SECHSTES KAPITEL
DER VERBOTENE WEIHER

Als Frodo aufwachte, beugte sich Faramir über ihn. Für eine Sekunde
packten ihn die alten Ängste, und er setzte sich auf und schreckte zurück.
»Es gibt nichts zu fürchten«, sagte Faramir.
»Ist es schon Morgen?« fragte Frodo gähnend.
»Noch nicht, aber die Nacht nähert sich ihrem Ende, und der Vollmond
geht unter. Wollt Ihr kommen und es sehen? Auch geht es um etwas,
wozu ich Euren Rat haben möchte. Es tut mir leid. Euch aus dem Schlaf
zu wecken, aber wollt Ihr kommen?
»Ich komme«, sagte Frodo, stand auf und fröstelte ein wenig, als er die
Decke und warmen Felle verließ. Es kam ihm kalt vor in der feuerlosen
Höhle. Das Rauschen des Wassers war laut in der Stille. Er zog seinen
Mantel an und folgte Faramir.
Sam wurde durch irgendein Gefühl der Vorsicht plötzlich wach, sah
zuerst das leere Bett seines Herrn und sprang auf. Dann sah er zwei
dunkle Gestalten, Frodo und einen Menschen, unter dem Torbogen stehen,
der jetzt von einem blassen, weißen Licht erfüllt war. Er eilte ihnen nach,
an Reihen von Menschen vorbei, die auf Matratzen entlang der Wand
schliefen. Als er zum Höhlenausgang kam, sah er, daß der Vorhang jetzt
ein blendender Schleier aus Seide und Perlen und Silberfäden geworden
war: schmelzende Eiszapfen aus Mondschein. Aber er hielt nicht inne,
um es zu bewundern, sondern wandte sich um und folgte seinem Herrn
durch die schmale Tür in der Höhlenwand.
Zuerst gingen sie einen schwarzen Gang entlang, dann viele nasse Stu-
fen hinauf, und so kamen sie zu einem kleinen Treppenabsatz; er war in
den Fels hineingehauen und von dem blassen Himmel erleuchtet, der hoch
über einem langen, tiefen Schacht schimmerte. Von hier aus führten zwei
Treppenläufe weiter: der eine schien zu dem hohen Ufer des Bachs zu ge-
hen; der andere nach links. Diesem folgten sie. Er wendelte sich nach
oben wie eine Turmtreppe.
Endlich kamen sie aus der steinernen Dunkelheit heraus und schauten
sich um. Sie standen auf einem breiten, flachen Felsen ohne Geländer oder
Brüstung. Zu ihrer Rechten, im Osten, sprang der Wildbach über viele Fel-
senstufen, strömte dann durch ein steiles Bett und füllte eine glattgehau-
ene Rinne mit dunklen, schaumgesprenkelten Wassermassen. Fast zu
ihren Füßen stürzte er wirbelnd und brodelnd jäh über den Grat in einen
Abgrund, der zu ihrer Linken gähnte. Nahe am Rand stand dort schwei-
gend ein Mann und blickte hinunter.
Frodo wandte sich um und beobachtete, wie die geschmeidigen Wasser-
arme sich krümmten und tauchten. Dann hob er die Augen und blickte in
die Feme. Die Welt war still und kalt, als ob die Morgendämmerung nahe
sei. Weit im Westen ging der Vollmond unter, rund und weiß. Bleiche
Nebel schimmerten in dem großen Tal unten: eine breite Kluft voll silbri-
gem Dunst, unter dem die kühlen Nachtgewässer des Anduin dahin-
strömten. Jenseits lauerte eine schwarze Dunkelheit, und in ihr funkelten
hier und dort, kalt, scharf, fern und weiß wie Zähne von Gespenstern die
Gipfel des Ered Nimrais, des Weißen Gebirges im Reiche Gondor, die
Spitzen mit ewigem Schnee bedeckt.
Eine Weile stand Frodo dort auf dem hohen Fels, und ein Schauer über-
rann ihn, als er sich fragte, ob irgendwo in der Weite der nächtlichen
Lande seine alten Gefährten wanderten oder schliefen oder tot dalagen, in
ein Leichentuch aus Nebel gehüllt. Warum war er hierher gebracht und
aus dem Schlaf, der Vergessen bescherte, gerissen worden?
Sam war auf eine Antwort auf dieselbe Frage erpicht und konnte sich
nicht zurückhalten, nur für das Ohr seines Herrn bestimmt, wie er
glaubte, zu murmeln: »Eine schöne Aussicht, ohne Zweifel, Herr Frodo,
aber kalt fürs Herz, ganz zu schweigen von den Knochen! Was geht hier
vor?«
Faramir hörte es und antwortete darauf. »Monduntergang über Gon-
dor. Ithil der Schöne verläßt Mittelerde und blickt auf die weißen Haare
des alten Mindolluin. Das ist ein wenig Frösteln wert. Aber nicht um das
zu sehen, habe ich euch hergebracht — obwohl du, Sam, überhaupt nicht
hergebracht wurdest, sondern nur die Strafe für deine Vorsicht bezahlst.
