ZWEITES KAPITEL
DIE DURCHQUERUNG DER SÜMPFE

Gollum ging rasch, dabei streckte er Kopf und Hals vor und benutzte
oft seine Hände ebenso wie die Füße. Frodo und Sam mußten sich sehr
anstrengen, um mit ihm Schritt zu halten; aber er schien nicht mehr an
Flucht zu denken, und wenn sie zurückblieben, drehte er sich um und
wartete auf sie. Nach einiger Zeit brachte er sie an den Rand der schma-
len Rinne, auf die sie schon früher gestoßen waren; aber jetzt waren sie
weiter weg von den Bergen.
»Hier ist es!« rief er. »Da unten drin ist ein Weg, ja. Jetzt folgen wir
ihm nach draußen, da drüben.« Er zeigte nach Süden und Osten auf die
Sümpfe. Deren Dünste stiegen ihnen in die Nase, schwer und faul selbst
in der kalten Nachtluft.
Gollum suchte oben und unten entlang des Randes, und schließlich rief
er ihnen zu: »Hier! Hier können wir runtergehen. Sméagol ging diesen
Weg einmal: ich ging diesen Weg, als ich mich vor den Orks versteckte.«
Er ging voran, die Hobbits folgten ihm und stiegen hinunter in die
Düsternis. Es war nicht schwierig, denn die Spalte war an dieser Stelle
nur etwa fünfzehn Fuß tief und etwa ein Dutzend breit. Auf dem Grund
floß Wasser: tatsächlich war es das Bett eines der vielen kleinen Flüsse,
die von den Bergen herabtröpfelten und die stehenden Tümpel und Sümpfe
speisten. Gollum hielt sich nach rechts, mehr oder weniger nach Süden,
und ging planschend durch den seichten, steinigen Bach. Er schien hoch
entzückt zu sein, das Wasser an den Füßen zu spüren, lachte vergnügt vor
sich hin und krächzte sogar manchmal eine Art Lied.
Das wüstige Land,
Es beißt die Hand,

Es nagt am Fuß.
Felsen und Stein
Kein Fleisch, nur Gebein,

Fraß aus, ist Schluß.
Doch in kühlen Pfuhlen
Woll'n wir uns suhlen

Und Füße im Fluß.
Nun wollen wir gern ...

»Ha! Ha! Was wollen wir?« sagte er und warf den Hobbits einen ver-
stohlenen Blick zu. »Wir wollen's euch sagen«, krächzte er. »Er hat's
schon lange erraten, der Beutlin hat's erraten.« Seine Augen funkelten,
und als Sam den Schimmer in der Dunkelheit sah, fand er ihn keineswegs
erfreulich.
Ohne Atemhauch
Wie die Toten auch,
Trotzdem lebendig,
Schlüpfrig behendig,
Im Sumpf nicht versinken,
doch immerzu trinken;
Auf dürrem Stein
Geht Armer ein,
Aber wir gewinnen,
Wo Wasser rinnen.
Ein süßer Fisch

Den fangen wir noch
Im Wasserloch!
So saftig-frisch!
Diese Worte machten Sam nur eine Schwierigkeit deutlicher und dring-
licher, die ihn von dem Augenblick an beunruhigt hatte, als er begriff,
daß sein Herr Gollum als Führer annehmen wollte: die Schwierigkeit der
Ernährung. Er kam nicht drauf, daß sein Herr auch daran gedacht haben
könnte, aber von Gollum nahm er es an. Wie hatte sich Gollum über-
haupt bei seiner ganzen einsamen Wanderung ernährt? »Nicht zu gut«,
dachte Sam. »Er sieht ganz schön verhungert aus. Nicht zu wählerisch,
um zu versuchen, wie Hobbits schmecken, wenn's keine Fische gibt, da
wette ich — vorausgesetzt, er könnte uns im Schlaf überrumpeln. Na, das
wird er nicht — Sam Gamdschie zum Beispiel nicht.«
Sie stolperten eine lange Zeit durch die dunkle, sich windende Rinne,
oder jedenfalls kam es den müden Füßen von Frodo und Sam so vor. Die
Rinne zog sich nach Osten, und als sie weitergingen, verbreiterte sie sich
und wurde allmählich flacher. Schließlich wurde der Himmel oben blaß
vom ersten Morgengrauen. Gollum hatte kein Zeichen von Müdigkeit er-
kennen lassen, aber jetzt schaute er auf und blieb stehen.
»Tag ist nah«, flüsterte er, als ob Tag etwas sei, das ihn hören und ihn
anspringen könnte. »Sméagol will hierbleiben: ich will hierbleiben, und
das Gelbe Gesicht wird mich nicht sehen.«
»Wir wären froh, die Sonne zu sehen«, sagte Frodo, »aber wir wollen
auch hier bleiben: wir sind zu müde, um jetzt noch weiterzugehen.«
»Ihr seid nicht klug, daß ihr froh seid über das Gelbe Gesicht«, sagte
Gollum. »Es verrät euch. Nette, vernünftige Hobbits bleiben bei Sméagol.
Orks und böse Wesen sind unterwegs. Sie können weit sehen. Bleibt hier
und versteckt euch mit mir!«
Die drei ließen sich am Fuß der felsigen Wand der Rinne nieder, um
sich auszuruhen. Die Rinne war hier nicht viel höher, als daß ein großer
Mann darin stehen konnte, und auf dem Boden waren breite, und trok-
kene flache Felsvorsprünge; das Wasser floß in einem Bett auf der ande-
ren Seite. Frodo und Sam setzten sich auf einen der Vorsprünge und ruh-
ten ihre Rücken aus. Gollum paddelte und krabbelte im Bach herum.
»Wir müssen ein wenig essen«, sagte Frodo. »Bist du hungrig, Smea-
gol? Wir haben nicht viel, aber wir werden dir etwas übrig lassen.«
Bei dem Wort hungrig trat ein grünliches Funkeln in Gollums bleiche
Augen, und sie schienen mehr denn je aus seinem dünnen, ungesunden
Gesicht hervorzuragen. Einen Augenblick fiel er in seine alte Gollum-
Art zurück. »Wir sind ausgehungert, ja, ausgehungert sind wir, Schatz«,
sagte er. »Was isses was sie essen? Haben sie gute Fische?« Seine Zunge
hing zwischen seinen scharfen, gelben Zähnen heraus, und er leckte sich
die farblosen Lippen.
»Nein, wir haben keinen Fisch«, sagte Frodo. »Wir haben nur das hier
...«, er hielt eine Lembas-Waffel hoch, »und Wasser, wenn das Wasser
hier trinkbar ist.«
»Ja, ja, gutes Wasser«, sagte Gollum. »Trinkt es, trinkt es, solange wir
können! Aber was ist es, was sie haben, Schatz? Kann man es kauen?
