SIEBTES KAPITEL
WANDERUNG ZUM SCHEIDEWEG
Frodo und Sam kehrten zu ihren Betten zurück, legten sich schweigend
hin und ruhten ein wenig, während die Menschen sich regten und die
Aufgaben des Tages begannen. Nach einer Weile wurde ihnen Wasser
gebracht, und dann wurden sie zu einem Tisch geführt, auf dem Essen für
drei angerichtet war. Faramir frühstückte mit ihnen. Seit der Schlacht
am Tage zuvor hatte er nicht geschlafen, dennoch sah er nicht müde
aus.
Als sie fertig waren, standen sie auf. »Möge kein Hunger Euch unter-
wegs quälen«, sagte Faramir. »Ihr habt wenig Wegzehrung, aber ich habe
angeordnet, daß ein kleiner Vorrat von Lebensmitteln, die für Wanderer
geeignet sind, in Eure Rucksäcke gepackt wird. Ihr werdet keinen Mangel
an Wasser haben, solange Ihr in Ithilien wandert, aber trinkt von keinem
Bach, der von Imlad Morgul herabfließt, dem Tal des Lebenden Todes.
Das muß ich Euch auch sagen. Meine Späher und Beobachter sind alle zu-
rückgekehrt, sogar einige, die bis in Sichtweite des Morannon gekrochen
sind. Sie alle stellten etwas Merkwürdiges fest. Das Land ist leer. Nichts
ist auf der Straße, kein Geräusch von Fuß, Horn oder Bogensehne ist
irgendwo zu hören. Eine abwartende Stille liegt über dem Namenlosen
Land. Ich weiß nicht, was das bedeutet. Aber die Zeit einer wichtigen
Entscheidung nähert sich. Ein Sturm kommt. Eilt Euch, solange Ihr
könnt! Wenn Ihr bereit seid, laßt uns gehen. Die Sonne wird sich bald
über die Schatten erheben.«
Die Rucksäcke der Hobbits wurden ihnen gebracht (ein wenig schwerer
waren sie als vorher), und auch zwei kräftige Stöcke aus geglättetem
Holz, mit Eisen beschlagen und mit geschnitzten Knäufen, durch die ge-
flochtene Lederriemen liefen.
»Ich habe keine passenden Geschenke, die ich Euch bei unserem Ab-
schied geben könnte«, sagte Faramir, »aber nehmt diese Stöcke an. Sie
mögen denjenigen dienlich sein, die in der Wildnis wandern oder klettern.
Die Menschen des Weißen Gebirges benutzen sie; diese allerdings sind
auf Eure Größe zurechtgeschnitten und neu beschlagen worden. Sie sind
aus dem schönen Baum Lebethron hergestellt, den die Schreiner von Gon-
dor lieben, und eine Zauberkraft ist ihnen verliehen worden, zu finden
und zurückzukehren. Möge diese Zauberkraft nicht versagen unter dem
Schatten, in den Ihr geht!«
Die Hobbits verbeugten sich tief.
»Höchst gütiger Gastgeber«, sagte Frodo, »mir war von Elrond dem
Halbelben gesagt worden, ich würde Freundschaft unterwegs finden,
heimliche und unerwartete. Gewiß erwartete ich nicht solche Freundschaft,
wie Ihr sie mir bewiesen habt. Sie gefunden zu haben, verwandelt Unglück
in großes Glück.«
Nun machten sie sich zum Aufbruch bereit. Gollum wurde aus irgend-
einem Winkel oder Versteck hergebracht, und er schien zufriedener zu
sein als vorher, obwohl er sich dicht an Frodo hielt und Faramirs Blick
auswich.
