VIERTES KAPITEL
KRÄUTER UND KANINCHENPFEFFER

Die wenigen Stunden, da es noch hell war, ruhten sie und rückten
immer in den Schatten nach, während die Sonne weiterwanderte, bis end-
lich der Schatten des westlichen Rands ihrer Mulde lang wurde und Dun-
kelheit die ganze Senke erfüllte. Dann aßen sie ein wenig und tranken
sparsam. Gollum aß nichts, nahm aber gern etwas Wasser an.
»Jetzt bekommen wir bald mehr«, sagte er und leckte sich die Lippen.
»Gutes Wasser fließt in den Bächen hinab zum Großen Strom, nettes
Wasser in den Landen, in die wir gehen. Sméagol wird dort vielleicht
auch Nahrung finden. Er ist sehr hungrig, ja, gollum!« Er legte seine bei-
den großen flachen Hände auf seinen eingesunkenen Leib, und ein blasses
grünes Funkeln trat in seine Augen.
Die Dämmerung war tief, als sie sich endlich aufmachten, über den
westlichen Rand der Mulde krochen und wie Geister in dem zerklüfteten
Land an den Rändern der Straße verschwanden. Der Mond war jetzt drei
Nächte vor dem Vollmond, aber erst kurz vor der Mitternacht erhob er
sich über das Gebirge, und die frühe Nacht war sehr dunkel. Ein einziges
rotes Licht brannte hoch oben in den Türmen der Wehr, doch sonst war
von der schlaflosen Wache auf dem Morannon nichts zu sehen oder zu
hören.
Viele Meilen schien das rote Auge ihnen nachzustarren, als sie flohen
und durch unwirtliches, steiniges Land stolperten. Sie wagten nicht, auf
der Straße zu gehen, sondern behielten sie zur Linken und folgten ihrem
Lauf, so gut sie konnten, in geringer Entfernung. Schließlich, als die
Nacht alt wurde und sie schon müde waren, denn sie hatten nur eine
knappe kurze Rast gemacht, schrumpfte das Licht zu einem kleinen feuri-
gen Punkt zusammen und verschwand dann: sie hatten die dunkle nörd-
liche Schulter des niedrigeren Gebirges umrundet und gingen nun nach
Süden.
Mit seltsam erleichtertem Herzen rasteten sie nun wieder, aber nicht
lange. Für Gollum gingen sie nicht rasch genug. Nach seiner Schätzung
waren es fast dreißig Wegstunden von Morannon bis zur Wegkreuzung
oberhalb von Osgiliath, und er hoffte, diese Strecke in vier Nachtmär-
sehen zurückzulegen. Deshalb machten sie sich bald wieder auf, bis sich
die Morgendämmerung langsam in der weiten, grauen Einsamkeit auszu-
dehnen begann. Fast acht Wegstunden waren sie gelaufen, und die Hob-
bits hätten nicht weitergehen können, selbst wenn sie es gewagt hätten.
Das zunehmende Licht enthüllte ihnen ein Land, das schon weniger un-
wirtlich und verheert war. Das Gebirge ragte immer noch unheilvoll zu
ihrer Linken auf, aber nahebei sahen sie die südliche Straße, die nun von
dem schwarzen Fuß der Berge fortstrebte und schräg nach Westen verlief.
Hinter ihr waren Abhänge, die mit düsteren Bäumen wie mit dunklen
Wolken bedeckt waren, aber ringsum lag ein zerklüftetes Heideland, be-
standen mit Besenheide und Ginster und Hartriegel und anderen Sträu-
chern, die sie nicht kannten. Hier und dort sahen sie Gruppen von hohen
Tannen. Trotz ihrer Müdigkeit ging den Hobbits das Herz ein wenig auf:
die Luft war frisch und duftend und erinnerte sie an das Hochland im fer-
nen Nordviertel. Es tat gut, gleichsam einen Aufschub zu haben, in
einem Land zu wandern, das erst seit ein paar Jahren unter der Herrschaft
des Dunklen Gebieters stand und noch nicht völlig verkommen war.
Aber sie vergaßen ihre Gefahr nicht, und auch nicht das Schwarze Tor,
das noch allzu nahe war, wenn auch verborgen hinter den düsteren
Höhen. Sie sahen sich nach einem Versteck um, wo sie Schutz fänden vor
bösen Augen, solange das Tageslicht andauerte.
Der Tag verging unbehaglich. Sie lagen tief in der Heide und zählten
die langsam vergehenden Stunden aus, in denen sich wenig zu verändern
schien; denn immer noch waren sie unter den Schatten des Ephel Dúath,
und die Sonne war verschleiert. Frodo schlief zeitweise, tief und friedlich;
entweder vertraute er Gollum, oder er war zu müde, um sich seinetwegen
zu beunruhigen. Aber Sam vermochte nicht mehr als zu dösen, selbst als
Gollum offensichtlich fest schlief und sich in seinen geheimen Träumen
hin- und herwarf und zuckte. Hunger, vielleicht mehr noch als Miß-
trauen, hielt Sam wach: er sehnte sich allmählich nach einer guten Mahl-
zeit wie daheim, »etwas Heißem aus dem Topf«.
Sobald das Land unter der kommenden Nacht zu einem formlosen Grau
verblaßte, brachen sie wieder auf. Nach einer kleinen Weile führte Gol-
lum sie hinunter zu der südlichen Straße; und danach gingen sie rascher,
obwohl die Gefahr größer war. Sie spitzten die Ohren nach dem Geräusch
von Hufen oder Füßen auf der Straße vor ihnen oder hinter ihnen; aber
die Nacht verging, und sie hörten weder Fußgänger noch Reiter.
Die Straße war in einer längst vergangenen Zeit angelegt worden, und
auf einer Strecke von etwa dreißig Meilen unterhalb des Morannon war
sie neuerlich ausgebessert worden, doch weiter im Süden griff die Wildnis
auf sie über. Das Werk der Menschen von einst war noch zu sehen an
ihrer geraden, stetigen Richtung und ihrem ebenen Verlauf: dann und
wann schnitt sie ihren Weg durch Berghänge oder übersprang einen Bach
auf einem breiten, schöngeformten Bogen aus dauerhaftem Mauerwerk;
aber schließlich verschwanden alle Spuren von Steinmetzarbeiten, ab-
gesehen von einem gebrochenen Pfeiler hier und dort, der noch aus
den Büschen an der Seite herausschaute, oder alten Pflastersteinen, die
zwischen Unkraut und Moos verborgen waren. Heide und Bäume und
Adlerfarn krochen herunter und hingen über die Böschungen oder breite-
ten sich auf der Straße selbst aus. Zuletzt sah sie nur noch wie ein wenig
benutzter ländlicher Karrenweg aus; aber sie schlängelte sich nicht, son-
dern behielt ihre stetige Richtung bei und brachte die Wanderer auf dem
schnellsten Wege voran.
