die Schrecken des Landes dort drü-
ben und die dort zu erfüllende Aufgabe schienen entrückt, noch zu fern,
um ihn zu beunruhigen. Sein ganzer Sinn war darauf gerichtet, hindurch
oder über diese unüberwindliche Mauer und Schutzwehr hinwegzukom-
men. Sobald er dieses Ding der Unmöglichkeit vollbringen konnte, würde
der Auftrag dann irgendwie schon erledigt werden. So schien es ihm
wenigstens in dieser dunklen Stunde der Müdigkeit, während er sich noch
in den steinigen Schatten unter Cirith Ungol abquälte.
In einer dunklen Spalte zwischen zwei großen Felsenpfeilern setzten sie
sich hin: Frodo und Sam ein wenig weiter drinnen, und Gollum hockte
nahe am Eingang auf dem Boden. Dort nahmen die Hobbits ihre, wie sie
annahmen, letzte Mahlzeit ein, ehe sie in das Namenlose Land hinunter-
gingen, oder vielleicht sogar die letzte Mahlzeit, die sie je zusammen ein-
nehmen würden. Sie aßen von den Vorräten aus Gondor und Waffeln von
der Wegzehrung der Elben, und sie tranken ein wenig. Aber mit ihrem
Wasser gingen sie sparsam um und gönnten sich nur soviel, um ihre trok-
kenen Münder anzufeuchten.
»Ich möchte mal wissen, wann wir wieder Wasser finden werden?«
sagte Sam. »Aber ich nehme an, selbst da drüben werden sie trinken?
Orks trinken doch, nicht wahr?«
»Ja, sie trinken«, sagte Frodo. »Aber davon wollen wir nicht sprechen.
Solche Getränke sind nichts für uns.«
»Dann ist es um so nötiger, unsere Flaschen zu füllen«, sagte Sam.
»Aber hier gibt es gar kein Wasser. Kein Plätschern und kein Rieseln
habe ich gehört. Und außerdem sagte Faramir, wir sollten kein Wasser in
Morgul trinken.«
»Kein Wasser, das aus Imlad Morgul herausfließt, waren seine Worte«,
sagte Frodo. »Wir sind jetzt nicht in diesem Tal, und wenn wir auf eine
Quelle stoßen würden, dann würde sie hinein- und nicht herausfließen.«
»Ich würde ihr nicht trauen«, sagte Sam, »nicht, bis ich am Verdursten
wäre. Man spürt irgend etwas Bösartiges an diesem Ort.« Er schnupperte.
»Und einen Geruch, glaube ich. Merkst du es? Ein komischer Geruch, stik-
kig. Gefällt mir nicht.«
»Mir gefällt hier überhaupt gar nichts«, sagte Frodo. »Weder Stufe
noch Stein, weder Hauch noch Rauch. Erde, Luft und Wasser, alles scheint
verwünscht zu sein. Aber unser Weg ist nun einmal so festgelegt.«
»Ja, das ist er«, sagte Sam. »Und wir würden überhaupt gar nicht hier
sein, wenn wir mehr darüber gewußt hätten, ehe wir aufbrachen. Aber
ich nehme an, daß es oft so ist. Die tapferen Taten in den alten Geschich-
ten und Liedern, Herr Frodo: Abenteuer, wie ich sie immer nannte. Ich
glaubte, das wären Taten, zu denen die wundervollen Leute in den Ge-
schichten sich aufmachten und nach denen sie Ausschau hielten, weil sie
es wollten, weil das aufregend war und das Leben ein bißchen langweilig,
eine Art Zeitvertreib, könnte man sagen. Aber so ist es nicht bei den Ge-
schichten, die wirklich wichtig waren, oder bei denen, die einem im Ge-
dächtnis bleiben. Gewöhnlich scheinen die Leute einfach hineingeraten zu
sein — ihre Wege waren nun einmal so festgelegt, wie du es ausdrückst.
