DRITTES KAPITEL
DAS SCHWARZE TOR IST VERSPERRT
Ehe der nächste Tag graute, war ihre Wanderung nach Mordor vor-
über. Die Sümpfe und die Wüste lagen hinter ihnen. Vor ihnen ragten,
dunkel vor einem bleichen Himmel, die bedrohlichen Gipfel der großen
Gebirge empor.
Im Westen von Mordor erstreckte sich die düstere Kette des Ephel
Dúath, des Schattengebirges, und im Norden erhoben sich die zerklüfteten
Spitzen und kahlen Grate des Ered Lithui, grau wie Asche. Doch dort, wo
sich diese Ketten einander näherten, die in Wirklichkeit nur Teile eines
einzigen großen Walles um die düsteren Ebenen Lithlad und Gorgoroth
und das rauhe Binnenmeer Núrnen waren, reckten sie lange Arme nach
Norden; und zwischen diesen Armen lag ein tiefer Einschnitt. Das war
Cirith Gorgor, der Geisterpaß, der Eingang zum Lande des Feindes. Hohe
Felswände fielen auf beiden Seiten zu dem Paß ab, von dem aus zwei
steile Berge vorstießen, beinschwarz und kahl. Auf ihnen standen die
Zähne von Mordor, zwei starke und hohe Türme. In längst vergangenen
Tagen waren sie von den Menschen von Gondor erbaut worden in ihrem
Stolz und ihrer Macht nach Saurons Niederwerfung und Flucht, damit er
nicht versuchen sollte, in sein altes Reich zurückzukehren. Doch Gondors
Stärke schwand, und die Menschen waren untätig, und lange Jahre stan-
den die Türme leer. Dann kehrte Sauron zurück. Nun wurden die Wach-
türme, die verfallen waren, ausgebessert und mit Waffen bestückt und
mit unaufhörlicher Wachsamkeit bemannt. Steinverkleidet waren sie, mit
dunklen Fensterhöhlen, die nach Norden und Osten und Westen gingen,
und aus jedem Fenster starrten schlaflose Augen.
Quer über den Paß, von Felswand zu Felswand, hatte der Dunkle Herr-
scher einen steinernen Schutzwall gebaut. In ihm gab es ein einziges
eisernes Tor, und auf seinen Zinnen schritten Posten unaufhörlich auf
und ab. Unter den Bergen waren Hunderte von Höhlen und Madenlöchern
in den Fels gebohrt; dort lauerte ein Heer von Orks, um auf ein Zeichen
hin herauszustürzen wie schwarze Ameisen, die in den Krieg ziehen.
Niemand konnte an den Zähnen von Mordor vorbei, ohne ihren Biß zu spü-
ren, es sei denn, Sauron habe ihn zu sich bestellt, oder er wisse die geheime
Losung, die ihm Morannon, das schwarze Tor dieses Landes, öffnet.
Die beiden Hobbits starrten voll Verzweiflung auf die Türme und den
Wall. Selbst aus der Entfernung sahen sie in dem dämmrigen Licht die
Bewegung der schwarzen Wachen auf dem Wall und die Posten vor dem
Tor. Liegend blickten sie jetzt über den Rand einer felsigen Mulde unter
dem ausgestreckten Schatten des nördlichsten Ausläufers des Ephel
Dúath. In geradem Flug hätte eine Krähe vielleicht nur eine Achtelmeile
zwischen ihrem Versteck und der schwarzen Spitze des nähergelegenen
Turms zurückgelegt. Ein schwacher Rauch kräuselte sich über ihm, als ob
in dem Berg darunter Feuer schwelte.
Der Tag kam, und die fahle Sonne schien matt über die leblosen Grate
des Ered Lithui. Dann hörte man plötzlich den Klang ehern schmetternder
Trompeten: von den Wachtürmen erschallten sie, und in der Feme ant-
worteten Fanfaren aus verborgenen Festungen und Vorposten in den Ber-
gen; und aus noch größerer Feme, aber tief und unheilvoll, hallten in dem
leeren Land dahinter die mächtigen Hörner und Trommeln von Barad-dûr
wider. Ein neuer schrecklicher Tag der Angst und des Kampfes war für
Mordor angebrochen; die Nachtwachen wurden in ihre Verliese und
tiefen Hallen geschickt, und die Tagwachen, bösäugig und grausam,
zogen auf ihre Posten. Stahl schimmerte undeutlich auf den Zinnen.
»Na, hier sind wir!« sagte Sam. »Hier ist das Tor, und für mich sieht
es so aus, als ob das ungefähr so weit ist, wie wir je kommen werden.
Mein Wort, der Ohm würde einiges zu sagen haben, wenn er mich jetzt
sähe. Hat oft gesagt, mit mir würde es ein böses Ende nehmen, wenn ich
nicht aufpasse. Aber jetzt glaube ich nicht, daß ich den Alten je wieder-
sehen werde. Seine Gelegenheit, ich hab dir's ja gesagt, Sam, wird er
ver-
passen: um so schlimmer. Von mir aus könnte er es mir so lange sagen,
wie ihm die Puste reicht, wenn ich nur sein altes Gesicht wiedersehen
könnte. Aber ich müßte mich wohl erst waschen, sonst würde er mich
nicht erkennen. Ich nehme an, es hat keinen Zweck zu fragen: >welchen
Weg nehmen wir jetzt?< Wir können nicht weitergehen — es sei denn, wir
wollen die Orks um Hilfe bitten.«
»Nein, nein«, sagte Gollum. »Keinen Zweck. Wir können nicht weiter-
gehen. Sméagol hat es gesagt. Er sagte: wir werden zum Tor gehen, und
dann werden wir sehen. Und wir sehen es. O ja, mein Schatz, wir sehen
es. Sméagol wußte, daß die Hobbits nicht diesen Weg gehen können. O
ja, Sméagol wußte es.«
»Warum zum Henker hast du uns dann hierher gebracht?« fragte Sam,
der nicht in der Stimmung war, gerecht oder vernünftig zu sein.
