ZEHNTES KAPITEL
SARUMANS STIMME
Sie schritten durch den zerstörten unterirdischen Gang und blieben auf
einem Steinhaufen stehen; sie starrten auf den dunklen Felsen Orthanc
und seine vielen Fenster, noch immer eine Drohung in der Verwüstung
ringsum. Das Wasser war jetzt fast ganz abgelaufen. Hier und dort waren
noch ein paar düstere Tümpel übrig geblieben, mit Abschaum und Trüm-
mern bedeckt; doch der größte Teil des weiten Kreises lag wieder offen
da, eine Wildnis aus Schlamm und durcheinander gewürfelten Felsbrok-
ken, unterbrochen von geschwärzten Löchern und getüpfelt mit Pfosten
und Säulen, die sich gleichsam trunken hierhin und dorthin neigten. Am
Rand des zerstörten Kessels lagen gewaltige Erdwälle und Hänge wie
Schindeln, die von einem großen Sturm hochgewirbelt worden sind; und
dahinter zog sich das grüne und verschlungene Tal in einer langen
Schlucht zwischen den dunklen Ausläufern des Gebirges hinauf. Jenseits
der Wüstenei sahen sie Reiter, die sich ihren Weg bahnten; sie kamen
von der Nordseite und näherten sich Orthanc schon.
»Da ist Gandalf, und Théoden und seine Mannen!« sagte Legolas.
»Laßt uns ihnen entgegengehen!«
»Geht vorsichtig!« sagte Merry. »Manche Steinplatten sind lose und
könnten hochkippen und euch in irgendeine Grube schleudern, wenn ihr
nicht aufpaßt.«
Sie folgten den Überbleibseln der einstigen Straße von den Toren zu
Orthanc und gingen langsam, denn die Steinplatten waren gesprungen
und glitschig. Als die Reiter sie kommen sahen, hielten sie im Schatten
des Felsen an und warteten auf sie. Gandalf ritt ihnen entgegen.
»Ja, Baumbart und ich haben eine anregende Beratung gehabt und ein
paar Pläne geschmiedet«, sagte er. »Und wir alle haben die sehr nötige
Ruhe gehabt. Jetzt müssen wir weiter. Ich hoffe, ihr Gefährten habt euch
auch ausgeruht und erfrischt?«
»Das haben wir«, sagte Merry. »Aber unsere Beratung führte zu
nichts. Immerhin sind wir Saruman gegenüber jetzt freundlicher gesinnt
als vorher.«
»Wirklich?« sagte Gandalf. »Na, ich nicht. Ich habe noch eine letzte
Aufgabe, ehe ich gehe: Ich muß Saruman einen Abschiedsbesuch abstat-
ten. Gefährlich, und wahrscheinlich nutzlos; aber es muß sein. Wer von
euch will, kann mitkommen — aber seid auf der Hut! Und spottet nicht!
Das ist jetzt nicht der richtige Augenblick dafür.«
»Ich will mitkommen«, sagte Gimli. »Ich will ihn sehen und feststellen,
ob er wirklich aussieht wie du.«
»Und wie willst du das feststellen, Herr Zwerg?« fragte Gandalf.
»Saruman könnte in deinen Augen wie ich aussehen, wenn das seinen
Absichten, die er dir gegenüber hat, förderlich wäre. Und bist du schon
weise genug, alle seine Fälschungen zu durchschauen? Na, wir werden es
vielleicht erleben. Es mag sein, daß er sich scheut, sich vor so vielen ver-
schiedenen Augen zu zeigen. Aber ich habe allen Ents befohlen, außer
Sichtweite zu bleiben, also können wir ihn vielleicht überreden, herauszu-'
kommen.«
»Worin besteht die Gefahr?« fragte Pippin. »Wird er auf uns schießen
oder Feuer aus dem Fenster herausgießen? Oder kann er uns aus der Ent-
fernung behexen?«
»Das letzte ist das wahrscheinlichste, wenn man sorglos bis zu seiner
Tür reitet«, sagte Gandalf. »Aber man weiß nicht, was er tun kann oder
vielleicht versuchen will. Sich einem in die Enge getriebenen wilden Tier
zu nahem, ist nicht ungefährlich. Und Saruman besitzt Kräfte, die ihr
nicht vermutet. Hütet euch vor seiner Stimme!«
Sie kamen jetzt an den Fuß von Orthanc. Er war schwarz, und der Fel-
sen schimmerte, als ob er naß sei. Die vielen Oberflächen des Steins hat-
ten scharfe Kanten, als ob sie frisch herausgemeißelt worden wären. Ein
paar Kerben und am Boden liegende schuppenähnliche Splitter waren die
einzigen Spuren, die von der Wut der Ents zurückgeblieben waren.
Auf der östlichen Seite, in dem Winkel zwischen zwei Pfeilern, war
eine große Tür hoch über der Erde; und darüber war ein mit Läden verse-
henes Fenster, das auf einen mit einem Eisengitter umgebenen Balkon
hinausging. Bis zur Schwelle der Tür führte eine Treppe von siebenund-
zwanzig breiten Stufen, die mit Hilfe irgendeiner unbekannten Kunstfer-
tigkeit aus demselben schwarzen Gestein herausgehauen waren. Das war
der einzige Eingang zum Turm; aber viele hohe Fenster mit tiefen Leibun-
gen waren in die emporragenden Wände eingeschnitten: hoch oben
schauten sie wie kleine Augen auf die steilen Hänge der Berge.
