SECHSTES KAPITEL
DER ALTE WALD

Frodo wachte plötzlich auf. Es war noch dunkel im Zimmer. Merry
stand da mit der Kerze in der einen Hand, und mit der anderen ballerte er
gegen die Tür. »Schon gut! Was ist denn?« fragte Frodo, noch immer
mitgenommen und verstört.
»Was ist!« rief Merry. »Zeit zum Aufstehen ist's. Es ist halb fünf und
sehr neblig. Nun los! Sam macht schon Frühstück. Sogar Pippin ist auf.
Ich will gerade die Ponies satteln und das eine holen, das Gepäckträger
spielen soll. Wecke Dick, den Faulpelz! Zumindest muß er aufstehen und
uns ein Stück begleiten.«
Kurz nach sechs Uhr waren die fünf Hobbits bereit. Dick Böiger
gähnte immer noch. Sie stahlen sich leise aus dem Haus. Merry ging
voran mit einem beladenen Pony und schlug einen Pfad ein, der durch ein
Gebüsch hinter dem Haus führte und dann über mehrere Wiesen. Die
Blätter auf den Bäumen glänzten, und von jedem Zweig tropfte es; das
Gras war grau von kaltem Tau. Alles war still, und weit entfernte Geräu-
sche erschienen nah und klar: Federvieh gackerte in einem Hof, und in
einem abgelegenen Haus schloß jemand eine Tür.
Im Schuppen fanden sie die Ponies; kräftige kleine Tiere, wie Hobbits
sie liebten, nicht schnell, aber gut für ein langes Tagewerk. Sie stiegen
auf, und bald ritten sie hinein in den Nebel, der sich nur widerstrebend
vor ihnen zu öffnen schien und sich drohend hinter ihnen wieder schloß.
Nachdem sie etwa eine Stunde langsam und ohne zu reden geritten
waren, tauchte plötzlich die Hecke vor ihnen auf. Sie war hoch und mit
silbernen Spinnweben überzogen.
»Wie wollt ihr da durchkommen?« fragte Fredegar.
»Folge mir«, sagte Merry, »dann wirst du es sehen.« Er ritt nach links
weiter, und bald kamen sie zu einer Stelle, wo sich die Hecke nach innen
ausbuchtete und am Rand einer Mulde entlanglief. In einiger Entfernung
von der Hecke war ein Einschnitt mit leichtem Gefälle angelegt worden. Er
hatte Ziegelmauern an den Seiten, die senkrecht aufragten, bis sie sich
plötzlich nach oben wölbten und einen Tunnel bildeten, der tief unter der
Hecke hindurchtauchte und auf der anderen Seite in der Mulde wieder
herauskam.
Hier hielt Dick Böiger an. »Auf Wiedersehen, Frodo«, sagte er. »Ich
wünschte, du gingst nicht in den Wald. Ich hoffe nur, du wirst keine Ret-
tungsexpedition brauchen, ehe der Tag vorüber ist. Viel Glück wünsch ich
dir — für heute und alle Tage!«
»Wenn mir nichts Schlimmeres bevorsteht als der Alte Wald, dann
kann ich mich glücklich preisen«, meinte Frodo. »Sage Gandalf, er soll
sich schleunigst zur Oststraße aufmachen; wir werden bald wieder drauf-
stoßen und dann so schnell weitergehen, wie wir können.« — »Auf Wie-
dersehen!« riefen sie, ritten in die Senke hinein und verschwanden aus
Fredegars Sicht.
Im Tunnel war es dunkel und feucht. An seinem Ende war er durch ein
Tor aus dicken Eisenstangen versperrt. Merry stieg ab und schloß das Tor
auf, und als sie alle hindurch waren, stieß er es wieder zu. Es fiel klirrend
zu, und das Schloß schnappte ein. Das Geräusch war unheimlich.
»So«, sagte Merry. »Ihr habt das Auenland verlassen, seid jetzt drau-
ßen und am Rande des Alten Waldes.«
»Sind die Geschichten über ihn wahr?« fragte Pippin.
»Ich weiß nicht, welche Geschichten du meinst«, antwortete Merry.
