VIERTES BUCH

ERSTES KAPITEL
SMÉAGOLS ZÄHMUNG

»Ja, Herr, jetzt sitzen wir wirklich in der Patsche«, sagte Sam Gam-
dschie. Verzagt stand er neben Frodo, ließ die Schultern hängen und starrte
mit zusammengekniffenen Augen hinaus in die Düsternis.
Es war der dritte Abend, seit sie sich von der Gemeinschaft getrennt
hatten, soweit sie wußten: fast waren sie mit dem Zählen der Stunden
durcheinandergekommen, in denen sie geklettert und zwischen den kahlen
Hängen und Felsen des Emyn Muil herumgeirrt waren; manchmal muß-
ten sie umkehren, weil es nicht weiterging, und manchmal wanderten sie
in einem großen Kreis zu einer Stelle zurück, an der sie schon vor Stun-
den gewesen waren. Dennoch hatten sie sich im großen und ganzen stetig
nach Osten vorgearbeitet und sich so nahe am äußeren Kamm dieses selt-
sam verflochtenen Knäuels von Bergen gehalten, wie sie nur einen Weg
finden konnten. Doch immer fanden sie, daß die äußeren Bergseiten steil,
hoch und unwegsam waren und finster auf die Ebene hinabblickten; hin-
ter ihren durcheinandergewürfelten Ausläufern lagen fahle, faulige
Sümpfe, wo nichts sich bewegte und nicht einmal ein Vogel zu sehen war.
Die Hobbits standen jetzt am Rande einer hohen, kahlen und düsteren
Felswand, deren Fuß in Nebel gehüllt war; hinter ihnen erhob sich das
zerklüftete Hochland, gekrönt von ziehenden Wolken. Ein kalter Wind
blies von Osten. Die Nacht verdichtete sich über den gestaltlosen Landen
vor ihnen; ihr blasses Grün verblich zu einem düsteren Braun. Fern zu
ihrer Rechten floß der Anduin, der während des Tages dann und wann
aufgeschimmert hatte, wenn die Sonne durchbrach; jetzt war er in Schat-
ten verborgen. Aber ihre Augen blickten nicht über den Fluß hinweg zu-
rück nach Gondor, zu ihren Freunden, zu den Landen der Menschen.
Nach Süden und Osten starrten sie, wo am Rande der nahenden Nacht
eine dunkle Linie zu erkennen war wie ein fernes Gebirge von bewe-
gungslosem Rauch. Dann und wann flackerte an der Kimm zwischen
Himmel und Erde ein winziger roter Schimmer auf.
»Was für eine Patsche!« sagte Sam. »Das ist der einzige Ort in all den
Landen, von denen wir gehört haben, den wir nicht von nah sehen wol-
len; und genau das ist der einzige Ort, an den wir zu gelangen suchen!
Und gerade da können wir ganz und gar nicht hinkommen. Wir sind den
falschen Weg gekommen, scheint es. Wir können nicht hinunter; und
wenn wir hinunterkämen, würden wir feststellen, daß das ganze grüne
Land ein ekelhaftes Moor ist, da wette ich. Pfui! Riechst du es?« Er
schnupperte im Wind.
»Ja, ich rieche es«, sagte Frodo, aber er rührte sich nicht, und seine
Augen blickten weiterhin starr auf die dunkle Linie und die flackernde
Flamme. »Mordor!« flüsterte er. »Wenn ich schon da hingehen muß,
dann wünschte ich, ich könnte schnell hinkommen und Schluß machen!«
Ihm schauderte. Der Wind war kühl und dennoch geschwängert mit
einem kalten Modergeruch. »Nun ja«, sagte er und wandte endlich seinen
Blick ab, »wir können nicht die ganze Nacht hierbleiben, Patsche oder
nicht. Wir müssen eine geschütztere Stelle finden und noch einmal
lagern; und vielleicht wird der nächste Tag uns einen Pfad zeigen.«
»Oder der übernächste und der überübernächste«, brummte Sam.
»Oder vielleicht gar kein Tag. Wir sind den falschen Weg gekommen.«
»Ich wüßte es gern«, sagte Frodo. »Es ist mein Schicksal, glaube ich, zu
diesem Schatten da drüben zu gehen, so daß ein Weg sich finden wird.
Aber wird Gut oder Böse ihn mir zeigen? Unsere Hoffnung beruhte auf
Schnelligkeit. Verzug spielt dem Feind in die Hände — und jetzt haben
wir's: ich bin im Verzug. Ist es der Wille des Dunklen Turms, der uns
lenkt? Alle meine Entscheidungen haben sich als schlecht erwiesen. Ich
hätte die Gemeinschaft schon viel früher verlassen und von Norden her
kommen sollen, östlich des Stroms und des Emyn Muil, und dann weiter
über den festen Grund und Boden der Walstatt bis zu den Pässen von
Mordor. Aber jetzt können du und ich allein den Weg zurück nicht fin-
den, und die Orks streifen auf dem Ostufer umher. Jeder Tag, der ver-
geht, bedeutet, daß ein kostbarer Tag verloren ist. Ich bin müde, Sam. Ich
weiß nicht, was wir machen sollen. Was haben wir noch an Verpfle-
gung?«
»Nur diese, wie heißen sie, lembas, Herr Frodo. Eine ganze Menge.
Aber sie sind besser als nichts auf die Dauer. Obwohl ich damals, als ich
sie zuerst zwischen die Zähne steckte, nicht glaubte, daß ich mir jemals
eine Abwechslung wünschen würde. Jetzt tue ich es aber: ein Stück ein-
faches Brot und ein Krug — ach, ein halber Krug Bier, die würden richtig
rutschen. Den ganzen Weg vom letzten Lager habe ich mein Kochgeschirr
mitgeschleppt, und was hat es genützt? Nichts, um Feuer zu machen, da-
mit fängt's schon an; und nichts zu kochen, nicht mal Gras!«
Sie drehten sich um und gingen hinunter in eine steinige Senke. Die im
Westen untergehende Sonne versank in Wolken, und die Nacht kam
rasch. Abwechselnd schliefen sie, so gut sie bei der Kälte konnten, in
einer Kuhle zwischen großen gezackten Zinnen von verwittertem Fels;
wenigstens waren sie vor dem Ostwind geschützt.
»Hast du sie wieder gesehen, Herr Frodo?« fragte Sam, als sie im kal-
ten frühen Morgengrauen steif und verfroren dasaßen und lembas kauten.
»Nein«, sagte Frodo. »Seit zwei Nächten habe ich nichts gehört und
nichts gesehen.«
»Ich auch nicht«, sagte Sam. »Br! Diese Augen haben mir wirklich
Angst gemacht! Aber vielleicht haben wir ihn endlich abgeschüttelt, den
elenden Schleicher. Gollum! Ich will ihm gollum in die Kehle geben,
wenn ich je seinen Hals in die Finger bekomme.«
»Ich hoffe, das wirst du nicht brauchen«, sagte Frodo. »Ich weiß nicht,
wie er uns gefolgt ist; aber vielleicht hat er uns wieder verloren, wie du
sagst. In diesem trockenen, öden Land können wir nicht viele Fußab-
drücke oder Witterung hinterlassen, nicht einmal für seine schnüffelnde
Nase.«
»Ich hoffe, so ist es«, sagte Sam. »Ich wünschte, wir könnten ihn ein
für allemal loswerden!«
»Ich auch«, sagte Frodo, »aber er ist nicht meine Hauptsorge. Ich
wünschte, wir könnten von diesen Bergen wegkommen! Ich hasse sie. Ich
fühle mich ganz nackt auf der Ostseite, so aufgepflanzt hier mit nichts als
dem toten Flachland zwischen mir und diesem Schatten da drüben. Da ist
ein Auge drin. Komm weiter! Wir müssen heute irgendwie hinunterkom-
men.«
Aber der Tag zog sich hin, und als der Nachmittag in den Abend
überging, kletterten sie immer noch an dem Grat entlang und hatten kei-
nen Ausweg gefunden.