Am Fuße der Treppe saßen Gandalf und der König ab. »Ich will hin-
aufgehen«, sagte Gandalf. »Ich bin in Orthanc gewesen und kenne meine
Gefahr.«
»Und ich will auch hinaufgehen«, sagte der König. »Ich bin alt und
fürchte keine Gefahr mehr. Ich wünsche mit dem Feind zu sprechen, der
mir so viel Unrecht angetan hat. Éomer soll mit mir kommen und dafür
sorgen, daß meine betagten Füße nicht straucheln.«
»Wie Ihr wollt«, sagte Gandalf. »Aragorn soll mit mir mitkommen.
Laßt die anderen am Fuße der Treppe auf uns warten. Sie werden dort ge-
nug sehen und hören, wenn es etwas zu sehen und zu hören gibt.«
»Nein!« sagte Gimli. »Legolas und ich wollen ihn mehr aus der Nähe
sehen. Wir allein vertreten hier unsere Sippen. Wir werden auch mitkom-
men.«
»Kommt denn!« sagte Gandalf, und damit stieg er die Stufen hinauf,
und Théoden ging neben ihm.
Die Reiter von Rohan saßen zu beiden Seiten der Treppe unbehaglich
auf ihren Pferden und schauten finster hinauf zu dem großen Turm, be-
sorgt, was ihrem Herrn wohl widerfahren werde. Merry und Pippin saßen
auf der untersten Stufe und kamen sich unwichtig vor und auch gefähr-
det.
»Eine halbe kitzlige Meile von hier bis zum Tor!« murmelte Pippin.
»Ich wünschte, ich könnte mich unbemerkt davonstehlen und wieder in
den Wachraum gehen. Warum sind wir eigentlich hergekommen? Wir
werden nicht gebraucht.«
Gandalf stand vor der Tür von Orthanc und schlug mit seinem Stab
dagegen. Es klang hohl. »Saruman, Saruman!« rief er mit lauter, befeh-
lender Stimme. »Saruman, komm heraus!«
Eine Zeitlang kam keine Antwort. Schließlich wurde das Fenster über
der Tür aufgeriegelt, aber man sah niemanden in der dunklen Öffnung.
»Wer ist da?« fragte eine Stimme. »Was wünscht ihr?«
Théoden fuhr zusammen. »Ich kenne diese Stimme«, sagte er, »und ich
verfluche den Tag, da ich zum erstenmal auf sie hörte.«
»Geh und hole Saruman, nachdem du sein Bedienter geworden bist,
Gríma Schlangenzunge!« sagte Gandalf. »Und verschwende unsere Zeit
nicht!«
Das Fenster wurde geschlossen. Sie warteten. Plötzlich sprach eine an-
dere Stimme, leise und melodisch, allein ihr Klang war eine Verzaube-
rung. Jene, die arglos dieser Stimme lauschten, konnten selten die Worte
berichten, die sie gehört hatten; und wenn sie es taten, wunderten sie
sich, denn wenig Überzeugungskraft war in ihnen geblieben. Meistens er-
innerten sie sich nur, daß es eine Freude gewesen war, die Stimme spre-
chen zu hören; alles, was sie sagte, schien klug und vernünftig zu sein,
und der Wunsch erwachte in ihnen, durch rasche Zustimmung selbst klug
zu erscheinen. Wenn andere sprachen, klangen ihre Stimmen im Ver-
gleich dazu schrill und grob; und wenn sie der Stimme widersprachen,
entbrannte Ärger in den Herzen jener, die von ihr bezaubert waren. Bei
manchen hielt der Zauber nur so lange an, wie die Stimme zu ihnen
sprach, und wenn sie mit einem anderen sprach, lächelten sie, wie Männer
lächeln, die das Kunststück eines Gauklers schon durchschauen, während
andere noch Mund und Nase aufsperren. Für viele war allein der Klang
der Stimme ausreichend, sie im Banne zu halten; aber bei denjenigen, die
von ihr bezwungen worden waren, hielt der Zauber an, auch wenn sie
weit fort waren, und immer hörten sie diese sanfte Stimme flüstern und
sie anspornen. Aber keiner blieb ungerührt; keiner wies ihre Bitten und
Befehle zurück ohne eine Anstrengung des Geistes und des Willens,
solange er noch die Herrschaft darüber hatte.
»Nun?« fragte sie jetzt sanft. »Warum müßt ihr meine Ruhe stören?
Wollt ihr mir überhaupt keinen Frieden gönnen bei Tag oder bei Nacht?«
Ihr Ton war der eines freundlichen Herzens, das betrübt ist über unver-
diente Ungerechtigkeiten.
Sie schauten erstaunt hinauf, denn sie hatten ihn gar nicht kommen
hören; und sie sahen eine Gestalt am Geländer stehen, die zu ihnen her-
abblickte: ein alter Mann, in einen weiten Mantel gehüllt, dessen Farbe
nicht leicht auszumachen war, denn sie änderte sich, wenn sie ihre
Augen bewegten oder er sich rührte. Sein Gesicht war lang, die Stirn
hoch, und er hatte tiefliegende, dunkle Augen, die schwer zu ergründen
waren, obwohl ihr Ausdruck jetzt ernst und gütig war, und ein wenig
müde. Haar und Bart waren weiß, doch sah man um Lippen und Ohr
noch schwarze Strähnen.
»Ähnlich, und doch unähnlich«, murmelte Gimli.
»Doch was gibt es«, sagte die sanfte Stimme. »Zumindest zwei von
euch kenne ich mit Namen. Gandalf kenne ich zu gut, um viel Hoffnung
zu haben, daß er hier Hilfe oder Rat sucht. Aber Ihr, Théoden, Herr der
Mark von Rohan, seid erkennbar an Eurem edlen Wappen und mehr noch
an dem schönen Antlitz des Hauses von Eorl. O würdiger Sohn Thengels,
des Höchstberühmten! Warum seid Ihr nicht früher gekommen und als
Freund? Sehr habe ich gewünscht Euch zu sehen, den mächtigsten König
der westlichen Lande, und besonders in diesen letzten Jahren, um Euch
vor den unklugen und bösen Ratgebern zu bewahren, die Euch umgeben.