So gelangten sie in die nördlichen Gemarken jenes Landes, das die
Menschen einst Ithilien nannten, ein liebliches Land mit emporklimmen-
den Wäldern und rasch herabstürzenden Bächen. Die Nacht wurde schön
unter den Sternen und dem runden Mond, und es schien den Hobbits, daß
der Duft der Luft zunahm, während sie weitergingen; aus Gollums
Schnaufen und Murren war zu entnehmen, daß auch er ihn bemerkte und
nicht schätzte. Bei den ersten Anzeichen des Tages hielten sie wieder an.
Sie waren zum Ende eines langen Durchstichs gekommen, tief und steil-
wandig in der Mitte, durch den sich die Straße ihren Weg durch einen
steinigen Kamm bahnte. Jetzt kletterten sie die westliche Böschung hinauf
und schauten sich um.
Der Tag begann am Himmel, und sie sahen, daß der Abstand vom Ge-
birge jetzt viel größer war; es zog sich in einer langen Krümmung nach
Osten zurück und verlor sich in der Ferne. Vor ihnen fielen nach Westen
sanfte Hänge ab und liefen tief unten in verschwommenen Dunstschleiern
aus. Ringsum waren kleine Wälder von harzigen Bäumen, Tannen
und Zedern und Zypressen und andere Arten, die im Auenland unbe-
kannt waren, mit breiten Lichtungen zwischen ihnen. Und überall war
eine Fülle von süßduftenden Kräutern und Sträuchern. Die lange Wande-
rung von Bruchtal hatte sie weit südlich ihres eigenen Landes geführt,
aber erst jetzt in dieser geschützteren Gegend empfanden die Hobbits, daß
sie in einem anderen Landstrich waren. Hier war der Frühling schon am
Werk. Grüne Triebe durchstießen Moos und Laub, die Lärchen waren
grüngefingert, kleine Blumen öffneten sich im Gras, die Vögel sangen.
Ithilien, der jetzt verlassene Garten von Gondor, besaß noch immer eine
zerzauste, feenhafte Lieblichkeit.
Nach Süden und Westen blickte er auf die warmen unteren Täler des
Anduin, war nach Osten abgeschirmt durch den Ephel Dúath, und den-
noch nicht im Bergschatten, gegen Norden geschützt durch den Emyn
Muil, und den südlichen Lüften und feuchten Winden vom fernen Meer
zugänglich. Viele große Bäume wuchsen dort, vor langer Zeit gepflanzt,
doch ungepflegt im Alter inmitten eines Gewirrs sorglos wuchernder
Abkömmlinge; und Haine und dichte Gebüsche gab es mit Tamarisken
und scharfen Terpentinpistazien, mit Oliven und Lorbeer; und es gab
Wacholder und Myrten; und Thymian, der in Büschen wuchs oder mit
seinen holzigen kriechenden Trieben verborgene Steine mit dunklen Tep-
pichen überzog; Salbeien vieler Arten trugen blaue oder rote oder blaß-
grüne Blüten; und Majoran und frisch sprießende Petersilie und viele
Kräuter, deren Formen und Gerüche Sams Gartenkunde überstiegen. Die
Grotten und Felswände waren schon besternt mit Steinbrech und Mauer-
pfeffer. Schlüsselblumen und Anemonen erwachten in den Haselgebü-
schen; und Narzissen und viele Lilienblüten nickten mit ihren halbgeöff-
neten Köpfen im Gras: dunkelgrünes Gras wuchs an den Weihern, küh-
len Mulden, in denen herabstürzende Bäche auf ihrer Wanderung hinab
zum Anduin verweilten.
Die Reisenden kehrten der Straße den Rücken und gingen bergab.
Während sie sich ihren Weg durch Busch und Kraut bahnten, stiegen
süße Düfte um sie auf. Gollum hustete und würgte; aber die Hobbits
atmeten tief, und plötzlich lachte Sam, aus Herzenslust, nicht wegen eines
Scherzes. Sie folgten einem Bach, der hurtig vor ihnen hinabplätscherte.
Plötzlich brachte er sie zu einem kleinen, klaren See in einer flachen
Mulde: er lag in den verfallenen Überbleibseln eines alten steinernen Bek-
kens, dessen gemeißelter Rand fast ganz von Moos und Rosenranken
überwuchert war; Iris-Schwerter standen in Reihen herum, und Seerosen-
blätter schwammen auf seiner dunklen, sich sanft kräuselnden Oberflä-
che, aber er war tief und frisch, und am hinteren Ende lief er über eine
Steinschwelle sanft über.
Hier wuschen sie sich und tranken sich satt an dem hereinströmenden
Bach. Dann suchten sie nach einem Rastplatz und Versteck; denn dieses
Land, so schön es ihnen erschien, war jetzt dennoch feindliches Gebiet.
Noch waren sie nicht sehr weit von der Straße, und selbst auf dieser kur-
zen Strecke hatten sie die Narben alter Kriege und die frischeren Wunden
gesehen, die von Orks und anderen abscheulichen Dienern des Dunklen
Herrschers geschlagen worden waren: eine Grube mit unbedecktem Unrat
und Abfall; willkürlich abgehackte und zum Sterben liegengelassene
Bäume, und böse Runen oder das grausame Zeichen des Auges waren mit
rohen Axthieben in die Rinde eingeschnitten.
Sam kletterte unterhalb des Abflusses des Sees herum, beroch und be-
fühlte die ihm nicht vertrauten Pflanzen und Bäume, und für einen
Augenblick vergaß er Mordor, wurde indes plötzlich wieder an die allge-
genwärtige Gefahr erinnert. Er stolperte über einen noch vom Feuer ver-
sengten Kreis, und in seiner Mitte fand er einen Haufen verkohlter und
zertrümmerter Knochen und Schädel. Der rasche Wuchs der Wildnis mit
Brombeeren und Heckenrosen und kriechender Waldrebe zog bereits einen
Schleier über diese Stätte des entsetzlichen Schmausens und Schlachtens;
aber sie war nicht alt. Sam eilte zurück zu seinen Gefährten, sagte aber
nichts: die Knochen sollten lieber in Ruhe gelassen und nicht von Gollum
befühlt und durchstöbert werden.