»Eurem Führer müssen die Augen verbunden werden«, sagte Faramir,
»doch Euch und Samweis erlasse ich es, wenn Ihr es wünscht.«
Gollum winselte und wand sich und hielt sich an Frodo fest, als sie
kamen, um ihm die Augen zu verbinden. Und Frodo sagte: »Verbindet
uns allen dreien die Augen, und mir zuerst, dann wird er vielleicht
sehen, daß ihm nichts zuleide getan werden soll.« So geschah es, und sie
wurden aus der Höhle Henneth Annûn hinausgeführt. Nachdem sie die
Gänge und Treppen hinter sich hatten, spürten sie die kühle Morgenluft,
frisch und lieblich, um sich. Immer noch blind, gingen sie eine kurze Zeit
weiter, zuerst hinauf und dann sanft abwärts. Schließlich befahl Faramir,
ihnen die Binden abzunehmen. Sie standen wieder unter den Zweigen des
Waldes. Nichts war von dem Wasserfall zu hören, denn ein langer, sich
nach Süden erstreckender Hang lag jetzt zwischen ihnen und der
Schlucht, in der der Bach floß. Im Westen sahen sie Licht durch die
Bäume schimmern, als ob die Welt dort plötzlich ein Ende habe an einem
Rand, der nur auf den Himmel hinausblickt.
»Hier trennen sich unsere Wege«, sagte Faramir. »Wenn Ihr meinem
Rat folgt, dann werdet Ihr Euch noch nicht nach Osten wenden. Geht ge-
radeaus weiter, denn so werdet Ihr auf viele Meilen durch den Wald ge-
deckt sein. Westlich von Euch ist ein Grat, von dem aus das Land in die
großen Täler abfällt, manchmal plötzlich und steil, manchmal in langen
Hängen. Haltet Euch dicht an diesem Grat und den Ausläufern des Wal-
des. Zu Beginn Eurer Wanderung könnt Ihr bei Tageslicht laufen, glaube
ich. Das Land gibt sich einem Traum von falschem Frieden hin, und für
eine Weile hat sich alles Böse zurückgezogen. Laßt es Euch gut ergehen,
solange Ihr könnt!«
Dann umarmte er die Hobbits nach der Sitte seines Volkes; er bückte
sich, legte die Hände auf ihre Schultern und küßte sie auf die Stirn. »Geht
mit den guten Wünschen aller guten Menschen!« sagte er.
Sie verbeugten sich bis zum Boden. Dann wandte er sich um, und ohne
zurückzuschauen verließ er sie und ging zu seinen beiden Wächtern, die
ein wenig abseits standen. Die Hobbits staunten, mit welcher Schnellig-
keit diese grüngekleideten Menschen jetzt ausschritten, und fast im Hand-
umdrehen waren sie verschwunden. Der Wald, wo Faramir gestanden
hatte, schien leer und öde, als ob ein Traum vorübergezogen sei.
Frodo seufzte und wandte sich nach Süden. Als ob er seine Mißach-
tung all solcher Höflichkeiten bekunden wollte, scharrte Gollum in der
lockeren Erde am Fuße eines Baums. »Schon wieder hungrig?« dachte
Sam. »So, nun aber weiter!«
»Sind sie endlich weg?« fragte Gollum. »Gräßliche, böse Menschen!
Sméagols Hals tut immer noch weh, ja, tut weh. Laßt uns gehen!«
»Ja, laßt uns gehen«, sagte Frodo. »Aber wenn du nur schlecht spre-
chen kannst von jenen, die dir Gnade erwiesen, dann schweige!«
»Netter Herr!« sagte Gollum. »Sméagol hat nur Spaß gemacht. Er ver-
zeiht immer, ja, ja, selbst die kleinen Betrügereien des netten Herrn. O ja,
netter Herr, netter Sméagol!«
Frodo und Sam antworteten nicht. Sie schulterten ihre Rucksäcke, nah-
men die Stöcke in die Hand und gingen hinein in die Wälder von Ithilien.
Zweimal rasteten sie an diesem Tage und aßen etwas von den Vorrä-
ten, die Faramir ihnen mitgegeben hatte: getrocknete Früchte und Pökel-
fleisch, genug für viele Tage; und Brot, das so lange reichen würde, wie
es noch frisch war. Gollum aß nichts.
Die Sonne stieg und zog ungesehen über ihren Köpfen dahin und be-
gann zu sinken, und das Licht, das durch die Bäume fiel, wurde golden im
Westen; und immer noch wanderten sie weiter in dem kühlen, grünen
Schatten, und ringsum war Stille. Die Vögel schienen alle fortgeflogen
oder stumm geworden zu sein.