Ist es schon zu spät? Trotz der Unbillen, die mir zugefügt worden sind,
an denen die Menschen von Rohan leider einen gewissen Anteil gehabt
haben, möchte ich Euch noch immer retten und vor dem Untergang be-
wahren, der unvermeidlich näherrückt, wenn Ihr auf dieser Straße weiter-
reitet, die Ihr eingeschlagen habt. Wahrlich, ich allein kann Euch jetzt
helfen.«
Théoden machte den Mund auf, als ob er sprechen wollte, aber er sagte
nichts. Er blickte hinauf zu Sarumans Gesicht mit den dunklen, ernsten
Augen, die auf ihn gerichtet waren, und dann zu Gandalf an seiner Seite;
und er schien zu zaudern. Gandalf gab kein Zeichen; er stand still wie
Stein, wie einer, der geduldig auf eine Aufforderung wartet, die noch
nicht ergangen ist. Die Reiter regten sich zuerst und murmelten beifällig
zu Sarumans Worten; und dann waren auch sie still, wie Menschen unter
einem Zauberbann. Ihnen schien, als habe Gandalf niemals so schön und
passend mit ihrem Herrn gesprochen. Grob und hochmütig erschienen
ihnen jetzt alle seine Verhandlungen mit Théoden. Und ein Schatten
kroch über ihre Herzen, die Furcht vor einer großen Gefahr: das Ende der
Mark in einer Dunkelheit, in die Gandalf sie trieb, während Saruman
neben einem Tor zur Flucht stand, das er halb offenhielt, so daß ein
Lichtstrahl hindurchfiel. Es herrschte ein bedrücktes Schweigen.
Gimli der Zwerg war es, der es plötzlich brach. »Die Worte dieses Zau-
berers stehen auf dem Kopf«, grollte er und packte den Griff seiner Axt.
»In der Sprache von Orthanc bedeutet Hilfe Untergang und Retten bedeu-
tet Erschlagen, das ist klar. Aber wir sind nicht hierher gekommen, um
zu bitten.«
»Ruhig!« sagte Saruman, und für einen flüchtigen Augenblick war
seine Stimme weniger milde, und ein Funkeln flackerte in seinen Augen
auf und verschwand wieder. »Noch spreche ich nicht mit Euch, Gimli,
Glóins Sohn«, sagte er. »Fern ist Eure Heimat, und von geringer Bedeu-
tung sind für Euch die Wirren dieses Landes. Doch war es nicht Eure
eigene Absicht, daß Ihr in sie hineinverwickelt wurdet, und deshalb will
ich Euch nicht tadeln wegen der Rolle, die Ihr gespielt habt — eine tap-
fere, daran zweifle ich nicht. Doch bitte ich, erlaubt mir zuerst mit dem
König von Rohan zu sprechen, meinem Nachbarn und einst meinem
Freund.
Was habt Ihr zu sagen, König Théoden? Wollt Ihr Frieden mit mir
haben und alle Hilfe, die mein in langen Jahren erlangtes Wissen zu ge-
währen vermag? Wollen wir gemeinsam beratschlagen, wie die bösen Zei-
ten zu bestehen sind, und unsere Schäden wiedergutmachen mit so viel
gutem Willen, daß unser beider Besitztümer zu schönerer Blüte kommen
denn je zuvor?«
Noch immer antwortete Théoden nicht. Ob er gegen Zorn ankämpfte
oder gegen Zweifel, konnte keiner sagen, Éomer sprach.
»Herr, hört mich!« sagte er. »Jetzt verspüren wir die Gefahr, vor der
wir gewarnt wurden. Sind wir ausgeritten zum Sieg, um schließlich in
Schrecken versetzt zu werden von einem alten Lügner mit Honig auf sei-
ner gespaltenen Zunge? So würde der in der Falle gefangene Wolf mit den
Hunden sprechen, wenn er könnte. Welche Hilfe kann er Euch in Wirk-
lichkeit gewähren? Er wünscht sich ja nichts, als seiner jämmerlichen
Lage zu entrinnen. Aber wollt Ihr unterhandeln mit diesem Mann, der
nur Verräterei und Mord im Sinn hat? Denkt an Theodred an der Furt
und das Grab von Háma in Helms Klamm!«
»Wenn wir von vergifteten Zungen reden, was sollen wir dann von
Eurer sagen, junge Schlange?« fragte Saruman, und das Aufflammen sei-
ner Wut war jetzt deutlich zu sehen. »Doch kommt, Éomer, Éomunds
Sohn!« fuhr er dann wieder mit sanfter Stimme fort. »Jedem Mann seine
Rolle. Tapferkeit der Waffen ist die Eure, und hohe Ehre gewinnt Ihr
dadurch. Erschlagt, wen Euer Herr als Feinde benennt, und begnügt Euch
damit. Mischt Euch nicht in Staatsangelegenheiten, die Ihr nicht versteht.
Doch werdet Ihr vielleicht herausfinden, wenn Ihr König werdet, daß man
seine Freunde mit Bedacht wählen muß. Sarumans Freundschaft und die
Macht von Orthanc können nicht leichthin abgetan werden, welche Gründe
zu Klagen, wirkliche oder eingebildete, auch immer vorliegen mögen. Ihr
habt eine Schlacht gewonnen, nicht einen Krieg — und das dank einer
Hilfe, auf die Ihr nicht wieder rechnen könnt. Es mag sein, daß Ihr den
Schatten des Waldes demnächst vor Eurer Tür findet: er ist unberechen-
bar und unverständig und liebt die Menschen nicht.