Aber ich nehme an, sie hatten eine Menge Gelegenheiten, wie wir, umzu-
kehren, nur taten sie es nicht. Und wenn sie es getan hätten, dann wüßten
wir's nicht, denn dann wären sie vergessen worden. Wir hören von de-
nen, die einfach weitergingen — und nicht alle zu einem guten Ende,
wohlgemerkt; zumindest nicht zu dem, was die Leute in einer Geschichte
und nicht außerhalb ein gutes Ende nennen. Du weißt schon, nach Hause
kommen und feststellen, daß alles in Ordnung ist, wenn auch nicht ganz
wie vorher — wie beim alten Herrn Bilbo. Aber das sind nicht immer die
besten Geschichten zum Hören, obwohl sie die besten Geschichten sein
mögen, in die man hineingeraten kann! Ich möchte mal wissen, in was für
einer Art Geschichte wir sind?«
»Da bin ich auch gespannt«, sagte Frodo. »Aber ich weiß es nicht.
Und so ist das bei einer wirklichen Geschichte. Nimm irgendeine, die du
gern hast. Du weißt oder errätst vielleicht, was für eine Art Geschichte
es ist, ob sie ein glückliches oder ein trauriges Ende hat, aber die Leute in
der Geschichte wissen es nicht. Und du willst auch nicht, daß sie es wis-
sen.«
»Nein, Herr, natürlich nicht. Beren zum Beispiel, er hat niemals ge-
glaubt, daß er diesen Silmaril aus der Eisernen Krone in Thangorodrim
bekommen würde, und er bekam ihn doch, und das war eine schlimmere
Gegend und eine schwärzere Gefahr als unsere. Aber das ist natürlich
eine lange Geschichte, und sie geht über Glück hinaus bis zu Gram und
auch darüber hinaus — und der Silmaril ging weiter und kam zu Eärendil.
Ach, und daran habe ich ja nie gedacht, Herr! Wir haben — du hast
etwas von dem Licht in diesem Sternenglas, das die Herrin dir gab! Wenn
man sich das überlegt, dann sind wir ja immer noch in derselben Ge-
schichte! Sie geht noch weiter. Hören denn die großen Geschichten nie-
mals auf?«
»Nein, als Geschichten enden sie niemals«, sagte Frodo. »Aber die
Leute in ihnen kommen und gehen, wenn ihr Anteil endet. Unser Anteil
wird später enden — oder früher.«
»Und dann können wir uns ausruhen und etwas schlafen«, sagte Sam.
Er lachte bitter. »Und genau das meine ich, Herr Frodo. Ich meine
schlicht und einfach Ruhe und Schlaf, und am Morgen aufwachen, um im
Garten zu arbeiten. Ich fürchte, das ist alles, worauf ich zurzeit hoffe. All
die großen, wichtigen Pläne sind nicht für meinesgleichen. Immerhin
wüßte ich gern, ob wir jemals in Liedern oder Geschichten vorkommen
werden. Wir sind natürlich in einer; aber ich meine: in Worte gefaßt,
weißt du, am Kamin erzählt oder aus einem großen, dicken Buch mit
roten und schwarzen Buchstaben vorgelesen, Jahre und Jahre später. Und
die Leute werden sagen: >Laß uns von Frodo und dem Ring hören !< Und
sie werden sagen: >Das ist eine meiner Lieblingsgeschichten. Frodo war
sehr tapfer, nicht wahr, Papa?< — >Ja, mein Junge, der berühmteste der
Hobbits, und das sagt viel.< «
»Es sagt viel zuviel«, sagte Frodo, und er lachte, lange und klar und
aus Herzensgrund. Ein solches Geräusch war in diesen Gegenden nicht
gehört worden, seit Sauron nach Mittelerde kam. Sam schien es plötzlich,
als ob alle Steine lauschten und die hohen Felsen sich über sie beugten.