»Der Herr hat's gesagt. Der Herr sagt: Bring uns zum Tor. Also gut,
Sméagol tut es. Der Herr hat's gesagt, der kluge Herr.«
»Das habe ich getan«, sagte Frodo. Sein Gesicht war finster und
starr, aber entschlossen. Er war schmutzig, hager und von Müdigkeit ver-
zehrt, aber er duckte sich nicht länger, und seine Augen waren klar. »Ich
habe das gesagt, weil ich beabsichtige, nach Mordor zu gehen, und keinen
anderen Weg weiß. Daher werde ich diesen Weg nehmen. Ich bitte nie-
manden, mit mir zu gehen.«
»Nein, nein, Herr!« jammerte Gollum, tätschelte ihn und schien sehr
bekümmert zu sein. »Keinen Zweck, dieser Weg! Keinen Zweck! Bring
den Schatz nicht zu Ihm! Wenn Er ihn bekommt, wird er uns alle ver-
nichten, die ganze Welt vernichten. Behalte ihn, netter Herr, und sei
freundlich zu Sméagol. Laß nicht Ihn ihn bekommen. Oder geh weg, geh
weg zu netten Orten, und gibt ihn dem kleinen Sméagol zurück. Ja, ja,
Herr; gib ihn zurück, wie? Sméagol wird ihn gut aufheben; er wird viel
Gutes tun, besonders den netten Hobbits. Hobbits gehen nach Hause.
Geht nicht zum Tor!«
»Mir ist befohlen worden, in das Land Mordor zu gehen, und deshalb
werde ich gehen«, sagte Frodo. »Wenn es nur einen einzigen Weg gibt,
dann muß ich ihn nehmen. Was dann kommt, muß eben kommen.«
Sam sagte nichts. Der Ausdruck von Frodos Gesicht war genug für
ihn; er wußte, daß jedes Wort von ihm nutzlos war. Und schließlich hatte
er die Sache von Anfang an nicht wirklich hoffnungsvoll betrachtet;
doch da er ein fröhlicher Hobbit war, brauchte er keine Hoffnung,
solange die Verzweiflung hinausgeschoben werden konnte. Nun waren sie
zum bitteren Ende gekommen. Aber er hatte die ganze Zeit treu zu sei-
nem Herrn gehalten; darum war er ja auch hauptsächlich mitgekommen,
und er würde weiter zu ihm halten. Sein Herr würde nicht allein nach
Mordor gehen. Sam würde mit ihm gehen — und jedenfalls würden sie
Gollum loswerden.
Gollum ließ sich indes nicht abschütteln. Er kniete vor Frodo, rang
die Hände und greinte. »Nicht diesen Weg, Herr!« bettelte er. »Es gibt
einen anderen Weg. O ja, wirklich. Einen anderen Weg, dunkler, schwie-
riger zu finden, geheimer. Aber Sméagol kennt ihn. Laß Sméagol ihn dir
zeigen!«
»Einen anderen Weg?« fragte Frodo zweifelnd und blickte forschend
auf Gollum hinab.
»Ja! Ja, wirklich! Es gab einen anderen Weg. Sméagol fand ihn. Laß
uns gehen und sehen, ob er noch da ist.«
»Du hast vorher nie davon gesprochen.«
»Nein. Der Herr hat nichts gefragt. Der Herr sagte nicht, was er vor-
hatte. Er erzählt es dem armen Sméagol nicht. Er sagt: Sméagol, bring
mich zum Tor — und dann Auf Wiedersehen! Sméagol kann weglaufen
und gut sein. Aber jetzt sagt er: ich beabsichtige, auf diesem Weg nach
Mordor zu gehen. Deshalb hat Sméagol große Angst. Er will den netten
Herrn nicht verlieren. Und er hat versprochen, hat dem Herrn sein Ver-
sprechen gegeben, den Schatz zu retten. Aber der Herr wird ihn zu Ihm
bringen, stracks zur Schwarzen Hand, wenn der Herr diesen Weg geht.
Also muß Sméagol sie beide retten, und ihm fällt ein anderer Weg ein,
der früher einmal da war. Netter Herr. Sméagol sehr gut, hilft immer.«
Sam runzelte die Stirn. Hätte er mit den Augen Löcher in Gollum boh-
ren können, er hätte es getan. Sein Sinn war von Zweifeln erfüllt. Allem
Anschein nach war Gollum aufrichtig bekümmert und bestrebt, Frodo zu
helfen. Aber als Sam sich der mitangehörten Auseinandersetzung ent-
sann, fiel es ihm schwer zu glauben, daß der lange unterdrückte Sméagol
sich durchgesetzt haben sollte; diese Stimme jedenfalls hatte nicht das
letzte Wort bei der Auseinandersetzung gehabt. Sam vermutete, daß die
beiden Hälften von Sméagol und Gollum (oder Schleicher und Stinker,
wie er sie im Geist nannte) Waffenstillstand und ein einstweiliges Bünd-
nis geschlossen hatten: keiner von beiden wollte, daß der Feind den Ring
bekam; beide wollten Frodo vor der Gefangennahme bewahren und so
lange als möglich im Auge behalten — jedenfalls solange Stinker eine
Möglichkeit hatte, die Hand auf seinen »Schatz« zu legen. Ob es wirklich
einen anderen Weg nach Mordor gab, bezweifelte Sam.