Aber, mein Herr von Rohan, muß ich ein Mörder genannt werden,
weil tapfere Männer im Kampfe gefallen sind? Wenn Ihr in den Krieg
zieht, unnötigerweise, denn ich wollte ihn nicht, dann werden Männer er-
schlagen. Doch wenn ich deswegen ein Mörder bin, dann ist Eorls ganzes
Haus mit Mord befleckt; denn es hat viele Kriege geführt und viele ange-
griffen, die ihm Trotz boten. Dennoch hat es nachher mit vielen Frieden
geschlossen und ist gut dabei gefahren, denn es war staatsmännisch klug.
Ich sage, König Théoden: sollen wir Frieden und Freundschaft haben. Ihr
und ich? Es liegt in unserer Hand.«
»Wir werden Frieden haben«, sagte Théoden schließlich mit belegter
Stimme und mühsam. Einige der Reiter stießen Freudenrufe aus. Théoden
hob die Hand. »Ja, wir werden Frieden haben«, sagte er jetzt mit klarer
Stimme, »wir werden Frieden haben, wenn Ihr und all Eure Werke ver-
nichtet seid — und die Werke Eures dunklen Herrn, dem ihr uns auslie-
fern wolltet. Ihr seid ein Lügner, Saruman, und ein Verführer der Herzen
der Menschen. Ihr streckt mir die Hand entgegen, und ich erkenne nur
einen Finger der Klaue von Mordor. Grausam und kalt! Selbst wenn Euer
Krieg gegen mich gerecht gewesen wäre — was er nicht war, denn wenn
ihr zehnmal so klug wäret, hättet Ihr doch kein Recht, mich und mein
Reich zu Eurem eigenen Vorteil zu beherrschen, wie Ihr es wünschtet —
selbst dann, was werdet Ihr über Eure Feuersbrünste in Westfold sagen
und über die Kinder, die dort getötet wurden? Und sie haben Hamas Kör-
per vor den Toren der Hornburg zerhackt, nachdem er tot war. Wenn Ihr
an einem Balken Eures Fensters wie an einem Galgen hängt zum Vergnü-
gen Eurer eigenen Krähen, dann werde ich Frieden haben mit Euch und
Orthanc. So viel für Eorls Haus. Ein unbedeutender Sohn großer Vorfah-
ren bin ich, aber ich habe es nicht nötig. Euch die Hand zu lecken. Wen-
det Euch anderswohin. Doch ich fürchte. Eure Stimme hat ihren Zauber
verloren.«
Die Reiter starrten zu Théoden hinauf wie Menschen, die aus einem
Traum auffahren. Mißtönend wie die Stimme eines alten Raben klang die
ihres Herrn in ihren Ohren nach Sarumans Wohllaut. Aber Saruman war
eine Weile außer sich vor Zorn. Er beugte sich über das Geländer, als ob
er den König mit seinem Stab schlagen wollte. Einigen kam es plötzlich
vor, als sähen sie eine Schlange, die sich zusammenrollt, ehe sie ihre Gift-
zähne in das Opfer schlägt.
»Galgen und Krähen!« zischte er, und es schauderte sie, so abscheulich
hatte sich die Stimme verändert. »Schwachsinniger Greis! Was ist Eorls
Haus anderes als eine strohgedeckte Scheune, wo Straßenräuber in stinki-
gem Rauch trinken und ihre Sprößlinge sich zwischen den Hunden auf
dem Fußboden sielen? Zu lange sind sie selbst dem Galgen entronnen.
Doch der Fallstrick kommt, langsam zieht sich die Schlinge zu, fest und
hart zuletzt. Hängt, wen Ihr wollt!« Jetzt änderte sich seine Stimme wie-
der, während er allmählich seine Selbstbeherrschung zurückgewann. »Ich
weiß nicht, warum ich die Geduld aufbringe, mit Euch zu reden. Denn ich
brauche Euch nicht, und auch nicht Eure kleine Bande galoppierender Rei-
ter, ebenso bereit zur Flucht wie zum Angriff, Théoden Pferdeherr. Vor
langer Zeit bot ich Euch eine Machtstellung an, die Euer Verdienst und
Euren Verstand überstieg. Ich habe das Angebot wiederholt, so daß jene,
die Ihr in die Irre führt, deutlich sehen können, welcher andere Weg zur
Wahl steht. Ihr überschüttet mich mit Prahlereien und Schmähungen. So
sei es denn. Kehrt heim in Eure Hütten!
Aber du, Gandalf! Um dich zumindest gräme ich mich, denn deine
Schande dauert mich. Wie kommt es, daß du solche Gesellschaft ertragen
kannst? Denn du bist stolz, Gandalf — und nicht ohne Verstand, hast
einen edlen Sinn und Augen, die sowohl tief als auch weit sehen. Nicht
einmal jetzt willst du auf meinen Rat hören?« Gandalf schaute hinauf.