Die Dunkelheit kam früh zu dem schweigenden Wald, und ehe die
Nacht hereinbrach, hielten sie an, denn sie waren müde, nachdem sie von
Henneth Annûn sieben oder mehr Wegstunden gelaufen waren. Frodo
legte sich hin und schlief die ganze Nacht durch in dem tiefen Laub unter
einem alten Baum. Sam neben ihm war unruhiger: er wachte viele Male
auf, aber niemals war etwas von Gollum zu sehen, der sich davongemacht
hatte, als die anderen sich zur Ruhe legten. Ob er selbst in irgendeinem
nahegelegenen Loch geschlafen oder ruhelos nach Beute stöbernd durch
die Nacht gewandert war, sagte er nicht; aber mit dem ersten Tages-
schimmer kam er zurück und weckte seine Gefährten.
»Müssen aufstehen, ja, müssen sie«, sagte er. »Lange Wege noch zu ge-
hen, nach Süden und Osten. Hobbits müssen sich eilen!«
Der Tag verging ungefähr wie der vorige, nur daß die Stille noch tiefer
erschien; die Luft war drückend, und es wurde stickig unter den Bäumen.
Es war, als ob sich ein Gewitter zusammenbraue. Gollum blieb oft stehen,
schnupperte in der Luft, murmelte dann vor sich hin und drängte sie zu
größerer Eile.
Während des dritten Abschnitts ihres Tagesmarsches und als der
Nachmittag seinem Ende zuging, lockerte sich der Wald auf, und die
Bäume waren größer und wuchsen vereinzelter. Große Stechpalmen von
gewaltigem Umfang standen dunkel und feierlich an ausgedehnten Lich-
tungen, hier und da auch altersgraue Eschen und riesige Eichen, die ge-
rade ihre braun-grünen Knospen ausstreckten. Ringsum lagen freie grüne
Grasflächen, gesprenkelt mit Schöllkraut und Anemonen, weiß und blau,
die sich jetzt zum Schlafen eingerollt hatten; und es gab ganze Felder mit
Blättern von Waldhyazinthen: ihre geschmeidigen Glockenstengel stießen
eben durch die weiche Erde. Kein Lebewesen, Tier oder Vogel, war zu
sehen, aber auf diesen offenen Stellen bekam Gollum Angst, und sie gin-
gen jetzt vorsichtig und huschten von einem langen Schatten zum näch-
sten.
Das Licht verblaßte, als sie zum Ende des Waldes kamen. Dort setzten
sie sich unter eine alte knorrige Eiche, die ihre wie Schlangen geringelte
Wurzeln eine steile, abbröckelnde Böschung hinabsandte. Ein tiefes,
düsteres Tal lag vor ihnen. Auf den jenseitigen Hängen war der Wald
wieder dichter, blau und grau unter dem trüben Abend, und erstreckte
sich weiter nach Süden. Zu ihrer Rechten erglühte das Gebirge von Gon-
dor fern im Westen unter einem feuergefleckten Himmel. Zu ihrer Linken
lag Dunkelheit: die hochragenden Wälle von Mordor; und aus dieser
Dunkelheit kam das langgestreckte Tal und fiel in einer immer breiter
werdenden Senke steil zum Anduin ab. Auf der Talsohle floß ein hurti-
ger Bach: Frodo hörte seine steinerne Stimme durch die Stille herauf drin-
gen; und neben ihm schlängelte sich auf dieser Seite des Tals wie ein
blasses Band eine Straße hinunter in kühle, graue Nebel, die kein Strahl
der untergehenden Sonne erreichte. Dort schien es Frodo, als erkenne er,
gleichsam auf einem schattigen Meer schwimmend, die hohen düsteren
Spitzen und gezackten Zinnen alter Türme, verloren und dunkel.
Er wandte sich an Gollum. »Weißt du, wo wir sind?« fragte er.