»Und es ist gut, daß die beiden Hälften des alten Bösewichts nicht wis-
sen, was der Herr wirklich vorhat«, dachte er. »Wenn er wüßte, daß Herr
Frodo versucht, mit seinem Schatz ein für allemal Schluß zu machen und
all das, dann würde es ziemlich rasch Ärger geben, da wette ich. Irgend-
wie hat der alte Stinker solche Angst vor dem Feind - und steht unter
einer Art Befehl von ihm oder sonst was —, daß er uns eher verraten
würde, als sich dabei erwischen zu lassen, daß er uns hilft; und eher, als
zuzulassen, daß sein Schatz vielleicht eingeschmolzen wird. Das zumin-
dest ist meine Vorstellung. Und ich hoffe, der Herr wird's sich genau
überlegen. Er ist so klug wie nur einer, aber er ist weichherzig, das ist er.
Es übersteigt die Fähigkeit eines Gamdschie, zu erraten, was er als näch-
stes tun wird.«
Frodo antwortete Gollum nicht sofort. Während Sam diese Zweifel
durch den schwerfälligen, aber gescheiten Kopf gingen, starrte Frodo hin-
über zu den dunklen Felswänden von Cirith Gorgor. Die Senke, in der sie
Zuflucht gesucht hatten, war in die Seite eines niedrigen Berges eingegra-
ben, ein wenig höher als ein langes, grabenartiges Tal, das zwischen die-
sem Berg und den Ausläufern des Gebirges lag. In der Mitte des Tals
standen die schwarzen Grundmauern des westlichen Wachturms. Im Mor-
genlicht waren jetzt die Straßen, die bei dem Tor von Mordor zusammen-
liefen, deutlich zu sehen, blaß und staubig; eine schlängelte sich zurück
nach Norden; eine zweite verschwand östlich in den Nebeln, die am Fuß
des Ered Lithui hingen; eine dritte lief auf ihn zu. Sie machte eine scharfe
Kehre um den Turm, tauchte in eine schmale Talschlucht ein und kam
dann nicht weit unterhalb der Senke, wo er stand, vorbei. Im Westen, zu
seiner Rechten, bog sie ab, zog sich an den Schultern des Gebirges entlang
und verschwand dann nach Süden in den tiefen Schatten, die die ganze
westliche Seite des Ephel Dúath einhüllten; wo er sie nicht mehr sehen
konnte, wanderte sie weiter in dem schmalen Land zwischen dem Gebirge
und dem Großen Strom.
Während er schaute, bemerkte Frodo, daß auf der Ebene viel Aufruhr
und Bewegung war. Es schien, als ob ganze Heere auf dem Marsch seien,
obwohl sie zum größten Teil durch die Dünste und Dämpfe, die aus den
Fennen und Sümpfen dahinter aufstiegen, verborgen waren. Doch hier
und dort sah er flüchtig Speere und Helme aufschimmern; und auf den
Seitenstreifen der Straßen ritten Reiter in vielen Gruppen. Er entsann sich
dessen, was er von ferne auf dem Amon Hen gesehen hatte; vor so weni-
gen Tagen war es erst gewesen, dennoch schien es jetzt, als sei es viele
Jahre her. Dann wußte er, daß die Hoffnung, die sich einen verrückten
Augenblick lang in seinem Herzen geregt hatte, vergebens war. Die
Trompeten waren nicht als Herausforderung erschallt, sondern als Gruß.
Das war kein Angriff gegen den Dunklen Herrscher durch die Menschen
von Gondor, auferstanden wie Rachegeister aus den Gräbern längst ver-
gangener Tapferkeit. Diese hier waren Menschen von anderer Rasse, aus
den gewaltigen Ostlanden, die sich auf Befehl ihres Oberherrn einfanden;
Heere, die des Nachts vor seinem Tor gelagert hatten und nun hineinmar-
schierten, um seine Streitmacht zu verstärken. Als ob er sich plötzlich
der Gefahr ihrer Lage bewußt geworden sei, allein im zunehmenden Licht
des Tages, so nahe dieser gewaltigen Bedrohung, zog sich Frodo rasch
seine dünne Kapuze fest über den Kopf und trat zurück in die Mulde.
Dann wandte er sich an Gollum.
»Sméagol«, sagte er. »Ich will dir noch einmal vertrauen. Tatsächlich
muß ich es wohl tun, und es scheint mein Schicksal zu sein, Hilfe von dir
zu erhalten, von dem ich sie am wenigsten erwartete, und dein Schicksal,
mir zu helfen, nachdem du mich lange mit böser Absicht verfolgt hast.