»Was hast du zu sagen, was du nicht schon bei unserer letzten Begegnung
gesagt hättest?« fragte er. »Oder vielleicht hast du etwas zu widerrufen?«
Saruman zögerte. »Widerrufen?« wiederholte er, als ob er angestrengt
nachdächte. »Widerrufen? Ich trachtete, dir zu deinem Nutz und From-
men zu raten, aber du hast kaum zugehört. Du bist stolz und liebst es
nicht, Rat zu empfangen, denn du hast fürwahr einen eigenen Schatz an
Weisheit. Aber bei jener Gelegenheit irrtest du, glaube ich, und hast
meine Absichten bewußt falsch ausgelegt. Ich fürchte, daß ich in meinem
Eifer, dich zu überzeugen, die Geduld verlor. Und das bedauere ich wirk-
lich. Denn ich hegte keinen Groll gegen dich, und selbst jetzt hege ich
keinen Groll, obwohl du zu mir zurückkehrst in der Gesellschaft von Ge-
walttätigen und Unwissenden. Wie sollte ich auch? Sind wir nicht beide
Mitglieder eines hohen und alten Ordens, des hervorragendsten in Mittel-
erde? Unsere Freundschaft würde uns beiden zum Nutzen gereichen. Viel
könnten wir noch gemeinsam vollbringen, um die Wirren der Welt zu be-
reinigen. Laß uns einander verstehen und diese geringeren Leute aus un-
seren Gedanken verbannen! Laß sie unserer Entscheidungen harren! Um
des Gemeinwohls willen bin ich bereit, das Gewesene zu berichtigen und
dich zu empfangen. Willst du dich nicht mit mir beraten? Willst du nicht
heraufkommen?«
So groß war die Macht, die Saruman bei seiner letzten Anstrengung
ausübte, daß keiner, der in Hörweite stand, unbeeindruckt blieb. Doch
jetzt war die Verzauberung eine völlig andere. Sie hörten die milden Vor-
würfe eines gütigen Königs gegen einen irrenden, aber vielgeliebten Die-
ner. Doch waren sie ausgeschlossen, lauschten nur an der Tür auf Worte,
die nicht für sie bestimmt waren: unerzogene Kinder oder dumme Dienst-
boten, die ein schwer verständliches Gespräch der Älteren mitanhören
und sich Gedanken darüber machen, wie es sich auf ihr Schicksal auswir-
ken werde. Aus edlerem Holz waren diese beiden geschnitzt: verehrungs-
würdig und weise. Es war unvermeidlich, daß sie ein Bündnis eingehen
würden. Gandalf würde in den Turm hinaufsteigen, um in den hohen Ge-
mächern von Orthanc tiefgründige Dinge zu erörtern, die sie nicht zu be-
greifen vermochten. Die Tür würde geschlossen werden, und sie würden
draußen bleiben, weggeschickt, um die ihnen zugeteilte Arbeit oder
Strafe zu erwarten. Selbst in Théodens Geist nahm der Gedanke Gestalt
an wie ein Schatten des Zweifels: »Er wird uns verraten; er wird gehen -
und wir werden verloren sein.«
Dann lachte Gandalf. Das Trugbild verschwand wie ein Rauchwölk-
chen.
»Saruman, Saruman!« sagte Gandalf, immer noch lachend. »Saruman,
du hast deinen Beruf verfehlt. Du hättest des Königs Hofnarr sein und
dein Brot und auch Schläge damit verdienen sollen, daß du seine Ratgeber
nachäffst. Du meine Güte!« Er hielt inne, um über seine Heiterkeit hin-
wegzukommen. »Einander verstehen? Ich fürchte, mich kannst du nicht
begreifen. Aber dich, Saruman, verstehe ich jetzt nur zu gut. Deine Be-
weisführungen und deine Taten habe ich besser im Gedächtnis, als du an-
nimmst. Als ich dich zuletzt besuchte, warst du der Gefängniswärter von
Mordor, und dorthin sollte ich geschickt werden. Nein, der Gast, der vom
Dach flieht, wird es sich zweimal überlegen, ehe er durch die Tür zurück-
kommt. Nein, ich glaube nicht, daß ich hinaufkommen werde. Aber höre,
Saruman, zum letztenmal! Willst du nicht herunterkommen? Isengart hat
sich als weniger stark erwiesen, als du gehofft und dir eingebildet hattest.
So mag es auch mit anderen Dingen gehen, auf die du noch vertraust.
Wäre es nicht gut, Isengart für eine Weile zu verlassen? Sich vielleicht
neuen Dingen zuzuwenden? Überlege es, Saruman! Willst du nicht herun-
terkommen?«
Ein Schatten zog über Sarumans Gesicht; dann wurde es totenblaß. Ehe
er es verbergen konnte, sahen sie hinter der Maske die Seelenqual eines
Zweifelnden, der an seiner Zufluchtstätte nicht bleiben will, sich aber
fürchtet, sie zu verlassen. Eine Sekunde zögerte er, und alle hielten den
Atem an. Dann sprach er, und seine Stimme war schrill und kalt. Stolz
und Haß gewannen die Oberhand über ihn.
»Will ich herunterkommen?« spottete er. »Kommt ein unbewaffneter
Mann vor die Tür, um mit Räubern zu reden? Ich kann dich von hier aus
gut genug hören. Ich bin kein Narr, und ich traue dir nicht, Gandalf. Sie
stehen nicht offen auf meiner Treppe, aber ich weiß, wo die wilden Wald-
geister auf deinen Befehl lauem.«
»Verräter sind immer argwöhnisch«, antwortete Gandalf müde. »Du
brauchst nicht für dein Leben zu fürchten. Ich will dich nicht töten oder
verletzen, wie du wissen würdest, wenn du mich wirklich verstündest.
Und ich habe die Macht, dich zu schützen. Ich biete dir eine letzte Gele-
genheit. Du kannst Orthanc verlassen, frei — wenn du es wünschst.«
»Das klingt gut«, höhnte Saruman. »Ganz und gar nach der Art von
Gandalf dem Grauen: so herablassend und so überaus freundlich. Ich
zweifle nicht, daß du Orthanc passend und mein Fortgehen zweckdienlich
finden würdest. Doch warum sollte ich den Wunsch haben, fortzugehen?
