ELFTES KAPITEL
DER PALANTIR
Die Sonne sank hinter dem langen westlichen Ausläufer des Gebirges,
als Gandalf und seine Gefährten und der König mit seinen Reitern von
Isengart aufbrachen.
Gandalf setzte Merry hinter sich, und Aragorn nahm Pippin. Zwei der
Mannen des Königs wurden vorausgeschickt, und sie ritten rasch und
waren bald unten im Tal und außer Sichtweite. Die anderen folgten in ge-
mächlichem Schritt.
In einer feierlichen Reihe standen Ents wie Statuen am Tor, sie hatten
ihre langen Arme gehoben, gaben aber keinen Ton von sich. Merry und
Pippin blickten zurück, als sie die gewundene Straße ein Stück hinunter-
geritten waren. Noch schien die Sonne am Himmel, aber lange Schatten
lagen über Isengart: graue Trümmer, die in der Dunkelheit versanken.
Baumbart stand jetzt allein dort wie der ferne Stumpf eines alten Baums:
die Hobbits dachten an ihre erste Begegnung auf dem sonnigen Felsvor-
sprung weit entfernt an Fangorns Grenzen.
Sie kamen zu der Säule der Weißen Hand. Die Säule stand noch, aber
die gemeißelte Hand war heruntergeworfen worden und in kleine Stücke
zersprungen. Genau in der Mitte der Straße lag der Zeigefinger, weiß
in der Dämmerung, sein roter Nagel verdunkelte sich zu schwarz.
»Die Ents achten auf jede Einzelheit«, sagte Gandalf.
Sie ritten weiter, und der Abend senkte sich auf das Tal.
»Reiten wir heute abend weit, Gandalf?« fragte Merry nach einer
Weile. »Ich weiß nicht, wie dir zumute ist, wenn kleines Lumpenpack
hinter dir baumelt; aber das Lumpenpack ist müde und wird froh sein,
mit Baumeln aufzuhören und sich hinzulegen.«
»Du hast das also gehört?« fragte Gandalf. »Laß es dich nicht verdrie-
ßen! Sei dankbar, daß keine längeren Worte an dich gerichtet wurden. Er
hatte euch im Auge. Wenn das ein Trost ist für deinen Stolz, dann würde
ich sagen, daß er im Augenblick mehr an dich und Pippin denkt als an
alle anderen von uns. Wer ihr seid; wie ihr dorthin kamt und warum;
was ihr wißt; ob ihr gefangengenommen worden wart, und wenn ja, wie
ihr entkamt, als alle Orks zugrunde gingen — von solchen kleinen Rätseln
wird Sarumans großer Geist geplagt. Eine höhnische Bemerkung von ihm,
Meriadoc, ist eine Schmeichelei, wenn du dich durch seine Anteilnahme
geehrt fühlst.«
»Danke!« sagte Merry. »Aber es ist eine größere Ehre, an deinen
Rockschößen zu baumeln, Gandalf. Erstens einmal hat man in dieser Lage
Gelegenheit, eine Frage ein zweites Mal zu stellen. Reiten wir heute abend
weit?«
Gandalf lachte. »Nicht kleinzukriegen, dieser Hobbit! Alle Zauberer
sollten in ihrer Obhut ein oder zwei Hobbits haben, die die Zauberer die
Bedeutung des Worts lehren und sie verbessern. Ich bitte um Entschuldi-
gung. Aber ich habe mir sogar über diese einfachen Dinge Gedanken ge-
macht. Wir werden noch ein paar Stunden weiterreiten, gemächlich, bis
wir zum Ende des Tals kommen. Morgen müssen wir schneller reiten.
Als wir kamen, hatten wir vor, von Isengart aus schnurstracks über
die Ebene zum Haus des Königs in Edoras zurückzukehren, ein Ritt von
ein paar Tagen. Aber wir haben es uns überlegt und den Plan geändert.
Boten sind schon nach Helms Klamm unterwegs, um die Rückkehr des
Königs für morgen anzukündigen. Von dort wird er mit vielen Mannen
auf Pfaden durch die Berge nach Dunharg reiten. Von nun an sollen nie
mehr als zwei oder drei zusammen offen über Land gehen, bei Tage oder
Nacht, wenn es sich vermeiden läßt.«
»Nichts oder eine doppelte Zuteilung, das ist deine Art!« sagte Merry.
»Ich fürchte, ich schaue nicht weiter als bis zum Bett heute nacht. Wo
und was ist Helms Klamm und alles andere? Ich weiß nicht das Geringste
über dieses Land.«
»Dann lernst du besser etwas, wenn du begreifen willst, was geschieht.
Aber nicht gerade jetzt und nicht von mir: ich muß über zu viele drin-
gende Dinge nachdenken.«
»Gut, ich werde mich am Lagerfeuer an Streicher heranmachen: er ist
weniger reizbar. Aber warum all diese Geheimhaltung? Ich dachte, wir
hätten die Schlacht gewonnen?«
»Ja, wir haben gewonnen, aber nur den ersten Sieg errungen, und das
vergrößert an sich schon unsere Gefahr. Es gab irgendein Bindeglied zwi-
schen Isengart und Mordor, das ich noch nicht ergründet habe. Wie sie
Nachrichten austauschten, weiß ich nicht genau, aber sie taten es. Das
Auge von Barad-dûr wird ungeduldig nach dem Zauberer-Tal blicken,
glaube ich; und nach Rohan. Je weniger es sieht, um so besser.«
Die Straße zog sich langsam ins Tal hinunter. Einmal entfernter, ein-
mal näher floß der Isen in seinem steinigen Bett. Die Nacht kam vom
Gebirge herab. Der ganze Nebel hatte sich gehoben. Ein kalter Wind
blies. Der zunehmende Mond, jetzt schon fast voll, erfüllte den östlichen
Himmel mit einem bleichen, kühlen Schein. Die Schultern des Gebirges zu
ihrer Rechten fielen ab in kahle Berge. Die weite Ebene erschloß sich grau
vor ihnen.