Manchmal bildeten sie sich in der Stille des wüsten Landes ein, daß sie
schwache Geräusche hinter sich hörten, einen fallenden Stein oder den
Schritt tapsender Füße auf dem Felsen. Doch wenn sie anhielten und
lauschten, hörten sie nichts mehr, nichts als den Wind, der seufzend über
die Kanten der Steine fuhr — doch selbst das erinnerte sie an Atem, der
leise zwischen scharfen Zähnen zischte.
Den ganzen Tag, während sie sich vorankämpften, hatte sich der
äußere Kamm des Emyn Muil allmählich nach Norden gezogen. An sei-
nem Rand erstreckte sich jetzt eine weite abfallende Ebene von zerklüfte-
tem und verwittertem Fels, hier und dort durchschnitten von grabenarti-
gen Rinnen, die sich steil hinunterzogen zu tiefen Klüften in der Fels-
wand. Um einen Pfad in diesen Schluchten zu finden, die immer tiefer
und häufiger wurden, mußten sich Frodo und Sam nach links halten,
ziemlich weit weg von der Kante, und sie merkten gar nicht, daß sie
schon mehrere Meilen langsam, aber stetig bergab gegangen waren: die
Oberkante der Felswand näherte sich der Ebene des Tieflandes.
Schließlich wurden sie zum Anhalten gezwungen. Der Grat machte
jetzt eine schärfere Kehre nach Norden und wurde durch eine tiefere
Schlucht unterbrochen. Auf der anderen Seite stieg er wieder an, viele
Klafter in einem einzigen Sprung: eine große graue Felswand erhob sich
vor ihnen, jäh abgeschnitten wie mit dem Messer. Sie konnten nicht wei-
ter geradeaus gehen, sondern mußten sich entweder nach Westen oder
Osten halten. Aber im Westen würden sie nur in neue Mühsal und Ver-
zögerungen geraten und zurück zum Herzen der Berge kommen; im
Osten würden sie zum äußeren Abhang gelangen.
»Es bleibt nichts übrig, als diese Rinne hinunterzuklettern, Sam«, sagte
Frodo. »Laß uns sehen, wo sie hinführt!«
»In einen scheußlichen Abgrund, da wette ich«, sagte Sam.
Die Kluft war länger und tiefer, als es den Anschein gehabt hatte. Ein
Stück weiter unten fanden sie ein paar knorrige und verkrüppelte Bäume,
die ersten, die sie seit Tagen sahen: größtenteils verkrüppelte Birken und
hier und dort eine Tanne. Viele waren abgestorben und dürr, bis aufs
Mark von den Ostwinden zerbissen. Einst in milderen Tagen mußte es ein
recht dichtes Gebüsch in der Schlucht gewesen sein, aber jetzt hörten die
Bäume nach etwa fünfundzwanzig Klaftern auf, obwohl sich alte, gebor-
stene Stumpen fast bis zum Rand der Felswand hinzogen. Der Boden der
Rinne, die an einer Felsverwerfung entlanglief, war uneben durch abge-
splitterte Steine und fiel steil ab. Als sie schließlich an ihrem Ende ange-
langt waren, beugte Frodo sich vor und sah über den Rand.
»Schau!« sagte er. »Wir müssen ein schönes Stück heruntergekommen
sein, oder aber die Felswand ist niedriger geworden. Hier ist sie viel nied-
riger als vorher und sieht leichter aus.«
Sam kniete sich neben ihn und schaute widerstrebend hinunter. Dann
blickte er hinauf zu der großen Felswand, die sich zu ihrer Linken erhob.
»Leichter!« brummte er. »Na ja, ich nehme an, es ist immer leichter, hin-
unter- als hinaufzugehen. Wer nicht fliegen kann, kann springen.«
»Das wäre allerdings ein großer Sprung«, sagte Frodo. »Ungefähr, na
ja ...« er maß die Entfernung kurz mit den Augen — »ungefähr achtzehn
Klafter, würde ich schätzen. Nicht mehr.«
»Und das ist genug!« sagte Sam. »Uff! Wie ich es hasse, von einer
Höhe hinunterzusehen. Aber sehen ist besser als klettern.«
»Trotzdem glaube ich«, sagte Frodo, »wir könnten hier klettern; und
ich glaube, wir werden es versuchen müssen. Schau, der Fels ist ganz an-
ders als vor ein paar Meilen. Er hat sich gesenkt und ist rissig geworden.«
Tatsächlich war die Außenseite nicht mehr steil, sondern neigte sich
ein wenig nach außen. Sie sah wie ein großer Festungswall oder ein
Hafendamm aus, deren Grundmauern sich verlagert hatten, so daß sich
ihre Schichten verschoben hatten und durcheinander geraten waren, und
große Spalten und lange schräge Vorspränge waren zurückgeblieben, die
stellenweise die Breite von Treppenstufen hatten.
»Und wenn wir versuchen wollen, hier herunterzukommen, dann ver-
suchen wir es besser gleich. Es wird früh dunkel. Ich glaube, es gibt ein
Gewitter.«
Der rauchige Dunst des Gebirges im Osten verlor sich in einer tieferen
Schwärze, die sich schon mit langen Armen westwärts ausstreckte. Der
aufkommende Wind trug ein fernes Donnergrollen herüber. Frodo
schnupperte in der Luft und warf einen zweifelnden Blick zum Himmel.
Er schnallte sich den Gürtel über den Mantel, zog ihn fest und hängte
sich seinen leichten Rucksack über den Rücken. Dann trat er an den
Rand. »Ich will's versuchen«, sagte er.
»Sehr gut«, sagte Sam finster. »Aber ich gehe zuerst.«
»Du?« fragte Frodo. »Wieso, hast du deine Ansicht über das Klettern
geändert?«
»Ich habe meine Ansicht nicht geändert. Aber es ist nur vernünftig:
den nach unten zu tun, der am wahrscheinlichsten ausrutschen wird. Ich
will nicht auf dich drauffallen und dich mitreißen — sinnlos, zwei mit
einem Sturz umzubringen.«
Ehe Frodo ihn davon abhalten konnte, setzte er sich hin, schwang die
Beine über den Rand, drehte sich um und suchte mit den Zehen nach
einem Platz zum Stehen. Es ist zweifelhaft, ob er kaltblütig jemals etwas
getan hat, das tapferer oder unvernünftiger war.
»Nein, nein, Sam, du alter Esel!« sagte Frodo. »Du bringst dich be-
stimmt um, wenn du da runtergehst, ohne auch nur einen Blick, um zu
sehen, wo du eigentlich hinwillst. Komm zurück!« Er packte Sam unter
den Achselhöhlen und zog ihn wieder herauf. »Nun warte ein bißchen
und habe Geduld!« sagte er. Dann legte er sich auf den Boden, beugte
sich vor und schaute hinunter; aber das Licht schien rasch zu schwinden,
obwohl die Sonne noch nicht untergegangen war. »Ich glaube, hier kön-
nen wir es schaffen«, sagte er plötzlich. »Ich jedenfalls könnte es; und du
auch, wenn du nicht den Kopf verlierst, sondern mir genau folgst.«
»Ich weiß nicht, wie du so sicher sein kannst«, sagte Sam. »Bei diesem
Licht kannst du ja gar nicht bis unten sehen. Und wenn du nun zu einer
Stelle kommst, wo es nichts gibt, wo du deine Füße oder Hände hinsetzen
kannst?«
»Dann klettere ich eben zurück, nehme ich an«, sagte Frodo.