Und was meinst du mit >frei<? Es gibt Bedingungen, nehme ich an?«
»Gründe für das Fortgehen kannst du von deinen Fenstern aus sehen«,
antwortete Gandalf. »Andere werden dir noch einfallen. Deine Diener
sind vernichtet und verstreut; deine Nachbarn hast du dir zu Feinden ge-
macht; und deinen neuen Herrn hast du betrogen oder es wenigstens ver-
sucht. Wenn sein Auge sich hierher wendet, wird es das rote Auge des
Zorns sein. Aber wenn ich >frei< sage, dann meine ich >frei<: frei
von
Fesseln, Ketten oder Befehl: zu gehen, wohin du willst, sogar — sogar
nach Mordor, Saruman, wenn du es wünschst. Doch zuerst wirst du mir
den Schlüssel von Orthanc aushändigen, und deinen Stab. Sie sollen Un-
terpfänder sein für dein Verhalten und dir später zurückgegeben werden,
wenn du sie verdienst.«
Sarumans Gesicht wurde leichenblaß, wutverzerrt, und ein rotes Fun-
keln leuchtete in seinen Augen auf. Er lachte höhnisch. »Später!« rief er,
und seine Stimme wurde schrill. »Später! Ja. Wenn du auch die Schlüssel
von Barad-dûr selbst hast, nehme ich an; und die Kronen von sieben
Königen und die Stäbe der Fünf Zauberer und du dir ein Paar Stiefel be-
sorgt hast, die fünf Nummern größer sind als die, die du jetzt trägst. Ein
bescheidener Plan. Kaum einer, bei dem meine Hilfe nötig ist! Ich habe
anderes zu tun. Sei kein Narr. Wenn du mit mir verhandeln willst,
solange du eine Möglichkeit hast, gehe weg und komme zurück, wenn du
nüchtern bist! Und bringe diese Halsabschneider und das kleine Lumpen-
pack, das an deinen Rockschößen baumelt, nicht wieder mit! Guten Tag!«
Er wandte sich um und verließ den Balkon.
»Komm zurück, Saruman!« sagte Gandalf in befehlendem Ton. Zur
Verwunderung der anderen wandte sich Saruman wieder um, und als ob
er gegen seinen Willen gezogen würde, kam er langsam zu dem eisernen
Geländer zurück, stützte sich darauf und atmete mühsam. Sein Gesicht
war runzlig und zusammengeschrumpft. Seine Hand umklammerte den
schweren schwarzen Stab wie eine Klaue.
»Ich habe dir nicht erlaubt, zu gehen«, sagte Gandalf streng. »Ich bin
noch nicht fertig. Du bist ein Narr geworden, Saruman, und dennoch be-
mitleidenswert. Noch jetzt hättest du von Torheit und Bosheit ablassen
und nützlich sein können. Aber du hast dich dafür entschieden, zu blei-
ben und an den Zielen deiner alten Ränke weiterzunagen. Also bleibe!
Aber ich warne dich, du wirst nicht leicht wieder herauskommen. Nicht,
ehe die dunklen Hände des Ostens nach dir greifen. Saruman!« rief er,
und seine Stimme nahm an Kraft und Nachdruck zu. »Siehe, ich bin nicht
Gandalf der Graue, den du betrogen hast. Ich bin Gandalf der Weiße, der
vom Tode zurückgekehrt ist. Du hast jetzt keine Farbe, und ich verstoße
dich aus dem Orden und aus dem Rat.«
Er hob die Hand und sprach langsam mit einer klaren, kalten Stimme.
»Saruman, dein Stab ist zerbrochen.« Man hörte ein Knacken, der Stab
zersplitterte in Sarumans Hand, und sein oberes Ende fiel Gandalf vor die
Füße. »Geh!« sagte Gandalf. Mit einem Schrei wich Saruman zurück und
kroch davon. In diesem Augenblick wurde ein schwerer, glänzender Ge-
genstand von oben herabgeschleudert. Er prallte von dem eisernen Gelän-
der ab, als Saruman es gerade verlassen hatte, sauste dicht an Gandalfs
Kopf vorbei und fiel auf die Treppenstufe, auf der er stand. Das Geländer
gab einen hellen Ton von sich und zerbarst. Die Stufe zersprang und
zersplitterte zu glitzernden Bruchstücken. Aber der Ball war unbeschä-
digt: er rollte die Stufen hinab, eine Kristallkugel, dunkel, von einem in-
neren Feuer erhellt. Als sie weitersprang zu einem Tümpel, lief Pippin
hinterdrein und hob sie auf.
»Dieser Mordbube!« rief Éomer. Aber Gandalf war ungerührt. »Nein,
das ist nicht von Saruman geworfen worden«, sagte er, »nicht einmal auf
sein Geheiß, glaube ich. Es kam von einem Fenster weiter oben. Ein Ab-
schiedsgeschoß von Herrn Schlangenzunge, vermute ich, aber schlecht ge-
zielt.«
»Vielleicht deshalb schlecht gezielt, weil er sich nicht darüber klar wer-
den konnte, wen er mehr haßte, dich oder Saruman«, sagte Aragorn.
»Das mag wohl sein«, sagte Gandalf. »Germgen Trost werden die bei-
den darin finden, einander Gesellschaft zu leisten: sie werden sich gegen-
seitig mit Worten zermürben. Aber die Strafe ist gerecht. Wenn Schlan-
genzunge jemals aus Orthanc herauskommt, dann ist das mehr, als er
verdient.