Schließlich hielten sie an. Dann verließen sie die Straße und ritten auf
dem lieblichen Hochlandgras weiter. Nach einer Meile in westlicher Rich-
tung kamen sie zu einem schmalen Tal. Es öffnete sich nach Süden und
schmiegte sich an den Hang des runden Dol Baran, des letzten Bergs der
nördlichen Kette, grün an seinem Fuß, der Gipfel mit Heide bestanden.
Die Talseiten waren überwuchert von vorjährigen Farnwedeln, und zwi-
schen ihnen stießen die fest zusammengerollten Frühjahrstriebe gerade
durch die süßduftende Erde. Dombüsche standen dicht auf den unteren
Hängen, und unter ihnen schlugen sie ihr Lager auf, zwei Stunden etwa
vor der Mittemacht. In einer Mulde zündeten sie ein Feuer an, zwischen
den Wurzeln eines ausladenden Weißdoms, groß wie ein Baum, ge-
krümmt vom Alter, aber gesund in jedem Ast. Knospen schwellten an
jeder Zweigspitze.
Posten wurden aufgestellt, jeweils zwei für eine Wache. Die übrigen
hüllten sich, nachdem sie zu Abend gegessen hatten, in einen Mantel und
eine Decke und schliefen. Die Hobbits lagen für sich allein in einem Win-
kel auf einem Haufen von altem Farn. Merry war schläfrig, aber Pippin
schien seltsam unruhig. Der Farn knackte und raschelte, während er sich
herumwarf und -wälzte.
»Was ist los?« fragte Merry. »Liegst du auf einem Ameisenhaufen?«
»Nein«, sagte Pippin, »aber es ist so unbehaglich. Ich möchte mal wis-
sen, wie lange es her ist, daß ich in einem Bett geschlafen habe?«
Merry gähnte. »Zähl es an den Fingern ab!« sagte er. »Du mußt doch
wissen, wie lange es her ist, daß wir Lórien verließen.«
»Ach, das«, sagte Pippin. »Ich meine ein richtiges Bett in einem
Schlafzimmer.«
»Na, dann Bruchtal«, sagte Merry. »Aber ich könnte heute überall
schlafen.«
»Du hast Glück gehabt, Merry«, sagte Pippin leise nach einer Pause.
»Du bist mit Gandalf geritten.«
»Na und?«
»Hast du irgendwelche Neuigkeiten, irgendwelche Aufklärungen aus
ihm herausgeholt?«
»Ja, eine ganze Menge. Mehr als gewöhnlich. Aber du hast es alles
oder das meiste davon gehört. Du warst ganz in der Nähe, und wir haben
keine Geheimnisse ausgetauscht. Aber morgen kannst du mit ihm reiten,
wenn du glaubst, daß du mehr aus ihm herausholen kannst — und wenn
er dich haben will.«
»Kann ich? Gut! Aber er ist zugeknöpft, nicht wahr? Er hat sich ganz
und gar nicht geändert.«
»Oh doch«, sagte Merry und wachte ein bißchen auf. Er begann sich zu
fragen, was seinen Gefährten eigentlich quälte. »Er ist gewachsen oder so
etwas Ähnliches. Er kann sowohl freundlicher als auch beängstigender,
sowohl fröhlicher als auch feierlicher sein als früher, glaube ich. Er hat
sich verändert, nur haben wir noch keine Gelegenheit gehabt, festzustel-
len, wie sehr. Aber denke doch an den letzten Teil der Sache mit Saru-
man! Erinnere dich, daß Saruman einst Gandalfs Oberer war: der Oberste
des Rats, was immer das genau sein mag. Er war Saruman der Weiße.
Gandalf ist jetzt der Weiße. Saruman kam, als es ihm befohlen wurde,
und sein Stab wurde ihm genommen; und dann wurde ihm einfach befoh-
len, zu gehen, und er ging!«
»Na, wenn Gandalf sich überhaupt geändert hat, dann ist er zuge-
knöpfter denn je, das ist alles«, behauptete Pippin. »Dieser — Glasball
zum Beispiel. Er scheint mächtig erfreut darüber zu sein. Er weiß oder
vermutet etwas darüber. Aber sagt er uns, was? Nein, nicht ein Wort.
Immerhin habe ich ihn aufgehoben und davor bewahrt, in einen Tümpel
zu rollen. Komm, mein Junge, das nehme ich — das war alles. Ich möchte
gern wissen, was für ein Ding das ist. Es war so sehr schwer.« Pippin
wurde ganz leise, als ob er ein Selbstgespräch führte.
»Ach so«, sagte Merry, »das ist es, was dich plagt? Nun Pippin, mein
Junge, vergiß nicht Gildors Ausspruch — den Sam immer anführte:
Misch dich nicht in die Angelegenheiten von Zauberern ein, denn sie
sind schwierig und rasch erzürnt.«
»Aber seit Monaten war unser ganzes Leben nur ein einziges Einmi-
schen in die Angelegenheiten von Zauberern«, sagte Pippin. »Ich hätte
gern ein paar Auskünfte und nicht nur Gefahr. Ich würde mir den Ball
gern mal genau ansehen.«
»Schlaf jetzt!« sagte Merry. »Früher oder später wirst du genug er-
fahren. Mein lieber Pippin, kein Tuk hat jemals einen Brandybock an
Neugier übertroffen; aber ist das jetzt der richtige Zeitpunkt?«
»Schon gut! Was schadet es, wenn ich dir sage, was ich gern möchte:
einen Blick auf diesen Stein werfen? Ich weiß, daß ich ihn nicht haben
kann, weil der alte Gandalf draufsitzt wie eine Henne auf dem Ei. Aber
es hilft mir nicht viel, wenn ich von dir nichts höre, als du kannst es
nicht haben, also schlaf!«
»Was könnte ich sonst sagen?« fragte Merry. »Es tut mir leid, Pippin,
aber du mußt wirklich bis zum Morgen warten. Nach dem Frühstück
werde ich ebenso neugierig sein wie du und auf jede nur mögliche Weise
behilflich sein beim Zauberer-Beschwatzen. Aber ich kann jetzt nicht
länger wachbleiben. Wenn ich noch einmal gähne, werde ich Kiefersperre
bekommen. Gute Nacht!«
Pippin sagte nichts mehr. Er lag jetzt still, doch der Schlaf wollte nicht
kommen; und er wurde auch nicht gefördert durch das leise Atemge-
räusch von Merry, der ein paar Minuten, nachdem er Gute Nacht gesagt
hatte, eingeschlafen war. Der Gedanke an die dunkle Kugel schien stärker
zu werden, als alles ruhig wurde. Pippin spürte wieder ihr Gewicht in den
Händen und sah wieder die geheimnisvolle rote Tiefe, in die er einen
Augenblick geschaut hatte. Er warf sich hin und her und versuchte, an
etwas anderes zu denken.