»Leicht gesagt«, wandte Sam ein. »Besser, bis zum Morgen warten,
wenn es heller ist.«
»Nein, nicht, wenn ich's vermeiden kann«, sagte Frodo mit einer seltsa-
men, plötzlichen Heftigkeit. »Mir ist es um jede Stunde, um jede Minute
leid. Ich gehe jetzt hinunter und versuche es. Bleibe oben, bis ich zurück-
komme oder dich rufe!«
Er hielt sich mit den Händen an der steinernen Kante des Abhangs fest
und ließ sich langsam hinab, und erst, als seine Arme fast ganz ausge-
streckt waren, fanden seine Zehen einen Vorsprung. »Ein Schritt nach un-
ten«, sagte er. »Und dieser Vorsprung verbreitert sich nach rechts. Da
könnte ich sogar stehen, ohne mich festzuhalten. Ich will...« Seine
Worte wurden jäh unterbrochen.
Die eilende Dunkelheit, die jetzt immer schneller wurde, brauste vom
Osten heran und verschlang den Himmel. Es gab einen trockenen, durch-
dringenden Donnerschlag unmittelbar über ihnen. Sengende Blitze fuhren
zwischen den Bergen nieder. Dann setzte ein wütender Sturm ein, und
vermischt mit seinem Brausen kam ein hoher, schriller Schrei. Genauso
einen Schrei hatten die Hobbits fern von hier im Bruch gehört, nachdem
sie Hobbingen verlassen hatten, und selbst dort in den Wäldern des
Auenlandes war ihnen das Blut in den Adern erstarrt. Hier draußen in
der Wildnis war der Schrecken noch weit größer; er durchbohrte sie mit
kalten Klingen des Entsetzens und der Verzweiflung, Herz und Atem
stockte ihnen. Sam fiel flach aufs Gesicht. Unwillkürlich legte Frodo die
Hände über den Kopf und die Ohren und hielt sich nicht mehr fest. Er
schwankte, rutschte und schlitterte mit einem Wehgeschrei abwärts.
Sam hört ihn und kroch mit letzter Anstrengung an den Rand. »Herr,
Herr!« rief er. »Herr!«
Es kam keine Antwort. Sam zitterte am ganzen Leibe, aber er holte tief
Luft und schrie noch einmal: »Herr!« Der Wind schien seine Stimme in
seine Kehle zurückzublasen, aber als er vorbeizog, die Rinne hinaufbrau-
ste und dann über die Berge hinweg, drang ein leiser, antwortender Ruf
an sein Ohr:
»Schon gut, schon gut! Ich bin hier. Aber ich kann nichts sehen.«
Frodo rief mit schwacher Stimme. Tatsächlich war er gar nicht weit
weg. Er war geschlittert und nicht gefallen und mit einem Ruck auf einem
breiteren Vorsprung, nur ein paar Ellen tiefer, wieder auf die Beine ge-
kommen. Zum Glück war die Felswand an dieser Stelle eingebaucht, und
der Wind hatte ihn gegen die Wand gedrückt, so daß er nicht vornüber
gekippt war. Er stützte sich etwas ab, legte sein Gesicht an den kalten
Stein und fühlte, wie sein Herz schlug. Aber entweder war es völlig dun-
kel geworden, oder seine Augen hatten die Sehkraft verloren. Alles war
schwarz um ihn. Er fragte sich, ob er blind geworden sei. Er holte tief Luft.
»Komm zurück! Komm zurück!« hörte er Sams Stimme aus der
Schwärze oben.
»Ich kann nicht«, sagte er. »Ich kann nicht sehen. Ich kann mich nicht
festhalten. Ich kann mich noch nicht bewegen.«
»Was kann ich tun, Herr Frodo? Was kann ich tun?« rief Sam und
beugte sich gefährlich weit vor. Warum konnte sein Herr nicht sehen? Es
war düster, gewiß, aber doch nicht so dunkel. Er sah Frodo unter sich,
eine graue, verlorene Gestalt, gegen den Felsen gelehnt. Aber er war weit
außerhalb der Reichweite einer helfenden Hand.
Es gab einen weiteren Donnerschlag; und dann kam der Regen. In
Strömen, mit Hagel vermischt, peitschte er gegen den Felsen, bitterkalt.
»Ich komme runter zu dir«, schrie Sam, obwohl er nicht hätte sagen
können, wie er ihm eigentlich zu Hilfe kommen sollte.
»Nein, nein, warte!« rief Frodo, jetzt schon etwas lauter. »Mir wird's
bald bessergehen. Ich fühle mich schon besser. Warte! Du kannst nichts
tun ohne ein Seil.«
»Ein Seil!« rief Sam und redete in seiner Aufregung und Erleichterung
wirres Zeug. »Ja, wenn ich's nicht verdiene, am Ende von einem aufge-
hängt zu werden als Warnung für Dummköpfe. Nichts als ein Tölpel bist
du, Sam Gamdschie: oft genug hat der Ohm das zu mir gesagt, eine ste-
hende Redensart von ihm. Ein Seil!«
»Hör mit Schwätzen auf!« rief Frodo, der sich jetzt so weit erholt hatte,
daß er zugleich belustigt und verärgert war. »Laß den Ohm aus dem
Spiel! Soll dein Gerede bedeuten, daß du ein Seil in der Tasche hast?
Wenn ja, dann heraus damit!«
»Ja, Herr Frodo, in meinem Rucksack. Hunderte von Meilen habe ich's
mitgeschleppt und schlankweg vergessen!«
»Dann mach dich an die Arbeit und laß ein Ende herunter!«
Rasch nahm Sam seinen Rucksack und wühlte darin. Tatsächlich lag
auf dem Boden eine Rolle des seidig-grauen Seils, das das Volk von Lórien
angefertigt hatte. Er warf seinem Herrn ein Ende zu. Die Dunkelheit löste
sich von Frodos Augen, oder sein Sehvermögen kehrte zurück. Er konnte
die graue Leine sehen, wie sie baumelnd herunterkam, und er glaubte,
einen schwachen Silberschein zu sehen. Jetzt, da er einen Punkt in der
Dunkelheit hatte, auf den er seinen Blick richten konnte, war ihm weni-
ger schwindlig. Er beugte sich vor, knotete sich das Ende um die Körper-
mitte und packte die Leine dann mit beiden Händen.
Sam trat einen Schritt zurück, stemmte die Füße gegen einen Baum-
stumpf ein paar Ellen vom Rand entfernt. Halb gezogen, halb kletternd
kam Frodo herauf und warf sich auf den Boden.
Donner grummelte und rumpelte in der Feme, und es regnete noch
stark. Die Hobbits krochen in die Rinne zurück; aber sie fanden da nicht
viel Schutz. Bächlein begannen herabzurinnen; bald wurden sie zu einer
Flut, die auf den Steinen spritzte und schäumte und über den Felsen spru-
delte wie aus den Traufen eines großen Daches.
»Ich wäre da unten halb ertrunken oder einfach weggespült worden«,
sagte Frodo. »Welch Glück, daß du das Seil hattest.«
»Mehr Glück, wenn ich früher daran gedacht hätte«, sagte Sam. »Viel-
leicht erinnerst du dich, daß sie die Seile in die Boote legten, als wir auf-
brachen: in dem elbischen Land. Ich hatte Gefallen an ihnen gefunden
und verstaute eine Rolle in meinem Rucksack. Jahrelang her, so kommt's
mir vor. >Sie mögen eine Hilfe sein in manchen Notlagen<, sagte er: Hal-
dir oder einer von diesen Leuten. Und er hat recht gehabt.«
»Ein Jammer, daß ich nicht daran gedacht habe, auch eine Rolle mitzu-
nehmen«, sagte Frodo. Aber ich habe die Gemeinschaft in solcher Eile
und Verwirrung verlassen. Wenn wir genug davon hätten, könnten wir
das Seil benutzen, um hinunterzukommen. Wie lang ist dein Stück eigent-
lich?«
Sam rollte es langsam ab und maß es mit dem Arm: »Fünf, zehn,
zwanzig, dreißig Ellen, mehr oder weniger«, sagte er.