Schmeckt es?«
Frodo brach ein Stückchen von einer Waffel ab und gab es ihm auf der
Blätterverpackung. Gollum schnüffelte an dem Blatt, und sein Ausdruck
änderte sich: sein Gesicht verzog sich voll Abscheu und zeigte wieder
einen Anflug seiner alten Bosheit. »Sméagol riecht es«, sagte er. »Blätter
aus dem Elbenland, pfui! Sie stinken. Er kletterte in diesen Bäumen, und
er konnte den Geruch nicht von den Händen abwaschen, meinen netten
Händen.« Er ließ das Blatt fallen, nahm eine Ecke von den lembas und
knabberte daran. Er spuckte und wurde von einem Hustenanfall gepackt.
»Ach! Nein!« stotterte er. »Ihr wollt den armen Sméagol ersticken.
Staub und Asche, das kann er nicht essen. Er muß hungern. Aber Smea-
gol macht das nichts aus. Nette Hobbits! Sméagol hat versprochen. Er
wird hungern. Hobbitnahrung kann er nicht essen. Er wird hungern.
Armer dünner Sméagol!«
»Es tut mir leid«, sagte Frodo, »aber ich kann dir nicht helfen, fürchte
ich. Ich glaube, diese Nahrung wird dir gut tun, wenn du sie nur versu-
chen würdest. Aber vielleicht kannst du nicht einmal versuchen, jeden-
falls jetzt noch nicht l«
Die Hobbits kauten schweigend an ihren lembas. Sam fand, sie
schmeckten irgendwie viel besser als in der ganzen letzten Zeit: Gollums
Verhalten hatte ihn wieder auf ihre Würzigkeit aufmerksam gemacht.
Aber er fühlte sich nicht wohl in seiner Haut. Gollum beobachtete jeden
Krümel von der Hand bis zum Mund wie ein bettelnder Hund neben dem
Stuhl eines Essenden. Erst als sie fertig waren und sich anschickten, sich
auszuruhen, sah er offenbar ein, daß sie keine heimlichen Leckerbissen
hatten, von denen er etwas abbekommen könnte. Dann stand er auf und
setzte sich ein paar Schritte entfernt hin und wimmerte ein wenig.
»Hör mal«, flüsterte Sam Frodo zu, nicht allzu leise: es war ihm eigent-
lich gleichgültig, ob Gollum ihn hörte oder nicht. »Wir müssen etwas
schlafen; aber nicht beide zugleich, wenn dieser hungrige Schuft in der
Nähe ist. Versprechen hin. Versprechen her. Sméagol oder Gollum wird
seine Gewohnheiten nicht in aller Eile ändern, da könnt ich schwören.
Schlaf du jetzt, Herr Frodo, und ich wecke dich, wenn ich meine Lider
nicht mehr aufhalten kann. Immer abwechselnd, wie bisher, solange er
frei herumläuft.«
»Vielleicht hast du recht, Sam«, sagte Frodo, ohne die Stimme zu sen-
ken. »Es ist eine Veränderung in ihm vorgegangen, aber welcher Art sie
ist und wie tief sie geht, darüber bin ich mir noch nicht klar. Im Ernst
glaube ich allerdings nicht, daß wir uns fürchten müssen — zurzeit.
Immerhin wache, wenn du willst. Laß mich zwei Stunden schlafen. Aber
nicht mehr, und wecke mich dann.«
So müde war Frodo, daß ihm der Kopf auf die Brust sank und er schon
schlief, nachdem er diese Worte kaum gesprochen hatte. Gollum schien
keine Angst mehr zu haben. Er rollte sich zusammen und schlief ganz
sorglos rasch ein. Bald zischte sein Atem leise durch seine zusammenge-
bissenen Zähne, aber er lag mäuschenstill. Weil Sam nach einer Weile
fürchtete, daß er auch einnicken würde, wenn er so dasaß und seine zwei
Gefährten atmen hörte, stand er auf und stieß Gollum sanft an. Seine
Hände streckten sich und zuckten, aber sonst bewegte er sich nicht. Sam
beugte sich zu ihm hinunter und sagte dicht an seinem Ohr fisch, aber es
kam keine Antwort von Gollum, nicht einmal ein Stocken des Atems.
Sam kratzte sich den Kopf. »Er muß wirklich schlafen«, murmelte er.
»Und wenn ich wie Gollum wäre, würde er nie wieder aufwachen.« Er
unterdrückte den Gedanken an sein Schwert und das Seil, der ihm in den
Sinn gekommen war, ging wieder zu seinem Herrn und setzte sich neben
ihn.
Als er aufwachte, war der Himmel über ihm düster, nicht heller, son-
dern dunkler als bei ihrem Frühstück. Sam sprang auf. Nicht zuletzt
daran, daß er sich so kräftig fühlte und hungrig war, erkannte er plötz-
lich, daß er den ganzen hellichten Tag verschlafen hatte, neun Stunden
mindestens. Frodo schlief immer noch ganz fest und lag jetzt ausgestreckt
auf der Seite. Gollum war nicht zu sehen. Verschiedene vorwurfsvolle
Namen für sich selbst gingen Sam durch den Kopf, die aus dem väter-
lichen Wortschatz des Ohm stammten; dann fiel ihm auch ein, daß sein
Herr Recht gehabt hatte: im Augenblick hatte es nichts gegeben, wovor
man sich schützen mußte. Sie waren jedenfalls beide am Leben und nicht
erwürgt.
»Armer Kerl!« sagte er halb reumütig. »Ich möchte mal wissen, wo er
hingegangen ist?«
»Nicht weit, nicht weit«, sagte eine Stimme über ihm. Er schaute auf
und sah den Umriß von Gollums großem Kopf und seinen Ohren gegen
den Abendhimmel.
»He, was machst du denn?« rief Sam; sein Argwohn kehrte zurück,
kaum daß er dieses Geschöpf sah.
»Sméagol ist hungrig«, sagte Gollum. »Bin gleich zurück.«
»Komm jetzt zurück!« schrie Sam. »He! Komm zurück!« Aber Gollum
war verschwunden.
Frodo wachte auf, als er Sam rufen hörte; er setzte sich auf und rieb
sich die Augen. »Nanu«, sagte er. »Ist was los? Wie spät ist es?«
»Weiß nicht«, sagte Sam. »Nach Sonnenuntergang, schätze ich. Und er
ist weg. Sagt, er ist hungrig.«
»Beunruhige dich nicht«, sagte Frodo. »Da kann man nichts machen.
Er wird zurückkommen, du wirst es sehen. Das Versprechen wird noch
eine Weile halten. Und seinen Schatz will er sowieso nicht verlassen.«
Frodo machte nicht viel Aufhebens davon, als er hörte, daß sie beide
stundenlang fest geschlafen hatten, während Gollum, und zwar ein sehr
hungriger Gollum, frei und ungebunden neben ihnen gewesen war. »Denk
dir keine von den Schimpfnamen des Ohms aus«, sagte er. »Du warst tod-
müde, und es hat sich als gut herausgestellt: jetzt sind wir beide ausge-
ruht. Und wir haben einen harten Weg vor uns, den schlimmsten Weg
von allen.«
»Was das Essen betrifft«, sagte Sam. »Wie lange werden wir brauchen,
um diese Sache zu erledigen? Und wenn sie erledigt ist, was werden wir
dann tun? Diese Wegzehrung hält uns auf wunderbare Art auf den Bei-
nen, obwohl sie das Innere nicht so recht befriedigt, wie man sagen
könnte: nach meinem Gefühl jedenfalls nicht, was keine Unhöflichkeit
gegen die sein soll, die sie gemacht haben. .Aber etwas davon muß man
jeden Tag essen, und es wird nicht mehr. Ich schätze, wir haben genug
für, sagen wir, drei Wochen oder so, und das mit eng geschnalltem Rie-
men und nur für den hohlen Zahn, wohlgemerkt. Wir sind bisher ein biß-
chen großzügig damit umgegangen.«
»Ich weiß nicht, wie lange wir brauchen, um — um fertig zu werden«,
sagte Frodo. »Wir sind in den Bergen jämmerlich aufgehalten worden.