Bisher hast du dich um mich verdient gemacht und dein Versprechen ge-
treulich gehalten. Fürwahr, ich sage das und meine es so«, fügte er mit
einem Blick auf Sam hinzu, »denn zweimal sind wir nun in deiner Gewalt
gewesen, und du hast uns kein Leid getan. Auch hast du nicht versucht,
mir das abzunehmen, wonach du einst trachtetest. Möge das dritte Mal
sich als das beste erweisen! Aber ich warne dich, Sméagol, du bist in Ge-
fahr.«
»Ja, ja, Herr«, sagte Gollum. »Schreckliche Gefahr! Sméagols Knochen
zittern, wenn er daran denkt, aber er läuft nicht fort. Er muß dem netten
Herrn helfen.«
»Ich meinte nicht die Gefahr, die für uns alle besteht«, sagte Frodo. »Ich
meine eine Gefahr für dich allein. Du hast dein Versprechen beschworen
bei dem, was du den Schatz nennst. Denke daran! Er wird dich damit
festhalten; aber er wird nach einer Möglichkeit trachten, es zu deinem
eigenen Verderben zu verdrehen. Schon jetzt bist du unaufrichtig. Ganz
töricht hast du dich mir gegenüber gerade verraten. Gib ihn Sméagol zu-
rück, hast du gesagt. Sage das nicht wieder! Laß diesen Gedanken nicht in
dir großwerden! Du wirst ihn niemals zurückbekommen. Aber das Ver-
langen nach ihm mag dich zu einem bitteren Ende verleiten. Du wirst ihn
niemals zurückbekommen. In der höchsten Not, Sméagol, würde ich den
Schatz aufsetzen; und der Schatz hat dich schon vor langer Zeit be-
herrscht. Wenn ich ihn tragen und dir befehlen würde, dann würdest du
gehorchen, und sei es auch, von einer Klippe herabzuspringen oder dich
ins Feuer zu stürzen. Und das würde mein Befehl sein. Also sei vorsich-
tig, Sméagol!«
Sam sah seinen Herrn anerkennend, aber auch überrascht an: er hatte
einen Ausdruck im Gesicht und einen Ton in der Stimme, die Sam noch
nie erlebt hatte. Er hatte immer die Vorstellung gehabt, daß die Freund-
lichkeit des lieben Herrn Frodo von so hohem Rang sei, daß sie ein gewis-
ses Maß von Blindheit einschließen müsse. Natürlich war er, obwohl das
dazu im Widerspruch stand, der festen Überzeugung, daß Herr Frodo das
klügste Geschöpf der Welt sei (möglicherweise mit Ausnahme vom alten
Herrn Bilbo und von Gandalf). Gollum hätte auf seine Weise, und sehr
viel gerechtfertigter, weil er Frodo erst sehr viel kürzer kannte, vielleicht
denselben Fehler begehen und Freundlichkeit mit Blindheit verwechseln
können. Jedenfalls versetzte ihn diese Rede in Verlegenheit und Schrek-
ken. Er wälzte sich auf dem Boden und konnte kein klares Wort sprechen
außer netter Herr.
Frodo wartete eine Weile geduldig, dann sprach er wieder, und weniger
streng. »So, Gollum oder Sméagol, wenn du willst, nun erzähle mir von
diesem anderen Weg und zeige mir, wenn du kannst, welche Hoffnung in
ihm liegt, genug, um es zu rechtfertigen, wenn ich von meinem klaren
Weg abweiche. Ich bin in Eile.«
Aber Gollum war in einem jammervollen Zustand, und Frodos Dro-
hung hatte ihn ganz zermürbt. Es war nicht einfach, einen klaren Bericht
von ihm zu erhalten bei all seinem Gemurmel und Gepiepse und den häu-
figen Unterbrechungen, wenn er auf dem Boden herumkroch und sie
beide bat, sie sollten zum »armen kleinen Sméagol« freundlich sein. Nach
einer Weile wurde er etwas ruhiger, und Frodo erfuhr Stück für Stück,
daß ein Wanderer, wenn er der Straße folgte, die von Ephel Dúath nach
Westen führte, nach einiger Zeit zu einer Kreuzung in einem Kreis dunk-
ler Bäume käme. Zur Rechten ging eine Straße hinunter nach Osgiliath
und zu den Brücken des Anduin; die Straße in der Mitte ging nach Süden.
»Weiter, weiter, weiter«, sagte Gollum. »Wir sind nie diesen Weg ge-
gangen, aber es heißt, er ist hundert Wegstunden lang, bis man das Große
Wasser sehen kann, das nie still ist. Da gibt es massenhaft Fische und
große Vögel, die Fische fressen: nette Vögel. Aber wir sind nie dahin ge-
gangen, leider nein, wir hatten nie Gelegenheit. Und noch weiter, da sind
mehr Länder, heißt es, aber das Gelbe Gesicht ist dort sehr heiß, und es
gibt selten Wolken, und die Menschen sind grausam und haben dunkle
Gesichter. Wir wollen dieses Land nicht sehen.«
»Nein«, sagte Frodo. »Aber du schweifst von deinem Weg ab. Was ist
mit der dritten Abzweigung?«
»O ja, o ja, es gibt einen dritten Weg«, sagte Gollum. »Das ist die
Straße nach links. Sofort beginnt sie zu steigen, hoch, hoch hinauf windet
sie sich und klettert zurück zu den hohen Schatten. Wenn sie sich um den
schwarzen Felsen herumzieht, dann wirst du sie sehen, plötzlich wirst du
sie über dir sehen, und du wirst dich verbergen wollen.«
»Sie sehen, sie sehen? Was wird man sehen?«
»Die alte Festung, sehr alt, sehr schrecklich jetzt. Wir hörten früher Ge-
schichten aus dem Süden, als Sméagol jung war, vor langer Zeit. O ja, wir
hörten viele Geschichten des Abends, wenn wir am Ufer des Großen Stroms
saßen, in dem Weidenland, als auch der Strom jünger war gollum gollum.«
Er begann zu weinen und zu murmeln. Die Hobbits warteten geduldig.