Aber Frodo achtete ihrer nicht; er lachte wieder. »Ach, Sam«, sagte er,
»dir zuzuhören macht mich irgendwie so fröhlich, als ob die Geschichte
schon geschrieben sei. Aber du hast eine der wichtigsten handelnden Per-
sonen ausgelassen: Samweis den Beherzten. >Ich will mehr von Sam hören,
Papa. Warum hast du nicht mehr davon erzählt, wie er redet, Papa? Das
mag ich gern, das bringt mich zum Lachen. Und Frodo wäre ohne Sam
nicht weit gekommen, nicht wahr, Papa?< «
»Aber, Herr Frodo«, sagte Sam, »du solltest dich nicht darüber lustig
machen. Ich habe es ernst gemeint.«
»Ich auch«, sagte Frodo, »und ich meine es noch ernst. Wir eilen den
Dingen zu sehr voraus. Du und ich, Sam, wir stecken immer noch an den
schlimmsten Orten der Geschichte, und höchstwahrscheinlich wird irgend
jemand an dieser Stelle sagen: >Klapp jetzt das Buch zu, Papa; wir wollen
nicht mehr weiterlesen.< «
»Vielleicht«, sagte Sam. »Aber ich wäre es nicht, der das sagte. Dinge,
die getan und vorbei sind und zu einer großen Geschichte gehören, sind
anders. Ja, sogar Gollum könnte in einer Geschichte gut sein, besser
jedenfalls, als ihn um sich zu haben. Und er hat früher Geschichten auch
gern gehabt, nach seiner eigenen Behauptung. Ich möchte mal wissen, ob
er sich für den Helden oder für den Bösewicht hält?«
»Gollum!« rief er. »Möchtest du gern der Held sein? — Na, wo ist er
denn jetzt wieder hin?«
Es war keine Spur von ihm zu sehen am Ausgang ihres Schlupfwinkels
oder in den Schatten nahebei. Er hatte ihr Essen abgelehnt, obwohl er, wie
gewöhnlich, einen Schluck Wasser angenommen hatte; und dann hatte es
so ausgesehen, als ob er sich zusammenrollte, um zu schlafen. Sie hatten
angenommen, daß jedenfalls eins seiner Ziele, als er am Tage zuvor so
lange abwesend war, die Jagd auf irgend etwas Eßbares nach seinem eige-
nen Geschmack gewesen war. Aber warum heute?
»Mir gefällt es nicht, wenn er sich so wegschleicht, ohne etwas zu
sagen«, sagte Sam. »Und am allerwenigsten jetzt. Hier oben kann er nicht
nach etwas Eßbarem suchen, es sei denn, es gibt irgendeine Art Felsen,
die ihm zusagt. Nicht mal ein bißchen Moos gibt es!«
»Es hat keinen Zweck, sich jetzt über ihn zu argem«, sagte Frodo.
»Ohne ihn hätten wir nicht so weit kommen können, nicht einmal bis in
Sichtweite des Passes, und deshalb müssen wir uns mit seinen Eigenheiten
abfinden. Wenn er falsch ist, ist er eben falsch.«
»Trotzdem würde ich ihn lieber im Auge behalten«, sagte Sam. »Um
so mehr, wenn er falsch ist. Erinnerst du dich, daß er niemals sagen
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wollte, ob dieser Paß bewacht ist oder nicht? Und jetzt sehen wir da einen
Turm — und er mag verlassen sein oder auch nicht. Glaubst du, er ist
weggegangen, um sie zu holen. Orks oder was immer sie sind?«
»Nein, das glaube ich nicht«, antwortete Frodo. »Selbst, wenn er irgend
etwas Böses im Schilde führt, und das ist, schätze ich, nicht unwahr-
scheinlich. Ich glaube nicht, daß es das ist: Orks holen oder irgendwelche
anderen Diener des Feindes. Warum hätte er damit bis jetzt warten und
die ganze Mühe der Kletterei auf sich nehmen und so dicht an das Land
herankommen sollen, das er fürchtet? Wahrscheinlich hätte er uns, seit
wir ihn trafen, schon viele Male an die Orks verraten können. Nein, wenn
überhaupt, dann ist es ein kleiner Winkelzug von ihm allein, den er für
ganz geheim hält.«
»Ja, ich glaube, du hast recht, Herr Frodo«, sagte Sam. »Nicht, daß es
mich mächtig tröstet. Darüber bin ich mir völlig klar: ich zweifle nicht,
daß er mich mit Kußhand den Orks ausliefern würde. Aber ich habe sei-
nen — Schatz vergessen. Nein, ich nehme an, es war die ganze Zeit Der
Schatz für den armen Sméagol.
Das ist der einzige Gedanke bei all seinen
kleinen Ränken, wenn er welche schmiedet. Aber wie ihm das dabei nüt-
zen soll, daß er uns hier heraufgebracht hat, das ist mehr, als ich erraten
kann.«
»Sehr wahrscheinlich kann er es selbst nicht erraten«, sagte Frodo.