Aber, Samweis Gamdschie, mein lieber Hobbit — wirklich, Sam, mein
liebster Hobbit, mein allerbester Freund —, ich glaube nicht, daß wir uns
darüber Gedanken machen müssen, was nachher kommt. Die Sache erle-
digen,
wie du es ausdrückst — welche Hoffnung besteht, daß wir sie je
erledigen werden? Und wenn wir es tun, wer weiß, was dabei heraus-
kommt? Wenn der Eine ins Feuer geht und wir in der Nähe sind? Ich
frage dich, Sam, wird es je wahrscheinlich sein, daß wir wieder Brot brau-
chen? Ich glaube es nicht. Wenn wir unsere Glieder so ernähren können,
daß sie uns bis zum Schicksalsberg bringen, dann ist das alles, was wir
tun können. Mehr als ich tun kann, das Gefühl habe ich allmählich.«
Sam nickte schweigend. Er nahm die Hand seines Herrn und beugte
sich über sie. Er küßte sie nicht, doch seine Tränen fielen darauf. Dann
wandte er sich ab, fuhr sich mit dem Ärmel über die Nase, stand auf,
stapfte herum, versuchte zu pfeifen und sagte zwischen seinen verschiede-
nen Bemühungen: »Wo ist das verflixte Geschöpf?«
Tatsächlich dauerte es nicht lange, bis Gollum zurückkam; aber er kam
so leise, daß sie ihn nicht hörten, ehe er vor ihnen stand. Seine Finger und
sein Gesicht waren mit schwarzem Schlamm beschmiert. Er kaute und
sabberte noch. Was er kaute, fragten sie nicht und mochten auch nicht
dran denken.
»Würmer oder Käfer oder irgendwas Schleimiges aus den Löchern«,
dachte Sam. »Brr! Das abscheuliche Geschöpf; der arme Kerl!«
Gollum sagte nichts zu ihnen, bis er kräftig getrunken und sich im
Bach gewaschen hatte. Dann kam er zu ihnen, sich die Lippen leckend.
»Besser jetzt«, sagte er. »Sind wir ausgeruht? Bereit zu gehen? Nette Hob-
bits, sie schlafen schön. Vertraut ihr Sméagol jetzt? Sehr, sehr gut.«
Der nächste Abschnitt ihrer Fahrt war ziemlich genauso wie der letzte.
Als sie weitergingen, wurde die Rinne immer flacher und das Gefälle
ihres Bodens immer allmählicher. Ihr Grund war weniger steinig, sondern
erdiger, und langsam gingen ihre Wände in bloße Böschungen über. Sie
begann sich zu winden und zu wandern. Die Nacht näherte sich ihrem
Ende, aber Wolken verhüllten jetzt Mond und Sterne, und sie merkten das
Kommen des Tages nur daran, daß sich langsam ein spärliches, graues
Licht verbreitete.
In einer kühlen Stunde kamen sie zum Ende des Wasserlaufs. Die
Böschungen wurden moosgrüne Erdhügel. Über den letzten Vorsprung
aus verwittertem Gestein stürzte der Bach gurgelnd hinab in ein braunes
Moor und ward nicht mehr gesehen. Trockenes Schilf zischte und
raschelte, obwohl kein Wind zu spüren war.
Auf beiden Seiten und vor ihnen lagen jetzt ausgedehnte Fenne und
Sümpfe, die sich in dem dämmrigen Zwielicht weit nach Süden und Osten
erstreckten. Nebelschwaden stiegen, sich kräuselnd und dampfend, von
dunklen und eklen Tümpeln auf, deren Gestank stickig in der stillen Luft
hing. Weit in der Ferne, jetzt fast genau südlich, erhoben sich die Ge-
birgswälle von Mordor wie eine zerklüftete schwarze Wolkenbank über
einem gefährlichen, in Nebel gehüllten Meer.
Die Hobbits waren jetzt völlig im Gollums Hand. Sie wußten nicht und
konnten es in der dunstigen Beleuchtung nicht erraten, daß sie in Wirk-
lichkeit am nördlichen Ende der Sümpfe waren, die sich von hier aus nach
Süden erstrecken. Sie hätten, wenn sie das Land gekannt hätten, ohne
große Verzögerung einfach ein Stück zurückgehen können, und wenn sie
sich dann nach Osten gehalten hätten, wären sie über harte Straßen zu
der kahlen Ebene Dargolad gekommen: dem alten Schlachtfeld vor den
Toren von Mordor. Viel Hoffnung bot ein solcher Weg allerdings auch
nicht. Auf jener steinigen Ebene gab es keine Deckung, und die Straßen
der Orks und der Soldaten des Feindes rührten über sie hinweg. Nicht
einmal die Mäntel von Lórien hätten sie dort verborgen.
»Welche Richtung wollen wir nun einschlagen, Sméagol?« fragte
Frodo. »Müssen wir diese übelriechenden Fenne überqueren?«
»Nicht nötig, gar nicht nötig«, sagte Gollum. »Nicht, wenn die Hobbits
das dunkle Gebirge erreichen und Ihn sehr schnell sehen wollen. Zurück
ein bißchen und herum ein bißchen...« — sein knochiger Arm deutete
nach Norden und Osten — »und ihr könnt auf harten, kalten Straßen bis
zu den Toren seines Landes kommen. Eine Menge von seinen Leuten wird
dort nach Gästen Ausschau halten, sehr erfreut, sie gleich zu Ihm zu
bringen, o ja. Sein Auge bewacht die ganze Zeit den Weg. Es hat Sméagol
dort erwischt vor langer Zeit.« Gollum erschauerte. »Aber Sméagol
hat seitdem seine Augen gebraucht, ja, ja: seitdem habe ich Augen
und Füße und Nase gebraucht. Ich kenne andere Wege. Schwierigere,
nicht so schnelle; aber bessere, wenn wir nicht von Ihm gesehen werden
wollen. Folgt Sméagol! Er kann euch durch die Sümpfe bringen, durch die
Nebel, nette, dicke Nebel. Folgt Sméagol sehr vorsichtig, dann könnt ihr
einen langen Weg, einen recht langen Weg gehen, ehe Er euch erwischt,
ja, vielleicht.«
Es war schon heller Tag, ein windloser und trüber Morgen, und die
Sumpfdünste hingen schwer in der Luft. Kein Sonnenstrahl durchbrach
den niedrigen Wolkenhimmel, und Gollum schien daran zu liegen, die
Wanderung gleich fortzusetzen. So machten sie sich nach einer kurzen
Rast gleich wieder auf den Weg und waren bald von einer schattigen,
schweigenden Welt umschlossen, abgeschnitten von jedem Blick auf das
umliegende Land, und sie sahen weder die Berge, die sie verlassen hatten,
noch das Gebirge, das sie suchten. Sie gingen langsam hintereinander:
Gollum, Sam, Frodo.