»Wenn du die alten Schauergeschichten meinst, die Dicks Kindermädchen
ihm zu erzählen pflegten, über Unholde und Wölfe und derlei Dinge,
dann würde ich sagen: nein. Jedenfalls glaube ich sie nicht. Aber der
Wald ist wirklich absonderlich. Alles in ihm ist sehr viel lebendiger,
alles, was darin vorgeht, geschieht sozusagen bewußter als im Auenland.
Und die Bäume mögen keine Fremden. Sie beobachten dich. Gewöhnlich
begnügen sie sich damit, dich zu beobachten, solange es heller Tag ist,
und tun nicht viel. Gelegentlich mag es sein, daß die unfreundlichsten
einen Zweig fallen lassen oder eine Wurzel herausstrecken oder mit
einer langen Ranke nach dir greifen. Aber des Nachts kann es höchst
beängstigend sein, ist mir jedenfalls erzählt worden. Ich bin nur ein-
oder zweimal nach Einbruch der Dunkelheit hier gewesen, und dann nur
in der Nähe der Hecke. Mir kam es vor, als flüsterten die Bäume mit-
einander, tauschten Nachrichten und Pläne aus in einer unverständlichen
Sprache; und die Zweige schwankten hin und her und ächzten ohne
Wind. Es heißt, die Bäume bewegten sich wirklich und könnten Fremde
einkreisen und umzingeln. Tatsächlich haben sie vor langer Zeit die
Hecke angegriffen: sie kamen und pflanzten sich direkt in sie hinein und
lehnten sich über sie. Aber die Hobbits kamen und fällten Hunderte von
Bäumen und machten ein großes Feuer in dem Wald und verbrannten den
ganzen Boden auf einem langen Streifen östlich der Hecke. Danach gaben
die Bäume ihren Angriff auf, aber sie wurden sehr unfreundlich. Es gibt
immer noch einen großen kahlen Fleck nicht weit einwärts, wo das Feuer
entzündet worden war.«
»Sind es nur die Bäume, die gefährlich sind?« fragte Pippin.
»Es gibt verschiedene seltsame Wesen, die tief in dem Wald leben, und
auf der anderen Seite«, sagte Merry. »Oder wenigstens habe ich das
gehört. Aber ich habe nie etwas davon gesehen. Aber irgend etwas
macht Pfade. Sobald man hineinkommt, findet man offene Bahnen; doch
scheinen sie sich von Zeit zu Zeit auf sonderbare Weise zu verlagern und
zu verändern. Nicht weit von diesem Tunnel hier ist oder war vor langer
Zeit der Anfang eines ziemlich breiten Pfades, der zur Feuerlichtung
führt und dann weiter mehr oder weniger in unserer Richtung, östlich
und ein wenig nördlich. Das ist der Pfad, mit dem ich es versuchen will,
wenn ich ihn finde.«
Die Hobbits verließen jetzt das Tunneltor und ritten durch die breite
Mulde. An ihrem Ende war ein schwach erkennbarer Pfad, der zum Wald
hinaufführte, etwa fünfzig Klafter oder mehr jenseits der Hecke; aber er
verschwand, sobald er sie bis zu den Bäumen gebracht hatte. Als sie zu-
rückschauten, sahen sie die dunkle Linie der Hecke zwischen den Stäm-
men der Bäume, die sie schon dicht umgaben. Als sie nach vorn schau-
ten, sahen sie nur Baumstämme von allen möglichen Größen und Formen:
gerade oder gebogene, krumme, schräge, gedrungene oder schlanke, glatte
oder knorrige und ästige; und alle Stämme waren grün oder grau von
Moos und eklen, wuchernden Gewächsen.
Merry allein schien einigermaßen fröhlich. »Du solltest lieber vorange-
hen und diesen Pfad suchen«, sagte Frodo zu ihm. »Wir dürfen einander
nicht aus den Augen verlieren oder vergessen, in welcher Richtung die
Hecke liegt!«
Sie bahnten sich einen Weg zwischen den Bäumen, und ihre Ponies
trotteten dahin und umgingen vorsichtig die vielen verschlungenen und
miteinander verflochtenen Wurzeln. Es gab kein Unterholz. Das Gelände
stieg ständig an, und als sie weiterkamen, schien es, als würden die
Bäume höher, dunkler und dicker. Es war nichts zu hören als dann und
wann ein Tropfen, der durch die stillen Blätter fiel. Im Augenblick war
kein Raschem und keine Bewegung zwischen den Zweigen festzustellen;
aber sie hatten alle das unbehagliche Gefühl, beobachtet zu werden mit
einer Mißbilligung, die sich zu Abneigung und sogar Feindseligkeit stei-
gerte. Das Gefühl wurde immer stärker, bis sie sich dabei ertappten, daß
sie rasch hochschauten oder zurückblickten, als ob sie einen plötzlichen
Schlag erwarteten.