»Geschichten aus dem Süden«, fuhr Gollum dann fort, »über die hoch-
gewachsenen Menschen mit den leuchtenden Augen und ihre Häuser wie
Berge aus Stein und die silberne Krone ihres Königs und seinen Weißen
Baum: wunderschöne Geschichten. Sie bauten sehr hohe Türme, und einer
war silberweiß, und in ihm war ein Stein wie der Mond, und rundum
waren große weiße Mauern. O ja, es gab viele Geschichten über den Turm
des Mondes.«
»Das muß Minas Ithil gewesen sein, das Isildur, Elendils Sohn, baute«,
sagte Frodo. »Isildur war es, der dem Feind den Finger abschnitt.«
»Ja — Er hat nur vier an der Schwarzen Hand, aber das ist genug«, sagte
Gollum erschauernd. »Und Er haßt Isildurs Stadt.«
»Was haßt er nicht?« fragte Frodo. »Aber was hat der Turm des Mon-
des mit uns zu tun?«
»Nun, Herr, er war da und er ist da: der hohe Turm und die weißen
Häuser und die Mauer; aber nicht nett jetzt, nicht schön. Er hat ihn vor
langer Zeit erobert. Jetzt ist es ein entsetzlicher Ort. Wanderer zittern,
wenn sie ihn sehen, sie kriechen außer Sicht, sie vermeiden seinen Schat-
ten. Aber der Herr wird diesen Weg gehen müssen. Es ist der einzige an-
dere Weg. Denn das Gebirge ist dort niedriger, und die alte Straße geht
hinauf und hinauf, bis sie oben einen dunklen Paß erreicht, und dann geht
sie wieder hinunter — nach Gorgoroth.« Seine Stimme erstarb zu einem
Flüstern, und er erschauerte.
»Aber wie soll uns das helfen?« fragte Sam. »Gewiß weiß der Feind
alles über sein eigenes Gebirge, und jene Straße wird doch wohl ebenso
scharf bewacht wie diese hier? Der Turm ist doch nicht leer, nicht wahr?«
»O nein, nicht leer«, flüsterte Gollum. »Er erscheint leer, aber er ist es
nicht, o nein! Sehr schreckliche Wesen leben da. Orks, ja, immer Orks;
aber noch schlimmere Wesen, noch schlimmere Wesen leben da auch. Die
Straße steigt genau bis unter den Schatten des Walls und führt durch
das Tor. Nichts bewegt sich auf dieser Straße, über das sie nicht Bescheid
wissen. Die Wesen drinnen wissen es, die Stummen Wächter.«
»Das ist also dein Rat«, sagte Sam, »daß wir noch einen weiteren lan-
gen Marsch nach Süden machen, bloß damit wir in derselben oder einer
noch schlimmeren Patsche sitzen, wenn wir dahin kommen, falls es uns
überhaupt gelingt?«
»Nein, wirklich nicht«, sagte Gollum. »Die Hobbits müssen das einse-
hen, müssen versuchen, es zu verstehen. Er erwartet keinen Angriff an
dieser Straße. Sein Auge ist überall, aber es schaut aufmerksamer auf
manche Gegenden als auf andere. Er kann nicht überall zugleich sein,
noch nicht. Er hat nämlich das ganze Land westlich vom Schattengebirge
bis hinunter zum Strom erobert, und Er hält jetzt die Brücken besetzt. Er
glaubt, niemand könne zum Mondturm kommen, ohne an den Brücken
eine große Schlacht zu schlagen oder ohne eine Menge Boote, die man
nicht verbergen kann, und Er würde es erfahren.«
»Du scheinst eine Menge zu wissen über das, was Er tut und denkt«,
sagte Sam. »Hast du in letzter Zeit mit ihm gesprochen? Oder bloß mit
Orks geplaudert?«
»Kein netter Hobbit, nicht vernünftig«, sagte Gollum mit einem wü-
tenden Blick auf Sam; er wandte sich an Frodo. »Sméagol hat mit
Orks gesprochen, ja, natürlich, ehe er den Herrn traf, und mit vielen Leu-
ten: er ist weit gewandert. Und was er jetzt sagt, sagen viele Leute. Hier
im Norden ist die große Gefahr für Ihn, und für uns. Er wird aus dem
Schwarzen Tor herauskommen, eines Tages, bald. Das ist der einzige
Weg, auf dem große Heere marschieren können. Aber dort unten im
Westen hat Er keine Angst, und da sind die Stummen Wächter.
»Eben!« sagte Sam, der nicht aus der Fassung zu bringen war. »Und da
sollen wir also hinaufgehen und am Tor klopfen und fragen, ob das der
richtige Weg nach Mordor ist? Oder sind sie zu stumm, um zu antwor-
ten? Das ist nicht vernünftig. Das könnten wir genauso gut hier tun und
uns eine lange Wanderung ersparen.«
»Mach keine Witze darüber«, zischte Gollum. »Es ist nicht komisch. 0
nein! Nicht belustigend. Es ist überhaupt nicht vernünftig, zu versuchen,
nach Mordor hineinzukommen. Aber wenn der Herr sagt, ich muß gehen
oder ich will gehen, dann muß er es irgendwie versuchen. Aber er
darf
nicht zu der entsetzlichen Stadt gehen, o nein, natürlich nicht. Darum
hilft Sméagol, der nette Sméagol, obwohl niemand ihm sagt, worum es
sich eigentlich handelt. Sméagol hilft wieder. Er fand ihn. Er kennt ihn.«
»Was hast du gefunden?« fragte Frodo.