Schließlich konnte er es nicht länger ertragen. Er stand auf und schaute
sich um. Es war kühl, und er zog seinen Mantel um sich. Der Mond
schien kalt und weiß unten in dem engen Tal, und die Schatten der
Büsche waren schwarz. Ringsum lagen schlafende Gestalten. Die beiden
Wachen waren nicht zu sehen: vielleicht waren sie oben auf dem Berg
oder im Farn verborgen. Von irgendeinem plötzlichen Drang getrieben,
den er nicht verstand, ging Pippin leise zu der Stelle, wo Gandalf lag. Er
blickte auf ihn hinunter. Der Zauberer schien zu schlafen, aber er hatte
die Lider nicht ganz geschlossen: da war ein Glitzern von Augen unter
den langen Wimpern. Pippin trat rasch zurück. Aber Gandalf rührte sich
nicht; und wiederum vorwärtsgetrieben, halb gegen seinen Willen, kroch
der Hobbit hinter dem Kopf des Zauberers heran. Gandalf war in eine
Decke eingerollt und hatte seinen Mantel darüber gebreitet; und dicht
neben ihm, zwischen seiner rechten Seite und dem angewinkelten Arm,
war ein Hügelchen, etwas Rundes, in ein dunkles Tuch gehüllt; Gandalfs
Hand schien gerade erst heruntergeglitten zu sein und lag jetzt auf dem
Boden.
Mit angehaltenem Atem kroch Pippin näher, Fuß um Fuß. Schließlich
kniete er sich hin. Verstohlen streckte er die Hände vor und hob den
Klumpen langsam hoch: er schien jetzt nicht so schwer zu sein, wie er er-
wartet hatte. »Also vielleicht doch bloß ein Lumpenbündel«, dachte er
mit einem seltsamen Gefühl der Erleichterung; aber er legte das Bündel
nicht wieder hin. Einen Augenblick blieb er stehen. Dann kam ihm ein
Gedanke. Er schlich auf Zehenspitzen weg und kam mit einem großen
Stein zurück.
Rasch zog er jetzt das Tuch ab, hüllte den Stein darin ein, kniete sich
wieder hin und legte ihn neben die Hand des Zauberers. Dann endlich sah
er sich das Ding an, das er ausgewickelt hatte. Da war es: eine glatte Kri-
stallkugel, dunkel jetzt und erloschen, lag bloß vor seinen Knien. Pippin
hob sie auf, bedeckte sie hastig mit seinem Mantel und hatte sich schon
halb umgedreht, um wieder zu seiner Lagerstatt zu gehen. In diesem
Augenblick bewegte sich Gandalf im Schlaf und murmelte einige Wörter:
sie schienen aus einer fremden Sprache zu sein; er streckte die Hand aus
und umklammerte den eingewickelten Stein, dann seufzte er und bewegte
sich nicht mehr.
»Du alberner Tor!« murmelte Pippin zu sich selbst. »Du bringst dich in
furchtbare Schwierigkeiten. Leg das Ding schnell wieder hin.« Aber jetzt
merkte er, daß seine Knie zitterten, und er wagte nicht, nah genug zu dem
Zauberer hinzugehen, um das Bündel zu erreichen. »Nun kann ich es
nicht wieder zurücklegen«, dachte er, »ohne ihn zu wecken, nicht, ehe ich
ein bißchen ruhiger bin. Also kann ich es mir auch erst mal betrachten.
Allerdings nicht gerade hier.« Er stahl sich davon und setzte sich auf ein
Grashügelchen nicht weit von seiner Lagerstatt. Der Mond schien jetzt
über den Rand des Tals herein.
Pippin hatte die Knie angezogen und hielt den Ball zwischen ihnen. Er
beugte sich tief darüber und sah aus wie ein naschhaftes Kind, das sich in
einem Winkel fern von den anderen über eine Schüssel mit Essen her-
macht. Er zog seinen Mantel beiseite und starrte auf den Ball. Die Luft
schien still und spannungsgeladen zu sein. Zuerst war die Kugel dunkel,
schwarz wie Pechkohle, und das Mondlicht glänzte auf ihrer Oberfläche.
Dann kamen ein schwaches Glühen und eine Bewegung in ihrer Mitte,
und die Kugel hielt Pippins Augen fest, so daß er jetzt nicht wegschauen
konnte. Bald schien das ganze Innere zu brennen; der Ball drehte sich,
oder die Lichter innen kreisten. Plötzlich gingen die Lichter aus. Pippin
keuchte und wehrte sich; aber er blieb vorgebeugt sitzen und umklam-
merte den Ball mit beiden Händen. Tiefer und immer tiefer beugte er sich
und wurde dann steif; seine Lippen bewegten sich eine Weile lautlos.
Dann fiel er mit einem Schrei zurück und lag still.
Der Schrei war durchdringend. Die Wachen sprangen vom Abhang
auf. Bald war das ganze Lager auf den Beinen.
»So, das ist der Dieb!« sagte Gandalf. Hastig warf er seinen Mantel
über die Kugel und ließ sie liegen. »Aber du, Pippin! Das ist eine
schmerzliche Wendung der Dinge!« Er kniete neben Pippin nieder. Der
Hobbit lag reglos auf dem Rücken und starrte mit leerem Blick zum Him-
mel empor. »Diese Teufelei! Welches Unheil hat er angerichtet — für sich
selbst und uns alle?« Das Gesicht des Zauberers war verzerrt und ver-
stört.