Ein Schluck Wein soll es wiedergutmachen. Doch schaut nun!«
Er ging hinauf zu dem schweigenden Posten an dem dunklen Rand,
und Frodo folgte ihm. Sam blieb zurück. Er fühlte sich sowieso schon un-
sicher auf dieser hohen, nassen Felsplatte. Faramir und Frodo blickten
hinunter. Tief unten sahen sie, wie sich die weißen Gewässer in ein
schäumendes Becken ergossen und dann in einem ovalen Teich zwischen
den Felsen dunkel herumwirbelten, bis sie wieder ihren Weg hinaus fan-
den durch eine schmale Pforte und davonflossen, schäumend und plät-
schernd, zu ruhigeren und ebeneren Bereichen. Das Mondlicht fiel noch
schräg auf den Fuß des Wasserfalls und schimmerte auf den Wellen des
Teichs. Plötzlich bemerkte Frodo ein kleines, dunkles Geschöpf auf dem
diesseitigen Ufer, aber während er es noch betrachtete, tauchte es und
verschwand genau hinter dem Sprudeln und Brodeln des Wasserfalles und
durchschnitt das schwarze Wasser so säuberlich wie ein Pfeil oder ein
hochkantiger Stein.
Faramir wandte sich an den Mann neben ihm. »Nun, was meinst du,
was das ist, Anborn? Ein Eichhörnchen oder ein Eisvogel! Gibt es
schwarze Eisvögel in den Nachtweihern von Düsterwald?«
»Es ist kein Vogel, was immer es sonst sein mag«, antwortete Anborn.
»Es hat vier Gliedmaßen und taucht wie ein Mensch; und es beherrscht
die Kunst sehr gut. Worauf ist es aus? Sucht es einen Weg zu unserem
Versteck hinter dem Vorhang? Es scheint, daß wir endlich entdeckt wor-
den sind. Ich habe meinen Bogen hier, und andere Bogenschützen, fast so
gute Schützen wie ich selbst, stehen an jedem Ufer. Wir warten nur auf
Euren Befehl zum Schießen, Heermeister.«
»Sollen wir schießen?« fragte Faramir, zu Frodo gewandt.
Frodo antwortete einen Augenblick nicht. Dann sagte er: »Nein! Nein,
ich bitte Euch, nicht zu schießen.« Wenn Sam es gewagt hätte, hätte er
»Ja!« gesagt, rascher und lauter. Er konnte es selbst nicht sehen, aber er
erriet aus ihren Worten sehr wohl, was sie betrachteten.
»Ihr wißt also, was für ein Geschöpf das ist?« fragte Faramir. »Nun,
nachdem Ihr es gesehen habt, sagt mir, warum es geschont werden soll.
Bei unseren ganzen Unterhaltungen habt Ihr kein einziges Mal von Eurem
Wandergefährten gesprochen, und ich ließ ihn vorläufig beiseite. Das
konnte warten, bis er gefangen und vor mich gebracht würde. Ich schickte
meine tüchtigsten Jäger aus, ihn zu suchen, aber er entschlüpfte ihnen,
und sie bekamen ihn nicht mehr zu Gesicht, außer Anborn hier, der ihn
gestern in der Dämmerung sah. Aber jetzt hat er eine schlimmere Über-
tretung begangen, als bloß Karnickel zu fangen im Hochland: er hat es
gewagt, nach Henneth Annûn zu kommen, und sein Leben ist verwirkt.
Ich staune über das Geschöpf: so heimlich und durchtrieben, wie er ist,
kommt er und vergnügt sich in dem Teich genau vor unserem Fenster.
Glaubt er, Menschen schlafen die ganze Nacht ohne Wachen? Warum tut
er das?«
»Darauf gibt es zwei Antworten, glaube ich«, sagte Frodo. »Zum einen
weiß er wenig von Menschen, und wenn er auch durchtrieben ist, so ist
Eure Zufluchtstätte so versteckt, daß er vielleicht gar nicht weiß, daß hier
Menschen verborgen sind. Zum anderen glaube ich, daß er durch ein be-
herrschendes Verlangen hierher gelockt wird, das stärker ist als seine
Vorsicht.«
»Er wird hierher gelockt, sagt Ihr?« fragte Faramir leise. »Kann er
denn von Eurer Bürde wissen, oder weiß er es sogar?«
»Allerdings. Er trug sie selbst viele Jahre.«
»Er trug sie?« fragte Faramir und holte tief Luft vor Verwunderung.
»Diese Sache verwickelt sich in immer neue Rätsel. Dann verfolgt er
ihn?«
»Vielleicht. Er ist ihm teuer. Aber davon sprach ich nicht.«
»Was sucht das Geschöpf denn dann?«
»Fisch«, sagte Frodo. »Schaut!«
Sie starrten hinunter auf den dunklen Weiher. Ein kleiner schwarzer
Kopf tauchte am hinteren Ende des Teichs auf, gerade außerhalb der tie-
fen Schatten des Felsen. Kurz blitzte etwas Silbernes auf, und es gab einen
Wirbel kleiner Wellen. Dann schwamm etwas an die Seite, und mit wun-
derbarer Behendigkeit kletterte eine froschähnliche Gestalt aus dem Was-
ser und das Ufer hinauf. Sofort setzte sie sich hin und begann an dem
kleinen silbernen Ding zu nagen, das glitzerte, als es bewegt wurde: die
letzten Strahlen des Mondes fielen jetzt hinter die Felswand am Ende des
Weihers.