Frodo schien von den dreien der müdeste zu sein, und obwohl sie lang-
sam gingen, blieb er oft zurück. Die Hobbits merkten bald, daß das, was
wie ein einziges riesiges Fenn ausgesehen hatte, in Wirklichkeit ein end-
loses Netzwerk von Tümpeln, weichen Mooren und sich windenden,
halb erstickten Wasserläufen war. Zwischen diesen konnten geschickte
Augen und Füße einen verschlungenen Pfad finden. Gollum besaß gewiß
diese Geschicklichkeit und brauchte sie auch. Sein Kopf an dem langen
Hals drehte sich hierhin und dorthin, und er schnüffelte und murmelte
die ganze Zeit vor sich hin. Manchmal hob er die Hand und gebot ihnen
Halt, während er ein Stückchen weiterkroch, den Boden mit den Fingern
oder Zehen abtastete oder bloß lauschte, ein Ohr auf die Erde gepreßt.
Es war langweilig und ermüdend. Kalter, feuchter Winter herrschte
noch in diesem verlassenen Land. Das einzige Grün war der Schaum von
bleichem Kraut auf den dunklen, fettigen Oberflächen der trüben Ge-
wässer. Tote Gräser und faulendes Schilf ragte auf in den Nebeln wie ge-
zackte Schatten von langvergessenen Sommern.
Im Laufe des Tages wurde es ein wenig heller, der Nebel hob sich und
wurde dünner und durchsichtiger. Hoch über der Fäulnis und den Dün-
sten der Welt zog die Sonne jetzt golden ihre Bahn in einem heiteren
Land und spiegelte sich in schimmernden Meeren, aber nur ein flüchtiges
Gespenst von ihr konnten sie hier unten sehen, verschwommen, bleich,
das weder Farbe noch Wärme abgab. Aber schon bei diesem schwachen
Hinweis auf ihr Dasein blickte Gollum finster drein und schauderte. Er
unterbrach ihre Wanderung, und sie rasteten, wie gejagte kleine Tiere an
den Rändern eines großen braunen Schilfdickichts hockend. Es herrschte
eine tiefe Stille, nur oberflächlich unterbrochen von dem schwachen
Beben leerer Samenbüschel und dem Zittern abgebrochener Grashalme
in kleinen Luftbewegungen, die sie nicht spüren konnten.
»Nicht ein Vogel«, sagte Sam traurig.
»Nein, keine Vögel«, sagte Gollum. »Nette Vögel!« Er leckte sich die
Zähne. »Keine Vögel hier. Es gibt Schlangen, Würmer, Tiere in den Tüm-
peln. Haufenweise Tiere, haufenweis häßliche Tiere. Keine Vögel«, schloß
er betrübt. Sam sah ihn voll Abscheu an.
So verbrachten sie den dritten Tag ihrer Wanderung mit Gollum. Ehe
die Schatten des Abends in glücklicheren Ländern lang wurden, gingen
sie weiter, immer weiter und weiter mit nur kurzen Unterbrechungen.
Nicht so sehr, um sich auszuruhen, hielten sie an, sondern um Gollum zu
helfen; denn jetzt mußte selbst er mit großer Sorgfalt vorgehen, und
manchmal war er eine Weile unsicher. Sie hatten genau die Mitte der
Totensümpfe erreicht, und es war dunkel.
Sie gingen langsam, gebückt, dicht hintereinander, und verfolgten auf-
merksam jede Bewegung, die Gollum machte. Die Fenne wurden nasser
und gingen in ausgedehnte, stehende Tümpel über, zwischen denen es
immer schwieriger wurde, feste Stellen zu finden, wo Füße treten konn-
ten, ohne in gurgelnden Morast einzusinken. Die Wanderer waren leicht,
sonst hätte vielleicht keiner von ihnen einen Weg hindurchgefunden.
Plötzlich wurde es ganz dunkel: selbst die Luft schien schwarz zu sein,
und das Atmen fiel ihnen schwer. Als Lichter auftauchten, rieb Sam sich
die Augen: er dachte, er sei verrückt geworden. Erst sah er ein Licht im
linken Augenwinkel, den Hauch eines blassen Scheins, der wieder ver-
schwand. Aber bald kamen neue: manche wie düster schimmernder
Rauch, manche wie neblige Flammen, die schwach über unsichtbaren Ker-
zen flackern; hier und dort wanden sie sich wie Gespensterlaken, die von
verborgenen Händen geschwenkt werden. Aber keiner seiner Gefährten
sprach ein Wort. Schließlich konnte Sam es nicht länger ertragen.
»Was ist all das, Gollum?« fragte er flüsternd. »Diese Lichter? Sie sind
jetzt rings um uns. Sind wir eingeschlossen? Was für Lichter sind das?«
Gollum schaute auf. Ein dunkles Wasser war vor ihm, und er kroch auf
dem Boden, hierhin und dorthin, im Zweifel über den Weg. »Ja, sie sind
rings um uns«, flüsterte er. »Die tückischen Lichter. Kerzen von Leichen,
ja, ja. Achte nicht drauf! Sieh sie nicht an. Folge ihnen nicht! Wo ist der
Herr?«
Sam schaute sich um und stellte fest, daß Frodo wieder zurückgeblieben
war. Er konnte ihn nicht sehen. Er ging ein paar Schritte in die Dunkel-
heit zurück, wagte aber nicht, sich weit zu entfernen oder lauter zu rufen
als mit einem heiseren Flüstern. Plötzlich stieß er an Frodo, der in Gedan-
ken verloren dastand und die fahlen Lichter betrachtete. Seine Hände hin-
gen schlaff an seinen Seiten; Wasser und Schlamm tropfte von ihnen
herab.
»Komm, Herr Frodo«, sagte Sam. »Sieh sie nicht an! Gollum sagt, wir
sollten es nicht tun. Laß uns mit ihm Schritt halten und so schnell wie
möglich aus dieser verfluchten Gegend rauskommen — wenn wir kön-
nen!«
»Ganz recht«, sagte Frodo, als ob er aus einem Traum zurückkehrte.
»Ich komme. Geh weiter!«
Als Sam wieder vorwärtseilte, stolperte er über eine alte Wurzel oder
ein Grasbüschel. Er fiel auf die Hände, die tief in zähen Morast einsan-
ken, so daß sein Gesicht dicht an die Oberfläche des dunklen Pfuhls kam.