»Laßt uns oben einen Platz suchen, wo wir uns hinlegen können«,
sagte er. »Nicht unten. Weiter oben, wenn's nach mir geht.«
Ein Stückchen oberhalb des Sees fanden sie ein tiefes braunes Bett aus
vorjährigem Farn. Dahinter stand eine Gruppe dunkelblättriger Lorbeer-
bäume; sie zogen sich eine steile Böschung hinauf, die oben mit alten
Zedern bestanden war. Hier beschlossen sie zu rasten und den Tag zu ver-
bringen, der schon sonnig und warm zu werden versprach. Ein schöner
Tag, um auf ihrem Weg entlang den Hainen und Lichtungen von Ithilien
umherzustreifen; aber wenn Orks auch das Sonnenlicht scheuen mögen,
so gab es hier doch zu viele Plätze, wo sie sich verstecken und auf der
Lauer liegen konnten; und andere böse Augen waren unterwegs: Sauron
hatte viele Diener. Gollum jedenfalls würde sich unter dem Gelben Ge-
sicht nicht von der Stelle rühren. Bald würde es über die dunklen Grate
des Ephel Dúath blicken, und Gollum würde schwach werden und sich
vor Licht und Hitze ducken.
Sam hatte, während sie marschierten, ernstlich über die Emährungs-
frage nachgedacht. Jetzt, da die Verzweiflung des undurchschreitbaren
Tors hinter ihm lag, neigte er nicht so wie sein Herr dazu, keinen Gedan-
ken darauf zu verschwenden, wie sie ihr Leben fristen sollten, wenn ihr
Auftrag erst einmal erfüllt war; und jedenfalls erschien es ihm klüger,
die Wegzehrung der Elben für kommende schlechte Zeiten aufzusparen.
Sechs Tage waren vergangen, seit er geschätzt hatte, daß sie nur noch
einen knappen Vorrat für drei Wochen hätten. »Erreichen wir das Feuer
in dieser Zeit, können wir unter diesen Umständen von Glück sagen«,
dachte er. »Und vielleicht wollen wir auch zurückkommen. Vielleicht.«
Außerdem war er nach dem langen Nachtmarsch, dem Baden und
Trinken noch hungriger als gewöhnlich. Ein Abendbrot oder ein Früh-
stück am Feuer in der alten Küche am Beutelhaldenweg, das war es, was
er eigentlich wollte. Ein Gedanke kam ihm, und er drehte sich zu Gollum
um. Gollum war gerade im Begriff, sich allein davonzuschleichen, und
kroch auf allen Vieren durch den Farn.
»He, Gollum!« rief Sam. »Wo gehst du hin? Auf die Jagd? Hör zu,
alter Schnüffler, du magst unser Essen nicht, und auch ich hätte nichts
gegen eine Abwechslung. Dein neuer Wahlspruch ist: immer hilfsbereit.
Könntest du nicht für einen hungrigen Hobbit etwas Geeignetes finden?«
»Ja, vielleicht«, sagte Gollum. »Sméagol hilft immer, wenn sie bitten —
wenn sie nett bitten.«
»Richtig!« sagte Sam. »Ich bitte. Und wenn das nicht nett genug ist,
bettele ich.«
Gollum verschwand. Er war einige Zeit weg, und nachdem Frodo ein
paar Bissen lembas gegessen hatte, legte er sich tief in den braunen Farn
und schlief ein. Sam schaute ihn an. Das frühe Morgenlicht kroch gerade
erst herab in die Schatten unter den Bäumen, aber er sah das Gesicht sei-
nes Herrn sehr deutlich, und auch seine Hände, die entspannt neben ihm
auf dem Boden lagen. Das erinnerte ihn plötzlich daran, wie Frodo dage-
legen hatte, als er in Elronds Haus schlief nach seiner tödlichen Verwun-
dung. Damals hatte Sam, als er Wache hielt, bemerkt, daß zu Zeiten ein
Licht schwach in ihm zu schimmern schien; aber jetzt war das Licht sogar
noch deutlicher und stärker. Frodos Gesicht war friedvoll, die Spuren von
Angst und Sorge waren verschwunden; aber es sah alt aus, alt und
schön, als ob sich die Jahre der Reife, die sich in vielen feinen Linien aus-
prägen und vorher verborgen waren, jetzt enthüllten, obwohl das Gesicht
dasselbe geblieben war. Nicht, daß Sam Gamdschie es sich selbst gegen-
über so ausdrückte. Er schüttelte den Kopf, als ob er Worte sinnlos fände,
und murmelte: »Ich liebe ihn. So ist er, und manchmal schimmert es
irgendwie durch. Aber ich liebe ihn, ob er nun so ist oder nicht.«
Gollum kam leise zurück und schaute Sam über die Schulter. Als er
Frodo sah, schloß er die Augen und kroch, ohne einen Laut von sich zu
geben, zurück. Sam kam einen Augenblick später zu ihm und fand ihn
kauend und vor sich hinmurmelnd. Auf dem Boden neben ihm lagen
zwei kleine Kaninchen, die er gierig zu beäugen begann.
»Sméagol hilft immer«, sagte er. »Er hat Kaninchen gebracht, nette
Kaninchen. Aber der Herr schläft, und vielleicht will Sam auch schlafen.
Will er jetzt keine Kaninchen? Sméagol versucht zu helfen, aber er kann
nicht im Handumdrehen Viecher fangen.«
Sam hatte indes nicht das Geringste gegen Kaninchen und sagte es. Zu-
mindest nicht gegen gekochte Kaninchen. Alle Hobbits können natürlich
kochen, denn diese Kunst beginnen sie schon vor dem Lesen und Schrei-
ben zu lernen (was manche nie erreichen); aber Sam war ein guter Koch,
selbst nach Hobbit-Maßstäben, und auf ihren Wanderungen hatte er ein
groß Teil der Lagerkocherei erledigt, wenn dazu Gelegenheit war. Hoff-
nungsvoll schleppte er immer noch etwas von seiner Ausrüstung mit:
eine kleine Zunderbüchse, zwei kleine, flache Kochtöpfe, von denen der
kleinere in den größeren paßte, drinnen lagen ein Holzlöffel, eine kurze,
zweizinkige Gabel und ein paar Fleischspieße; und ganz zuunterst im
Rucksack war in einer flachen Holzschachtel ein dahinschwindender
Schatz versteckt, etwas Salz. Aber er brauchte Feuer und noch einiges
dazu.
Er dachte ein bißchen nach, während er sein Messer herausholte, es
saubermachte und wetzte und die Kaninchen vorzubereiten begann. Er
wollte den schlafenden Frodo auch nicht ein paar Minuten allein lassen.