»Ja, Herr. Gefährliche Orte. Dies ist die Straße vom Turm des Mondes,
die hinunterführt zu der zerstörten Stadt an den Ufern des Stroms. Die
zerstörte Stadt, ja, sehr häßlicher Ort, voller Feinde. Wir hätten den Rat
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der Menschen nicht befolgen sollen. Die Hobbits sind weit vom Wege ab-
gekommen. Müssen jetzt nach Osten gehen, dort hinauf.« Er deutete mit
seinem knochigen Arm auf das dunkelnde Gebirge. »Und wir können
diese Straße nicht benutzen. O nein! Grausame Leute kommen hier lang,
herunter von dem Turm.«
Frodo blickte hinab auf die Straße. Jetzt jedenfalls ging niemand dort.
Sie erschien einsam und verlassen, als führe sie zu unbewohnten Trüm-
mern im Nebel. Doch lag eine Feindseligkeit in der Luft, als ob tatsächlich
Wesen diese Straße hinauf- und hinuntergehen könnten, die kein Auge
zu sehen vermochte. Frodo erschauerte, als er wieder auf die fernen Zin-
nen blickte, die jetzt in der Nacht verschwanden, und das Geräusch des
Wassers schien kalt und grausam: die Stimme des Morgulduin, des verpe-
steten Bachs, der vom Geistertal herabfloß.
»Was sollen wir tun?« fragte er. »Wir sind lange und weit gelaufen.
Sollen wir uns irgendeinen Platz im Wald suchen, wo wir uns verstecken
und hinlegen können?«
»Nicht gut, sich im Dunkeln verstecken«, sagte Gollum. »Am Tage
müssen sich die Hobbits jetzt verstecken, ja, am Tage.«
»Ach, komm«, sagte Sam. »Wir müssen uns ein bißchen ausruhen,
selbst wenn wir mitten in der Nacht wieder aufstehen. Dann wird es noch
stundenlang dunkel sein, Zeit genug für einen langen Marsch, wenn du
den Weg weißt.«
Widerstrebend war Gollum damit einverstanden, und er wandte sich
wieder den Bäumen zu und ging eine Weile nach Osten, entlang dem un-
regelmäßigen Saum des Waldes. Er wollte so nahe der üblen Straße
nicht auf dem Boden rasten, und nach einigen Erörterungen kletterten sie
hinauf in die Gabelung einer großen Steineiche, deren dicke Äste zusam-
men aus dem Stamm heraustraten und ein gutes Versteck und eine recht
behagliche Zuflucht boten. Die Nacht brach herein, und es wurde stock-
dunkel unter dem Schutzdach des Baums. Frodo und Sam tranken ein
wenig Wasser und aßen etwas Brot und getrocknete Früchte, aber Gollum
rollte sich sofort zusammen und schlief. Die Hobbits taten kein Auge zu.
Es muß kurz nach Mittemacht gewesen sein, als Gollum aufwachte:
plötzlich bemerkten sie, daß seine blassen Augen lidlos zu ihnen herüber-
schimmerten. Er lauschte und schnüffelte, und das schien, wie ihnen
schon früher aufgefallen war, seine übliche Art und Weise zu sein, die
Stunde der Nacht ausfindig zu machen.
»Sind wir ausgeruht? Haben wir schön geschlafen?« fragte er. »Laßt
uns gehen!«
»Weder das eine noch das andere«, brummte Sam. »Aber wir werden
gehen, wenn wir müssen.«
Gollum ließ sich sofort von den Zweigen des Baums hinunter auf alle
Viere fallen, und die Hobbits folgten ihm etwas langsamer.
Kaum waren sie unten, gingen sie weiter, Gollum wiederum voran,
nach Osten, die dunklen Hänge hinauf. Sie konnten wenig sehen, denn es
war jetzt so tiefe Nacht, daß sie die Baumstämme kaum bemerkten, ehe
sie gegen sie stießen. Der Boden wurde unebener und das Gehen schwieri-
ger, aber Gollum schien keineswegs beunruhigt. Er führte sie durch
Dickichte und Dornengestrüpp; manchmal am Rand einer tiefen Schlucht
oder entlang eines dunklen Grabens, manchmal hinunter in schwarze, von
Büschen verdeckte Senken und wieder hinaus; aber wenn sie je ein wenig
bergab gingen, dann war der nächste Hang immer länger und steiler. Sie
stiegen ständig. Als sie das erstemal anhielten, schauten sie zurück und
nahmen die Wipfel des Waldes, den sie hinter sich gelassen hatten, un-
deutlich wie einen riesigen dichten Schatten wahr, eine dunklere Nacht
unter dem dunklen, leeren Himmel. Eine große Schwärze schien sich lang-
sam vom Osten her aufzutürmen und die bläßlich verschwommenen
Sterne zu verschlingen. Später entkam der untergehende Mond der verfol-
genden Wolke, aber er hatte einen Hof, der in einem kränklichen Gelb
leuchtete.