Es gab ein schwaches Zischen, ein widerlicher Geruch stieg auf, die Lich-
ter flackerten und tanzten und wirbelten. Einen Augenblick lang sah das
Wasser unter ihm aus wie ein Fenster, mit einer schmutzigen Scheibe ver-
glast, durch die er blickte. Er zerrte seine Hände aus dem Morast heraus
und sprang mit einem Schrei zurück. »Da sind Tote, tote Gesichter im
Wasser«, sagte er voll Entsetzen. »Tote Gesichter!«
Gollum lachte. »Die Totensümpfe, ja, ja: so heißen sie«, kicherte er.
»Du solltest nicht hineinsehen, wenn die Kerzen angezündet sind.«
»Wer ist das? Was ist das?« fragte Sam schaudernd und wandte sich zu
Frodo um, der jetzt hinter ihm war.
»Ich weiß es nicht«, sagte Frodo mit traumähnlicher Stimme. »Aber
ich habe sie auch gesehen. In den Tümpeln, als die Kerzen angezündet
wurden. Sie liegen in all den Tümpeln, bleiche Gesichter, tief, tief unter
dem dunklen Wasser. Ich sah sie: grimmige Gesichter und böse, und edle
Gesichter und traurige. Viele Gesichter stolz und schön, mit Kraut in dem
silbrigen Haar. Aber alle verfault, verwest, alle tot. Ein unheimliches
Licht ist in ihnen.« Frodo bedeckte die Augen mit der Hand. »Ich weiß
nicht, wer sie sind; aber ich glaubte Menschen und Elben zu sehen, und
Orks neben ihnen.«
»Ja, ja«, sagte Gollum. »Alle tot, alle verfault. Elben und Menschen
und Orks. Die Totensümpfe. Hier war vor langer Zeit eine große
Schlacht, ja, das haben sie Sméagol erzählt, als er jung war, als ich jung
war, ehe der Schatz kam. Es war eine gewaltige Schlacht. Große Men-
schen mit langen Schwertern und entsetzliche Elben und schreiende Orks.
Sie kämpften Tage und Monate lang auf der Ebene bei den Schwarzen
Toren. Aber die Sümpfe sind seitdem gewachsen und haben die Gräber
geschluckt; immer wandernd, wandernd.«
»Aber das war vor einem Zeitalter oder mehr«, sagte Sam. »Die Toten
können doch nicht wirklich da sein! Ist das irgendwie Schurkerei, die im
Dunklen Land ausgeheckt wurde?«
»Wer weiß? Sméagol weiß es nicht«, antwortete Gollum. »Man kann sie
nicht erreichen, man kann sie nicht berühren. Wir haben es einmal ver-
sucht, ja, Schatz. Ich versuchte es einmal; aber man kann sie nicht errei-
chen. Nur Gestalten sind zu sehen, man kann sie nicht anfassen. Nein,
Schatz! Alle tot.«
Sam sah ihn finster an, und es schauderte ihn wieder, als er erraten zu
können glaubte, warum Sméagol versucht habe, sie anzufassen. »Na, ich
will sie nicht sehen«, sagte er. »Niemals wieder! Können wir nicht weiter-
gehen, damit wir wegkommen?«
»Ja, ja«, sagte Gollum. »Aber langsam, ganz langsam. Sehr vorsichtig!
Sonst gehen Hobbits hinunter zu den Toten und zünden auch kleine Ker-
zen an. Folgt Sméagol! Schaut nicht nach Lichtem!«
Er kroch nach rechts und suchte nach einem Pfad um den Pfuhl herum.
Die beiden anderen kamen dicht hinter ihm, gebückt, und gebrauchten oft
ihre Hände, wie er auch. »Drei köstliche kleine Gollums in einer Reihe
werden wir sein, wenn das noch lange so weitergeht«, dachte Sam.
Schließlich kamen sie zum Ende des schwarzen Pfuhls, und es war ge-
fährlich, wie sie ihn kriechend oder von einem vereinzelten trügerischen
Grasbüschel zum nächsten springend überquerten. Oft stolperten sie, tra-
ten oder fielen mit den Händen zuerst in Wasser, das so übel roch wie
eine Jauchegrube, und zuletzt waren sie fast bis zum Hals verschmiert
und besudelt und ekelten sich voreinander.
Es war spät in der Nacht, als sie endlich wieder auf festeren Boden
kamen. Gollum zischte und flüsterte vor sich hin, aber offenbar war er
zufrieden: auf irgendeine geheimnisvolle Weise, durch irgendeine Verbin-
dung von Tast- und Geruchssinn und ein unheimliches Erinnerungsvermö-
gen an Formen im Dunkeln schien er genau zu wissen, wo er wieder war
und wie der Weg dann verlief.
»Jetzt gehen wir weiter«, sagte er. »Nette Hobbits! Tapfere Hobbits!
Sehr müde natürlich; das sind wir auch, mein Schatz, wir alle. Aber wir
müssen den Herrn von den bösen Lichtem wegbringen, ja, ja, das müssen
wir.« Mit diesen Worten machte er sich wieder auf, nahezu im Trab, und
es schien fast ein Pfad zwischen hohen Binsen zu sein, auf dem sie hinter
ihm herstolpern, so schnell sie konnten. Aber nach einer kleinen Weile
blieb er plötzlich stehen, schnupperte unschlüssig in der Luft und zischte,
als ob er besorgt oder wieder unzufrieden sei.
»Was ist los?« brummte Sam, der die Zeichen falsch verstand. »Warum
mußt du schnuppern? Der Gestank wirft mich fast um, wenn ich mir die
Nase zuhalte. Du stinkst und der Herr stinkt; die ganze Gegend stinkt.«
»Ja, ja, und Sam stinkt!« antwortete Gollum. »Der arme Sméagol riecht
es, aber der gute Sméagol erträgt es. Hilft dem netten Herrn. Aber das
macht nichts. Die Luft bewegt sich, es ändert sich was. Sméagol macht
sich Gedanken; er ist nicht froh.«
Er ging wieder weiter, aber seine Unruhe wuchs, und dann und wann
richtete er sich zu seiner ganzen Größe auf und. reckte den Hals nach
Osten und Süden. Eine Zeitlang konnten die Hobbits weder hören noch
spüren, was ihn bedrückte. Dann blieben sie plötzlich alle drei stehen, er-
starrten und lauschten. Frodo und Sam schien es, als hörten sie in weiter
Ferne einen klagenden Schrei, hoch und dünn und grausam. Sie er-
schauerten. In demselben Augenblick wurden sie gewahr, daß sich die
Luft bewegte; und es wurde sehr kalt. Als sie angespannt lauschten, hör-
ten sie ein Geräusch wie ein in der Ferne aufkommender Wind. Die neb-
ligen Lichter flackerten, verdunkelten sich und erloschen.
Gollum rührte sich nicht. Zitternd und vor sich hinschnatternd stand er
da, bis der Wind, der zischend und fauchend über die Sümpfe fegte, sie
erfaßte. Die Nacht wurde weniger dunkel, hell genug, daß sie formlose
Nebelschwaden sehen oder halb sehen konnten, die, sich windend und
drehend, sie einhüllten und über sie hinwegzogen. Als sie aufschauten,
bemerkten sie, daß die Wolken aufrissen und in Fetzen dahinsegelten;
und dann schimmerte hoch im Süden der Mond durch das ziehende Ge-
wölk.