»Und ich glaube auch nicht, daß er nur einen klaren Plan in seinem ver-
wirrten Kopf hat. Ich glaube, einesteils versucht er wirklich, den Schatz
vor dem Feind zu retten, solange er kann. Denn es würde auch für ihn das
endgültige Verhängnis sein, wenn der Feind ihn bekäme. Und zum ande-
ren Teil wartet er vielleicht nur den richtigen Augenblick und eine gün-
stige Gelegenheit ab.«
»Ja, Schleicher und Stinker, wie ich ihn nannte«, sagte Sam. »Aber
je näher die beiden dem Land des Feindes kommen, um so ähnlicher
wird Schleicher und Stinker. Merk dir meine Worte: wenn wir je den Paß
erreichen, wird er uns bestimmt das kostbarste Ding nicht über die Grenze
bringen lassen, ohne uns irgendwelche Schwierigkeiten zu machen.«
»Noch sind wir nicht da«, sagte Frodo.
»Nein, aber wir sollten die Augen aufhalten bis dahin. Wenn wir
schlafend erwischt werden, wird Stinker sehr bald die Oberhand gewin-
nen. Nicht, daß es gefährlich für dich wäre, wenn du jetzt die Augen zu-
machst. Ungefährlich, wenn du dicht bei mir liegst. Ich wäre herzlich
froh, wenn du etwas schläfst. Ich werde Wache halten; und sowieso,
wenn du dicht bei mir bist und ich den Arm um dich lege, könnte nie-
mand nach dir grapschen, ohne daß dein Sam es merkt.«
»Schlafen!« sagte Frodo und seufzte, als ob er von einer Wüste aus die
Luftspiegelung von kühlem Grün gesehen habe. »Ja, selbst hier könnte
ich schlafen.«
»Dann schlafe, Herr! Leg deinen Kopf in meinen Schoß!«
Und so fand Gollum sie nach Stunden, als er zurückkam, den Pfad hin-
unter krauchend und kriechend aus der Düsternis weiter vom. Sam saß
gegen den Stein gelehnt, sein Kopf war zur Seite gesunken, und er atmete
schwer. In seinem Schoß lag Frodos Kopf, tief im Schlaf; auf Frodos wei-
ßer Stirn lag eine von Sams braunen Händen, und die andere hatte er sei-
nem Herrn leicht auf die Brust gelegt. Ihrer beider Gesichter waren fried-
lich.
Gollum betrachtete sie. Ein seltsamer Ausdruck huschte über sein
mageres, hungriges Gesicht. Der Glanz verblaßte in seinen Augen, und
sie wurden trübe und grau, alt und müde. Ein schmerzhafter Krampf
schien ihn zu befallen, er wandte sich ab, schaute hinauf zum Paß und
schüttelte den Kopf, als ob er einen inneren Kampf ausfechte. Dann kam
er zurück, streckte zögernd seine zitternde Hand aus und berührte sehr
vorsichtig Frodos Knie — aber die Berührung war fast eine Liebkosung.
Hätte einer der Schläfer ihn sehen können, dann würden sie für einen
flüchtigen Augenblick geglaubt haben, einen alten, müden Hobbit zu er-
blicken, zusammengeschrumpft unter der Last der Jahre, die ihn weit über
seine Zeit hinausgebracht haben, über Freunde und Verwandte hinaus
und die Felder und Bäche der Jugend, ein altes, verhungertes, bemitlei-
denswertes Geschöpf.
Aber bei dieser Berührung bewegte sich Frodo und schrie leise auf im
Schlaf, und sofort war Sam hellwach. Das erste, was er sah, war Gollum —
»nach dem Herrn grapschend«, dachte er.
»He, du!« sagte er grob. »Was hast du vor?«
»Nichts, nichts«, sagte Gollum sanft. »Netter Herr!«
»Das will ich meinen«, sagte Sam. »Aber wo bist du gewesen — weg-
geschlichen zum Schnüffeln und wieder zurückgeschlichen, du alter Böse-
wicht?«
Gollum wich zurück, und ein grünes Funkeln flackerte unter seinen
schweren Lidern auf. Fast spinnenartig sah er jetzt aus mit seinen vorste-
henden Augen und auf seinen angewinkelten Gliedern hockend. Der
flüchtige Augenblick war unwiderruflich vorüber. »Schnüffeln, schnüf-
feln«, zischte er. »Hobbits sind immer so höflich, ja. Oh, nette Hobbits.