»Wer hätte das gedacht!« rief Frodo.
»Ja, wer wohl?« sagte Sam. »Elben sind wunderbare Leute. Es sieht ein
bißchen dünn aus, aber es ist fest und in der Hand weich wie Milch.
Packt sich auch gut zusammen und ist federleicht. Wunderbare Leute, be-
stimmt!«
»Dreißig Ellen«, sagte Frodo nachdenklich. »Ich glaube, das würde rei-
chen. Wenn das Gewitter vorbei ist, ehe die Nacht hereinbricht, dann will
ich's versuchen.«
»Der Regen hat schon fast aufgehört«, sagte Sam. »Aber mach nicht
wieder irgend was Gefährliches im Dunkeln, Herr Frodo! Und ich bin
noch nicht über diesen Schrei bei dem Sturm weggekommen, oder du
etwa? Wie ein Schwarzer Reiter klang es — aber einer hoch oben in der
Luft, als ob sie fliegen können. Ich glaube, wir lassen diesen Versuch lie-
ber, bis die Nacht vorbei ist.«
»Und ich glaube, ich möchte nicht einen Augenblick länger, als es sein
muß, auf diesem Grat festsitzen, während die Augen des Dunklen Landes
über die Sümpfe herüberstarren«, sagte Frodo.
Damit stand er auf und ging wieder zum Grund der Rinne hinunter. Er
schaute hinaus. Im Osten wurde der Himmel wieder klar. Die Ränder der
zerfetzten und nassen Gewitterwolken hoben sich, die Hauptschlacht
hatte sich verzogen und breitete ihre großen Flügel über dem Emyn Muil
aus, über dem Saurons dunkle Gedanken eine Weile schwebten. Von dort
wandten sie sich ab, stießen mit Hagel und Blitz auf das Tal des Anduin
nieder und warfen ihren Schatten mit der Drohung des Krieges auf Minas
Tirith. Dann senkten sie sich auf das Gebirge, sammelten ihre großen
Flammenzungen und zogen langsam über Gondor und die Außenbezirke
von Rohan, bis die Reiter auf der fernen Ebene, als sie gen Westen ritten,
sahen, wie sich schwarze Massen hinter der Sonne auftürmten. Aber
hier, über der Wüstenei und den üble Dünste ausströmenden Sümpfen
war der tiefblaue Abendhimmel wieder offen, und ein paar bleiche Sterne
erschienen wie kleine weiße Löcher im Himmelszelt über dem zunehmen-
den Mond.
»Es tut gut, wieder sehen zu können«, sagte Frodo und atmete tief.
»Weißt du, daß ich eine Weile glaubte, ich hätte mein Augenlicht verlo-
ren? Von dem Blitz oder etwas noch Schlimmeren. Ich konnte nichts
sehen, überhaupt nichts, bis das graue Seil herunterkam. Es schien
irgendwie zu schimmern.«
»Es sieht sozusagen silbern im Dunkeln aus«, sagte Sam. »Hab es nie
vorher bemerkt, allerdings kann ich mich auch nicht erinnern, daß ich es
je herausgeholt habe, nachdem ich es einmal verstaut hatte. Aber wenn
du so entschlossen bist, zu klettern, Herr Frodo, wie willst du es dann
verwenden? Dreißig Ellen, oder sagen wir zehn Klafter: deiner Schätzung
nach ist die Felswand nicht höher.«
Frodo dachte eine Weile nach. »Mach es an dem Baumstumpf fest,
Sam«, sagte er. »Dann sollst du, glaube ich diesmal deinen Willen haben
und als erster gehen. Ich werde dich hinunterlassen, und du brauchst
nicht mehr zu tun, als dich mit Händen und Füßen vom Felsen abzusto-
ßen. Allerdings, wenn du ab und zu mit deinem ganzen Gewicht auf
einige der Vorsprünge trittst und mir eine Ruhepause gönnst, wird das
hilfreich sein. Wenn du unten bist, komme ich nach. Ich fühle mich jetzt
wieder ganz gut.«
»Sehr schön«, sagte Sam bedrückt. »Wenn es schon sein muß, dann
wollen wir es gleich hinter uns bringen!« Er nahm das Seil und befestigte
es an dem Baumstumpf, der dem Rand am nächsten war; das andere Ende
knüpfte er sich dann um den Leib. Widerstrebend drehte er sich um und
schickte sich an, zum zweiten Mal den Weg nach unten anzutreten.
Es erwies sich jedoch als nicht halb so schlimm, wie er erwartet hatte.
Das Seil schien ihm Zuversicht einzuflößen, obwohl er mehr als einmal
die Augen schloß, wenn er nach unten zwischen seine Füße sah. Eine un-
angenehme Stelle kam, wo es keinen Vorsprung gab und die Felswand
steil und ein kurzes Stück sogar unterhöhlt war; da rutschte er ab und
baumelte an der silbernen Leine. Aber Frodo ließ ihn langsam und stetig
hinab, und schließlich war es überstanden. Seine größte Angst war gewe-
sen, daß das Seil zu Ende sein könnte, während er noch hoch oben war,
doch hatte Frodo noch eine gute Bucht in der Hand, als Sam auf dem
Boden anlangte und rief: »Ich bin unten!« Seine Stimme drang deutlich
herauf, aber Frodo konnte ihn nicht sehen; sein grauer Elbenmantel ver-
schwamm im Zwielicht.
Frodo brauchte etwas mehr Zeit, um ihm zu folgen. Er hatte das Seil
um den Leib und oben war es fest, und er hatte es gekürzt, so daß es ihn
hochziehen würde, ehe er den Boden erreichte; er wollte die Gefahr eines
Sturzes ausschalten, denn er hatte nicht ebensoviel Zutrauen zu dieser
dünnen, grauen Leine wie Sam. Dennoch gab es zwei Stellen, an denen er
sich ganz und gar der Leine anvertrauen mußte: glatte Flächen, wo selbst
seine kräftigen Hobbitfinger keinen Halt fanden, und die Vorsprünge
waren weit auseinander. Aber schließlich war auch er unten.
»Gut!« rief er. »Wir haben's geschafft! Wir sind dem Emyn Muil ent-
kommen. Und was kommt nun, frage ich mich? Vielleicht werden wir uns
bald wieder nach gutem, hartem Felsen unter den Füßen sehnen.«
Aber Sam antwortete nicht: er starrte zurück auf die Felswand. »Töl-
pel!« sagte er. »Dummköpfe! Mein schönes Seil! Da ist es an einen Baum-
stumpf geknüpft, und wir sind unten. Eine so nette kleine Treppe für den
schleichenden Gollum, wie wir nur hinterlassen konnten. Am besten stel-
len wir noch ein Schild auf, damit er weiß, welchen Weg wir gegangen
sind. Ich fand, es ging alles ein bißchen zu glatt.«
»Wenn du dir eine andere Möglichkeit vorstellen kannst, wie wir beide
das Seil hätten benutzen und es dennoch mit herunterbringen können,
dann darfst du den Tölpel oder jeden anderen Namen, den der Ohm dir
gab, an mich weiterreichen«, sagte Frodo. »Klettere hinauf, mach es los
und laß dich selbst hinunter, wenn du willst!«
Sam kratzte sich den Kopf. »Nein, ich kann mir auch nicht vorstellen,
wie, ich bitte um Entschuldigung«, sagte er. »Aber ich lasse es nicht gern
dort, und das ist eine Tatsache.« Er streichelte das Seil und schüttelte es
sanft. »Es fällt mir schwer, mich von irgend etwas zu trennen, was ich
aus dem Elbenland mitgebracht habe. Vielleicht hat Galadriel es sogar
selbst gemacht. Galadriel«, murmelte er und nickte traurig mit dem Kopf.
Er schaute hinauf und zog zum letzten Mal an dem Seil, gleichsam zum
Abschied.