»Höre, Gollum«, sagte er, »ich habe noch einen Auftrag für dich. Geh
und fülle diese Töpfe mit Wasser und bring sie mir zurück!«
»Sméagol wird Wasser holen, ja«, sagte Gollum. »Aber wofür will der
Hobbit so viel Wasser haben? Er hat getrunken, er hat sich gewaschen.«
»Zerbrich dir nicht den Kopf«, sagte Sam. »Wenn du es nicht erraten
kannst, wirst du es bald herausfinden. Und je schneller du das Wasser
holst, um so schneller wirst du es erfahren. Beschädige meine Töpfe nicht,
sonst mach ich Hackfleisch aus dir.«
Als Gollum fort war, betrachtete Sam Frodo noch einmal. Er schlief
immer noch ruhig, aber Sam war jetzt vor allem betroffen von der Mager-
keit seines Gesichts und seiner Hände. »Zu dünn und abgezehrt ist er«,
murmelte er. »Das ist nicht richtig für einen Hobbit. Wenn ich es schaffe,
diese Karnickel zu kochen, dann werde ich ihn wecken.«
Sam suchte sich etwas von dem trockensten Farn zusammen, dann klet-
terte er die Böschung hinauf und sammelte ein Bündel Zweige und abge-
brochenes Holz; der heruntergefallene Ast einer Zeder weiter oben lie-
ferte ihm eine ansehnliche Menge. Er stach ein paar Rasensoden am Fuß
der Böschung gleich neben dem Farrendickicht aus, machte ein flaches
Loch und legte sein Brennholz hinein. Da er geschickt war mit Feuerstein
und Zunder, hatte er bald ein kleines Feuer in Gang. Es machte wenig
oder gar keinen Rauch, duftete aber würzig. Er bückte sich gerade über
sein Feuer, schirmte es ab und legte dickeres Holz nach, als Gollum zu-
rückkam; er trug die Töpfe vorsichtig und brummte vor sich hin.
Er setzte die Töpfe ab, und dann plötzlich sah er, was Sam tat. Er gab
einen dünnen, zischenden Schrei von sich und schien sowohl erschreckt
als auch ärgerlich zu sein. »Ach! Sss — nein!« rief er. »Nein! Alberne
Hobbits, töricht, ja, töricht! Das dürfen sie nicht tun!«
»Was dürfen sie nicht tun?« fragte Sam überrascht.
»Nicht die garstigen roten Zungen machen!« zischte Gollum. »Feuer,
Feuer! Das ist gefährlich, ja, das ist es. Es brennt, es tötet. Und es wird
Feinde anlocken, ja, das wird es.«
»Das glaube ich nicht«, sagte Sam. »Ich sehe nicht ein, warum es das
sollte, wenn man kein nasses Zeug drauf wirft und dicken Qualm macht.
Aber wenn es qualmt, dann qualmt es eben. Darauf will ich's ankommen
lassen. Ich will diese Karnickel kochen.«
»Kaninchen kochen!« zeterte Gollum entsetzt. »Das schöne Fleisch ver-
derben, das Sméagol für dich aufgespart hat, der arme, hungrige Smea-
gol! Wozu? Wozu, alberner Hobbit? Sie sind jung, sie sind zart, sie sind nett.
Iß sie, iß sie!« Er griff nach dem nächstgelegenen Kaninchen, das schon ab-
gezogen war.
»Nun, nun«, sagte Sam. »Jeder auf seine Weise. Unser Brot würgt dich,
und mich würgt rohes Karnickel. Wenn du mir ein Karnickel schenkst,
dann ist das Karnickel meins, verstehst du, und ich kann's kochen, wenn
ich Lust dazu habe. Und das habe ich. Du brauchst mir nicht zuzusehen.
Geh und fang noch eins und iß es, wie du es magst — irgendwo für dich
außer Sicht. Dann wirst du das Feuer nicht sehen und ich werde dich
nicht sehen, und wir beide werden glücklicher sein. Ich werde dafür sor-
gen, daß das Feuer nicht raucht, wenn das ein Trost für dich ist.«
Gollum zog sich murrend zurück und kroch in den Fam. Sam beschäf-
tigte sich mit seinen Töpfen. »Was ein Hobbit zu Karnickeln braucht«,
sagte er zu sich, »sind Kräuter und Wurzeln, besonders Tüften — ganz zu
schweigen von Brot. Kräuter, das läßt sich offenbar einrichten.«
»Gollum«, rief er leise. »Aller guten Dinge sind drei. Ich brauche ein
paar Kräuter.« Gollum streckte den Kopf aus dem Farn, aber sein Aus-
druck war weder hilfreich noch freundlich. »Ein paar Lorbeerblätter,
etwas Thymian und Salbei, das reicht — ehe das Wasser kocht«, sagte
Sam.
»Nein!« sagte Gollum. »Sméagol ist nicht erfreut. Und Sméagol mag
riechende Blätter nicht. Er ißt kein Gras oder Wurzeln, nein, Schatz, nicht
ehe er verhungert oder sehr krank ist, armer Sméagol.«
»Sméagol wird in Teufels Küche kommen, wenn dieses Wasser kocht
und er nicht tut, worum er gebeten wird«, brummte Sam. »Sam wird sei-
nen Kopf hineinstecken, ja, Schatz. Und ich würde ihn auch nach Rüben
und Mohren und Tüften suchen lassen, wenn die Jahreszeit danach wäre.
Ich wette, es gibt alle möglichen guten Dinge, die in diesem Land wild
wachsen. Für ein halbes Dutzend Tüften würde ich viel geben.«
»Sméagol wird nicht gehen, o nein, Schatz, diesmal nicht«, zischte Gol-
lum. »Er hat Angst und ist sehr müde, und dieser Hobbit ist nicht nett,
ganz und gar nicht nett. Sméagol will nicht nach Wurzeln und Mohren
graben und — Tüften. Was sind Tüften, Schatz, wie, was sind Tüften?«
»Kar-tof-feln«, sagte Sam. »Die ganze Wonne des Ohm, und eine sel-
ten gute Unterlage für einen leeren Magen. Du wirst keine finden, also
brauchst du auch nicht danach zu suchen. Aber sei ein lieber Sméagol
und hole mir die Kräuter, dann werde ich eine bessere Meinung von dir
haben. Und überdies, wenn du dich besserst und auch gut bleibst, werde
ich dir demnächst mal Tüften kochen. Das werde ich: gebacken en Fisch
und Bratkartoffeln, angerichtet von S. Gamdschie. Da könntest du nicht
nein sagen.«
»Doch, doch, wir könnten. Netten Fisch verderben, ihn verbrennen. Gib
mir jetzt Fisch und behalte deine garstigen Bratkartoffeln!«
»Du bist ein hoffnungsloser Fall«, sagte Sam. »Geh schlafen!«
Zu guter Letzt mußte er sich selbst suchen, was er haben wollte; aber
er brauchte nicht weit zu gehen und konnte die Stelle, wo sein Herr lag,
im Auge behalten. Eine Weile saß Sam nachdenklich da und unterhielt
das Feuer, bis das Wasser heiß war. Das Tageslicht nahm zu, und die Luft
wurde wann; der Tau verschwand von Gras und Blatt. Bald lagen die
Kaninchen, in Stücke geschnitten, mit den zusammengebundenen Krau-
tern in den Töpfen und kochten. Fast wäre Sam dabei eingeschlafen. Er
ließ sie fast eine Stunde brutzeln, prüfte sie ab und zu mit der Gabel und
kostete die Brühe.