Gollum kauerte sich nieder, und seine Stimme wurde wieder zu einem
Flüstern. »Einen kleinen Pfad, der ins Gebirge hinaufführt; und dann eine
Treppe, eine schmale Treppe, o ja, sehr lang und schmal. Und dann noch
mehr Stufen. Und dann ...«, seine Stimme wurde noch leiser, »... einen
Gang, einen dunklen Gang; und schließlich eine kleine Schlucht und
einen Pfad hoch über dem Hauptpaß. Das war der Weg, auf dem Sméa-
gol aus der Dunkelheit entkam. Aber es war vor Jahren. Der Pfad mag
jetzt verschwunden sein; aber vielleicht nicht, vielleicht nicht.«
»Das gefällt mir alles ganz und gar nicht«, sagte Sam. »Klingt zu ein-
fach, jedenfalls beim Erzählen. Wenn dieser Pfad noch da ist, dann wird
er auch bewacht sein. War er nicht bewacht, Gollum?« Als er das fragte,
sah er ein grünes Funkeln in Gollums Auge, oder glaubte es zu sehen.
Gollum murmelte, antwortete aber nicht.
»Ist er nicht bewacht?« fragte Frodo streng. »Und bist du aus der Dun-
kelheit entkommen, Sméagol? War dir nicht vielmehr erlaubt worden, zu
gehen, um einen Auftrag zu erledigen? Das zumindest glaubte Aragorn,
der dich vor einigen Jahren an den Totensümpfen fand.«
»Es ist eine Lüge!« zischte Gollum, und ein böses Funkeln trat in seine
Augen, als Aragorn genannt wurde. »Er log über mich, ja, das tat er. Ich
bin entkommen, ich Armer ganz allein. Tatsächlich wurde mir gesagt,
ich solle nach dem Schatz suchen; und ich habe gesucht und gesucht,
natürlich habe ich das. Aber nicht für den Schwarzen. Der Schatz war
unserer, er war meiner, das sage ich dir. Ich bin entkommen.«
Frodo empfand eine seltsame Gewißheit, daß Gollum bei dieser Sache
ausnahmsweise nicht so weit von der Wahrheit entfernt war, wie vermu-
tet werden konnte; daß er irgendwie einen Weg aus Mordor gefunden
hatte und zumindest glaubte, es sei auf seine eigene Geschicklichkeit zu-
rückzuführen gewesen. Erstens einmal fiel ihm auf, daß Gollum das Wort
ich gebraucht hatte, und das war gewöhnlich ein Zeichen dafür, so
selten
es auch vorkam, daß irgendwelche Reste der alten Wahrhaftigkeit und
Aufrichtigkeit im Augenblick die Oberhand hatten. Aber selbst wenn er
Gollum in diesem Punkt trauen konnte, vergaß Frodo dennoch die Listen
des Feindes nicht. Das »Entkommen« konnte erlaubt oder so eingerichtet
worden und im Dunklen Turm wohlbekannt gewesen sein. Und jedenfalls
behielt Gollum ganz deutlich eine Menge für sich.
»Ich frage dich noch einmal«, sagte er, »wird dieser geheime Weg nicht
bewacht?«
Aber Aragorns Name hatte Gollum die Laune verdorben. Er hatte das
gekränkte Gebaren eines der Lüge Verdächtigen, der ausnahmsweise die
Wahrheit gesprochen oder einen Teil der Wahrheit gesagt hatte. Er ant-
wortete nicht.
»Ist er nicht bewacht?« wiederholte Frodo.
»Ja, ja, vielleicht. Keine sicheren Orte in diesem Land«, sagte Gollum
mürrisch. »Keine sicheren Orte. Aber der Herr muß es versuchen oder
nach Hause gehen. Kein anderer Weg.« Sie konnten ihn nicht dazu brin-
gen, mehr zu sagen. Den Namen des gefährlichen Ortes und des hohen
Passes konnte oder wollte er nicht nennen.
Der Name war Cirith Ungol, ein übel beleumdeter Name. Aragorn
hätte ihnen vielleicht den Namen und seine Bedeutung sagen können;
Gandalf hätte sie gewarnt. Aber sie waren allein, und Aragorn war weit
und Gandalf stand inmitten der Verwüstung von Isengart und kämpfte
mit Saruman, aufgehalten durch Verrat. Doch auch während er seine letzten
Worte an Saruman richtete und der Palantír krachend und feurig auf die Stu-
fen von Orthanc fiel, war sein Denken bei Frodo und Samweis, über die
langen Meilen forschte sein Sinn nach ihnen voll Hoffnung und Mitleid.
Vielleicht spürte Frodo es, ohne es zu wissen, ebenso, wie er es auf
Amon Hen gespürt hatte, obwohl er doch glaubte, daß Gandalf dahinge-
gangen sei, für immer dahingegangen in den Schatten im fernen Moria.
Er saß eine lange Zeit auf dem Boden, schweigend, den Kopf gesenkt, und
trachtete sich alles ins Gedächtnis zurückzurufen, was Gandalf ihm ge-
sagt hatte. Aber für seine Entscheidung konnte er sich keines Rats ent-
sinnen. Tatsächlich war ihnen Gandalfs Führung zu früh genommen
worden, zu früh, während das Dunkle Land noch weit entfernt war.