Zur völligen Überraschung der beiden Hobbits kam es los. Sam fiel
vornüber, und das lange graue Seil glitt leise herunter und blieb auf ihm
liegen. Frodo lachte. »Wer hat das Seil geknotet?« fragte er. »Gut, daß
es wenigstens so lange gehalten hat. Wenn ich daran denke, daß ich dei-
nem Knoten mein ganzes Gewicht anvertraut habe!«
Sam lachte nicht. »Vielleicht bin ich nicht tüchtig beim Klettern, Herr
Frodo«, sagte er in beleidigtem Ton, »aber von Seilen und Knoten ver-
stehe ich etwas. Es liegt in der Familie, könnte man sagen. Schließlich
hatten mein Großvater und nach ihm mein Onkel Andi, was der älteste
Bruder vom Ohm ist, viele Jahre eine Seilerbahn drüben in Reepfeld. Und
ich habe einen so festen Knoten an dem Baumstumpf gemacht, wie nur
irgendeiner im Auenland oder sonstwo ihn hätte machen können.«
»Dann muß das Seil gerissen sein — aufgescheuert an der Felskante,
nehme ich an«, sagte Frodo.
»Ich wette, das ist es nicht!« sagte Sam mit einer noch beleidigteren
Stimme. Er bückte sich und untersuchte die Enden. »Nein, das ist es auch
nicht. Nicht eine Strähne.«
»Dann, fürchte ich, muß es doch der Knoten gewesen sein«, sagte
Frodo.
Sam schüttelte den Kopf und antwortete nicht. Nachdenklich ließ er das
Seil durch die Finger gleiten. »Du kannst es halten, wie du willst, Herr
Frodo«, sagte er schließlich, »aber ich glaube, das Seil kam von selbst
herunter — als ich rief.« Er rollte es auf und verstaute es liebevoll in sei-
nem Rucksack.
»Jedenfalls kam es«, sagte Frodo, »und das ist die Hauptsache. Aber
jetzt müssen wir uns unseren nächsten Schritt überlegen. Es wird bald
Nacht sein. Wie schön die Sterne sind und der Mond!«
»Dabei geht einem wirklich das Herz auf, nicht wahr?« sagte Sam und
schaute hinauf. »Eibisch sind sie irgendwie. Und der Mond nimmt zu. Ein
oder zwei Nächte haben wir ihn bei diesem wolkigen Wetter gar nicht ge-
sehen. Er scheint schon ziemlich hell.«
»Ja«, sagte Frodo, »aber es dauert noch ein paar Tage, bis er voll ist.
Ich glaube, wir wollen es mit den Sümpfen lieber nicht beim Licht eines
halben Mondes versuchen.«
In den ersten Schatten der Nacht machten sie sich auf zum nächsten
Abschnitt ihrer Wanderung. Nach einer Weile schaute Sam sich um und
blickte dorthin zurück, woher sie gekommen waren. Der Ausgang der
Rinne war eine schwarze Einkerbung in der düsteren Felswand. »Ich bin
froh, daß wir das Seil haben«, sagte er. »Jedenfalls haben wir diesem
Wegelagerer ein kleines Rätsel aufgegeben. Er kann es mit seinen häß-
lichen Flossenfüßen auf diesen Vorsprüngen versuchen!«
Sie bahnten sich einen Weg fort von der Felswand, durch eine Wildnis
von Findlingen und rauhen Steinen, die nach dem heftigen Regen naß und
schlüpfrig waren. Das Gelände fiel noch immer stark ab. Sie waren noch
nicht weit gegangen, als sie zu einer großen Spalte kamen, die plötzlich
schwarz zu ihren Füßen gähnte. Sie war nicht breit, aber doch zu breit,
um sie in dem düsteren Licht zu überspringen. Sie glaubten Wasser in der
Tiefe gurgeln zu hören. Die Spalte zog sich links von ihnen nach Norden
hin, zurück zu den Bergen, und versperrte ihnen also den Weg in dieser
Richtung, jedenfalls solange es dunkel war.
»Wir sollten es lieber wieder weiter südlich an der Felswand ent-
lang versuchen, glaube ich«, sagte Sam. »Vielleicht finden wir da irgend-
ein Versteck oder sogar eine Höhle oder so was.«
»Ich nehme es an«, sagte Frodo. »Ich bin müde und glaube nicht, daß
ich heute nacht noch viel länger zwischen Steinen herumklettern kann —
obwohl mir die Verzögerung ärgerlich ist. Ich wünschte, wir hätten einen
klaren Weg vor uns. Dann würde ich weitergehen, bis meine Beine nicht
mehr mitmachen.«
Sie fanden das Gehen an dem zerklüfteten Fuß des Emyn Muil nicht
einfacher. Und Sam fand auch keinerlei Versteck oder Mulde, die Schutz
geboten hätten: nur kahle, steinige Hänge, über denen sich die Felswand
auftürmte und immer höher und steiler wurde, je weiter sie zurückgingen.
Erschöpft warfen sie sich einfach auf den Boden auf der windgeschützten
Seite eines Findlings nicht weit vom Fuß des Abgrunds. Dort saßen sie
eine Weile traurig zusammengekauert in der kalten, steinigen Nacht. Der
Mond stand jetzt hoch am Himmel und war klar. Sein dünnes, weißes
Licht beleuchtete die Vorderseiten der Steine und die kalte, drohende Fels-
wand und verwandelte die ganze dräuende Dunkelheit in kühles, blasses
Grau, von schwarzen Schatten durchschnitten.
»Na ja«, sagte Frodo, stand auf und zog seinen Mantel fester um sich.
»Du schläfst jetzt ein bißchen, Sam, und nimmst meine Decke. Ich gehe
eine Weile als Posten auf und ab.« Plötzlich erstarrte er, bückte sich und
packte Sam am Arm. »Was ist das?« flüsterte er. »Schau, dort drüben
auf der Felswand!«
Sam blickte hinüber und pfiff durch die Zähne. »Sss!« sagte er. »Da
haben wir's. Das ist dieser Gollum! Schlangen und Nattern! Und wenn
man sich vorstellt, daß ich geglaubt hatte, wir verwirren ihn mit unserem
bißchen Klettern! Schau dir das an! Wie eine scheußliche krabbelnde
Spinne auf einer Wand.«
Auf der Vorderseite einer Berglehne, steil und fast glatt schien sie im
Mondlicht zu sein, bewegte sich ein kleines schwarzes Geschöpf mit ge-
spreizten Gliedern abwärts. Vielleicht fanden seine weichen, sich anklam-
mernden Hände und Zehen Spalten und Stützen, die kein Hobbit je hätte
sehen oder benutzen können, aber es sah aus, als ob es einfach auf klebri-
gen Pfoten kröche wie irgendein großes beutelüsternes, insektenähnliches
Tier. Und es kam herunter mit dem Kopf zuerst, als ob es seinen Weg
wittere. Ab und zu hob es langsam den Kopf und drehte ihn bis nach
hinten auf seinem langen, mageren Hals, und die Hobbits sahen flüchtig
zwei kleine, blaß leuchtende Punkte, seine Augen, die kurz zum Mond
hinaufblinzelten und dann rasch wieder von den Lidern bedeckt wurden.
»Glaubst du, er kann uns sehen?« fragte Sam.
»Ich weiß es nicht«, sagte Frodo leise. »Aber ich glaube nicht. Sogar
für freundliche Augen sind diese Elbenmäntel schwer zu sehen. Selbst
auf ein paar Schritt Entfernung kann ich dich im Schatten nicht sehen.
Und ich habe gehört, daß er Sonne oder Mond nicht mag.«
»Warum kommt er dann aber gerade hier herunter?« fragte Sam.