Faramir lachte leise. »Fisch!« sagte er. »Das ist ein weniger gefähr-
licher Hunger. Oder vielleicht auch nicht: Fisch aus dem Weiher Henneth
Annûn mag ihn alles kosten, was er zu geben hat.«
»Jetzt habe ich ihn genau vor dem Pfeil«, sagte Anborn. »Soll ich
nicht schießen. Heermeister? Denn unaufgefordert hierher zu kommen be-
deutet nach unserem Gesetz den Tod.«
»Warte, Anborn«, sagte Faramir. »Dies ist eine schwierigere Angele-
genheit, als es scheint. Was habt Ihr jetzt zu sagen, Frodo? Warum soll-
ten wir ihn schonen?«
»Das Geschöpf ist unglücklich und hungrig«, sagte Frodo, »und sich
seiner Gefahr nicht bewußt. Und Gandalf, Euer Mithrandir, würde Euch
geheißen haben, ihn aus diesem und anderen Gründen nicht zu töten. Er
verbot den Elben, es zu tun. Ich weiß nicht genau, warum, und über das,
was ich mutmaße, kann ich hier nicht offen sprechen. Aber dieses Ge-
schöpf ist in irgendeiner Weise mit meinem Auftrag verknüpft. Bis Ihr
uns fandet und mitnahmt, war er mein Führer.«
»Euer Führer!« sagte Faramir. »Die Sache wird immer seltsamer. Ich
würde viel für Euch tun, Frodo, aber das kann ich nicht zugestehen: die-
sen durchtriebenen Wanderer nach seinem Willen frei von hier weggehen
zu lassen, um sich Euch später wieder anzuschließen, wenn es ihm beliebt,
oder von Orks gefangen zu werden und unter Androhung von Strafe
alles zu sagen, was er weiß. Er muß getötet oder gefangengenommen wer-
den. Getötet, wenn er nicht sehr rasch gefangengenommen wird. Aber
wie kann dieses schlüpfrige Wesen von vielerlei Gestalt gefangen werden,
wenn nicht durch einen gefiederten Pfeil?«
»Laßt mich leise zu ihm hinuntergehen«, sagte Frodo. »Ihr könnt Eure
Bogen gespannt lassen und wenigstens mich erschießen, wenn es mir miß-
lingt. Ich werde nicht davonlaufen.«
»Geht denn und eilt Euch!« sagte Faramir. »Wenn er lebend davon-
kommt, sollte er für den Rest seiner unglücklichen Tage Euer getreuer
Diener sein. Führe Frodo zum Ufer hinunter, Anborn, und geht leise. Das
Geschöpf hat Nase und Ohren. Gib mir deinen Bogen.«
Murrend ging Anborn voraus über die Wendeltreppe bis zu dem Trep-
penabsatz und dann über die andere Treppe, und schließlich kamen sie zu
einem kleinen, hinter dichten Büschen verborgenen Durchgang. Leise
schritten sie hindurch und Frodo sah, daß sie oben am südlichen Ufer des
Weihers standen. Es war jetzt dunkel, und der Wasserfall war blaß und
grau und spiegelte nur den noch am westlichen Himmel verweilenden
Mond wieder. Er konnte Gollum nicht sehen. Er ging ein kurzes Stück
weiter, und Anbom kam leise hinter ihm her.
»Geht weiter!« flüsterte er Frodo ins Ohr. »Seid auf Eurer Rechten vor-
sichtig. Wenn Ihr in den Weiher fallt, kann Euch niemand außer Eurem
fischenden Freund helfen. Und vergoßt nicht, daß Bogenschützen in der
Nähe sind, auch wenn Ihr sie nicht seht.«
Frodo kroch weiter und gebrauchte seine Hände nach Gollum-Art, um
seinen Weg zu ertasten und sich abzustützen. Die Felsen waren größten-
teils flach und glatt, aber schlüpfrig. Er hielt inne und lauschte. Zuerst
hörte er keinen Laut außer dem unaufhörlichen Rauschen des Wasserfalls
hinter ihm. Dann hörte er, nicht weit vorn, ein zischendes Murmeln.
»Fisch, netter Fisch. Weißes Gesicht ist endlich verschwunden, ja,
Schatz. Jetzt können wir Fisch in Frieden essen. Nein, nicht in Frieden,
Schatz. Denn Schatz ist verloren; ja, verloren. Dreckige Hobbits, gräß-
liche Hobbits. Weg und haben uns verlassen, gollum; und Schatz ist weg.
Nur der arme Sméagol ist ganz allein. Kein Schatz. Gräßliche Menschen,
sie werden ihn nehmen, werden meinen Schatz stehlen. Diebe. Wir hassen
sie. Fisch, netter Fisch. Macht uns stark. Macht Augen scharf, Finger
kräftig, ja. Sie erwürgen, Schatz. Sie alle erwürgen, ja, wenn wir Gelegen-
heit haben. Netter Fisch. Netter Fisch!«
So ging es weiter, fast ebenso unaufhörlich wie der Wasserfall, nur un-
terbrochen von einem schwachen sabbernden und glucksenden Geräusch.