Es war immer noch keine Spur von einem Pfad zu sehen, und die
Bäume schienen ihnen ständig den Weg zu versperren. Pippin glaubte es
plötzlich nicht mehr ertragen zu können und stieß ohne Warnung einen
Ruf aus. »He! He!« schrie er. »Ich will euch doch gar nichts tun. Laßt
mich nur durch, hört ihr!«
Die anderen blieben erschrocken stehen; aber der Ruf erstarb, als hätte
ihn ein schwerer Vorhang erstickt. Es gab kein Echo und keine Antwort,
obwohl der Wald dichter zu werden schien und wachsamer als vorher.
»An deiner Stelle würde ich nicht rufen«, sagte Merry. »Es schadet
mehr, als es nützt.«
Frodo begann sich zu fragen, ob es überhaupt möglich sei, einen Weg
hindurch zu finden, und ob es richtig von ihm gewesen war, daß er die an-
deren in diesen abscheulichen Wald gebracht hat. Merry sah von einer
Seite zur anderen und schien schon ganz unsicher zu sein, in welcher
Richtung er gehen sollte. Pippin bemerkte das. »Du hast nicht lange ge-
braucht, um uns in die Irre zu führen«, sagte er. Aber in diesem Augen-
blick stieß Merry einen Pfiff der Erleichterung aus und zeigte nach vorn.
»Ja, ja«, sagte er. »Diese Bäume verschieben sich tatsächlich. Da liegt
die Feuerlichtung vor uns (oder ich hoffe jedenfalls), doch der Pfad dahin
scheint sich fortbewegt zu haben!«
Es wurde heller, als sie weiterkamen. Plötzlich traten sie aus den Bäu-
men heraus und befanden sich auf einer großen, kreisrunden Fläche. Über
ihnen war Himmel, blau und klar zu ihrer Überraschung, denn unter dem
Walddach hatten sie gar nicht merken können, daß es Morgen geworden
und der Nebel aufgestiegen war. Indes stand die Sonne noch nicht
hoch genug, um in die Lichtung hineinzuscheinen, doch lagen ihre Strah-
len auf den Baumgipfeln. Die Blätter waren alle dicker und grüner an den
Rändern der Lichtung, so daß diese gleichsam wie durch eine feste Mauer
abgeschlossen war. Kein Baum wuchs hier, nur stoppeliges Gras und viele
große Pflanzen: hochstengeliger, abgeblühter Schierling und Schafkerbel
und Weidenröschen, deren Samen zu flaumiger Asche zerfielen, und
wuchernde Nesseln und Disteln. Ein öder Ort: aber nach dem dichten
Wald kam er ihnen wie ein reizvoller und fröhlicher Garten vor.
Die Hobbits schöpften wieder Mut und blickten hoffnungsvoll hin-
auf zum heller werdenden Himmel. Am fernen Ende der Lichtung war
eine Lücke in der Baumwand und dahinter ein deutlicher Pfad. Sie sahen,
wie er in den Wald hineinführte, stellenweise breit und oben offen, ob-
wohl hier und da die Bäume enger standen und ihn mit ihren dunklen
Zweigen überschatteten. Diesen Pfad ritten sie hinauf. Es ging immer
noch leicht bergan, aber sie kamen jetzt viel rascher voran und leichteren
Herzens; denn es schien ihnen, als habe der Wald nachgegeben und wolle
sie jetzt doch ungehindert durchlassen.
Aber nach einer Weile wurde es heiß und stickig. Die Bäume rückten
von beiden Seiten wieder dicht heran, und sie konnten nicht mehr weit
vorausschauen. Stärker denn je empfanden sie jetzt die Feindseligkeit des
Waldes, die sie bedrückte. So still war es, daß die Tritte ihrer Ponies, das
Rascheln toter Blätter und das gelegentliche Stolpern über verborgene
Wurzeln in ihren Ohren zu dröhnen schien. Frodo versuchte, ein Lied zu
singen, um ihnen Mut zu machen, aber die Stimme erstarb, und er konnte
nur noch murmeln.