Sméagol bringt sie auf geheimen Wegen herauf, die sonst niemand finden
könnte. Müde ist er, durstig ist er, ja, durstig; und er führt sie und sucht
nach Pfaden, und sie sagen schnüffeln, schnüffeln. Sehr nette Freunde, o
ja, mein Schatz, sehr nett.«
Sam hatte etwas Gewissensbisse, allerdings auch nicht mehr Zutrauen.
»Entschuldige«, sagte er. »Entschuldige, aber du hast mich aus dem
Schlaf aufgeschreckt. Und ich hätte nicht schlafen dürfen, und deshalb war
ich ein bißchen scharf. Aber Herr Frodo, der ist so müde, daß ich ihn bat,
ein Auge zuzutun; na ja, und so ist das gekommen. Entschuldige. Aber wo
bist du gewesen?«
»Schnüffeln«, sagte Gollum, und das grüne Funkeln verschwand nicht
aus seinen Augen.
»Bitte schön«, sagte Sam, »ganz wie du willst! Ich vermute, es ist nicht
weit von der Wahrheit entfernt. Und jetzt schleichen wir wohl besser alle
zusammen weiter. Wie spät ist es? Ist es heute oder morgen?«
»Es ist morgen«, sagte Gollum, »oder es war morgen, als die Hobbits
einschliefen. Sehr töricht, sehr gefährlich — wenn der arme Sméagol nicht
herumgeschnüffelt hätte, um aufzupassen.«
»Ich glaube, von dem Wort werden wir bald genug haben«, sagte Sam.
»Aber mach dir nichts draus. Ich werde den Herrn aufwecken.« Liebevoll
strich er Frodo das Haar aus der Stirn, beugte sich hinunter und sprach
leise zu ihm.
»Wach auf, Herr Frodo! Wach auf!«
Frodo bewegte sich und machte die Augen auf, und als er Sams Ge-
sicht über sich gebeugt sah, lächelte er. »Du weckst mich aber früh, Sam,
nicht wahr?« sagte er. »Es ist ja noch dunkel!«
»Ja, hier ist es immer dunkel«, sagte Sam. »Aber Gollum ist zurückge-
kommen, Herr Frodo, und er sagt, es ist morgen. Wir müssen also weiter-
gehen. Die letzte Runde.«
Frodo holte tief Luft und setzte sich auf. »Die letzte Runde!« sagte er.
»Nanu, Sméagol? Hast du was zu essen gefunden? Hast du dich ausge-
ruht?«
»Nichts zu essen, keine Rast, nichts für Sméagol«, sagte Gollum. »Er
ist ein Schnüffler.«
Sam schnalzte mit der Zunge, bezähmte sich aber.
»Leg dir nicht selber Schimpfnamen zu, Sméagol«, sagte Frodo. »Das
ist unklug, ob sie wahr oder falsch sind.«
»Sméagol hat zu nehmen, was ihm gegeben wird«, antwortete Gollum.
»Ihm wurde der Name von dem freundlichen Meister Samweis gegeben,
dem Hobbit, der so viel weiß.«
Frodo sah Sam an. »Ja, Herr«, sagte er. »Ich habe das Wort gebraucht,
als ich plötzlich aus dem Schlaf aufwachte und all das und ihn in der
Nähe fand. Ich sagte, mir täte es leid, aber bald wird's mir nicht mehr
leid tun.«
»Ach, reden wir nicht mehr davon«, sagte Frodo. »Aber jetzt scheinen
wir am entscheidenden Punkt angelangt zu sein, du und ich, Sméagol. Sag
mir, können wir den weiteren Weg allein finden? Wir sind in Sichtweite
des Passes, eines Weges hinein, und wenn wir ihn jetzt finden können,
dann nehme ich an, daß man unser Abkommen als erledigt betrachten
kann. Du hast getan, was du versprochen hast, und du bist frei: frei,
dahin zurückzugehen, wo du Nahrung und Ruhe findest, wo immer du
hingehen willst, außer zu den Dienern des Feindes. Und eines Tages
werde ich dich vielleicht belohnen, ich oder jene, die sich meiner erin-
»Nein, nein, noch nicht«, jammerte Gollum. »O nein! Sie können den
Weg nicht selbst finden, oder? O nein, wirklich nicht. Da kommt noch
der unterirdische Gang. Sméagol muß weiter mitgehen. Keine Ruhe. Keine
Nahrung. Noch nicht.«

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