Frodo überlief es kalt, als er voll Mitleid und Abscheu lauschte. Er
wünschte, es würde aufhören und er brauchte diese Stimme nie wieder zu
hören. Anborn war nicht weit hinter ihm. Er könnte zurückkriechen und
ihn bitten, zu veranlassen, daß die Jäger schießen. Wahrscheinlich könn-
ten sie dicht genug herankommen, während Gollum fraß und nicht auf
der Hut war. Nur ein Schuß, der traf, und Frodo würde die jämmerliche
Stimme auf immer lossein. Aber nein, Gollum hatte jetzt einen An-
spruch gegen ihn. Ein Diener hat einen Anspruch gegen den Herrn auf
Dienstleistung, selbst Dienstleistung in Angst. Sie wären zugrunde ge-
gangen in den Totensümpfen ohne Gollum. Frodo wußte auch irgendwie
ganz genau, daß Gandalf es nicht gewünscht hätte.
»Fisch, netter Fisch«, sagte die Stimme.
»Sméagol!« sagte er ein wenig lauter. Die Stimme brach ab.
»Sméagol, der Herr ist gekommen, um nach dir zu suchen. Der Herr ist
hier. Komm, Sméagol!« Es kam keine Antwort, aber ein leises Zischen
wie beim Atemholen.
»Komm, Sméagol«, sagte Frodo. »Wir sind in Gefahr. Die Menschen
werden dich töten, wenn sie dich hier finden. Komm schnell, wenn du
dem Tod entgehen willst. Komm zum Herrn!«
»Nein«, sagte die Stimme. »Kein netter Herr. Verläßt den armen Smea-
gol und geht mit neuen Freunden. Der Herr kann warten. Sméagol ist
noch nicht fertig.«
»Wir haben keine Zeit«, sagte Frodo. »Bring deinen Fisch mit. Komm!«
»Nein, muß erst den Fisch aufessen.«
»Sméagol«, sagte Frodo verzweifelt. »Schatz wird böse sein. Ich werde
den Schatz nehmen und sagen: Laß ihn die Gräten schlucken und dran er-
sticken. Dann wirst du nie wieder Fisch essen. Komm, Schatz wartet!«
Es gab ein scharfes Zischen. Plötzlich kam Gollum aus der Dunkelheit
angekrochen, auf allen Vieren, wie ein stromernder Hund, dem »Platz!«
zugerufen wird. Er hatte einen halbgegessenen Fisch im Mund und einen
zweiten in der Hand. Er kam dicht an Frodo heran, fast Nase an Nase,
und schnüffelte an ihm. Seine bleichen Augen leuchteten. Dann nahm er
den Fisch aus dem Mund und stand auf.
»Netter Herr«, flüsterte er. »Netter Hobbit, kommt zurück zum armen
Sméagol. Der gute Sméagol kommt. Nun laß uns gehen, schnell gehen, ja.
Durch die Bäume, solange die Gesichter dunkel sind. Ja, komm, laß uns
gehen!«
»Ja, wir werden bald gehen«, sagte Frodo. »Aber nicht gleich. Ich
werde mit dir mitgehen, wie ich versprochen habe. Ich verspreche es noch
einmal. Aber nicht jetzt. Du bist noch nicht in Sicherheit. Ich will dich
retten, aber du mußt mir vertrauen.«
»Wir müssen dem Herrn vertrauen?« fragte Gollum zweifelnd.
»Warum? Warum nicht gleich gehen? Wo ist der andere, der mürrische,
unhöfliche Hobbit? Wo ist er?«
»Da oben«, sagte Frodo und zeigte auf den Wasserfall. »Ich gehe nicht
ohne ihn. Wir müssen zu ihm zurückgehen.« Sein Mut sank. Das sah zu
sehr nach Betrug aus. Er fürchtete nicht wirklich, daß Faramir zulassen
würde, Gollum zu töten, aber wahrscheinlich würde er ihn gefangenneh-
men lassen und fesseln; und was Frodo tat, würde dem armen, hinterhäl-
tigen Geschöpf sicher wie Verräterei vorkommen. Wahrscheinlich würde es
unmöglich sein, es ihm verständlich oder glaubhaft zu machen, daß Frodo
ihm auf die einzige Weise, die ihm zur Verfügung stand, das Leben ret-
tete. Was sonst konnte er tun, um beiden Seiten gegenüber soweit als
möglich Wort zu halten? »Komm!« sagte er. »Sonst wird Schatz ärger-
lich. Wir gehen jetzt zurück, den Bach hinauf. Geh los, geh los, geh du
voraus!«
Gollum kroch ein Stückchen dicht am Rand entlang, schnüffelnd und
mißtrauisch. Mit einemmal hielt er an und hob den Kopf. »Da ist was!«
sagte er. »Kein Hobbit.« Plötzlich drehte er sich um. Ein grünes Funkeln
flackerte in seinen vorstehenden Augen. »Herr, Herr! Böse! Tückisch!