Wie sie es schließlich betreten sollten, hatte Gandalf nicht gesagt. Viel-
leicht konnte er es nicht sagen. In die Festung des Feindes im Norden,
nach Dol Guldur, hatte Gandalf sich einmal gewagt. Aber war er jemals
nach Mordor, zum Feurigen Berg und nach Barad-dûr gewandert, nachdem
der Dunkle Herrscher wieder zur Macht gelangt war? Frodo glaubte es
nicht. Und hier war er, ein kleiner Halbling aus dem Auenland, ein ein-
facher Hobbit vom Lande, und von ihm wurde erwartet, daß er einen
Weg finde, den die Großen nicht gehen konnten oder nicht zu gehen wag-
ten. Es war ein böses Schicksal. Aber er hatte es selbst auf sich genom-
men in seinem eigenen Wohnzimmer in jenem weit zurückliegenden Früh-
ling eines anderen Jahres, so weit zurückliegend, daß es jetzt wie ein
Kapitel in einer Geschichte von der Jugend der Welt war, als die Bäume
von Silber und Gold noch in Blüte standen. Es war eine böse Entschei-
dung. Welchen Weg sollte er wählen? Und wenn beide zu Schrecken und
Tod führten, welchen Wert hatte dann eine Entscheidung überhaupt?
Der Tag zog sich hin. Ein tiefes Schweigen breitete sich über die kleine
graue Mulde aus, in der sie lagen, so nahe den Grenzen des Landes der
Furcht: ein Schweigen, das spürbar war, als wäre es ein dicker Schleier,
der sie von der ganzen Umwelt abschloß. Über ihnen war ein blasses
Himmelsgewölbe, gestreift mit flüchtigem Rauch, aber es schien hoch und
fern zu sein, als ob es durch einen unendlichen Luftraum, bleiern von
grübelnden Gedanken, erblickt werde.
Nicht einmal ein vor der Sonne schwebender Adler würde die Hobbits
bemerkt haben, wie sie da unter der Last des Schicksals saßen, schwei-
gend, reglos, in ihre dünnen grauen Mäntel gehüllt. Einen Augenblick
hätte er vielleicht innegehalten, um Gollum zu betrachten, eine winzige,
auf dem Boden ausgestreckte Gestalt: da lag vielleicht das Gerippe eines
verhungerten Menschenkindes, an dem die zerlumpten Kleider noch hin-
gen, die langen Arme und Beine fast knochenweiß und knochendürr:
kein Fleisch, an dem zu picken sich lohnte.
Frodo hatte den Kopf über die Knie gebeugt, aber Sam lehnte sich zu-
rück, die Hände hinter dem Kopf, und starrte aus seiner Kapuze heraus
auf den leeren Himmel. Zumindest war er eine ganze Weile leer. Dann
plötzlich glaubte Sam eine vogelähnliche Gestalt zu sehen, die in seinen
Gesichtskreis hineinflog, dort schwebte und dann wieder fortflog. Zwei
weitere folgten ihr, und dann eine vierte. Sie sahen klein aus, dennoch
wußte er irgendwie, daß sie riesig waren, eine gewaltige Flügelspannweite
hatten und in großer Höhe flogen. Er bedeckte die Augen und beugte
sich geduckt vor. Er war von derselben warnenden Furcht erfüllt, die er
bei der Anwesenheit der Schwarzen Reiter verspürt hatte, dem hilflosen
Entsetzen, das der Schrei im Wind und der Schatten auf dem Mond aus-
gelöst hatten, obwohl es jetzt nicht so niederdrückend und zwingend war:
die Bedrohung war entfernter. Aber eine Bedrohung war es. Frodo emp-
fand sie auch. Sein Gedankengang war unterbrochen. Er bewegte sich und
erschauerte, aber er schaute nicht auf. Gollum rollte sich zusammen wie
eine in die Enge getriebene Spinne. Die geflügelten Gestalten kreisten,
stießen rasch herab und eilten zurück nach Mordor.
Sam holte tief Luft. »Die Reiter sind wieder unterwegs, hoch oben in
der Luft«, sagte er, heiser flüsternd. »Ich habe sie gesehen. Glaubst du, sie
konnten uns sehen? Sie waren sehr hoch. Und wenn es Schwarze Reiter
sind, dieselben wie früher, dann können sie bei Tage nicht viel sehen,
nicht wahr?«
»Nein, vielleicht nicht«, sagte Frodo. »Aber ihre Rösser könnten
sehen. Und diese geflügelten Wesen, auf denen sie jetzt reiten, können
wahrscheinlich mehr sehen als jedes andere Geschöpf. Sie sind wie große
Aasvögel. Sie suchen nach etwas: der Feind hält Ausschau, fürchte ich.«
Das Gefühl des Schreckens verging, aber die sie einhüllende Stille war
unterbrochen. Eine Zeitlang waren sie von der Welt abgeschnitten gewe-
sen wie auf einer unsichtbaren Insel; jetzt waren sie wieder schutzlos, die
Gefahr war zurückgekehrt. Aber Frodo sprach nicht mit Gollum und traf
keine Entscheidung. Er hatte die Augen geschlossen, als ob er träume
oder nach innen blicke in sein Herz und in die Erinnerung. Endlich stand
er auf, und es schien, als wolle er sprechen und einen Entschluß fassen.
Doch sagte er: »Horch! Was ist das?«
Eine neue Furcht packte sie. Sie hörten Singen und heisere Rufe. Zuerst
schien es weit weg zu sein, aber es näherte sich: es kam auf sie zu. Ihnen
allen schoß der Gedanke durch den Kopf, daß die Schwarzen Schwingen
sie erspäht und Bewaffnete geschickt hatten, um sie zu ergreifen: keine
Geschwindigkeit schien zu groß für diese entsetzlichen Diener von Sau-
ron. Sie kauerten sich hin und lauschten. Die Stimmen und das Klirren
von Waffen und Ausrüstung waren sehr nah. Frodo und Sam lockerten
ihre kleinen Schwerter in den Scheiden. Eine Flucht war unmöglich.