Als er glaubte, daß alles fertig sei, nahm er die Töpfe vom Feuer und
kroch zu Frodo. Frodo öffnete die Augen halb, als Sam bei ihm stand,
und dann wachte er aus seinem Traum auf: ein weiterer freundlicher,
nicht wiederbelebbarer Traum des Friedens.
»Nanu, Sam!« sagte er. »Du ruhst nicht? Ist irgendwas nicht in Ord-
nung? Wie spät ist es?«
»Ein paar Stunden nach Tagesanbruch«, sagte Sam, »und nahe an halb
neun nach der Auenland-Uhr, vielleicht. Aber es ist soweit alles in Ord-
nung. Obwohl es nicht ganz das ist, was ich richtig nennen würde: keine
Suppenwürze, keine Zwiebeln, keine Tüften. Ich habe ein bißchen Fleisch
für dich, und etwas Brühe, Herr Frodo. Wird dir gut tun. Du mußt sie aus
deinem Becher trinken, oder gleich aus dem Topf, wenn sie ein bißchen
abgekühlt ist. Ich habe keine Schüsseln mitgebracht und überhaupt nichts
Richtiges.«
Frodo gähnte und streckte sich. »Du hättest dich ausruhen sollen,
Sam«, sagte er. »Und ein Feuer anzünden war gefährlich in dieser Ge-
gend. Aber ich bin wirklich hungrig. Hm! Kann ich es von hier aus rie-
chen? Was hast du gekocht?«
»Ein Geschenk von Sméagol«, sagte Sam. »Ein paar junge Karnickel.
Obwohl ich mir vorstelle, daß sie Gollum jetzt leid tun. Aber es gibt
nichts dazu außer ein paar Kräutern.«
Sam und sein Herr setzten sich in den Farn, aßen ihren Kaninchenpfef-
fer gleich aus den Töpfen und teilten sich in die alte Gabel und den Löf-
fel. Sie gönnten sich dazu jeder ein halbes Stück von der elbischen Weg-
zehrung. Es kam ihnen wie ein Festmahl vor.
»He, Gollum!« rief Sam und pfiff leise. »Komm her. Noch ist Zeit, dich
anders zu besinnen. Es ist noch etwas übrig, wenn du doch noch gekoch-
tes Karnickel versuchen willst.« Es kam keine Antwort.
»Na schön, er wird wohl weggegangen sein, um sich auch etwas zu
suchen. Wir werden's aufessen«, sagte Sam.
»Und dann mußt du etwas schlafen«, sagte Frodo.
»Aber nicke du nicht ein, wenn ich die Augen zumache, Herr Frodo. Ich
bin nicht allzu sicher, was ihn betrifft. Da ist eine ganze Menge von Stin-
ker — dem bösen Gollum, wenn du mich verstehst — in ihm, und das wird
stärker. Obwohl ich glaube, daß er jetzt zuerst versuchen würde, mich zu
erwürgen. Wir sind uns nicht ganz einig, und er ist nicht zufrieden mit
Sam, o nein, Schatz, ganz und gar nicht zufrieden.«
Sie aßen auf, und Sam ging zum Bach, um sein Geschirr zu spülen. Als
er aufstand, um zurückzugehen, schaute er den Abhang hinauf. In die-
sem Augenblick sah er die Sonne auftauchen aus dem Qualm oder Dunst
oder dunklen Schatten oder was immer es war, was im Osten hing, und
sie schickte ihre goldenen Strahlen hinab auf die Bäume und Lichtungen
ringsum. Dann bemerkte er ein dünnes Geringel von blaugrauem Rauch,
deutlich zu sehen im Sonnenlicht, der aus dem Dickicht vor ihm aufstieg.
Es traf ihn wie ein Schlag, daß dies der Rauch von seinem kleinen Koch-
feuer war, das er zu löschen versäumt hatte.
»Das geht nicht! Nie hätte ich gedacht, daß man es so sieht!« murmelte
er und schickte sich an, zurückzueilen. Plötzlich blieb er stehen und
lauschte. Hatte er einen Pfiff gehört oder nicht? Oder war es der Ruf
eines fremden Vogels? Wenn es ein Pfiff war, dann war er nicht aus Fro-
dos Richtung gekommen. Jetzt pfiff es wieder von einer anderen Stelle!
Sam begann so schnell bergauf zu rennen, wie er nur konnte.
Er stellte fest, daß ein Kien, der am äußeren Ende noch gebrannt hatte,
etwas Farn am Rande des Feuers entzündet hatte, und der aufflammende
Farn hatte die Grassoden zum Schwelen gebracht. Hastig trat er die Reste
des Feuers aus, verstreute die Asche und legte die Grassoden über das
Loch. Dann kroch er zu Frodo zurück.
»Hast du einen Pfiff gehört und etwas, das wie eine Antwort klang?«
fragte er. »Vor ein paar Minuten. Ich hoffe, es war nur ein Vogel, aber es
klang eigentlich nicht so: eher wie jemand, der einen Vogelruf nach-
macht, fand ich. Und ich fürchte, mein bißchen Feuer hat geraucht. Wenn
ich jetzt Unheil angerichtet habe, werde ich es mir nie verzeihen. Und
vielleicht auch keine Gelegenheit mehr dazu haben !<
»Pst!« flüsterte Frodo. »Ich glaube, ich habe Stimmen gehört.«
Die beiden Hobbits packten ihre Rucksäcke, schnallten sie um, bereit
zur Flucht, und krochen tiefer in den Farn. Dort hockten sie sich hin und
lauschten.
Es waren unzweifelhaft Stimmen. Sie sprachen leise und verstohlen,
aber sie waren nah und kamen immer näher. Dann sprach plötzlich eine
Stimme ganz dicht.
»Hier! Hier ist es, wo der Rauch hergekommen ist!« sagte sie. »Es wird
ganz nah sein. Im Farn, zweifellos. Wir werden's gleich haben wie ein
Karnickel in der Falle. Dann werden wir sehen, was für ein Wesen es ist.«
»Freilich, und was es weiß«, sagte eine zweite Stimme.
Auf einmal kamen vier Menschen aus verschiedenen Richtungen durch
den Farn gestapft. Da Flucht und Verstecken nicht länger möglich war,
sprangen Frodo und Sam auf die Füße, stellten sich Rücken an Rücken
und zogen ihre kleinen Schwerter.