Schließlich wandte sich Gollum an die Hobbits. »Bald Tag«, sagte er.
»Hobbits müssen schnell machen. Ist gefährlich, in diesen Gegenden ohne
Deckung zu sein. Eilt euch!«
Er beschleunigte seinen Schritt, und sie folgten ihm müde. Bald began-
nen sie, einen großen Bergrücken zu erklimmen. Größtenteils war er mit
dicht wachsendem Stechginster und Preiselbeeren bestanden und mit
niedrigem, kräftigem Dornengestrüpp, obwohl sich hier und dort Lich-
tungen auftaten, die Narben frischer Brände. Die Ginsterbüsche wurden
zahlreicher, als sie sich der Bergkuppe näherten; sehr alt und groß
waren sie, dürr und langbeinig unten, aber oben dicht und schon mit
gelben Blüten besteckt, die in der Dämmerung schimmerten und einen
schwachen, süßen Duft ausströmten. So hoch waren die dornigen Dik-
kichte, daß die Hobbits aufrecht unter ihnen laufen konnten wie durch
lange, trockene Schneisen auf einem Teppich aus einer dicken, stachligen
Laubschicht.
Am jenseitigen Ende dieses breiten Bergrückens unterbrachen sie ihren
Marsch und krochen, um sich zu verstecken, unter ein dichtes Gestrüpp
von Dornbüschen. Die ineinander verflochtenen Zweige hingen bis zum
Boden hinab und wurden überwuchert von einem rankenden Gewirr alter
Wildrosen. Tief drinnen war eine hohle Halle mit Dachsparren aus toten
Zweigen und Ranken und einem Dach aus den ersten Blättern und Trie-
ben des Frühlings. Dort lagen sie eine Weile, noch zu müde, um zu essen;
und durch die Löcher in ihrem Versteck hinausschauend, warteten sie,
daß es langsam Tag werde.
Aber es wurde nicht Tag, sondern es kam nur ein totes, braunes Zwie-
licht. Im Osten war ein dunkelroter Glanz unter den drohenden Wolken:
es war nicht das Rot der Morgendämmerung. Über das abfallende Land
dazwischen blickte das Gebirge Ephel Dúath finster zu ihnen herüber,
schwarz und formlos unten, wo die Nacht noch dicht lag und nicht hin-
wegzog, oben mit gezackten Spitzen und Graten, die sich hart und dro-
hend von dem feurigen Glanz abhoben. Fern zu ihrer Rechten ragte nach
Westen ein großer Vorsprung des Gebirges empor, dunkel und schwarz
inmitten der Schatten.
»Welchen Weg gehen wir von hier aus?« fragte Frodo. »Ist das der
Eingang zum — zum Morgultal, dort drüben hinter dieser schwarzen Berg-
masse?«
»Müssen wir jetzt schon darüber nachdenken?« sagte Sam. »Wir wer-
den doch bestimmt am heutigen Tag nicht weitergehen, wenn's überhaupt
Tag ist.«
»Vielleicht nicht, vielleicht nicht«, sagte Gollum. »Aber wir müssen
bald gehen, zum Scheideweg. Ja, zum Scheideweg. Das ist der Weg da
drüben, ja, Herr.«
Der rote Glanz über Mordor verging. Das Zwielicht wurde dunkler, als
gewaltige Dämpfe im Osten aufstiegen und über sie hinwegzogen. Frodo
und Sam aßen ein wenig und legten sich dann hin, aber Gollum war un-
ruhig. Er wollte nichts von ihren Vorräten essen, aber er trank ein wenig
Wasser und kroch dann unter den Büschen umher, schnüffelnd und mur-
melnd. Dann verschwand er plötzlich.