Er nahm Pippins Hand, beugte sich über sein Gesicht und horchte, ob
er atme; dann legte er ihm die Hand auf die Stirn. Der Hobbit er-
schauerte. Seine Augen schlössen sich. Er schrie auf; und während er
sich aufsetzte, starrte er bestürzt auf all die Gesichter um ihn, die bleich
waren im Mondlicht.
»Er ist nicht für dich, Saruman!« rief er mit schriller und tonloser
Stimme und wich vor Gandalf zurück. »Ich werde sofort danach schicken.
Verstehst du? Sage nur das!« Dann versuchte er aufzustehen und zu flie-
hen, aber Gandalf hielt ihn sanft fest.
»Peregrin Tuk!« sagte er. »Komm zurück!«
Der Hobbit entspannte sich, ließ sich zurückfallen und umklammerte
die Hand des Zauberers. »Gandalf!« rief er. »Gandalf, verzeih mir!«
»Verzeihen?« sagte der Zauberer. »Sag mir erst, was du getan hast!«
»Ich ... ich habe den Ball genommen und ihn angeschaut«, stammelte
Pippin. »Und ich sah Dinge, die mich erschreckten. Und ich wollte weg-
gehen, aber ich konnte nicht. Und dann kam er und verhörte mich, und er
sah mich an und — und das ist alles, woran ich mich erinnere.«
»Das genügt nicht«, sagte Gandalf streng. »Was hast du gesehen und
was hast du gesagt?«
Pippin schloß die Augen und zitterte, sagte aber nichts. Sie alle starr-
ten ihn schweigend an, nur Merry wandte sich ab. Aber Gandalfs Gesicht
war immer noch hart. »Rede!« sagte er.
Mit leiser, zögernder Stimme begann Pippin, und langsam wurden
seine Worte klarer und nachdrücklicher. »Ich sah einen dunklen Himmel
und hohe Festungsmauern«, sagte er. »Und winzige Sterne. Es schien sehr
weit weg und vor langer Zeit, und dennoch scharf und deutlich. Dann
leuchteten die Sterne auf und verschwanden — sie wurden verdeckt von
Lebewesen mit Flügeln. Sehr großen, glaube ich, in Wirklichkeit; aber in
dem Glas sahen sie wie Fledermäuse aus, die um den Turm schwirrten.
Ich glaubte, es seien neun. Eines begann stracks auf mich zuzufliegen und
wurde größer und größer. Es hatte ein entsetzliches — nein, nein! Ich
kann es nicht sagen.
Ich versuchte fortzukommen, weil ich glaubte, es würde herausfliegen;
aber als es die ganze Kugel bedeckte, verschwand es. Dann kam er. Er
sprach nicht, so daß ich keine Worte hören konnte. Er schaute nur, und
ich verstand.
>So, du bist also zurückgekommen? Warum hast du es so lange unter-
lassen, Bericht zu erstatten ?<
Ich antwortete nicht. Er sagte: >Wer bist du?< Ich antwortete immer
noch nicht, aber es tat entsetzlich weh; und er bedrängte mich, deshalb
sagte ich: >Ein Hobbit<.
Dann schien er mich plötzlich zu sehen, und er lachte mich aus. Es war
grausam. Es war, als ob ich von Dolchen durchbohrt würde. Ich wehrte
mich. Aber er sagte: >Warte einen Augenblick. Wir werden uns bald
wiedertreffen. Sage Saruman, diese Köstlichkeit ist nicht für ihn. Ich
werde sofort danach schicken. Verstehst du? Sage nur das!< Dann starrte
er mich hämisch an. Ich hatte das Gefühl, als ob ich zerbreche. Nein, nein!
Ich kann nicht mehr sagen. Ich erinnere mich an sonst nichts.«
»Schau mich an!« sagte Gandalf.
Pippin sah ihm unmittelbar in die Augen. Schweigend hielt der Zaube-
rer seinen Blick eine kurze Weile fest. Dann wurde sein Gesicht freund-
licher, und der Schatten eines Lächelns erschien. Er legte Pippin sanft die
Hand auf den Kopf.
»Es ist gut«, sagte er. »Sage nichts mehr. Du hast keinen Schaden
davongetragen. Es ist keine Lüge in deinen Augen, wie ich gefürchtet
hatte. Aber er hat nicht lange mit dir gesprochen. Ein Narr, aber ein
ehrlicher Narr bleibst du, Peregrin Tuk. Klügere hätten in einer solchen
Lage vielleicht Schlimmeres angerichtet. Aber merke dir das! Du und
auch alle deine Freunde, ihr seid durch einen glücklichen Zufall, wie man
das nennt, gerettet worden. Du kannst nicht ein zweites Mal darauf rech-
nen. Wenn er dich gleich und auf der Stelle verhört hätte, dann hättest du
fast gewiß alles gesagt, was du weißt, zu unser aller Verderben. Aber er
war zu habgierig. Er wollte nicht nur Auskünfte: er wollte dich, und
zwar rasch, um sich in aller Ruhe im Dunklen Turm mit dir zu befassen.
Schaudere nicht! Wenn du dich in die Angelegenheiten von Zauberern
einmischen willst, dann mußt du bereit sein, an solche Dinge zu denken.
Doch laß es gut sein. Ich verzeihe dir. Sei getrost! Die Dinge haben sich
als nicht so schlimm erwiesen, wie sie hätten sein können.«
Er hob Pippin sanft auf und trug ihn zu seiner Lagerstatt. Merry folgte
ihm und setzte sich neben Pippin. »Bleibe liegen und ruhe dich aus, Pip-
pin, wenn du kannst«, sagte Gandalf. »Vertraue mir. Wenn du wieder ein
Jucken in den Händen verspürst, sage es mir! Dergleichen kann geheilt
werden. Aber jedenfalls, mein lieber Hobbit, lege mir nicht wieder einen
Felsbrocken unter den Ellbogen. So, jetzt werde ich euch beide eine Weile
allein lassen.«
Damit kehrte Gandalf zu den anderen zurück, die immer noch besorgt
und nachdenklich bei dem Orthanc-Stein standen. »Gefahr kommt in der
Nacht, wenn man es am wenigsten erwartet«, sagte er. »Wir sind mit
knapper Not davongekommen!«
»Wie geht es Pippin, dem Hobbit?« fragte Aragorn.