Wenn sie erstaunt waren über das, was sie sahen, dann waren ihre
Häscher noch erstaunter. Vier hochgewachsene Menschen standen da.
Zwei hatten Speere in den Händen mit breiten, glänzenden Spitzen.
Zwei hatten große Bogen, fast mannshoch, und große Köcher mit langen
grüngefiederten Pfeilen. Alle hatten Schwerter an der Seite und waren in
Grün und Braun von verschiedener Tönung gekleidet, als ob das günsti-
ger sei, um ungesehen in den Lichtungen von Ithilien zu wandern. Grüne
Stulpenhandschuhe bedeckten ihre Hände, und ihre Gesichter waren ver-
hüllt durch Kapuzen und grüne Masken, mit Ausnahme der Augen, die
sehr scharf und strahlend waren. Sofort dachte Frodo an Boromir, denn in
ihrem Wuchs, ihrer Haltung und Redeweise waren diese Menschen ihm
ähnlich.
»Wir haben nicht gefunden, was wir suchten«, sagte einer. »Aber was
haben wir eigentlich gefunden?«
»Keine Orks«, sagte ein anderer und ließ das Heft seines Schwertes los,
das er gepackt hatte, als er Stich in Frodos Hand blinken sah.
»Elben?« sagte ein dritter, zweifelnd.
»Nein, keine Elben«, sagte der vierte, der größte von ihnen und, wie es
schien, ihr Anführer. »Elben wandern heutzutage nicht in Ithilien. Und
Elben sind wunderschön anzusehen, oder so heißt es jedenfalls.«
»Womit Ihr meint, daß wir nicht schön sind, wenn ich Euch richtig ver-
stehe«, sagte Sam. »Vielen Dank. Und wenn Ihr fertig seid, über uns zu
reden, dann sagt Ihr uns vielleicht, wer Ihr seid und warum Ihr zwei
müde Wanderer nicht ruhen lassen könnt.«
Der große Mann lachte grimmig. »Ich bin Faramir, Heermeister von
Gondor«, sagte er. »Aber es gibt keine Wanderer in diesem Land: nur die
Diener des Dunklen Turms oder des Weißen.«
»Aber wir sind weder das eine noch das andere«, sagte Frodo. »Und
Wanderer sind wir, was immer Heermeister Faramir auch sagen mag.«
»Dann eilt Euch, Euch und Euren Auftrag zu erklären«, sagte Faramir.
»Wir haben ein Werk zu vollbringen, und dies ist weder die richtige Zeit
noch der richtige Ort zum Rätselraten oder um Verhandlungen zu führen.
Nun los! Wo ist der Dritte von Eurer Gruppe?«
»Der Dritte?«
»Ja, der schleichende Kerl, den wir da unten seine Nase in den Teich
stecken sahen. Er sieht häßlich aus. Irgendeine als Späher gezüchtete Ork-
gattung, nehme ich an, oder ein Handlanger von ihnen. Aber er ist uns
entkommen durch irgendeine Arglist.«
»Ich weiß nicht, wo er ist«, sagte Frodo. »Er ist nur ein Zufallsge-
fährte, den wir unterwegs getroffen haben, und ich bin nicht für ihn ver-
antwortlich. Wenn Ihr ihn findet, verschont ihn. Bringt ihn her oder
schickt ihn zu uns. Er ist nur ein elender Landstreicher, und ich habe ihn
eine Weile unter meine Obhut genommen. Aber was uns betrifft, so sind
wir Hobbits aus dem Auenland, das fern im Norden und Westen hinter
vielen Flüssen liegt. Frodo, Drogos Sohn, ist mein Name, und mit mir ist
Samweis, Hamfasts Sohn, ein ehrenwerter Hobbit in meinen Diensten.
Wir haben weite Wege zurückgelegt, denn wir sind aus Bruchtal gekom-
men oder Imladris, wie manche es nennen.« Hier stutzte Faramir und
lauschte aufmerksam. »Sieben Gefährten hatten wir. Einen verloren wir
in Moria, die anderen verließen wir bei Parth Galen oberhalb von Rauros:
zwei Verwandte von mir; auch ein Zwerg war dabei und ein Elb, und
zwei Menschen. Es waren Aragorn und Boromir, der sagte, er sei aus
Minas Tirith gekommen, einer Stadt im Süden.«
»Boromir!« riefen die vier Menschen wie aus einem Munde.
»Boromir, der Sohn des Herrn Denethor?« fragte Faramir, und sein Ge-
sicht nahm einen seltsam strengen Ausdruck an. »Ihr kamt mit ihm? Das
ist fürwahr eine Neuigkeit, wenn sie zutrifft. Wisset, Ihr kleinen Frem-
den, daß Boromir, Denethors Sohn, der Hohe Verweser des Weißen
Turms war und unser Ober-Heermeister: schmerzlich vermissen wir ihn.
Wer seid Ihr denn, und was hattet Ihr mit ihm zu schaffen? Antwortet
rasch, denn die Sonne steigt schon!«
»Sind Euch die rätselhaften Worte bekannt, die Boromir nach Bruchtal
brachte?« erwiderte Frodo.
Das geborstene Schwert sollt ihr suchen,
Nach Imladris ward es gebracht.