»Um zu jagen, nehme ich an«, sagte Sam und gähnte. Er war als erster
mit Schlafen an der Reihe, und bald war er tief in einem Traum. Er
glaubte, er sei wieder im Garten von Beutelsend und suche nach etwas;
aber er hatte einen schweren Sack auf dem Rücken, so daß er gebückt
ging. Alles schien sehr verunkrautet und irgendwie verwildert zu sein,
und Dornengestrüpp und Farn machten sich auf den Beeten unten an der
Hecke breit.
»Ein Stück Arbeit für mich, das sehe ich; aber ich bin so müde«, sagte
er dauernd. Plötzlich fiel ihm ein, was er suchte. »Meine Pfeife!« sagte er,
und damit wachte er auf.
»Albern!« sagte er zu sich, als er die Augen aufmachte und sich
fragte, warum er eigentlich unter der Hecke liege. »Sie ist doch die ganze
Zeit in deinem Rucksack!« Dann wurde er sich als erstes darüber klar,
daß die Pfeife zwar in seinem Rucksack sein könnte, er aber keinen Tabak
hatte, und als zweites, daß er Hunderte von Meilen von Beutelsend ent-
fernt war. Er setzte sich auf. Es schien fast dunkel zu sein. Warum hatte
ihn sein Herr außer der Reihe weiterschlafen lassen, gleich bis zum
Abend?
»Hast du nicht geschlafen, Herr Frodo?« fragte er. »Wie spät ist es? Es
scheint recht spät zu sein.«
»Nein«, sagte Frodo. »Aber der Tag wird dunkler statt heller: dunkler
und dunkler. Meiner Ansicht nach ist es noch nicht Mittag, und du hast
nur ungefähr drei Stunden geschlafen.«
»Ich möchte mal wissen, was los ist«, sagte Sam. »Zieht ein Gewitter
auf? Wenn ja, dann wird es das schlimmste sein, das es je gab. Wir wer-
den uns wünschen, in einem tiefen Loch zu sein, und nicht bloß unter
einer Hecke.« Er lauschte. »Was ist das? Donner oder Trommeln oder was?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Frodo. »Es ist schon eine ganze Weile im
Gange. Manchmal scheint der Boden zu zittern, manchmal ist es, als
poche einem die drückende Luft in den Ohren.«
Sam sah sich um. »Wo ist Gollum?« fragte er. »Ist er noch nicht zu-
rückgekommen?«
»Nein«, sagte Frodo. »Von ihm ist nichts zu sehen und nichts zu hören.«
»Na, ich kann ihn nicht ausstehen«, sagte Sam. »Tatsächlich, ich habe
niemals etwas auf eine Wanderung mitgenommen, bei dem ich weniger
traurig wäre, es unterwegs zu verlieren. Aber es würde ihm ähnlich
sehen, nachdem er all diese Meilen mitgekommen ist, daß er gerade jetzt
verlorengeht, wenn wir ihn am nötigsten brauchen — das heißt, wenn er
überhaupt je von Nutzen ist, was ich bezweifle.«
»Du vergißt die Sümpfe«, sagte Frodo. »Ich hoffe, es ist ihm nichts ge-
schehen.«
»Und ich hoffe, er führt nichts Böses im Schilde. Und außerdem hoffe
ich, daß er nicht in andere Hände fällt, wie man sagen könnte. Denn dann
werden wir auch bald in Schwierigkeiten geraten.«
In diesem Augenblick war wieder ein rollendes und dröhnendes Ge-
räusch zu hören, lauter jetzt und tiefer. Der Boden schien unter ihren
Füßen zu erzittern. »Ich glaube, wir sind sowieso in Schwierigkeiten«,
sagte Frodo. »Ich fürchte, unsere Wanderung nähert sich ihrem Ende.«
»Vielleicht«, sagte Sam. »Aber wo Leben ist, ist noch Hoffnung, wie
der Ohm zu sagen pflegte; und Verlangen nach der Weinbuddel, wie er
meistens hinzufügte. Iß einen Happen, Herr Frodo, und schlaf dann ein
bißchen.«
Der Nachmittag, wie Sam annahm, daß man ihn nennen mußte,
schleppte sich hin. Wenn er aus dem Versteck hinausschaute, sah er nur
eine schwarzgraue, schattenlose Welt, die langsam zu einer gestaltlosen,
farblosen Düsternis verblaßte. Es war schwül, aber nicht warm. Frodo
schlief unruhig, warf sich hin und her und murmelte manchmal. Zweimal
glaubte Sam zu hören, daß er Gandalfs Namen aussprach. Die Zeit schien
sich unendlich hinzuziehen. Plötzlich hörte Sam ein Zischen hinter sich,
und da war Gollum auf allen Vieren und starrte sie mit funkelnden
Augen an.