»Ich glaube, es wird jetzt alles gut sein«, antwortete Gandalf. »Er
wurde nicht lange festgehalten, und Hobbits haben ein erstaunliches Er-
holungsvermögen. Die Erinnerung oder der Schrecken davon werden
wahrscheinlich rasch verblassen. Zu rasch vielleicht. Willst du, Aragorn,
den Orthanc-Stein nehmen und ihn behüten? Es ist eine gefährliche Ver-
antwortung.«
»Gefährlich fürwahr, aber nicht für alle«, sagte Aragorn. »Es gibt
einen, der von Rechts wegen Anspruch auf ihn erheben kann. Denn dies
ist der Palantír von Orthanc aus Elendils Schatz, den die Könige von
Gondor dort hingebracht haben. Jetzt rückt meine Stunde näher. Ich
werde ihn nehmen.«
Gandalf sah Aragorn an, und zur Überraschung der übrigen hob er
dann den bedeckten Stein auf und verneigte sich, als er ihn überreichte.
»Empfangt ihn, Herr«, sagte er, »als Vorboten anderer Dinge, die zu-
rückgegeben werden sollen. Aber wenn ich Euch für den Gebrauch Eures
Eigentums einen Rat geben darf, so gebraucht ihn nicht — noch nicht.
Seid vorsichtig!«
»Wann bin ich hastig oder unvorsichtig gewesen, der ich so viele lange
Jahre gewartet und mich vorbereitet habe?« fragte Aragorn.
»Niemals bisher. Dann strauchelt nicht am Ende des Wegs«, antwortete
Gandalf. »Doch zumindest haltet dieses Ding geheim. Ihr und alle ande-
ren, die hier stehen! Der Hobbit Peregrin sollte vor allem nicht wissen,
wo es aufbewahrt wird. Die böse Anwandlung mag ihn wieder überkom-
men. Denn leider hat er den Stein in der Hand gehabt und hineinge-
schaut, was niemals hätte geschehen dürfen. Er hätte ihn in Isengart nicht
berühren sollen, und ich hätte rascher sein müssen. Aber meine Gedan-
ken waren auf Saruman gerichtet, und ich erriet die Art des Steins erst,
als es zu spät war. Erst jetzt bin ich mir über ihn klargeworden.«
»Ja, es kann kein Zweifel bestehen«, sagte Aragorn. »Zumindest ken-
nen wir jetzt das Bindeglied zwischen Isengart und Mordor und wie es
wirkte. Viel ist damit erklärt.«
»Seltsame Kräfte haben unsere Feinde, und seltsame Schwächen«, sagte
Théoden. »Aber es gibt einen alten Spruch: Oft wird böser Wille Böses
vereiteln.«
»Das hat man viele Male erlebt«, sagte Gandalf. »Aber diesmal haben
wir merkwürdiges Glück gehabt. Es könnte sein, daß ich durch den
Hobbit vor einem schweren Fehler bewahrt wurde. Ich hatte darüber
nachgedacht, ob ich diesen Stein selbst erproben sollte oder nicht, um
seine Verwendungszwecke herauszufinden. Hätte ich das getan, dann
hätte ich mich ihm offenbart. Noch bin ich nicht bereit für eine solche
Prüfung, falls ich es wirklich je sein werde. Aber selbst wenn ich die
Kraft gehabt hätte, mich zurückzuziehen, wäre es verhängnisvoll gewesen,
wenn er mich gesehen hätte, jetzt schon — ehe die Stunde kommt, da Ge-
heimhaltung nicht länger nützt.«
»Diese Stunde ist jetzt gekommen, glaube ich«, sagte Aragorn.
»Noch nicht«, sagte Gandalf. »Es bleibt eine kurze Zeit des Zweifels,
die wir ausnützen müssen. Der Feind glaubt, das ist klar, daß der Stein in
Orthanc sei — warum sollte er das auch nicht glauben? Und daß daher der
Hobbit dort gefangen war und von Saruman, der ihn foltern wollte, ge-
zwungen wurde, in das Glas zu schauen. Dieser dunkle Geist wird jetzt
erfüllt sein von der Stimme und dem Gesicht des Hobbits und von Erwar-
tung: es mag einige Zeit dauern, bis er seinen Irrtum erkennt. Wir müs-
sen diese Zeit wahrnehmen. Wir sind zu gemächlich gewesen. Wir müs-
sen aufbrechen. Die Nachbarschaft von Isengart ist keine Gegend, in der
man sich aufhalten sollte. Ich werde sofort mit Peregrin Tuk vorausreiten.
Für ihn wird es besser sein, als im Dunkeln zu liegen, während andere
schlafen.«
»Ich will Éomer und zehn Reiter hier behalten«, sagte der König. »Sie
sollen früh am Tag mit mir reiten. Die übrigen können mit Aragorn mit-
gehen und reiten, sobald ihnen der Sinn danach steht.«
»Wie Ihr wollt«, sagte Gandalf. »Aber begebt Euch, so schnell Ihr
könnt, in den Schutz der Berge, nach Helms Klamm.«
In diesem Augenblick fiel ein Schatten auf sie. Das helle Mondlicht
war plötzlich gleichsam abgeschnitten. Einige der Reiter schrien laut auf
und duckten sich und hielten die Arme über den Kopf, als wollten sie
einen Schlag von oben abwehren: eine blinde Furcht und eine Todeskälte
befiel sie. Kauernd blickten sie auf. Eine riesige, geflügelte Gestalt zog
wie eine schwarze Wolke vor dem Mond vorbei. Kreisend schwenkte sie
nach Norden ab und flog mit größerer Geschwindigkeit als jeder Wind
von Mittelerde. Die Sterne verblaßten vor ihr. Sie war fort.