»Die Worte sind fürwahr bekannt«, sagte Faramir erstaunt. »Es ist ein
Beweis für Eure Aufrichtigkeit, daß Ihr sie ebenfalls kennt.«
»Aragorn, den ich nannte, ist der Träger des Schwerts, das geborsten
war«, sagte Frodo. »Und wir sind die Halblinge, von denen in dem Ge-
dicht die Rede ist.«
»Das sehe ich«, sagte Faramir nachdenklich. »Oder vielmehr sehe ich,
daß es so sein könnte. Aber was ist Isildurs Fluch?«
»Das ist geheim«, antwortete Frodo. »Zweifellos wird es zu gegebener
Zeit erklärt werden.«
»Wir müssen mehr darüber erfahren«, sagte Faramir, »und hören, was
Euch so weit gen Osten gebracht hat unter den Schatten von drüben —«
er deutete hinüber und nannte keinen Namen. »Aber nicht jetzt. Wir
haben etwas zu erledigen. Ihr seid in Gefahr, und Ihr hättet heute weder
über Feld noch Straße weit kommen können. Es wird hier in der Nähe
harte Gefechte geben, ehe der Tag sich vollendet. Dann Tod oder rasche
Flucht zurück zum Anduin. Ich werde zwei Mann zu Eurem Schutz zu-
rücklassen, zu Eurem und meinem Besten. Der kluge Mann vertraut kei-
nen Zufallsbegegnungen auf der Straße in diesem Land. Wenn ich zu-
rückkehre, will ich mehr mit Euch sprechen.«
»Lebt wohl!« sagte Frodo und verbeugte sich tief. »Glaubt, was Ihr
mögt, aber ich bin ein Freund aller Feinde des Einen Feindes. Wir würden
mit Euch gehen, wenn wir Halblinge hoffen könnten, Euch nützlich zu
sein, so beherzten und starken Männern, wie Ihr zu sein scheint, und
wenn mein Auftrag es erlaubte. Möge das Licht leuchten auf Euren
Schwertern!«
»Die Halblinge sind höfliche Leute, was immer sie sonst sein mögen«,
sagte Faramir. »Lebt wohl!«
Die Hobbits setzten sich wieder hin, aber sie sprachen nicht miteinan-
der über ihre Gedanken und Zweifel. Dicht bei ihnen, im gesprenkelten
Schatten der dunklen Lorbeerbäume, blieben zwei Männer als Wache. Ab
und zu nahmen sie ihre Masken ab, um sich abzukühlen, als die Hitze des
Tages zunahm, und Frodo sah, daß sie stattliche Menschen waren, blaß-
häutig, dunkelhaarig, mit grauen Augen und traurigen und stolzen Ge-
sichtern. Sie unterhielten sich leise untereinander, zuerst in der Gemeinsa-
men Sprache, aber nach der Art der älteren Zeit, und dann gingen sie zu
einer anderen Sprache über, ihrer eigenen. Zu seiner Verwunderung
merkte Frodo, während er zuhörte, daß sie sich der Elbensprache bedien-
ten oder einer, die nur wenig anders war; und er sah sie erstaunt an, denn
er wußte nun, daß sie Dúnedain des Südens sein mußten, Menschen vom
Stamme der Herren von Westernis.
Nach einer Weile sprach er zu ihnen; aber sie waren zögernd und vor-
sichtig mit ihren Antworten. Sie hießen Mahlung und Damrod, Söldner
von Gondor, und sie waren Waldläufer von Ithilien; denn ihre Vorfahren
hatten einst in Ithilien gelebt, ehe es überrannt wurde. Unter diesen Män-
nern wählte der Herr Denethor diejenigen aus, die für ihn Streifzüge un-
ternahmen und heimlich den Anduin überquerten (wie und wo, wollten
sie nicht sagen), um Orks und andere Feinde, die sich zwischen dem
Ephel Dúath und dem Fluß herumtrieben, zu überfallen.
»Es sind annähernd zehn Wegstunden von hier zum Ostufer des An-
duin«, sagte Mahlung, »und wir kommen selten so weit ins Land. Aber
wir haben bei dieser Fahrt einen neuen Auftrag: wir sind gekommen, um
den Menschen aus Harad aus dem Hinterhalt aufzulauern. Verflucht sol-
len sie sein!«
»Freilich, verflucht seien die Südländer!« sagte Damrod. »Es heißt,
einst haben Verbindungen bestanden zwischen Gondor und den Königrei-
chen des Harad im Femen Süden; obwohl es niemals Freundschaft war.
Damals verliefen unsere Grenzen weit südlich jenseits der Mündungen
des Anduin, und Umbar, das nächstgelegene ihrer Reiche, erkannte un-
sere Herrschaft an. Aber das war vor langer Zeit. Seit vielen Menschen-
altem hat es keinen Verkehr mehr zwischen uns gegeben. Nun haben wir
letzthin erfahren, daß der Feind bei ihnen gewesen ist, und sie sind zu Ihm
übergegangen oder zurück zu Ihm — sie waren immer geneigt, sich sei-
nem Willen zu unterwerfen — wie auch so viele im Osten. Ich zweifle
nicht, daß Gondors Tage gezählt und die Mauern von Minas Tirith dem
Untergang geweiht sind, so groß ist Seine Stärke und Bosheit.«
»Aber dennoch wollen wir nicht müßig dasitzen und Ihn alles tun las-
sen, wie er es möchte«, sagte Mahlung. »Diese verfluchten Südländer
kommen jetzt die alten Straßen heraufmarschiert, um die Streitmacht im
Dunklen Turm zu verstärken. Ja, auf eben den Straßen, die Gondors Ge-
schicklichkeit angelegt hat. Und sie gehen immer unbekümmerter, wie
wir hören, weil sie glauben, die Macht ihres neuen Herrn sei groß genug,
so daß der bloße Schatten Seiner Berge sie beschützen wird. Wir kommen,
um ihnen eine andere Lehre zu erteilen. Große Verbände von ihnen sind,
wie uns vor einigen Tagen gemeldet wurde, auf dem Marsch nach Nor-
den. Eine ihrer Abteilungen muß unserer Schätzung nach irgendwann
vor dem Mittag hier vorbeikommen — auf der Straße oben, wo sie den
Durchstich durchläuft. Die Straße mag durchlaufen, aber die Südländer
nicht! Nicht, solange Faramir Heermeister ist. Er ist jetzt der Führer bei
allen gefährlichen Unterfangen. Aber sein Leben ist gefeit, oder das
Schicksal schont ihn für irgendeinen anderen Zweck.«
Ihre Unterhaltung erstarb zu einem lauschenden Schweigen. Alle
waren still und aufmerksam. Sam hockte am Rande des Farndickichts und
hielt Ausschau. Mit seinen scharfen Hobbitaugen sah er, daß noch viel
mehr Menschen in der Nähe waren. Er sah, wie sie die Hänge hinauf-
schlichen, einzeln oder in langen Reihen, und sich dabei immer im Schatten
der Haine oder Dickichte hielten, oder, in ihrer braunen und grünen Klei-
dung kaum sichtbar, durch Gras und Farn krochen. Alle trugen Kapuzen
und Masken, hatten Stulpenhandschuhe an den Händen und waren be-
waffnet wie Faramir und seine Gefährten. Es dauerte nicht lange, da
waren alle an ihnen vorbei und verschwunden. Die Sonne stieg, bis sie
sich dem Süden näherte. Die Schatten schrumpften.
»Ich möchte mal wissen, wo der verflixte Gollum ist«, dachte Sam, als
er in den tieferen Schatten zurückkroch. »Er hat gute Aussicht mit einem
Ork verwechselt und aufgespießt oder vom Gelben Gesicht geröstet zu
werden. Aber ich nehme an, er wird schon auf sich aufpassen.« Er legte
sich neben Frodo und schlummerte ein.