»Leise, Sam!« sagte Frodo. »Er kann uns vielleicht riechen. Und er
kann so gut hören wie Elben, glaube ich. Ich denke mir, er hat jetzt etwas
gehört: unsere Stimmen wahrscheinlich. Wir haben da drüben eine
Menge geschrien; und bis vor einer Minute haben wir uns viel zu laut
unterhalten.«
»Na, ich habe ihn längst satt«, sagte Sam. »Für mich ist er einmal zu
oft gekommen, und ich werde ein Wörtchen mit ihm reden, wenn ich
kann. Ich glaube sowieso nicht, daß wir ihm entkommen könnten.« Sam
zog sich seine graue Kapuze gut übers Gesicht und kroch verstohlen zur
Klippe.
»Vorsichtig!« flüsterte Frodo, der hinterher kam. »Erschrecke ihn nicht.
Er ist viel gefährlicher, als er aussieht.«
Das schwarze kriechende Geschöpf hatte jetzt drei Viertel des Wegs
nach unten geschafft und war vielleicht fünfzig Fuß oder weniger über
dem Fuß der Klippe. Mäuschenstill kauerten die Hobbits im Schatten des
großen Findlings und beobachteten ihn. Er schien zu einer schwierigen
Stelle gekommen oder über irgend etwas beunruhigt zu sein. Sie hörten
ihn schnüffeln, und ab und zu stieß er einen mißtönenden, zischenden
Schnaufer aus, der wie ein Fluch klang. Er hob den Kopf, und sie glaub-
ten, ihn spucken zu hören. Dann setzte er sich wieder in Bewegung. Jetzt
hörten sie seine krächzende und pfeifende Stimme.
»Ach, sss! Vorsicht, mein Schatz! Mehr Eile, weniger Schnelligkeit.
Wir dürfen uns nicht den Hals brechen, nicht wahr, Schatz? Nein, Schatz
gollum!« Er hob wieder den Kopf, blinzelte zum Mond und schloß
rasch die Augen. »Wir hassen es«, zischte er. »Häßliches häßliches schau-
derhaftes Licht isses — spuckt uns an, Schatz — tut unseren Augen weh.«
Er kam jetzt tiefer herunter, und sein Zischen wurde deutlicher und
klarer. »Wo ist er, wo ist er, mein Schatz, mein Schatz? Es ist unserer,
jawohl, und wir wollen ihn. Die Diebe, die Diebe, die dreckigen kleinen
Diebe. Wo sind sie mit meinem Schatz? Verflucht sollen sie sein! Wir
hassen sie.<
»Es klingt nicht, als ob er wüßte, wo wir sind, nicht wahr?« flüsterte
Sam. »Und was ist sein Schatz? Meint er den ...«
»Pst!« hauchte Frodo. »Er kommt jetzt näher, nah genug, um ein Flü-
stern zu hören.«
Tatsächlich hatte Gollum plötzlich wieder innegehalten und seinen gro-
ßen Kopf an dem dürren Hals von einer Seite zur anderen gestreckt, als
ob er lausche. Seine blassen Augen waren halb offen. Sam hielt sich zu-
rück, obwohl es ihm in den Fingern zuckte. Seine Augen, voller Wut und
Abscheu, waren auf das elende Geschöpf geheftet, das jetzt wieder wei-
terging und immer noch vor sich hin flüsterte und zischte.
Schließlich war er nicht mehr als etwa zwölf Fuß vom Boden, direkt
über ihren Köpfen. Von dieser Stelle aus ging es steil nach unten, denn der
Felsen war leicht ausgehöhlt, und selbst Gollum konnte keinerlei Halt fin-
den. Er schien den Versuch zu machen, sich umzudrehen, damit er mit
den Beinen zuerst nach unten käme, als er plötzlich mit schrillem, pfei-
fendem Schrei abstürzte. Im Fallen schlang er seine Arme und Beine um
sich wie eine Spinne, deren abwärtsrührender Faden gerissen ist.
Sam war im Nu aus seinem Versteck heraus und mit ein paar Sätzen
am Fuß der Klippe. Ehe Gollum aufstehen konnte, war er über ihm. Aber
er stellte fest, daß Gollum ein härterer Brocken war, als er erwartet hatte,
selbst so unerwartet überrumpelt und nicht auf der Hut nach seinem
Sturz. Ehe Sam ihn packen konnte, schlangen sich lange Arme und Beine
um ihn und hielten seine Arme fest, und ein klammernder Griff, sanft,
aber entsetzlich stark, umschnürte ihn wie sich langsam zuziehende
Stricke; feuchtkalte Finger tasteten nach seiner Kehle. Dann bissen ihn
scharfe Zähne in die Schultern. Er konnte nichts tun, als seinen harten,
runden Schädel dem Geschöpf seitlich ins Gesicht zu stoßen. Gollum
zischte und spuckte, ließ aber nicht los.
Es wäre Sam schlecht ergangen, wenn er allein gewesen wäre. Aber
Frodo sprang auf und riß Stich aus der Scheide. Mit der linken Hand zog
er Gollums Kopf an seinem dünnen, glatten Haar zurück, bis sein langer
Hals gestreckt war, und zwang seine blassen, giftigen Augen, in den
Himmel zu starren.
»Laß los, Gollum«, sagte er. »Das ist Stich. Du hast ihn schon einmal
gesehen. Laß los, oder du bekommst ihn diesmal zu spüren. Ich werde dir
die Kehle durchschneiden.«
Gollum brach zusammen und wurde schlaff wie ein nasser Faden. Sam
stand auf und betastete seine Schulter. Seine Augen sprühten vor Zorn,
aber er konnte sich nicht rächen: sein elender Feind lag demütig auf den
Steinen und wimmerte.
»Tut uns nicht weh! Laß nicht zu, daß sie uns weh tun, Schatz! Sie
werden uns doch nicht weh tun, die netten kleinen Hobbitse? Wir hatten
nichts Böses vor, aber sie sprangen auf uns wie Katzen auf arme Mäuser,
das taten sie, Schatz. Und wir sind so allein, gollum. Wir werden nett zu
ihnen sein, sehr nett, wenn sie nett zu uns sind, nicht wahr, ja, ja.«
»Na, was soll nun mit ihm geschehen?« fragte Sam. »Fesseln, damit er
uns nicht mehr nachschleichen kann, das sage ich.«
»Aber das bringt uns um, das bringt uns um«, wimmerte Gollum.
»Grausame kleine Hobbitse. Uns fesseln in dem kalten harten Land und
uns verlassen, gollum, gollum.« Schluchzer stiegen auf in seiner kollern-
den Kehle.
»Nein«, sagte Frodo. »Wenn wir ihn töten, dann müssen wir ihn ganz
und gar töten. Aber das können wir nicht, so wie die Dinge liegen.
Armer Kerl! Er hat uns kein Leid getan.«
»Ach, hat er nicht!« sagte Sam und rieb seine Schulter. »Jedenfalls
hatte er es vor und hat es vor, da wett ich. Uns im Schlaf erwürgen, das
ist sein Plan.«
»Das will ich glauben«, sagte Frodo. »Aber was er wirklich vorhat, ist
etwas anderes.« Er hielt eine Weile inne und dachte nach. Gollum lag still
und hörte mit Wimmern auf. Sam starrte ihn finster an.
Dann schien es Frodo, als höre er, ganz deutlich, aber weit entfernt,
Stimmen aus der Vergangenheit:
Welch ein Jammer, daß Bilbo dieses elende Geschöpf nicht erdolcht hat,
als er die Gelegenheit hatte!

Ein Jammer? Ihn jammerte Gollum. Mitleid und Erbarmen hielten seine
Hand zurück: nicht ohne Not wollte er töten.

Ich empfinde keinerlei Mitleid für Gollum. Er verdient den Tod.
Verdient ihn! Das will ich glauben. Viele, die leben, verdienen den Tod.
Und manche, die sterben, verdienen das Leben. Kannst du es ihnen geben?
Dann sei auch nicht so rasch mit einem Todesurteil bei der Hand, weil du
um deine eigene Sicherheit fürchtest. Denn selbst die Weisen können
nicht alle Absichten erkennen.