»Wacht auf, wacht auf, ihr Schlafmützen!« flüsterte er. »Wacht auf!
Keine Zeit zu verlieren. Wir müssen gehen, ja, wir müssen sofort gehen.
Keine Zeit zu verlieren!«
Sam blickte ihn argwöhnisch an: er schien erschreckt oder aufgeregt.
»Jetzt gehen? Was führst du im Schilde? Es ist noch nicht Zeit. Es kann
noch nicht einmal Tee-Zeit sein, zumindest nicht in anständigen Gegen-
den, wo man Tee trinkt.«
»Dummkopf!« zischte Gollum. »Wir sind nicht in anständigen Gegen-
den. Die Zeit wird knapp, ja, sie läuft schnell. Keine Zeit zu verlieren.
Wir müssen gehen. Wach auf, Herr, wach auf!« Er griff nach Frodo; und
Frodo, aus dem Schlaf gerissen, setzte sich auf und packte ihn am Arm.
Gollum riß sich los und wich zurück.
»Sie dürfen nicht dumm sein«, zischte er. »Wir müssen gehen. Keine
Zeit zu verlieren!« Und sonst nichts konnten sie aus ihm herausholen.
Wo er gewesen sei und was er glaube, daß sich zusammenbraue, und
weshalb er so auf Eile drängte, das wollte er nicht sagen. Sam war
von tiefem Mißtrauen erfüllt und zeigte das auch; aber Frodo ließ nicht
erkennen, was ihm durch den Kopf ging. Er seufzte, schulterte seinen
Rucksack und machte sich bereit, in die sich immer mehr zusammenzie-
hende Dunkelheit hinauszugehen.
Sehr verstohlen führte Gollum sie den Berghang hinunter, blieb in Dek-
kung, wo immer es möglich war, und rannte, fast zum Boden gebeugt,
über alle offenen Stellen. Doch war das Licht jetzt so trübe, daß selbst ein
scharfäugiges Tier der Wildnis die Hobbits unter ihren Kapuzen und in
ihren grauen Mänteln kaum hätte sehen oder auch hören können, denn
sie gingen so vorsichtig, wie es die kleinen Leute vermögen. Ohne daß ein
Zweig knackte oder ein Blatt raschelte, liefen sie vorüber und verschwan-
den.
Ungefähr eine Stunde gingen sie so, schweigend, einer hinter dem an-
deren, bedrückt von der Düsternis und der völligen Stille des Landes, die
nur dann und wann unterbrochen wurde von dem schwachen Grollen wie
von weit entferntem Donner oder Trommelschlägen in irgendeinem Tal
der Berge. Herunter gingen sie von ihrem Versteck, dann wandten sie sich
nach Süden und gingen einen so geraden Weg, wie ihn Gollum nur finden
konnte, über einen langen zerklüfteten Hang, der sich zum Gebirge hin-
aufzog. Plötzlich erblickten sie vor sich, wie eine schwarze, aufragende
Mauer, eine Baumreihe. Als sie näherkamen, sahen sie, daß es Bäume
von riesigem Umfang waren, sehr alt schienen sie zu sein, und immer
noch ragten sie hoch auf, wenngleich ihre Wipfel dürr und abgebrochen
waren, als ob Sturm und Blitz über sie hinweggefegt waren, sie indes
nicht zu töten oder ihre unergründlichen Wurzeln zu erschüttern ver-
mocht hatten.