Falsch!« zischte er. Er spuckte und streckte seine langen Arme mit den
weißen, knackenden Fingern aus.
In diesem Augenblick ragte Anborns große schwarze Gestalt drohend
hinter ihm auf und nahm ihn sich vor. Eine große starke Hand packte
ihn im Genick und hielt ihn fest. Er fuhr herum wie der Blitz, ganz naß
und schleimig, wie er war, wand sich wie ein Aal und biß und kratzte
wie eine Katze. Aber noch zwei Männer kamen aus den Schatten.
»Halt still«, sagte der eine. »Sonst stecken wir dich voll Nadeln wie ein
Igel. Halt still!«
Gollum wurde schlaff und begann zu winseln und zu weinen. Sie fes-
selten ihn, nicht gerade sehr sanft.
»Sachte, sachte«, sagte Frodo. »Er kann es an Kraft mit Euch nicht auf-
nehmen. Tut ihm nicht weh, wenn Ihr's vermeiden könnt. Er wird ruhiger
sein, wenn Ihr es nicht tut. Sméagol! Sie werden dir nicht weh tun. Ich
werde mit dir gehen, und dir soll kein Leid geschehen. Es sei denn, sie
würden mich auch töten. Vertraue dem Herrn!«
Gollum drehte sich um und spie ihn an. Die Männer hoben ihn hoch,
zogen ihm eine Kapuze über die Augen und trugen ihn fort.
Frodo folgte ihnen und fühlte sich sehr unglücklich. Sie gingen durch
den Eingang hinter den Büschen und dann die Treppen hinunter durch die
Gänge in die Höhle. Zwei oder drei Fackeln waren angezündet worden.
34l
Die Männer wachten auf. Sam war da. Er warf dem schlaffen Bündel,
das die Männer trugen, einen sonderbaren Blick zu. »Hast ihn erwischt?«
fragte er Frodo.
»Ja. Oder vielmehr nein, ich habe ihn nicht erwischt. Er kam zu mir,
weil er mir zuerst vertraute, fürchte ich. Ich wollte nicht, daß er so gefes-
selt würde. Ich hoffe, es wird gutgehen, aber mir ist das Ganze gräßlich.«
»Mir auch«, sagte Sam. »Und nichts wird jemals gutgehen, wenn die-
ses Häufchen Elend dabei ist.«
Ein Mann kam, winkte den Hobbits und brachte sie zu dem Nebenraum
im Hintergrund der Höhle. Faramir saß dort auf seinem Stuhl, und die
Lampe in der Nische über seinem Kopf war wieder angezündet worden. Er
bedeutete ihnen, sich auf die Hocker neben ihm zu setzen. »Bringt Wein
für die Gäste«, sagte er. »Und bringt den Gefangenen zu mir.«
Der Wein wurde gebracht, und dann kam Anborn und trug Gollum. Er
zog Gollum die Kapuze vom Kopf und stellte ihn auf die Füße, wobei er
hinter ihm stand, um ihn zu stützen. Gollum blinzelte und verbarg die
Bosheit seiner Augen hinter den schweren, bleichen Lidern. Sehr jämmer-
lich sah er aus, tropfend und naß, und er roch nach Fisch (einen hielt er
noch in der Hand); sein spärliches Haar hing ihm wie geiles Unkraut über
die knochige Stirn; seine Nase triefte.
»Laßt uns los! Laßt uns los!« sagte er. »Der Strick tut uns weh, ja, das
tut er, er tut uns weh, und wir haben nichts getan.«
»Nichts?« fragte Faramir und sah das unglückliche Geschöpf scharf an,
aber sein Gesicht drückte weder Ärger noch Mitleid oder Erstaunen aus.
»Nichts? Hast du niemals etwas getan, das Fesseln oder eine noch schlim-
mere Strafe verdient? Indes habe ich zum Glück darüber nicht zu befin-
den. Aber heute Nacht bist du dorthin gekommen, wohin zu kommen
den Tod bedeutet. Die Fische dieses Weihers sind teuer erkauft.«
Gollum ließ den Fisch fallen. »Will keinen Fisch«, sagte er.
»Der Preis ist nicht für den Fisch festgesetzt«, sagte Faramir. »Nur her-
zukommen und den Weiher zu betrachten schließt die Todesstrafe ein. Ich
habe dich bisher verschont auf Bitten von Frodo, der sagt, daß du zumin-
dest von ihm einigen Dank verdient hast. Aber du mußt auch mir Rede
und Antwort stehen. Wie heißt du? Woher kommst du? Und wohin
willst du gehen? Was ist deine Aufgabe?«
»Wir sind verloren, verloren«, sagte Gollum. »Kein Name, keine Auf-
gabe, kein Schatz, nichts. Nur verlassen, nur hungrig. Ja, wir sind hung-
rig. Ein paar kleine Fische, gräßliche, grätige kleine Fisch für ein armes
Geschöpf, und sie sagen Tod. So weise sind sie; so gerecht, so überaus ge-
recht.«
»Nicht sehr weise«, sagte Faramir. »Aber gerecht: ja, vielleicht, so ge-
recht, wie unser bißchen Weisheit zuläßt. Binde ihn los, Frodo!« Faramir
nahm ein kleines Nagelmesser aus dem Gürtel und gab es Frodo. Gollum
mißverstand die Geste, kreischte und fiel zu Boden.