Sie standen auf, starr wie Steine. Gandalf blickte nach oben, die Arme
nach unten ausgestreckt, die Hände zur Faust geballt.
»Nazgûl!« rief er. »Der Bote von Mordor. Der Sturm kommt. Die Naz-
gûl haben den Fluß überquert. Reitet, reitet! Wartet nicht auf die Morgen-
dämmerung! Laßt nicht die Schnellen auf die Langsamen warten! Reitet!«
Er lief fort und rief Schattenfell, während er rannte. Aragorn folgte
ihm. Gandalf ging zu Pippin und nahm ihn in die Arme. »Du sollst dies-
mal mit mir kommen«, sagte er. »Schattenfell soll dir seine Gangart zei-
gen.« Dann rannte er zu der Stelle, wo er geschlafen hatte. Schattenfell
stand schon da. Der Zauberer hängte sich den kleinen Beutel, der sein
ganzes Gepäck war, über die Schulter und sprang auf den Rücken des
Pferdes. Aragorn hob Pippin auf und legte ihn, eingehüllt in Mantel und
Decke, Gandalf in die Arme.
»Lebt wohl! Folgt rasch!« rief Gandalf. »Fort, Schattenfell!«
Das große Pferd warf den Kopf zurück. Sein wallender Schweif zuckte
im Mondlicht. Dann sprang er vorwärts, die Erde mit den Hufen schla-
gend, und brauste dahin wie der Nordwind vom Gebirge.
»Eine schöne, geruhsame Nacht!« sagte Merry zu Aragorn. »Manche
Leute haben unwahrscheinliches Glück. Er wollte nicht schlafen und er
wollte mit Gandalf reiten — beides hat er erreicht. Statt in einen Stein
verwandelt zu werden, der als eine Warnung auf immerdar hier steht.«
»Wenn du der erste gewesen wärst, der den Orthanc-Stein aufhob, und
nicht er, wie wäre es dann jetzt?« fragte Aragorn. »Du hättest Schlimme-
res anrichten können. Wer kann es sagen? Aber jetzt ist es dein Glück,
mit mir mitzukommen, fürchte ich. Sofort. Geh und mach dich fertig und
bringe alles mit, was Pippin zurückgelassen hat. Eil dich!«
Über die Ebene flog Schattenfell dahin und brauchte nicht angespornt
oder gelenkt zu werden. Weniger als eine Stunde war vergangen, und sie
hatten die Furten des Isen erreicht und durchquert. Das Hügelgrab der
Reiter und seine kalten Speere lagen grau hinter ihnen.
Pippin erholte sich. Ihm war warm, aber der Wind auf seinem Gesicht
war scharf und erfrischend. Er war bei Gandalf. Der Schrecken des Steins
und des abscheulichen Schattens vor dem Mond verblaßten wie Dinge, die
im Nebel des Gebirges oder in einem flüchtigen Traum zurückblieben. Er
holte tief Luft.
»Ich wußte gar nicht, daß du ungesattelt reitest, Gandalf«, sagte er.
»Du hast weder Geschirr noch Zügel.«
»Ich reite sonst nicht auf Elbenart, außer auf Schattenfell,« sagte Gan-
dalf. »Aber Schattenfell will kein Zaumzeug haben. Man reitet Schatten-
fell nicht: er ist gewillt, einen zu tragen — oder nicht. Wenn er gewillt ist,
dann reicht das. Dann ist es seine Angelegenheit, dafür zu sorgen, daß
man auf seinem Rücken bleibt, sofern man nicht in die Luft springt.«
»Wie schnell trabt er?« fragte Pippin. »Fast so schnell wie der Wind,
aber sehr gleichmäßig. Und wie leicht seine Tritte sind!«
»Er trabt jetzt so geschwind, wie das schnellste Pferd galoppieren
könnte«, antwortete Gandalf, »aber für ihn ist das nicht schnell. Das
Land steigt hier ein wenig und ist unebener als jenseits des Flusses. Aber
schau, wie das Weiße Gebirge näherrückt unter den Sternen. Dahinter
stehen die Zinnen des Thrihyrne wie schwarze Speere. Es wird nicht lange
dauern, dann erreichen wir die Wegkreuzung und kommen zum Klamm-
tal, wo vor zwei Nächten die Schlacht geschlagen wurde.«
Pippin schwieg eine Weile. Er hörte Gandalf leise vor sich hinsingen
und kurze Bruchstücke von Versen in vielen Sprachen murmeln, während
die Meilen unter ihnen dahinliefen. Schließlich ging Gandalf zu einem
Lied über, dessen Worte der Hobbit verstehen konnte: einige Zeilen dran-
gen durch das Brausen des Windes deutlich an sein Ohr:
Hohe Schiffe, hohe Herrscher,
Drei mal drei,
Was brachten sie aus versunkenem Land
Über das flutende Meer?
Sieben Sterne und sieben Steine
Und einen weißen Baum.
»Was sagst du, Gandalf?« fragte Pippin.
»Ich bin gerade im Geist einige Gedichte der Überlieferung durchge-
gangen«, antwortete der Zauberer. »Die Hobbits, nehme ich an, haben sie
vergessen, selbst diejenigen, die sie einst kannten.«
»Nein, nicht alle«, sagte Pippin. »Und wir haben viele eigene, die dich
vielleicht nicht fesseln würden. Aber dieses habe ich nie gehört. Worüber
ist es — die sieben Sterne und sieben Steine?«
»Über die Palantíri der Könige von einst«, sagte Gandalf.
»Und was sind Palantíri?«
»Der Name bedeutet das, was in weite Ferne schaut. Der Orthanc-Stein
war einer davon.«
»Dann ist er nicht — nicht« — Pippin zögerte — »nicht vom Feind ge-
macht?«
»Nein«, sagte Gandalf. »Und auch nicht von Saruman. Das übersteigt
seine Gelehrsamkeit, und Saurons auch. Die Palantíri kommen von noch
weiter her als Westernis, aus Eldamar. Die Noldor haben sie gemacht.