»Der Scheideweg, ja«, flüsterte Gollum, die ersten Worte, die gespro-
chen worden waren, seit sie ihr Versteck verlassen hatten. »Wir müssen
hierlang gehen.« Er wandte sich jetzt nach Osten und führte sie den Hang
hinauf; und dann plötzlich lag sie vor ihnen: die Südstraße, die sich an
den Ausläufern des Gebirges entlangzog, bis sie mit einemmal in den
großen Kreis von Bäumen eintauchte.
»Dies ist der einzige Weg«, flüsterte Gollum. »Keine Pfade jenseits der
Straße. Keine Pfade. Wir müssen zum Scheideweg gehen. Aber eilt euch!
Seid leise!«
So heimlich wie Späher im Lager von Feinden krochen sie hinunter auf
die Straße und stahlen sich an ihrem westlichen Rand unter der steiner-
nen Böschung entlang, selbst grau wie Steine und leichtfüßig wie jagende
Katzen. Schließlich erreichten sie die Bäume und fanden, daß sie in einem
großen, dachlosen Kreis standen, in der Mitte offen unter dem düsteren
Himmel; und die Zwischenräume zwischen den gewaltigen Stämmen
waren wie die großen dunklen Bögen irgendeiner zerstörten Halle. Genau
in der Mitte trafen sich vier Wege. Hinter ihnen lag die Straße zum
Morannon; vor ihnen machte sie sich wieder auf zu ihrer langen Wande-
rung nach Süden; zu ihrer Rechten kam die Straße vom alten Osgiliath
herauf, überquerte die Kreuzung und verlief dann nach Osten in die Dun-
kelheit: der vierte Weg, die Straße, die sie einschlagen mußten.
Als Frodo dort einen Augenblick stand, von Furcht erfüllt, wurde er
gewahr, daß ein Licht leuchtete; er sah den Widerschein auf Sams Gesicht
neben ihm. Als er sich dorthin umwandte, sah er hinter einem Bogen aus
Zweigen die Straße nach Osgiliath, die, fast so gerade wie ein gestrecktes
Band, hinunter, immer hinunter gen Westen führte. Dort in der Feme,
hinter dem traurigen Gondor, jetzt in Schatten begraben, ging die Sonne
unter; endlich fand sie den Saum der großen, langsam dahinziehenden
Wolkendecke und stürzte in einem unheilvollen Feuer hinab in das noch
unbefleckte Meer. Das kurze Leuchten fiel auf eine riesige sitzende Ge-
stalt, still und feierlich wie die großen Steinkönige von Argonath. Die
Jahre hatten an ihr genagt, und gewalttätige Hände hatten sie verstüm-
melt. Ihr Kopf fehlte, und an seine Stelle war zum Hohn ein runder, grob
behauener Stein gesetzt worden, roh angemalt von ruppigen Händen, so
daß er wie ein grinsendes Gesicht aussah mit einem einzigen roten Auge
mitten auf der Stirn. Auf den Knien der Gestalt, auf ihrem mächtigen
Thron und überall auf dem Sockel waren sinnlose Kritzeleien, vermischt
mit den abscheulichen Schriftzeichen, die das Madenvolk von Mordor
verwendete.
Plötzlich sah Frodo, als die waagrechten Strahlen darauf fielen, den
Kopf des alten Königs: er war beiseite gerollt und lag am Straßenrand.
»Schau, Sam!« rief er, so verblüfft, daß er es nicht für sich behalten
konnte. »Schau! Der König hat wieder eine Krone!«
Die Augen waren hohl und der herausgemeißelte Bart beschädigt, aber
die hohe, strenge Stirn schmückte eine kleine Krone aus Silber und Gold.
Eine rankende Pflanze mit Blüten wie kleine weiße Sterne hatte sich über
die Brauen geschlungen, als wolle sie dem gefallenen König Ehrerbietung
bezeugen, und in den Spalten zwischen seinem steinernen Haar schim-
merte gelber Mauerpfeffer.
»Sie können nicht auf immer siegen!« sagte Frodo. Und dann plötzlich
war das kurze Aufleuchten vorbei. Die Sonne tauchte unter und ver-
schwand, und als ob eine Lampe verdunkelt würde, brach die schwarze
Nacht herein.