»Komm, mein Junge, das nehme ich! Ich habe dich nicht aufgefordert,
es anzufassen«, rief er, als er sich rasch umdrehte und sah, wie Pippin die
Treppe heraufkam, langsam, als ob er eine schwere Last trüge. Er ging
ihm entgegen, nahm dem Hobbit hastig die dunkle Kugel ab und verbarg
sie in den Falten seines Mantels. »Das werde ich in Verwahrung neh-
men«, sagte er. »Dieses Ding hätte Saruman bestimmt nicht gern wegge-
worfen.«
»Aber vielleicht hat er noch andere Dinge, die er werfen kann«, sagte
Gimli. »Wenn dies das Ende der Unterhaltung ist, dann laßt uns wenig-
stens aus der Steinwurfweite herausgehen!«
»Es ist das Ende«, sagte Gandalf. »Laßt uns gehen.«
Sie kehrten den Türen von Orthanc den Rücken und gingen hinunter.
Die Reiter jubelten dem König voll Freude zu und grüßten Gandalf. Saru-
mans Zauberbann war gebrochen: sie hatten gesehen, wie er auf einen
Ruf hin kam und davonkroch, entlassen.
»So, das ist erledigt«, sagte Gandalf. »Jetzt muß ich Baumbart suchen
und ihm sagen, wie die Dinge verlaufen sind.«
»Er wird es doch gewiß vermutet haben?« fragte Merry. »Bestand die
Wahrscheinlichkeit, daß sie anders ausgehen würden?«
»Nein, es war nicht wahrscheinlich«, antwortete Gandalf, »obwohl es
an einem Haar gehangen hatte. Aber ich hatte Gründe, es zu versuchen;
einige barmherzige und andere, die es weniger waren. Zum erstenmal
wurde Saruman gezeigt, daß die Macht seiner Stimme im Schwinden war.
Er kann nicht sowohl Gewaltherrscher als auch Ratgeber sein. Wenn die
Zeit für die Verschwörung reif ist, bleibt sie nicht länger geheim. Den-
noch geriet er in die Falle und versuchte, mit seinen Opfern einzeln fer-
tigzuwerden, während andere zuhörten. Dann gab ich ihm eine letzte und
billige Gelegenheit, sich zu entscheiden: sowohl Mordor als auch seine
eigenen Pläne aufzugeben und dadurch Wiedergutmachung zu leisten,
daß er uns in unserer Not hilft. Er kennt unsere Not, niemand besser als
er. Sehr nützlich hätte er uns sein können. Aber er hat es vorgezogen,
uns die Hilfe zu versagen und die Macht von Orthanc zu behalten. Er will
nicht dienen, sondern befehlen. Jetzt lebt er in Angst vor dem Schatten
von Mordor, und dennoch träumt er davon, den Sturm zu überstehen.
Unseliger Narr! Er wird verschlungen werden, wenn die Macht des
Ostens ihre Arme nach Isengart ausstreckt. Wir können Orthanc nicht
von außen zerstören, aber Sauron — wer weiß, was er tun kann?«
»Und wenn Sauron nicht siegt? Was wirst du ihm dann antun?« fragte
Pippin.
»Ich? Nichts!« sagte Gandalf. »Ich will ihm nichts antun. Ich trachte
nicht nach Herrschaft. Was aus ihm werden wird? Das kann ich nicht
sagen. Es grämt mich, daß so vieles, was gut war, nun in dem Turm ver-
rottet. Immerhin sind die Dinge für uns nicht schlecht gegangen. Seltsam
sind die Wendungen des Schicksals! Oft schadet Haß sich selbst! Ich
stelle mir vor, selbst wenn wir hineingegangen wären, hätten wir nur
wenig Schätze in Orthanc finden können, die kostbarer wären als das
Ding, das Schlangenzunge auf uns herabgeworfen hat.«
Ein schriller Schrei, der plötzlich abbrach, kam aus einem offenen Fen-
ster hoch oben.
»Es scheint, daß Saruman das auch findet«, sagte Gandalf. »Überlassen
wir sie sich selbst!«
Sie kehrten nun zu dem zerstörten Tor zurück. Kaum waren sie unter
dem Gewölbebogen hindurchgegangen, als Baumbart und ein Dutzend an-
derer Ents aus den Schatten der aufgehäuften Steine, wo sie gestanden
hatten, herauskamen. Aragorn, Gimli und Legolas starrten sie verwun-
dert an.
»Hier sind drei meiner Gefährten, Baumbart«, sagte Gandalf. »Ich habe
von ihnen gesprochen, aber Ihr habt sie noch nicht gesehen.« Er nannte
ihre Namen.
Der Alte Ent sah sie lange und forschend an und sprach dann nachein-
ander mit ihnen. Zuletzt wandte er sich an Legolas. »So seid Ihr also den
ganzen Weg von Düsterwald hergekommen, mein guter Elb? Ein sehr
großer Wald war es einst!«
»Und ist es noch«, sagte Legolas. »Aber nicht so groß, daß wir, die
wir dort leben, es je müde würden, neue Bäume zu sehen. Ich würde über-
aus gern in Fangorns Wald wandern. Ich bin kaum über seinen Saum hin-
ausgelangt und hatte nicht den Wunsch, umzukehren.«
Baumbarts Augen strahlten vor Freude. »Ich hoffe. Euer Wunsch wird
Euch erfüllt, ehe die Berge viel älter sind«, sagte er.
»Ich werde kommen, wenn ich Gelegenheit habe«, sagte Legolas. »Ich
habe ein Abkommen mit meinem Freund getroffen, daß wir, wenn alles
gut geht, gemeinsam Fangorn besuchen — mit Eurer Erlaubnis.«
»Jeder Elb, der mit Euch kommt, wird willkommen sein«, sagte Baum-
bart.