Fëanor selbst hat sie vielleicht gearbeitet in Tagen, die so lange vergangen
sind, daß sich die Zeit in Jahren nicht ermessen läßt. Aber es gibt nichts,
was Sauron nicht bösen Zwecken zuführen kann. Wehe für Saruman! Es
war sein Untergang, wie ich jetzt erkenne. Gefährlich für uns alle sind die
Erfindungen eines Wissens, das größer ist als unser eigenes. Dennoch
muß er die Schuld auf sich nehmen. Narr! ihn zu seinem eigenen Vorteil
geheimzuhalten. Kein Wort davon hat er je zu irgendeinem Mitglied des
Rats gesagt. Es war uns nicht bekannt, daß einer der Palantíri Gondors
Untergang überdauert hatte. Außerhalb des Rats erinnerte man sich un-
ter den Elben und den Menschen nicht einmal, daß es derartige Dinge ge-
geben hatte, abgesehen von einem einzigen Gedicht der Überlieferung, das
unter Aragorns Volk erhalten geblieben war.«
»Wofür haben die Menschen von einst sie gebraucht?« fragte Pippin,
erfreut und erstaunt, daß er Antwort auf so viele Fragen erhielt, und ge-
spannt, wie lange das anhalten würde.
»Um weit zu sehen und in Gedanken miteinander zu sprechen«, sagte
Gandalf. »Auf diese Weise haben sie das Reich Gondor lange beherrscht
und geeint. Sie hatten Steine in Minas Anor und Minas Ithil und in Ort-
hanc im Ring von Isengart. Der beherrschende und vortrefflichste dieser
Steine war unter der Kuppel der Sterne in Osgiliath vor dessen Zerstö-
rung. Die drei anderen waren weit weg im Norden. Im Hause von Elrond
wird erzählt, sie seien in Annúminas und Amon Sûl gewesen, und Elen-
dils Stein war auf den Turmbergen, die nach Mithlond schauen im Golf
von Luhn, wo die grauen Schiffe liegen.
Jeder Palantír sprach mit jedem, aber in Osgiliath konnte man sie alle
zusammen zur gleichen Zeit betrachten. Jetzt zeigt es sich, daß der Palan-
tír von Orthanc erhalten geblieben ist, weil dieser Turm den Stürmen der
Zeit widerstanden hat. Doch allein könnte er nur kleine Bilder von weit
entfernten Dingen und längst vergangenen Tagen sehen. Sehr nützlich
war das zweifellos für Saruman; indes scheint es, daß er damit nicht zu-
frieden war. Weiter und weiter hinaus schaute er, bis er einen Blick auf
Barad-dûr warf. Dann war er entdeckt!
Wer weiß, wo alle jene anderen Steine jetzt liegen, zerbrochen oder ver-
graben oder im Meer versunken? Doch einen zumindest muß Sauron er-
halten und seinen Zwecken Untertan gemacht haben. Ich vermute, es war
der Ithil-Stein, denn er hat Minas Ithil vor langer Zeit erobert und in
einen bösen Ort verwandelt: Minas Morgul ist es geworden.
Leicht kann man sich jetzt vorstellen, wie schnell Sarumans schweifen-
des Auge eingefangen und festgehalten wurde; und wie er seitdem immer
aus der Ferne überredet wurde und eingeschüchtert, wenn die Überredung
nicht ausreichte. Der betrogene Betrüger, der Habicht in der Gewalt des
Adlers, die Spinne in einem stählernen Netz! Seit wann, frage ich mich,
ist er gezwungen worden, oft zu seinem Glas zu kommen, um überwacht
und geleitet zu werden, und wie lange schon ist der Orthanc-Stein immer
so auf Barad-dûr ausgerichtet, daß er die Gedanken und den Anblick
eines jeden, der hineinschaut, dorthin trägt, sofern der Hineinschauende
nicht einen adamantenen Willen hat. Und wie er einen anzieht! Habe ich
es nicht selbst verspürt? Sogar jetzt verlangt mein Herz danach, meinen
Willen an ihm zu erproben, um herauszufinden, ob ich ihm den Stein
nicht entreißen und ihn dorthin richten könnte, wohin ich wollte — um
über die weiten Ströme des Meeres und der Zeit auf das Schöne Tirion zu
blicken und die unvorstellbare Hand und den Geist von Fëanor an der
Arbeit zu sehen, als der Weiße und auch der Goldene Baum noch blüh-
ten!« Er seufzte und schwieg.
»Ich wünschte, ich hätte das alles vorher gewußt«, sagte Pippin. »Ich
hatte keine Ahnung, was ich tat.«
»O doch, das hattest du«, sagte Gandalf. »Du wußtest, daß du dich
falsch und töricht verhieltest; und das hast du dir selbst gesagt, obwohl
du nicht darauf hörtest. Ich habe dir das alles nicht vorher gesagt, denn
nur dadurch, daß ich über alles nachgedacht habe, was geschehen ist,
habe ich es endlich verstanden, jetzt erst, da wir zusammen reiten. Aber
hätte ich früher gesprochen, dann hätte es dein Verlangen nicht vermin-
dert oder es dir leichter gemacht, ihm zu widerstehen. Im Gegenteil! Nein,
verbrannte Finger sind der beste Lehrmeister. Danach geht ein Rat über
Feuer zu Herzen.«
»Allerdings«, sagte Pippin. »Wenn alle sieben Steine jetzt vor mir aus-
gebreitet wären, würde ich die Augen schließen und die Hände in die
Taschen stecken.«
»Gut«, sagte Gandalf. »Das hatte ich gehofft.«
»Aber ich würde gern wissen...«, begann Pippin.
»Erbarmen!« rief Gandalf. »Wenn die Erteilung von Auskünften dich
von deiner Neugier heilen soll, dann werde ich den Rest meiner Tage
damit verbringen, dir zu antworten. Was willst du noch wissen?«
»Die Namen aller Sterne und aller Lebewesen und die ganze Geschichte
von Mittelerde und des Oberhimmels und der Trennenden Meere«, lachte
Pippin. »Natürlich! Warum weniger? Aber ich habe es nicht eilig heute
nacht. Im Augenblick machte ich mir nur Gedanken über den schwarzen
Schatten. Ich hörte dich rufen >Bote von Mordor<. Was war das? Was
konnte er in Isengart tun?«
»Es war ein Schwarzer Reiter mit Flügeln, ein Nazgûl«, sagte Gandalf.