Als er aufwachte, glaubte er, Hörner blasen zu hören. Er setzte sich
auf. Es war hoch am Mittag. Die Posten standen wachsam und ange-
spannt im Schatten der Bäume. Plötzlich erschallten die Hörner lauter und
zweifellos von oben, von der Kuppe des Hanges. Sam glaubte Schreie und
auch wildes Gebrüll zu hören, aber das Geräusch war schwach, als käme
es aus irgendeiner fernen Höhle. Dann brach plötzlich ganz in der Nähe
Kampflärm aus, genau über ihrem Versteck. Er hörte deutlich das hallende
Knirschen von Stahl auf Stahl, das Klirren von Schwertern auf Eisenhüten,
den dumpfen Schlag von Klingen auf Schilden; Menschen schrien und
kreischten, und eine helle, laute Stimme rief Gondor! Gondor!
»Es klingt, als ob hundert Schmiede alle zugleich hämmern«, sagte Sam
zu Frodo. »Näher möchte ich sie jetzt nicht haben.«
Aber der Lärm näherte sich. »Sie kommen!« rief Damrod. »Schaut!
Einige der Südländer sind aus der Falle ausgebrochen und fliehen von der
Straße. Da sind sie! Unsere Leute verfolgen sie, und der Heermeister vor-
neweg.«
Begierig, mehr zu sehen, stand Sam auf und begab sich zu den Wach-
posten. Er kletterte ein wenig bergauf bis zu dem größeren der Lorbeer-
bäume. Flüchtig sah er schwärzliche Menschen in Rot, die in einiger Ent-
fernung den Hang hinunterrannten, und grüngekleidete Krieger eilten
ihnen nach und hauten sie nieder, während sie flohen. Viele Pfeile
schwirrten durch die Luft. Dann plötzlich fiel ein Mann unmittelbar über
den Rand der schützenden Böschung und stürzte zwischen den schlanken
Bäumen hindurch fast auf sie drauf. Er blieb in dem Farn ein paar Fuß
entfernt liegen, das Gesicht nach unten, und grüngefiederte Pfeile staken
unter einem goldenen Kragen in seinem Hals. Sein purpurrotes Gewand
war zerfetzt, sein Panzerhemd aus übereinandergreifenden Bronzeplätt-
chen war zerrissen und zerhauen, seine schwarzen, mit Gold durchwirk-
ten Haarflechten blutgetränkt. Seine braune Hand umklammerte noch das
Heft eines geborstenen Schwertes.
Es war die erste Schlacht von Menschen gegen Menschen, die Sam
miterlebte, und sie gefiel ihm nicht sehr. Er war froh, daß er das Gesicht
des Toten nicht sehen konnte. Er fragte sich, wie der Mann wohl hieß und
wo er herkam und ob er wirklich ein böses Herz hatte, oder welche Lügen
oder Drohungen ihn zu dem langen Marsch von seiner Heimat veranlaßt
hatten; und ob er nicht in Wirklichkeit lieber in Frieden dort geblieben
wäre — all diese Gedanken gingen ihm blitzschnell durch den Kopf, wur-
den aber bald wieder vertrieben. Denn gerade, als Mahlung auf den Gefal-
lenen zutrat, erhob sich ein neuer Lärm. Großes Geschrei und Gerufe.
Und mittendrin hörte Sam ein schrilles Gebrüll oder Trompeten. Und
dann ein mächtiges Stoßen und Stampfen wie gewaltige Rammen, die auf
den Boden auftreffen.
»Obacht! Obacht!« rief Damrod seinem Gefährten zu. »Mögen die
Valar ihn abwenden! Mumak! Mumak!«
Zu seiner Verwunderung und seinem Entsetzen und nachhaltigem Ent-
zücken sah Sam eine riesige Gestalt durch die Bäume brechen und den
Abhang herunterrennen. Groß wie ein Haus, viel größer als ein Haus
schien er ihm zu sein, ein in Grau gehüllter, sich bewegender Berg. Furcht
und Staunen vergrößerten ihn vielleicht in den Augen des Hobbits, aber
der Mumak von Harad war tatsächlich ein Tier von gewaltigen Ausma-
ßen, und seinesgleichen wandelt heute nicht mehr in Mittelerde; seine
Stammesgenossen, die noch in jüngerer Zeit leben, sind nur Andeutun-
gen seiner Größe und Hoheit. Heran kam er, stracks auf die Beobachter
zu, und dann schwenkte er gerade im rechten Augenblick zur Seite, raste
nur ein paar Ellen entfernt vorbei, und der Boden schwankte unter ihren
Füßen: wie Bäume waren die großen Beine, die ungeheuren Ohren stan-
den ab, der lange Rüssel war erhoben wie eine riesige Schlange, die ge-
rade die Giftzähne in ihr Opfer schlagen will, die kleinen roten Augen
wutentbrannt. Die hornartigen, nach oben gerichteten Stoßzähne waren
mit goldenen Bändern umwunden und tropften von Blut. Sein Zaumzeug
in Purpur und Rot hing in Fetzen um ihn. Was auf seinem stampfenden
Rücken lag, waren offenbar die Reste eines regelrechten Kriegsturms, der
bei seinem wütenden Rasen durch den Wald zertrümmert worden war;
und hoch auf seinem Nacken klammerte sich noch verzweifelt eine win-
zige Gestalt fest — ein gewaltiger Krieger, ein Riese unter den Schwärzun-
gen.
Weiter donnerte das große Tier und stapfte in blinder Wut durch Teich
und Dickicht. Pfeile sprangen und hüpften, ohne Schaden anzurichten,
über die dreifache Haut seiner Flanken. Männer beider Seiten flohen vor
ihm, aber viele überholte er und zertrampelte sie am Boden. Bald war er
außer Sicht, aber immer noch trompetete und schnaubte er in der Feme.
Was aus ihm wurde, hat Sam nie erfahren: ob er entkam und eine Zeit-
lang in der Wildnis umherstreifte, bis er fern der Heimat zugrunde ging,
oder ob er weiterraste, bis er in den Großen Strom stürzte und verschlun-
gen wurde.
Sam holte tief Luft. »Ein Olifant war es!« sagte er. »Es gibt also Oli-
fanten, und ich habe einen gesehen. Wie aufregend! Aber niemand zu
Hause wird es mir glauben. Na, wenn das vorbei ist, dann will ich ein
bißchen schlafen.«
»Schlaft, solange Ihr könnt«, sagte Mahlung. »Aber der Heermeister
wird zurückkommen, wenn er unverletzt ist; und wenn er kommt, werden
wir rasch aufbrechen. Wir werden verfolgt werden, sobald die Nach-
richt von unserer Tat den Feind erreicht, und das wird nicht lange
dauern.«
»Geht leise, wenn Ihr müßt«, sagte Sam. »Nicht nötig, meinen Schlaf
zu stören. Ich bin die ganze Nacht gewandert.«
Mahlung lachte. »Ich glaube nicht, daß der Heermeister Euch hierlassen
will, Herr Samweis«, sagte er. »Aber wir werden's ja sehen.«

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