»Der Freund, von dem ich spreche, ist kein Elb«, sagte Legolas. »Ich
meine Gimli, Glóins Sohn, hier.« Gimli verbeugte sich tief, und die Axt
rutschte aus seinem Gürtel und fiel klirrend auf den Boden.
»Hum, hm! Je nun«, sagte Baumbart und blickte ihn finster an. »Ein
Zwerg und Axtträger! Hum! Ich bin den Elben wohlgesinnt, aber Ihr
verlangt viel. Das ist eine seltsame Freundschaft!«
»Seltsam mag sie erscheinen«, sagte Legolas. »Aber solange Gimli lebt,
werde ich nicht allein nach Fangorn kommen. Seine Axt ist nicht für
Bäume, sondern für Orknacken, o Fangorn, Herr von Fangorns Wald.
Zweiundvierzig erschlug er in der Schlacht.«
»Hu! Sachte, sachte!« sagte Baumbart. »Das hört sich besser an! Nun,
die Dinge werden ihren Lauf nehmen; es ist nicht nötig, ihnen entgegen-
zueilen. Aber jetzt müssen wir uns für eine Weile trennen. Der Tag
nähert sich seinem Ende, doch Gandalf sagt, Ihr müßtet vor Einbruch der
Nacht fortreiten, und der Herr der Mark ist ungeduldig, nach Hause zu
kommen.«
»Ja, wir müssen gehen, und zwar gleich«, sagte Gandalf. »Ich fürchte,
ich muß Euch Eure Torhüter fortnehmen. Aber Ihr werdet auch ohne sie
ganz gut zurechtkommen.«
»Das werde ich vielleicht«, sagte Baumbart. »Aber ich werde sie ver-
missen. Wir sind in so kurzer Zeit Freunde geworden, daß ich glaube, ich
werde allmählich hastig — vielleicht wachse ich rückwärts wieder der
Jugend entgegen. Aber jedenfalls waren sie die ersten neuen Lebewesen
unter der Sonne oder dem Mond, die ich seit so manchem langen, langen
Tag gesehen habe. Ich habe ihre Namen der Langen Liste angefügt. Die
Ents werden sie sich merken.
Ents, die Erdsprosse, alt wie die Berge,
Weithin wandernde Wassertrinker,
Und hungrig wie Jäger die Hobbitkinder,
Das lachende Völkchen, die kleinen Leute,
und sie sollen Freunde bleiben, solange Blätter neu entstehen. Lebt wohl!
Aber wenn ihr oben in eurem erfreulichen Land, im Auenland, Neues
hört, dann gebt mir Bescheid! Ihr wißt, was ich meine, wenn ihr von den
Entfrauen etwas hört oder seht. Kommt selbst, wenn ihr könnt!«
»Das werden wir«, sagten Merry und Pippin aus einem Munde, und sie
wandten sich rasch ab. Baumbart schaute sie an, schwieg eine Weile und
schüttelte nachdenklich den Kopf. Dann wandte er sich an Gandalf.
»Saruman wollte also nicht fortgehen?« fragte er. »Ich hatte es auch
nicht angenommen. Sein Herz ist so verstockt wie das eines schwarzen
Huorn. Indes, wäre ich besiegt und alle meine Bäume vernichtet worden,
würde ich auch nicht herauskommen, wenn ich noch ein dunkles Loch
hätte, um mich darin zu verstecken.«
»Nein«, sagte Gandalf. »Aber Ihr habt auch nicht Ränke geschmiedet,
um die ganze Welt mit Euren Bäumen zu bedecken und alle anderen Lebe-
wesen zu ersticken. Aber so ist es nun, Saruman bleibt hier, um seinen
Haß zu nähren und wieder solche Netze zu spinnen, wie er vermag. Er hat
den Schlüssel von Orthanc. Aber er darf nicht entfliehen.«
»Wirklich nicht! Dafür werden die Ents sorgen«, sagte Baumbart.
»Saruman soll nicht den Fuß über den Felsen hinaus setzen ohne meine
Erlaubnis. Die Ents werden ihn bewachen.«
»Gut«, sagte Gandalf. »Das hatte ich gehofft. Jetzt kann ich gehen und
mich anderen Dingen zuwenden und habe eine Sorge weniger. Aber Ihr
müßt vorsichtig sein. Das Wasser ist gesunken. Es wird nicht genug sein,
Wachen um den Turm aufzustellen, fürchte ich. Ich zweifle nicht daran,
daß tiefe Gänge unter Orthanc gegraben worden sind und Saruman hofft,
dort bald unbemerkt ein- und ausgehen zu können. Wenn Ihr die Mühe
auf Euch nehmen wollt, dann bitte ich Euch, das Wasser wieder hinein-
fließen zu lassen, und zwar so lange, bis Isengart zu einem stehenden Ge-
wässer geworden ist oder Ihr die Ausgänge entdeckt. Wenn alle unterir-
dischen Räume überflutet und die Ausgänge versperrt sind, dann muß
Saruman oben bleiben und aus den Fenstern gucken.«
»Überlaßt es den Ents!« sagte Baumbart. »Wir werden das Tal von
oben bis' unten absuchen und unter jedem Kieselstein nachschauen. Es
kommen wieder Bäume her, um hier zu leben, alte Bäume, wilde Bäume.
Den Wachtwald werden wir ihn nennen. Nicht ein Eichhörnchen wird
hier herumlaufen, ohne daß ich davon weiß. Überlaßt es den Ents! Ehe
nicht die Jahre, in denen er uns gequält hat, siebenmal verstrichen sind,
werden wir nicht müde werden, ihn zu bewachen."