»Er hätte dich mitnehmen und zum Dunklen Turm bringen können.«
»Aber er ist doch nicht gekommen, um mich zu holen?« stammelte
Pippin. »Ich meine, er wußte nicht, daß ich ...«
»Natürlich nicht«, sagte Gandalf. »Es sind sechshundert Meilen oder
mehr im geraden Flug von Barad-dûr nach Orthanc, und selbst ein Naz-
gûl würde ein paar Stunden für die Strecke brauchen. Aber Saruman hat
gewiß seit dem Orküberfall in den Stein geblickt, und ich zweifle nicht,
daß mehr von seinen geheimen Gedanken gelesen worden sind, als er be-
absichtigte. Ein Bote ist ausgesandt worden, um herauszufinden, was er
tut. Und nach dem, was heute nacht geschehen ist, wird noch einer kom-
men, glaube ich, und zwar rasch. So wird der letzte Druck des Schraub-
stocks, in den Saruman seine Hand gesteckt hat, ausgeübt. Er hat keinen
Gefangenen, den er schicken könnte. Er hat keinen Stein, um damit zu
sehen, und er kann den Aufforderungen nicht Folge leisten. Sauron wird
glauben, er halte den Gefangenen nur zurück und weigere sich, den Stein
zu gebrauchen. Es wird Saruman nichts nützen, wenn er dem Boten die
Wahrheit sagt. Denn Isengart mag zerstört sein, doch er ist in Orthanc
immer noch in Sicherheit. Ob er will oder nicht, er wird immer als Auf-
rührer erscheinen. Dennoch hat er uns zurückgewiesen, so als ob er ge-
rade das vermeiden wollte! Was er in einer derart hoffnungslosen Lage
tun will, kann ich nicht erraten. Solange er in Orthanc ist, hat er, glaube
ich, die Macht, den Neun Reitern zu widerstehen. Das mag er versuchen.
Er mag versuchen, den Nazgûl in die Falle zu locken oder zumindest das
Geschöpf, auf dem er jetzt reitet, zu töten. In diesem Fall muß Rohan auf
seine Pferde aufpassen!
Aber ich kann nicht sagen, wie es für uns ausgehen wird, ob
gut oder schlecht. Es mag sein, daß die Ratschlüsse des Feindes verwirrt
oder verhindert werden durch seinen Zorn auf Saruman. Vielleicht wird
er erfahren, daß ich auf der Treppe von Orthanc stand — mit Hobbits an
meinen Rockschößen. Oder daß ein Erbe von Elendil lebt und neben mir
stand. Wenn sich Schlangenzunge nicht durch die Rüstung von Rohan
täuschen ließ, wird er sich an Aragorn erinnern und an den Rechtsan-
spruch, den er erhob. Das ist es, was ich fürchte. Und so fliehen wir —
nicht vor der Gefahr, sondern in eine größere Gefahr. Jeder Schritt von
Schattenfell bringt dich dem Land des Schattens näher, Peregrin Tuk.«
Pippin antwortete nicht, sondern packte seinen Mantel, als ob ihm
plötzlich kalt geworden sei. Graues Land zog unter ihnen vorbei.
»Schau jetzt!« sagte Gandalf. »Die Westfold-Täler liegen vor uns. Hier
kommen wir wieder auf die östliche Straße zurück. Der dunkle Schatten
dort drüben ist der Ausgang des Klammtals. In dieser Richtung liegen
Aglarond und die Glitzernden Höhlen. Frage mich nicht nach ihnen.
Frage Gimli, wenn ihr euch wiedertrefft, und zum erstenmal wirst du
vielleicht eine längere Antwort erhalten, als du wünschst. Du wirst die
Höhlen nicht selbst sehen, nicht auf dieser Fahrt. Bald werden sie weit
hinter uns liegen.«
»Ich dachte, du würdest in Helms Klamm haltmachen«, sagte Pippin.
»Wohin willst du denn?«
»Nach Minas Tirith, ehe die Wogen des Krieges es umschließen.«
»Oh! Und wie weit ist das?«
»Meilen über Meilen«, antwortete Gandalf. »Dreimal so weit wie die
Behausungen des Königs Théoden, und diese liegen mehr als hundert
Meilen östlich von hier, wie der Bote von Mordor fliegt. Schattenfell
muß eine längere Strecke laufen. Wer wird sich als schneller erweisen?
Wir werden jetzt bis Tagesanbruch reiten, und das sind noch einige
Stunden. Dann muß selbst Schattenfell ruhen, in irgendeinem Tal in den
Bergen: in Edoras, hoffe ich. Schlafe, wenn du kannst! Den ersten Schim-
mer der Morgenröte siehst du vielleicht auf dem goldenen Dach von Eorls
Haus. Und zwei Tage später wirst du den purpurnen Schatten des Berges
Mindolluin auf den Wällen des Turms von Denethor sehen, weiß im Mor-
genlicht.
Fort nun, Schattenfell! Laufe, du Großherziger, laufe, wie du nie zuvor
gelaufen bist! Jetzt kommen wir zu den Landen, wo du als Fohlen auf-
wuchst und jeden Stein kennst. Laufe nun! In der Schnelligkeit liegt un-
sere Hoffnung!«
Schattenfell warf den Kopf zurück und wieherte laut, als ob eine Trom-
pete ihn zur Schlacht gerufen habe. Dann schnellte er davon. Funken sto-
ben unter seinen Hufen; die Nacht senkte sich auf ihn herab.
Als ihn allmählich der Schlaf übermannte, hatte Pippin ein seltsames
Gefühl: er und Gandalf waren still wie Stein und saßen auf dem Stand-
bild eines rennenden Pferdes, während die Welt unter seinen Füßen
dahinzog und der Wind heftig brauste.