»Nun gut«, antwortete er laut und senkte sein Schwert. »Aber ich
habe immer noch Angst. Und dennoch werde ich, wie du siehst, diesem
armen Wicht nichts zuleide tun. Denn jetzt, da ich ihn sehe, habe ich
Mitleid mit ihm.«
Sam starrte seinen Herrn an, denn er schien mit jemandem zu reden,
der nicht da war. Gollum hob den Kopf.
»Ja, armer Kerl sind wir, Schatz«, greinte er. »Elend, Elend! Hobbits
werden uns nicht töten, nette Hobbits.«
»Nein, das werden wir nicht«, sagte Frodo. »Aber wir werden dich
auch nicht laufen lassen. Du bist voller Bosheit und Schlechtigkeit, Gol-
lum. Du wirst mit uns mitkommen müssen, das ist alles, damit wir ein
Auge auf dich haben. Aber du mußt uns helfen, wenn du kannst. Eine
Liebe ist der anderen wert.«
»Ja, ja, wirklich«, sagte Gollum und setzte sich auf. »Nette Hobbits!
Wir werden mit ihnen kommen. Ihnen sichere Wege suchen in der Dun-
kelheit, ja, das werden wir. Und wo gehen sie hin in diesen kalten harten
Landen, das möchten wir wissen, ja, das möchten wir wissen.« Er schaute
zu ihnen auf, und in seinen blassen, blinzelnden Augen flackerte für eine
Sekunde ein schwacher Schimmer von Verschlagenheit und Begehrlichkeit
auf.
Sam sah ihn wütend an und saugte an seinen Zähnen; aber er schien zu
spüren, daß etwas an der Stimmung seines Herrn sonderbar war und es
bei der Sache nichts mehr zu erörtern gab. Dennoch war er erstaunt über
Frodos Antwort.
Frodo sah Gollum direkt in die Augen, die zusammenzuckten und sei-
nem Blick auswichen. »Du weißt es oder errätst es wenigstens, Sméagol«,
sagte er leise und streng. »Wir gehen natürlich nach Mordor. Und du
weißt den Weg dorthin, glaube ich.«
»Ach! Sss!« sagte Gollum und preßte die Hände auf die Ohren, als ob
ihm eine solche Freimütigkeit und das offene Aussprechen der Namen
weh tue. »Wir haben's erraten, ja, wir haben's erraten«, flüsterte er.
»Und wir wollten nicht, daß sie gehen, nicht wahr? Nein, Schatz, nicht
die netten Hobbits. Asche, Asche und Staub, und Durst gib's da. Und
Höhlen, Höhlen, Höhlen und Orks, Tausende von Orks. Nette Hobbits
dürfen nicht — sss — zu solchen Orten gehen.«
»Du bist also dagewesen?« drängte Frodo. »Und es zieht dich dorthin
zurück, nicht wahr?«
»Ja. Ja. Nein!« kreischte Gollum. »Einmal, durch Zufall war es, nicht
wahr, Schatz? Ja, durch Zufall. Und wir wollen nicht zurückgehen, nein,
nein!« Dann plötzlich änderten sich seine Stimme und Sprache, und er
schluchzte kehlig und redete, aber nicht mit ihnen. »Laß mich zufrieden,
gollum! Du tust mir weh. 0, meine armen Hände, gollum! Ich, wir, ich
will nicht zurückkommen. Ich kann ihn nicht finden. Ich bin müde. Ich,
wir können ihn nicht finden, gollum, gollum! Nein, nirgends. Sie sind
immer wach. Zwerge, Menschen und Elben, entsetzliche Elben mit hellen
Augen. Ich kann ihn nicht finden. Ach!« Er stand auf und ballte seine
lange Hand zu einer knochigen, fleischlosen Faust und drohte damit gen
Osten. »Wir wollen nicht!« rief er. »Nicht für dich.« Dann brach er wie-
der zusammen. »Gollum, gollum«, wimmerte er mit dem Gesicht auf dem
Boden. »Schau uns nicht an! Geh weg! Geh schlafen!«
»Er wird nicht weggehen oder schlafen auf deinen Befehl, Sméagol«,
sagte Frodo. »Aber wenn du wirklich wieder frei sein willst von ihm,
dann mußt du mir helfen. Und das, fürchte ich, bedeutet, daß du für uns
einen Weg zu ihm finden mußt. Du brauchst nicht die ganze Strecke mit-
zugehen, nicht über die Tore dieses Landes hinaus.«
Gollum setzte sich wieder auf und sah ihn mit halbgeschlossenen
Lidern an. »Er ist da drüben«, krächzte er. »Immer da. Orks werden euch
den ganzen Weg bringen. Leicht, Orks zu finden östlich des Stroms.
Bitte nicht Sméagol. Armer, armer Sméagol, er ging schon vor langer
Zeit weg. Sie nahmen ihm seinen Schatz, und jetzt ist er verloren.«
»Vielleicht werden wir ihn wiederfinden, wenn du mit uns mit-
kommst«, sagte Frodo.
»Nein, nein, niemals! Er ist verloren, sein Schatz«, sagte Gollum.
»Steh auf«, sagte Frodo.
Gollum stand auf und wich zurück an die Felswand.
»Nun höre«, sagte Frodo. »Kannst du einen Weg leichter bei Tag oder
bei Nacht finden? Wir sind müde; aber wenn du dich für die Nacht ent-
scheidest, werden wir heute nacht aufbrechen.«
»Die großen Lichter tun unseren Augen weh, wirklich«, jammerte Gol-
lum. »Nicht unter dem Weißen Gesicht, noch nicht. Bald wird es hinter
die Berge gehen, ja. Ruht euch erst ein bißchen aus, nette Hobbits!«
»Dann setz dich hin«, sagte Frodo, »und rühr dich nicht!«
Die Hobbits setzten sich neben ihn, jeder auf einer Seite, lehnten den
Rücken an die Felswand und streckten die Beine aus. Es war nicht nötig,
sich mit Worten zu verständigen: sie wußten, daß sie nicht einen Augen-
blick schlafen durften. Langsam zog der Mond vorbei. Schatten fielen von
den Bergen, und alles wurde dunkel vor ihnen. Die Sterne wurden dicht
und hell am Himmel oben. Keiner der drei bewegte sich. Gollum saß mit
angezogenen Beinen da, die Knie unter dem Kinn, Hände und Füße flach
auf dem Boden gespreizt, die Augen geschlossen; aber er schien ange-
spannt zu sein, als ob er nachdenke oder lausche.
Frodo blickte zu Sam hinüber. Ihre Blicke trafen sich, und sie verstan-
den sich. Sie setzten sich geruhsamer hin, lehnten die Köpfe zurück und
schlössen die Augen, oder taten so. Bald war ihr leises Atemgeräusch zu
hören. Gollums Hände zuckten ein wenig. Kaum wahrnehmbar bewegte
er den Kopf nach links und rechts, und ein Schlitz öffnete sich, erst in
einem Auge und dann im anderen. Die Hobbits gaben kein Zeichen.
Mit einer überraschenden Behendigkeit und Schnelligkeit stürzte Gol-
lum plötzlich mit einem Sprung wie ein Grashüpfer oder Frosch vom
Boden weg in die Dunkelheit. Aber das war genau das, was Frodo und
Sam erwartet hatten. Sam war über ihm, ehe er nach seinem Sprung zwei
Schritte gemacht hatte. Frodo kam hinterher, packte ihn am Bein und zog
ihn zurück.
»Dein Seil könnte sich wiederum als nützlich erweisen, Sam«, sagte er.
Sam holte das Seil heraus. »Und wo wolltest du hin in den kalten,
harten Landen, Herr Gollum?« brummte er. »Das möchten wir wissen,
freilich, das möchten wir wissen. Um einige von deinen Orksfreunden zu
finden, da wette ich. Du häßliches, tückisches Geschöpf. Um den Hals
sollte dir das Seil geschlungen werden, und mit einem festen Knoten
dazu.«
Gollum lag still und versuchte keine weiteren Kniffe. Er antwortete
Sam nicht, warf ihm aber einen raschen, giftigen Blick zu.