»Nun, Sméagol«, sagte Frodo. »Du mußt mir vertrauen. Ich werde dich
nicht im Stich lassen. Antworte wahrheitsgemäß, wenn du kannst. Es
wird zu deinem Vorteil und nicht zu deinem Schaden sein.« Er durch-
schnitt die Stricke an Gollums Handgelenken und Knöcheln und stellte
ihn auf die Füße.
»Komm hierher!« sagte Faramir. »Schau mich an! Kennst du den
Namen dieses Orts? Bist du schon früher hier gewesen?«
Langsam hob Gollum den Blick und schaute Faramir unwillig in die
Augen. Alles Funkeln war aus seinen Augen verschwunden, und sie
starrten eine kurze Zeit trübe und bleich in die klaren, beharrlichen
Augen des Menschen von Gondor. Es herrschte ein unbewegtes Schwei-
gen. Dann ließ Gollum den Kopf sinken und sackte zusammen, bis er zit-
ternd am Boden lag. »Wir wissen es nicht und wir wollen es nicht wis-
sen«, wimmerte er. »Kamen niemals her; werden niemals wiederkom-
men.«
»Es gibt versperrte Türen und verschlossene Fenster in deinem Geist
und dunkle Räume hinter ihnen«, sagte Faramir. »Aber in diesem Fall
schätze ich, daß du die Wahrheit sprichst. Das ist günstig für dich. Wel-
chen Eid willst du schwören, niemals zurückzukehren und niemals irgend-
ein Lebewesen durch Wort oder Zeichen hierherzuführen?«
»Der Herr weiß es«, sagte Gollum mit einem Seitenblick auf Frodo. »Ja,
er weiß es. Wir werden es dem Herrn versprechen, wenn er uns rettet.
Wir werden es bei Ihm versprechen, ja.« Er kroch zu Frodos Füßen.
»Rette uns, netter Herr!« wimmerte er. »Sméagol verspricht beim Schatz,
verspricht es aufrichtig. Niemals wiederkommen, niemals reden, nein,
niemals! Nein, Schatz, nein!«
»Seid Ihr damit zufrieden?« fragte Faramir.
»Ja«, sagte Frodo. »Zumindest müßt Ihr entweder dieses Versprechen
annehmen oder Euer Gesetz ausführen. Mehr werdet Ihr nicht erhalten.
Aber ich habe ihm versprochen, daß ihm, wenn er zu mir käme, kein
Leid geschähe. Und ich möchte mich nicht gern als unaufrichtig erweisen.«
Faramir überlegte einen Augenblick. »Sehr gut«, sagte er schließlich.
»Ich überantworte dich deinem Herrn, Frodo, Drogos Sohn. Er soll erklä-
ren, was er mit dir tun will.«
»Aber, Herr Faramir«, sagte Frodo und verbeugte sich, »Ihr habt bis
jetzt noch nicht Euren Entschluß hinsichtlich des besagten Frodo verkün-
det, und ehe er nicht bekannt ist, kann Frodo seine Pläne für sich oder
seine Gefährten nicht festlegen. Euer Urteil war bis zum Morgen hinaus-
geschoben, doch der Morgen ist jetzt nahe.«
»Dann will ich meinen Urteilsspruch fällen«, sagte Faramir. »Was Euch
betrifft, Frodo, erkläre ich Euch, soweit es an mir liegt mit höherer Ge-
nehmigung, frei im Gebiet von Gondor bis zu den weitesten seiner alten
Grenzen; mit der einzigen Ausnahme, daß weder Ihr noch jemand, der
Euch begleitet, Erlaubnis hat, ungebeten wieder zu diesem Ort zu kom-
men. Dieser Urteilsspruch soll ein Jahr und einen Tag gelten und dann
enden, es sei denn, daß Ihr vor dieser Zeit nach Minas Tirith kommt und
vor dem Herrn und Truchseß der Stadt erscheint. Dann werde ich ihn bit-
ten, zu bestätigen, was ich getan habe, und es lebenslang zu machen. In-
zwischen soll, wen immer Ihr unter Euren Schutz nehmt, auch unter mei-
nem Schutz und dem Schirm von Gondor stehen. Seid Ihr befriedigt?«
Frodo verbeugte sich tief. »Ich bin befriedigt«, sagte er, »und ich stelle
mich Euch zur Verfügung, wenn das für einen so edlen und ehrenvollen
Herrn von Wert ist.«
»Es ist von großem Wert«, sagte Faramir. »Und nehmt Ihr nun dieses
Geschöpf Sméagol unter Euren Schutz?«
»Ich nehme Sméagol unter meinen Schutz«, sagte Frodo. Sam seufzte
hörbar; aber nicht über den Austausch von Höflichkeiten, die er, wie es
jeder Hobbit tun würde, durchaus billigte. Tatsächlich hätte eine solche
Angelegenheit im Auenland sehr viel mehr Worte und Verbeugungen
erfordert.