Einen Augenblick erfreute sein Anblick die Herzen der Hobbits; aber
Gollum kauerte sich hin und murmelte Flüche auf das Weiße Gesicht. Als
Frodo und Sam zum Himmel hinaufstarrten und rief die frischere Luft
einatmeten, sahen sie sie dann kommen: eine kleine Wolke, die von den
verfluchten Bergen heranflog; ein schwarzer Schatten aus Mordor; eine
riesige Gestalt, geflügelt und unheilvoll. Sie zog vor dem Mond vorbei
und flog mit einem mörderischen Schrei nach Westen, mit ihrer unheim-
lichen Geschwindigkeit den Wind überholend.
Sie fielen vornüber und blieben achtlos auf der kalten Erde liegen.
Aber der Schatten des Schreckens wendete und kehrte zurück, flog jetzt
niedriger genau über ihnen und wirbelte mit seinen gespenstigen Flügeln
die Sumpfdünste auf. Und dann war er fort, zunickgeflogen nach Mordor
mit der Schnelligkeit des Zorns von Sauron; und hinter ihm brauste der
Wind und ließ die Totensümpfe kahl und öde zurück. Soweit das Auge
reichte, bis zu der fernen Drohung des Gebirges, war die nackte Wildnis
gesprenkelt mit dem dann und wann aufschimmernden Mondlicht.
Frodo und Sam standen auf und rieben sich die Augen wie Kinder, die
aus einem bösen Traum aufwachen und merken, daß die vertraute Nacht
die Welt noch umfängt. Aber Gollum lag auf dem Boden, als ob er be-
täubt sei. Sie hoben ihn unter Mühen auf, und eine Zeitlang wollte er
nicht aufschauen, sondern kniete, auf die Ellbogen gestützt, und bedeckte
den Hinterkopf mit seinen großen, ausgebreiteten Händen.
»Geister!« wimmerte er. »Geister mit Flügeln! Der Schatz ist ihr Herr.
Sie sehen alles, alles. Nichts kann sich vor ihnen verbergen. Verflucht sei
das Weiße Gesicht! Und sie werden Ihm alles sagen. Er sieht. Er weiß.
Ach, gollum, gollum, gollum!« Erst als der Mond im Westen weit hinter
Tol Brandir untergegangen war, stand er auf und ging weiter.
Von dieser Zeit an glaubte Sam, wieder eine Veränderung bei Gollum
zu spüren. Er scharwenzelte mehr und war scheinbar freundlich; aber
zu Zeiten bemerkte Sam einen seltsamen Ausdruck in seinen Augen, be-
sonders Frodo gegenüber; und mehr und mehr fiel er wieder in seine alte
Sprechweise zurück. Noch etwas machte Sam zunehmend Sorge. Frodo
schien müde zu sein, eine Müdigkeit, die an Erschöpfung grenzte. Er sagte
nichts, ja, er sprach überhaupt kaum; und er klagte nicht, aber er ging
wie einer, der eine Last trägt, deren Gewicht immer größer wird. Und er
schleppte sich dahin, langsamer und immer langsamer, so daß Sam oft
Gollum bitten mußte, zu warten und ihren Herrn nicht zurückzulassen.
Tatsächlich spürte Frodo bei jedem Schritt, der ihn den Toren von
Mordor näherbrachte, daß der Ring an der Kette um seinen Hals bedrük-
kender wurde. Er empfand ihn jetzt allmählich als ein wirkliches Gewicht,
das ihn nach Osten zog. Aber weit mehr wurde er beunruhigt durch das
Auge: so nannte er es bei sich. Es war mehr als das Zerren des Ringes,
was bewirkte, daß er sich beim Gehen duckte und bückte. Das Auge: die-
ses entsetzliche, wachsende Gefühl, daß ein feindlicher Wille mit großer
Macht darum rang, alle Schatten der Wolken und der Erde und des Flei-
sches zu durchdringen und einen zu sehen: einen unter seinen tödlichen
Blick zu bannen, nackt, bewegungslos. So dünn, so schwach und dünn
waren die Schleier geworden, die diesen Blick noch abwehrten. Frodo
wußte genau, wo dieser Wille sich gegenwärtig aufhielt und wo sein Mit-
telpunkt war: ebenso genau, wie ein Mann die Richtung der Sonne mit
geschlossenen Augen angeben kann. Er wandte sich ihm zu und spürte
seine Kraft auf seiner Stirn.
Gollum empfand wahrscheinlich etwas Ähnliches. Aber was in seinem
unglücklichen Herzen vorging zwischen dem Drängen des Auges und der
Gier nach dem Ring, der so nahe war, und seinem demütigen Verspre-
chen, das er halb aus Furcht vor kaltem Stahl abgegeben hatte, ahnten die
Hobbits nicht. Frodo verschwendete keinen Gedanken daran. Sam war
hauptsächlich mit seinem Herrn beschäftigt und bemerkte kaum die
dunkle Wolke, die auf sein eigenes Herz gefallen war. Er ließ Frodo jetzt
vor sich gehen, hatte ein wachsames Auge auf jede seiner Bewegungen,
stützte ihn, wenn er strauchelte, und versuchte, ihm mit unbeholfenen
Worten Mut zuzusprechen.
Als es endlich Tag wurde, waren die Hobbits überrascht, wieviel näher
sie dem unheilvollen Gebirge schon gekommen waren. Die Luft war jetzt
klarer und kälter; und obwohl die Wälle von Mordor noch weitab lagen,
waren sie dennoch nicht länger eine wolkige Drohung am Rande der
Sicht, sondern blickten wie grimmige schwarze Türme finster über eine
trostlose Einöde. Die Sümpfe hörten auf und verloren sich in totem Torf-
boden und ausgedehnten, mit trockenem, rissigem Schlamm bedeckten
Niederungen. Das Land vor ihnen stieg in langen, flachen Hängen, kahl
und erbarmungslos, zu der Wüstenei an, die an Saurons Tor lag.
Solange das graue Licht anhielt, hockten sie wie Würmer zusammenge-
kauert unter einem schwarzen Stein, damit der geflügelte Schrecken mit
seinen grausamen Augen sie nicht im Vorbeifliegen erspähe. Der Rest
dieser Wanderung war der Schatten einer wachsenden Furcht, bei der die
Erinnerung nichts finden konnte, das sie begründete. Zwei weitere Nächte
kämpften sie sich durch das beschwerliche, pfadlose Land. Die Luft schien
ihnen rauh zu werden und war erfüllt von einem bitteren Gestank, der
ihnen den Atem nahm und den Mund ausdörrte.
Am fünften Morgen, seit sie sich mit Gollum auf den Weg gemacht
hatten, hielten sie wieder einmal an. Dunkel in der Morgendämmerung
reckte sich das große Gebirge empor zu Hauben aus Rauch und Wolken.