Gollum erhob sich langsam und kroch insektengleich zum Rand der
Senke. Sehr vorsichtig richtete er sich Zoll um Zoll auf, bis er zwischen
zwei Felszacken hinüberschauen konnte. Dort blieb er eine Zeitlang, ohne
sich zu bewegen oder ein Geräusch zu machen. Plötzlich entfernten sich
die Stimmen wieder und wurden langsam unhörbar. In der Feme blies ein
Horn auf dem Festungswall von Morannon. Dann zog sich Gollum zu-
rück und schlüpfte hinunter in die Mulde.
»Mehr Menschen gehen nach Mordor«, sagte er leise. »Dunkle Gesich-
ter. Wir haben Menschen wie diese noch nie gesehen, nein, Sméagol
nicht. Sie sind grimmig. Sie haben schwarze Augen und langes schwar-
zes Haar und goldene Ringe in den Ohren; ja, massenhaft schönes Gold.
Und manche haben rote Farbe auf ihren Wagen, und rote Mäntel; und
ihre Fahnen sind rot und die Spitzen ihrer Speere; und sie haben runde
Schilde, gelb und schwarz mit großen Stacheln. Nicht nett; wie sehr grau-
same, böse Menschen sehen sie aus. Fast so schlimm wie Orks, und viel
größer. Sméagol glaubt, sie sind aus dem Süden gekommen, jenseits vom
Ende des Großen Stroms: diese Straße kamen sie herauf. Sie sind weiter-
gezogen zum Schwarzen Tor; aber noch mehr mögen folgen. Immer mehr
Volk kommt nach Mordor. Eines Tages werden alle Völker drinnen sein.«
»Waren da irgendwelche Olifanten?« fragte Sam und vergaß seine
Angst, weil er so begierig war auf Neuigkeiten von fremden Gegenden.
»Nein, keine Olifanten. Was sind Olifanten?« fragte Gollum.
Sam stand auf, legte die Hände auf den Rücken (wie er es immer tat,
wenn er »Poesie aufsagte«) und begann:
Grau wie die Maus,
Groß wie ein Haus,
Schnauze wie Schlange;
Erde bebt bange,
Zieh ich durchs Gras,
Baum bricht wie Glas.
Hörner im Maul
Schüttle ich faul
Mein Ohrenpaar;
Jahr um Jahr
Zieh ich dahin,
Leg mich nie hin.
Olifant bin ich benannt,
Größter im Land,
Riesig und alt.
Meine Gestalt,
Sahst du mich hie,
Vergißt du nie,
Sahst du mich nicht
Glaubst du auch nicht,
Daß es mich gibt.
Doch als ehrlicher Olifant
Bleib ich bekannt.
»Das«, sagte Sam, als er mit Aufsagen fertig war, »das ist ein Gedicht
aus dem Auenland. Unsinn vielleicht, und vielleicht auch nicht. Aber
wir haben auch unsere Geschichten und Neuigkeiten aus dem Süden,
weißt du. In den alten Tagen haben Hobbits ab und zu Wanderungen un-
ternommen. Allerdings kamen nicht viele zurück, und nicht alles, was sie
erzählten, wurde geglaubt: Neuigkeiten aus Bree und nicht verläßlich
wie
Auenlandgerüchte, wie man so sagt. Aber ich habe Geschichten gehört
über die großen Leute da unten in den Sonnenlanden. Schwärzlinge nen-
nen wir sie in unseren Geschichten; und sie reiten auf Olifanten, heißt es,
wenn sie kämpfen. Sie stellen Häuser und Türme auf die Rücken der Oli-
fanten und was nicht alles, und die Olifanten bewerfen sich gegenseitig
mit Felsbrocken und Bäumen. Als du sagtest: >Menschen aus dem Süden,
alle in Rot und Gold<, da sagte ich: >Waren da irgendwelche Olifanten?<
Denn wenn welche da wären, dann wollte ich sie mir ansehen, Gefahr
oder nicht. Aber nun nehme ich nicht an, daß ich jemals Olifanten
sehen werde. Vielleicht gibt es solche Tiere gar nicht.« Er seufzte.
»Nein, keine Olifanten«, sagte Gollum wieder. »Sméagol hat nicht von
ihnen gehört. Er will nicht, daß es sie gibt. Sméagol will von hier fortge-
hen und sich irgendwo verstecken, wo es sicherer ist. Sméagol will, daß
der Herr geht. Netter Herr, will er nicht mit Sméagol mitkommen?«
Frodo stand auf. Er hatte bei all seinen Sorgen gelacht, als Sam das alte
Lied vom Olifant zum besten gab, und das Lachen hatte ihn von der Un-
schlüssigkeit befreit. »Ich wünschte, wir hätten tausend Olifanten mit
Gandalf auf einem weißen an der Spitze«, sagte er. »Dann würden wir
uns vielleicht einen Weg bahnen in dieses böse Land. Aber wir haben sie
nicht; bloß unsere eigenen müden Beine, das ist alles. Nun, Sméagol, der
dritte Weg mag sich als der beste erweisen. Ich werde mit dir kommen.«
»Guter Herr, kluger Herr, netter Herr!« rief Gollum entzückt und tät-
schelte Frodos Knie. »Guter Herr! Dann ruht jetzt, nette Hobbits, im
Schatten der Steine, dicht unter den Steinen! Ruht euch aus und liegt still,
bis das Gelbe Gesicht fortgeht. Dann können wir schnell laufen. Leise und
schnell wie Schatten müssen wir sein.«