»Dann sage ich zu dir«, wandte sich Faramir an Gollum, »daß du unter
Todesstrafe stehst; aber solange du mit Frodo wanderst, bist du für unser
Teil sicher. Solltest du indes jemals von einem Menschen von Gondor
herumirrend und ohne ihn gefunden werden, soll das Urteil vollstreckt
werden. Und möge dich der Tod rasch ereilen, in Gondor oder außerhalb,
wenn du ihm nicht gut dienst. Jetzt antworte mir: wohin willst du gehen?
Du warst sein Führer, sagt er. Wohin hast du ihn geführt?« Gollum ant-
wortete nicht.
»Ich will nicht, daß das geheim bleibt«, sagte Faramir. »Antworte mir,
oder ich werde mein Urteil umstoßen.« Gollum antwortete immer noch
nicht.
»Ich werde für ihn antworten«, sagte Frodo. »Er brachte mich zum
Schwarzen Tor, wie ich gebeten hatte; aber es war undurchschreitbar.«
»Es gibt kein offenes Tor zum Namenlosen Land«, sagte Faramir.
»Als wir das sahen, kehrten wir um und gingen auf der Südstraße wei-
ter«, fuhr Frodo fort. »Denn er sagte, es gebe einen Weg in der Nähe von
Minas Ithil, oder es könne ihn geben.«
»Minas Morgul«, sagte Faramir.
»Ich weiß es nicht genau«, sagte Frodo. »Aber der Pfad klimmt, glaube
ich, hinauf ins Gebirge an der Nordseite jenes Tals, in dem die alte Stadt
liegt. Er führt hinauf zu einer hohen Schlucht und dann hinunter zu —
dem, was jenseits liegt.«
»Wißt Ihr den Namen dieses hohen Passes?« fragte Faramir.
»Nein«, sagte Frodo.
»Er heißt Cirith Ungol.« Gollum zischte scharf und begann, vor sich
hinzumurmeln. »Ist das nicht sein Name?« fragte Faramir, zu ihm ge-
wandt.
»Nein!« sagte Gollum, und dann schrie er schrill auf, als ob ihn etwas
gestochen habe. »Ja, ja, wir hörten den Namen einmal. Aber was bedeu-
tet uns der Name? Der Herr sagt, er muß hinein. Also müssen wir
irgendeinen Weg versuchen. Es gibt keinen anderen Weg, den man versu-
chen kann, nein.«
»Keinen anderen Weg?« fragte Faramir. »Woher weißt du das? Und
wer hat all die Grenzgebiete dieses dunklen Reichs erforscht?« Er sah
Gollum lange und nachdenklich an. Dann sprach er wieder. »Bring dieses
Geschöpf weg, Anborn. Behandele ihn sanft, aber bewache ihn. Und du,
Sméagol, versuche nicht, in den Wasserfall zu tauchen. Die Felsen haben
dort solche Zacken, daß du vor deiner Zeit getötet würdest. Verlaß uns
jetzt und nimm deinen Fisch mit.«
Anborn ging hinaus, und Gollum kroch vor ihm her. Der Vorhang zu
dem Nebenraum wurde zugezogen.
»Frodo, ich glaube, in diesem Punkt handelt Ihr sehr unklug«, sagte
Faramir. »Ihr solltet nicht mit diesem Geschöpf mitgehen. Es ist böse.«
»Nein, nicht durchweg böse«, sagte Frodo.
»Nicht ganz, vielleicht«, sagte Faramir, »aber Bosheit frißt an ihm wie
ein Krebsgeschwür, und das Böse wächst. Er wird Euch zu nichts Gutem
führen. Wenn Ihr Euch von ihm trennen wollt, werde ich ihm freies Ge-
leit und einen Führer geben zu jedem Ort an den Grenzen von Gondor,
den er nennen mag.«
»Er würde das nicht annehmen«, sagte Frodo. »Er würde mir folgen,
wie er es lange getan hat. Und ich habe ihm viele Male versprochen, ihn
unter meinen Schutz zu nehmen und da hinzugehen, wohin er mich führt.
Ihr wollt mich doch nicht auffordern, ihm gegenüber treubrüchig zu wer-
den?«
»Nein«, sagte Faramir. »Aber mein Herz wollte es. Denn es erscheint
weniger verwerflich, einem anderen Mann zu raten, die Treue zu brechen,
als es selbst zu tun, besonders wenn man sieht, wie ein Freund, ohne es
zu wissen, in sein Verderben rennt. Aber nein — wenn er mit Euch gehen
will, müßt Ihr ihn nun ertragen. Doch glaube ich nicht, daß Ihr gehalten
seid, nach Cirith Ungol zu gehen, wovon er Euch weniger gesagt hat, als
er weiß. Soviel habe ich klar in seinem Geist erkannt. Geht nicht nach
Cirith Ungol!«
»Wohin soll ich denn gehen?« fragte Frodo. »Zurück zum Schwarzen
Tor und mich der Wache ausliefern? Was wißt Ihr von diesem Ort, das
seinen Namen so schrecklich macht?«
»Nichts Genaues«, sagte Faramir. »Wir von Gondor gehen heutzutage
niemals weiter nach Osten als bis zur Straße, und keiner von uns jünge-
ren Männern hat es je getan oder den Fuß auf das Schattengebirge ge-
setzt. Von ihm kennen wir nur alte Berichte und die Gerüchte vergange-
ner Tage. Aber irgendein dunkler Schrecken haust in den Pässen ober-
halb von Minas Morgul. Wenn Cirith Ungol genannt wird, erbleichen alte
Männer und Gelehrte und schweigen.