Am Fuße des Gebirges erstreckten sich gewaltige Vorsprünge und zer-
klüftete Berge, von denen die nächsten kaum ein Dutzend Meilen entfernt
waren. Frodo blickte sich voll Entsetzen um. So grausig die Totensümpfe
und die unfruchtbaren Moore des Niemandslandes gewesen waren, weit
abscheulicher war das Land, das der herankriechende Tag seinen zurück-
schreckenden Augen enthüllte. Selbst zu dem Pfuhl der Toten Gesichter
würde ein abgehärmtes Trugbild des grünen Frühlings kommen; aber
hierher würden Frühling oder Sommer niemals wieder kommen. Hier
lebte nichts, nicht einmal die aussätzigen Gewächse, die von Fäulnis
zehren. Die schwer atmenden Tümpel waren bedeckt mit Asche und krie-
chendem Schlamm, widerwärtig weiß und grau, als ob das Gebirge den
Schmutz seiner Eingeweide über das Land gespien habe. Hohe Hügel von
zerbröckeltem und zermalmtem Fels, große Kegel aus verbrannter und
giftbefleckter Erde standen in endlosen Reihen da wie ein ekelhafter
Friedhof, der langsam in dem widerstrebenden Licht sichtbar wurde.
Sie waren zu der Einöde gekommen, die vor Mordor lag: das dauer-
hafte Denkmal der dunklen Arbeit seiner Hörigen, das bleiben sollte,
wenn alle ihre Ziele zunichte gemacht wären; ein geschändetes Land, un-
heilbar erkrankt — es sei denn, das Große Meer würde es überfluten und
mit Vergessenheit reinigen. »Mir ist schlecht«, sagte Sam. Frodo sprach
nicht.
Eine Weile standen sie da wie Männer am Rande eines Schlafs, in dem
ein Albtraum lauert, und den sie abwehren, obwohl sie wissen, daß sie
nur durch die Dunkelheit zum Morgen gelangen können. Das Licht brei-
tete sich aus und wurde härter. Die keuchenden Gruben und giftigen
Hügel wurden abscheulich klar. Die Sonne stand hoch zwischen Wolken
und langen Rauchfahnen, aber selbst das Sonnenlicht war geschändet. Die
Hobbits begrüßten dieses Licht nicht; unfreundlich erschien es ihnen, es
verriet sie in ihrer Hilflosigkeit — kleine piepsende Gespenster, die zwi-
schen den Aschenhaufen des Dunklen Herrschers einherwanderten.
Zu müde, um weiterzugehen, suchten sie nach irgendeinem Platz, wo
sie rasten konnten. Eine Weile saßen sie, ohne zu sprechen, im Schatten
eines Schlackenhügels; doch faule Dämpfe entströmten ihm, reizten ihre
Kehlen und nahmen ihnen den Atem. Gollum war der erste, der aufstand.
Spuckend und fluchend erhob er sich, und ohne ein Wort oder einen Blick
auf die Hobbits kroch er auf allen Vieren davon. Frodo und Sam krochen
ihm nach, bis sie zu einer breiten, fast runden Senke mit hohen Böschun-
gen nach Westen kamen. Sie war kalt und tot, und ein fauliger Sumpf
von öligem, vielfarbigem Schlick bedeckte ihren Boden. In diesem üblen
Loch kauerten sie sich nieder und hofften, in seinem Schatten der Auf-
merksamkeit des Auges zu entgehen.
Der Tag verging langsam. Ein großer Durst quälte sie, aber sie tranken
nur ein paar Tropfen aus ihren Flaschen — sie hatten sie zuletzt in der
Rinne gefüllt, die ihnen jetzt, wenn sie an sie zurückdachten, als ein Platz
des Friedens und der Schönheit erschien. Die Hobbits übernahmen ab-
wechselnd die Wache. Zuerst konnten sie beide überhaupt nicht schlafen,
so müde sie auch waren; doch als die Sonne in ferne, langsam ziehende
Wolken hinabsank, schlummerte Sam ein. Frodo war an der Reihe, Wache
zu halten. Er legte sich zurück auf den Abhang der Senke, aber das er-
leichterte das Gefühl der Bürde nicht, die auf ihm lastete. Er blickte hin-
auf zu dem rauchgestreiften Himmel und sah seltsame Trugbilder, dunkle,
reitende Gestalten und Gesichter aus der Vergangenheit. Er brachte die
Zeiten durcheinander und schwebte zwischen Schlaf und Wachsein, bis
ihn Vergessen überkam.
Plötzlich wachte Sam auf und glaubte, er habe seinen Herrn rufen
hören. Es war Abend. Frodo konnte nicht gerufen haben, denn er war
eingeschlafen und hinuntergerutscht fast bis auf den Grund der Senke.
Gollum war bei ihm. Einen Augenblick glaubte Sam, er wolle Frodo wek-
ken; dann sah er, daß dem nicht so war. Gollum redete mit sich selbst.
Sméagol war in einer Auseinandersetzung begriffen mit irgendeinem an-
deren Gedanken, der dieselbe Stimme gebrauchte, sie aber piepsen und
zischen ließ. Ein bleiches Funkeln und ein grünes Funkeln wechselten in
seinen Augen ab, während er sprach.
»Sméagol hat versprochen«, sagte der erste Gedanke.
»Ja, ja, mein Schatz«, kam die Antwort, »wir haben versprochen: un-
seren Schatz zu retten, damit Er ihn nicht bekommt — niemals. Aber er
geht zu Ihm, ja, mit jedem Schritt näher. Was will der Hobbit mit ihm
machen, das möchten wir wissen, ja, das möchten wir wissen.«
»Ich weiß es nicht. Ich kann's nicht ändern. Der Herr hat ihn. Sméagol
hat versprochen, dem Herrn zu helfen.«
»Ja, ja, dem Herrn zu helfen: dem Herrn des Schatzes. Aber wenn wir
der Herr wären, dann könnten wir uns selbst helfen, ja, und immer noch
das Versprechen halten.«
»Aber Sméagol sagte, er wolle sehr, sehr gut sein. Netter Hobbit! Er
nahm den grausamen Strick von Sméagols Bein ab. Er spricht freundlich
mit mir.«
»Sehr sehr gut, wie, mein Schatz? Laß uns gut sein, gut wie Fisch,
Süßer, aber nur zu uns. Dem netten Hobbit natürlich nicht weh tun, nein,
nein.«
»Aber bei dem Schatz haben wir das Versprechen abgegeben«, wandte
Sméagols Stimme ein.
»Dann nimm ihn«, sagte die andere, »und wir wollen ihn selbst behal-
ten! Dann werden wir der Herr sein, gollum! Laß den anderen Hobbit,
den häßlichen, mißtrauischen Hobbit, laß ihn kriechen, ja, gollum!«
»Aber nicht den netten Hobbit?«
»Ach nein, nicht, wenn es uns nicht gefällt. Immerhin ist er ein Beut-
lin, mein Schatz, ja, ein Beutlin. Ein Beutlin hat ihn gestohlen. Er fand
ihn und hat nichts gesagt, nichts. Wir hassen Beutlins.«
»Nein, nicht diesen Beutlin.«
»Doch, jeden Beutlin. Alle Leute, die den Schatz behalten. Wir müssen
ihn haben!«
»Aber Er wird es sehen. Er wird es wissen. Er wird ihn uns wegneh-
men!«
»Er sieht. Er weiß. Er hat gehört, wie wir das alberne Versprechen ab-
gaben — gegen Seinen Befehl, ja. Müssen ihn nehmen. Die Geister suchen.