»Wir brauchen ihn nur festzuhalten«, sagte Frodo. »Wir wollen, daß er
läuft, also hat es keinen Zweck, seine Beine zu fesseln — oder seine
Arme, die scheint er fast ebensoviel zu gebrauchen. Knüpfe ein Ende
um seinen Knöchel und behalte das andere Ende fest in der Hand.«
Er paßte auf Gollum auf, während Sam den Knoten machte. Das Ergeb-
nis überraschte sie beide. Gollum begann zu schreien, ein dünnes, durch-
dringendes Gekreisch, sehr scheußlich anzuhören. Er krümmte und wand
sich und versuchte, mit dem Mund zum Knöchel zu kommen und das Seil
durchzubeißen. Er schrie immer weiter.
Schließlich war Frodo überzeugt, daß er wirklich Schmerzen hatte.
Aber es konnte nicht von dem Knoten sein. Er untersuchte ihn und fand,
daß er nicht zu fest war, vielmehr kaum fest genug. Sam war gutmütiger
als seine Worte. »Was ist los mit dir?« fragte er. »Wenn du versuchst,
wegzurennen, mußt du angebunden werden; aber wir wollen dir nicht
wehtun.«
»Es tut uns weh, es tut uns weh«, zischte Gollum. »Es ist eiskalt, es
schneidet ein. Elben haben es zusammengedreht, verflucht sollen sie sein!
Häßliche, grausame Hobbits! Darum haben wir natürlich zu fliehen ver-
sucht, Schatz. Wir ahnten, daß sie grausame Hobbits sind. Sie besuchen
Elben, wilde Elben mit leuchtenden Augen. Nehmt es uns ab! Es tut uns
weh.«
»Nein, ich werde es dir nicht abnehmen«, sagte Frodo, »sofern du
nicht« — er unterbrach sich und dachte einen Augenblick nach — »sofern
du nicht irgendein Versprechen abgibst, auf das ich mich verlassen
kann.«
»Wir werden schwören zu tun, was er will, ja, ja«, sagte Gollum, sich
immer noch windend und nach seinem Knöchel fassend. »Es tut uns
weh.«
»Schwörst du?« fragte Frodo.
»Sméagol«, sagte Gollum plötzlich und deutlich, öffnete die Augen
weit und starrte Frodo mit einem seltsamen Funkeln an. »Sméagol wird
auf den Schatz schwören.«
Frodo richtete sich auf, und wieder war Sam verblüfft über seine Worte
und seine strenge Stimme. »Auf den Schatz? Wie kannst du es wagen?«
sagte er. »Denke doch!
Ein Ring, sie zu knechten, sie alle zu finden.
Würdest du dein Versprechen daran binden, Sméagol? Er wird dich damit
festhalten. Aber er ist noch verräterischer als du. Er mag deine Worte
verdrehen. Sei vorsichtig!«
Gollum duckte sich. »Auf den Schatz, auf den Schatz!« wiederholte er.
»Und was würdest du schwören?« fragte Frodo.
»Sehr, sehr gut zu sein«, sagte Gollum. Dann kroch er zu Frodos
Füßen, blieb vor ihm auf dem Boden liegen und flüsterte heiser; ein
Schauer überrann ihn, als ob die Worte sogar seine Knochen vor Angst
zittern ließen: »Sméagol wird schwören, niemals, niemals zuzulassen, daß
Er ihn bekommt. Niemals! Sméagol wird ihn retten. Aber er muß auf
den Schatz schwören.«
»Nein! Nicht auf ihn«, sagte Frodo und blickte streng, aber mitleidig
auf ihn hinunter. »Du willst ihn ja nur sehen und berühren, wenn du
kannst, obwohl du weißt, daß er dich verrückt machen würde. Nicht auf
ihn. Schwöre bei ihm, wenn du willst. Denn du weißt, wo er ist. Ja, du
weißt es, Sméagol. Er ist vor dir.«
Einen Augenblick schien es Sam, als sei sein Herr gewachsen und Gol-
lum geschrumpft: ein großer, strenger Schatten, ein mächtiger Herr, der
seine Pracht in einer grauen Wolke verhüllt, und zu seinen Füßen ein
kleiner, winselnder Hund. Dennoch waren die beiden in irgendeiner
Weise einander verwandt und nicht fremd: sie konnten einer des anderen
Gedanken erraten. Gollum richtete sich auf und begann, Frodo zu tät-
scheln und vor seinen Knien zu scharwenzeln.
»Nieder! Nieder«, sagte Frodo. »Jetzt sage dein Versprechen!«
»Wir versprechen, ja, ich verspreche!« sagte Gollum. »Ich will dem
Herrn des Schatzes dienen. Guter Herr, guter Sméagol, gollum gollum!«
Plötzlich begann er zu weinen und wieder in seinen Knöchel zu beißen.
»Nimm das Seil ab, Sam«, sagte Frodo.
Widerstrebend gehorchte Sam. Sofort stand Gollum auf und begann
herumzuspringen wie ein geprügelter Köter, dessen Herr ihn gestreichelt
hat. Von diesem Augenblick an kam eine Veränderung über ihn, die
einige Zeit anhielt. Er sprach mit weniger Zischen und Wimmern, und er
redete unmittelbar mit seinen Gefährten, nicht mehr mit seinem Schatz.
Er duckte sich und wich zurück, wenn sie in seine Nähe kamen oder eine
plötzliche Bewegung machten, und er vermied es, ihre Elbenmäntel zu be-
rühren; aber er war freundlich und wirklich bemitleidenswert bestrebt,
ihnen zu gefallen. Er kicherte und sprang vor Freude in die Luft, wenn
irgendein Scherz gemacht wurde oder auch, wenn Frodo freundlich mit
ihm sprach, und er weinte, wenn Frodo ihn zurechtwies. Sam sagte
eigentlich wenig zu ihm. Er mißtraute ihm mehr denn je und mochte den
neuen Gollum, den Sméagol, noch weniger als den alten, wenn das über-
haupt möglich war.
»So, Gollum oder wie immer wir dich nennen sollen«, sagte er, »nun
aber los! Der Mond ist weg, und die Nacht vergeht. Wir brechen besser
auf.«
»Ja, ja«, stimmte Gollum zu und hüpfte herum. »Los gehen wir! Es
geht nur einen Weg hinüber zwischen dem Nordende und dem Südende.
Ich habe ihn gefunden, wirklich. Orks benutzen ihn nicht, Orks kennen
ihn nicht. Orks gehen nicht über die Sümpfe, sie gehen Meilen und Mei-
len drum herum. Ein Glück, daß ihr hier lang kamt. Ein Glück, daß ihr
Sméagol gefunden habt, ja. Folgt Sméagol!«
Er ging ein paar Schritte weg und blickte fragend zurück wie ein Hund,
der sie zu einem Spaziergang auffordert. »Warte ein bißchen, Gollum!«
rief Sam. »Geh jetzt nicht zu weit voraus. Ich will dir auf den Fersen
bleiben und habe das Seil griffbereit.«
»Nein, nein!« sagte Gollum. »Sméagol hat versprochen.«
In tiefer Nacht unter den harten, klaren Sternen brachen sie auf. Gol-
lum führte sie ein Stück zurück nach Norden auf dem Weg, den sie ge-
kommen waren; dann bog er nach rechts ab von dem steilen Rand des
Emyn Muil über die zerklüfteten steinigen Hänge zu dem unermeßlichen
Sumpfgebiet unten. Rasch und leise verschwanden sie in der Dunkelheit.
Über all den vielen öden Meilen vor den Toren von Mordor lag ein
schwarzes Schweigen.

<= =>