Das Tal von Minas Morgul verfiel dem Bösen vor sehr langer Zeit, und
es war eine Drohung und ein Gegenstand des Schreckens, während der
verbannte Feind noch in der Feme weilte und Ithilien größtenteils in un-
serer Hand war. Wie Ihr wißt, war diese Stadt einst eine Festung, stolz
und schön, Minas Ithil, die Zwillingsschwester unserer eigenen Stadt.
Aber sie wurde erobert von grausamen Menschen, die der Feind in seiner
ersten Macht beherrschte und die nach seinem Sturz heimatlos und her-
renlos umherwanderten. Es heißt, daß ihre Fürsten Menschen von Núme-
nor waren, die der Bosheit verfallen waren; ihnen hatte der Feind Ringe
der Macht gegeben, und er hat sie hinweggerafft: lebende Geister sind sie
geworden, entsetzlich und böse. Nachdem er fort war, nahmen sie Minas
Ithil ein und wohnten dort, und sie brachten die Stadt und das ganze Tal
ringsum in Verfall. Sie schien leer und war es doch nicht, denn eine ge-
staltlose Furcht lebte innerhalb der zerstörten Mauern. Neun Fürsten
waren dort, und nach der Rückkehr ihres Herrn, die sie heimlich förder-
ten und vorbereiteten, wurden sie wieder stark. Dann kamen die Neun
Reiter aus den Toren des Schreckens heraus, und wir konnten ihnen nicht
Widerstand leisten. Nähert Euch nicht ihrer Feste, Ihr werdet erspäht
werden. Es ist ein Ort schlafloser Bosheit, voller lidloser Augen. Geht
nicht diesen Weg!«
»Doch wohin sonst wollt Ihr mich weisen?« fragte Frodo. »Ihr selbst,
sagt Ihr, könnt mich nicht zum Gebirge führen und auch nicht hinüber-
bringen. Aber über die Berge muß ich, denn ich bin durch feierliches Ge-
löbnis gegenüber dem Rat verpflichtet, einen Weg zu finden oder zu-
grunde zu gehen. Und wenn ich jetzt umkehre und das bittere Ende des
Weges verweigere, wohin soll ich dann unter Elben oder Menschen ge-
hen? Würdet Ihr wollen, daß ich mit diesem Ding nach Gondor komme,
dem Ding, das Euren Bruder vor Begierde wahnsinnig machte? Welchen
Zauber würde es in Minas Tirith bewirken? Soll es zwei Städte Minas
Morgul geben, die einander die Zähne zeigen über ein totes Land hinweg,
erfüllt von Fäulnis?«
»Das würde ich nicht wollen«, sagte Faramir.
»Was wollt Ihr denn, daß ich tue?«
»Ich weiß es nicht. Nur möchte ich nicht, daß Ihr Tod oder Folterung
entgegengeht. Und ich glaube nicht, daß Mithrandir diesen Weg gewählt
hätte.«
»Aber nachdem er nicht mehr da ist, muß ich die Pfade einschlagen,
die ich finden kann. Und die Zeit reicht nicht, lange zu suchen«, sagte
Frodo.
»Es ist ein hartes Schicksal und ein hoffnungsloser Auftrag«, sagte
Faramir. »Aber zumindest erinnert Euch meiner Warnung: hütet Euch
vor diesem Führer Sméagol. Er hat schon früher gemordet. Das lese ich in
ihm.« Er seufzte.
»Ja, so haben wir uns getroffen und trennen uns, Frodo, Drogos Sohn.
Ihr braucht keine mitleidigen Worte: ich hege keine Hoffnung, Euch
jemals unter dieser Sonne wiederzusehen. Aber Ihr sollt nun mit meinen
Segenssprüchen für Euch und Euer ganzes Volk von dannen gehen. Ruht
ein wenig, während eine Mahlzeit für Euch bereitet wird.
Ich würde gern erfahren, wie dieser schleichende Sméagol in den Besitz
des Dinges kam, von dem wir sprechen, und wie er es verlor, aber jetzt
will ich Euch nicht damit belästigen. Wenn Ihr entgegen aller Erwartun-
gen in die Lande der Lebenden zurückkehrt und wir unsere Geschichte
nochmals erzählen, in der Sonne an einer Mauer sitzend, über alten Kum-
mer lachend, dann sollt Ihr es mir erzählen. Bis dahin oder bis zu einer
anderen Zeit, die selbst die Sehenden Steine von Númenor nicht zu erken-
nen vermögen, lebt wohl!«
Er stand auf, verbeugte sich tief vor Frodo, zog den Vorhang auf und
ging hinaus in die Höhle.

<= =>