Müssen ihn nehmen.«
»Nicht für Ihn!«
»Nein, Süßer. Schau, mein Schatz: wenn wir ihn haben, dann können
wir entfliehen, selbst vor Ihm, nicht wahr? Vielleicht werden wir sehr
stark, stärker als die Geister. Herr Sméagol? Gollum der Große? Der Gol-
lum! Jeden Tag Fisch essen, dreimal am Tag, frisch aus dem Meer. Aller-
höchster Gollum! Müssen ihn haben. Wir wollen ihn, wir wollen ihn, wir
wollen ihn!«
»Aber sie sind zwei. Sie werden zu schnell aufwachen und uns töten«,
wimmerte Sméagol mit letzter Anstrengung. »Nicht jetzt. Noch nicht.«
»Wir wollen ihn! Aber« — und hier gab es eine lange Pause, als ob ein
neuer Gedanke erwacht sei. »Noch nicht, wie? Vielleicht nicht. Sie könnte
helfen. Ja, Sie.«
»Nein, nein! So nicht!« jammerte Sméagol.
»Ja! Wir wollen ihn! Wir wollen ihn!«
Jedesmal, wenn der zweite Gedanke sprach, schob sich Gollums lange
Hand vor und tatschte nach Frodo, und dann wurde sie mit einem Ruck
zurückgezogen, wenn Sméagol wieder sprach. Schließlich schlössen sich
seine beiden Arme mit den langen gebogenen und zuckenden Fingern um
seinen Hals.
Sam hatte ganz still gelegen, gefesselt von dieser Auseinandersetzung,
aber jede Bewegung, die Gollum machte, unter seinen halbgeschlossenen
Lidern beobachtet. Seinem einfachen Gemüt war gewöhnlicher Hunger,
das Verlangen, Hobbits zu essen, als die Hauptgefahr erschienen, die von
Gollum ausging. Jetzt erkannte er, daß dem nicht so war: Gollum ver-
spürte die entsetzliche Anziehung des Ringes. Der Dunkle Herrscher war
natürlich Er; aber Sam zerbrach sich den Kopf, wer Sie wohl sei. Irgend
jemand, mit dem sich das arme Wurm auf seinen Wanderungen ange-
freundet hatte, vermutete er. Dann vergaß er diesen Punkt, denn die
Dinge waren deutlich zu weit gegangen und wurden gefährlich. Alle
seine Glieder waren mächtig schwer, aber er rappelte sich mühsam auf
und setzte sich hin. Etwas warnte ihn, vorsichtig zu sein und nicht zu zei-
gen, daß er die Auseinandersetzung mitangehört hatte. Er stieß einen
lauten Seufzer aus und gähnte herzhaft.
»Wie spät ist es?« fragte er verschlafen.
Gollum stieß einen langen Zischlaut durch die Zähne. Er stand einen
Augenblick auf, gespannt und drohend; und dann brach er zusammen,
fiel nach vom auf alle Viere und kroch die Böschung der Senke hinauf.
»Nette Hobbits! Netter Sam!« sagte er. »Schlafmützen, ja Schlafmützen!
Laßt den guten Sméagol wachen! Aber es ist Abend. Dämmerung
kriecht heran. Zeit, zu gehen.«
»Höchste Zeit«, dachte Sam. »Und auch Zeit, daß wir uns trennen.«
Dennoch kam ihm der Gedanke, ob es jetzt nicht ebenso gefährlich sei,
Gollum frei laufen zu lassen, als ihn bei ihnen zu behalten. »Verflucht
soll er sein! Ich wünschte, er würde erwürgt!« murmelte er. Er stolperte
die Böschung hinunter und weckte seinen Herrn.
Seltsam, aber Frodo fühlte sich erfrischt. Er hatte geträumt. Der dunkle
Schatten war vorübergezogen, und ein schönes Wunschbild hatte ihn in
diesem Land der Krankheit heimgesucht. Nichts blieb davon in seiner Er-
innerung, dennoch war er dieses Traums wegen froh, und ihm war leich-
ter ums Herz. Seine Bürde lastete weniger auf ihm. Gollum begrüßte ihn
mit hundeähnlicher Freundlichkeit. Er kicherte und schwatzte, ließ seine
langen Finger knacken und tätschelte Frodos Knie. Frodo lächelte ihn an.
»Komm!« sagte er. »Du hast uns gut und treu geführt. Dies ist der
letzte Abschnitt. Bring uns zum Tor, und dann werde ich nicht von dir
verlangen, weiterzugehen. Bring uns zum Tor, und du magst gehen,
wohin du willst — nur nicht zu unseren Feinden.«
»Zum Tor, wie?« quietschte Gollum, offenbar überrascht und er-
schreckt. »Zum Tor, sagt der Herr! Ja, so sagt er. Und der gute Sméagol
tut, um was er bittet, o ja. Aber wenn wir näher kommen, werden wir
vielleicht sehen, dann werden wir sehen. Es wird gar nicht nett aussehen.
0 nein! O nein!«
»Los mit dir!« sagte Sam. »Nun wollen wir's hinter uns bringen!«
In der herabsinkenden Dämmerung kletterten sie aus der Senke heraus
und suchten sich langsam ihren Weg durch das tote Land. Sie waren noch
nicht weit gegangen, da verspürten sie wiederum die Angst, die sie befal-
len hatte, als die geflügelte Gestalt über die Sümpfe gefegt war. Sie blie-
ben stehen und kauerten sich auf den übelriechenden Boden; aber sie
sahen nichts am düsteren Abendhimmel, und bald zog die Drohung vor-
über, hoch über ihren Köpfen, vielleicht ausgesandt zu einem raschen
Auftrag von Barad-dûr. Nach einer Weile stand Gollum auf und kroch
wieder weiter, murrend und zitternd.
Etwa eine Stunde nach Mittemach befiel sie die Furcht ein drittes Mal,
aber jetzt schien es entfernter zu sein, als ob das Wesen mit entsetzlicher
Geschwindigkeit hoch über den Wolken gen Westen flöge. Gollum war
indes hilflos vor Entsetzen und überzeugt, daß sie gejagt würden, daß ihr
Kommen bekannt sei.
»Dreimal!« wimmerte er. »Dreimal ist eine Drohung. Sie spüren uns
hier, sie spüren den Schatz. Der Schatz ist ihr Herr. Wir können auf die-
sem Weg nicht weitergehen, nein. Es hat keinen Zweck, keinen Zweck!«
Bitten und freundliche Worte nützten nichts mehr. Erst als Frodo es
ihm wütend befahl und die Hand auf den Schwertgriff legte, stand Gol-
lum wieder auf. Dann endlich erhob er sich knurrend und ging wie ein
geprügelter Hund vor ihnen her.
So stolperten sie weiter durch das beschwerliche Ende der Nacht, und
bis zur Ankunft eines weiteren Tages der Angst gingen sie schweigend
mit gesenkten Köpfen; sie sahen nichts und hörten nichts als das Brausen
des Windes in ihren Ohren.

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