0 Wandrer unterm Schattenjoch,
Verzweifle nicht, wenn auch der Wald
Noch finster steht, er endet doch
Und auch die Sonne siehst du bald
Im Aufgang und im Untergang,
Anbruch und Tages Abgesang,
Denn alle Wälder lichten sich...

Lichten sich ...

Kaum hatte er das Wort ausgesprochen, da versagte ihm
die Stimme. Die Luft war schwer, und Wörter zu formen machte müde.
Gerade hinter ihnen fiel ein großer Ast von einem alten, überhängenden
Baum krachend auf den Pfad. Die Bäume schienen auf sie einzudringen.
»Sie mögen all das über Enden und Sich-Lichten nicht«, sagte Merry.
»Ich würde jetzt lieber nicht mehr singen. Warte, bis wir an den Waldrand
kommen, und dann drehen wir uns um und bringen ihnen ein Ständ-
chen!«
Es klang fröhlich, wie er das sagte, und wenn er Angst hatte, dann
zeigte er es jedenfalls nicht. Die anderen antworteten nicht. Sie waren
bedrückt. Frodo war das Herz schwer, und er bedauerte jetzt bei jedem
weiteren Schritt, daß er je daran gedacht hatte, die Drohung der Bäume
herauszufordern. Er war sogar drauf und dran, anzuhalten und vorzu-
schlagen, daß sie umkehren sollten (wenn das überhaupt noch möglich
war), als die Dinge eine neue Wendung nahmen. Der Pfad stieg nicht
mehr, sondern wurde eine Weile fast eben. Die dunklen Bäume rückten
beiseite, und vor sich konnten sie den Pfad sehen, der fast geradlinig ver-
lief. In einiger Entfernung von ihnen lag ein grüner Berggipfel, der baum-
los war und wie ein kahler Kopf aus dem umgebenden Wald herausragte.
Der Pfad schien direkt hinaufzuführen.

Sie eilten nun wieder voran, angefeuert von dem Gedanken, für eine
Weile über das Dach des Waldes hinauszugelangen. Der Pfad fiel ab, be-
gann dann wieder zu steigen und führte sie schließlich zum Fuß des steilen
Berghanges. Dort verließ er die Bäume und verlor sich im Gras. Der Wald
stand rings um den Berg wie dichtes Haar um einen glattrasierten Schä-
del.
Die Hobbits führten ihre Ponies in Serpentinen hinauf, bis sie den Gip-
fel erreichten. Dann standen sie dort und schauten sich um. Es war son-
nig, aber dunstig, und sie konnten nicht weit sehen. In der Nähe hatte
sich der Nebel fast ganz verzogen; nur hier und dort lagerte er noch über
Mulden im Walde, und südlich von ihnen stieg aus einem tiefen Ein-
schnitt, der quer durch den Wald verlief, der Nebel wie Dampf oder weiße
Rauchwölkchen auf.
»Dort«, sagte Merry und zeigte mit der Hand darauf, »dort fließt die
Weidenwinde. Sie entspringt auf den Höhen, fließt nach Südwesten mit-
ten durch den Wald und mündet unterhalb von Hagsend in den Brandy-
wein. Diesen Weg wollen wir nicht langgehen! Das Weidenwindental soll
der absonderlichste Teil vom ganzen Wald sein — sozusagen der Aus-
gangspunkt der ganzen Absonderlichkeit.«
Die anderen schauten in die Richtung, die Merry gezeigt hatte, aber sie
konnten wenig sehen außer Nebelschleiern über dem feuchten und tiefein-
geschnittenen Tal; und dahinter entzog sich die südliche Hälfte des Wal-
des dem Blick.
Die Sonne wurde jetzt heiß auf der Bergkuppe. Es muß etwa elf Uhr
gewesen sein; aber der herbstliche Dunst ließ sie auch in anderen Rich-
tungen nicht viel sehen. Im Westen konnten sie weder den Verlauf der
Hecke noch das Brandyweintal dahinter erkennen. Im Norden, wohin sie
am hoffnungsvollsten schauten, wies nichts darauf hin, daß dort die
große Oststraße liegen könnte, auf die sie ja stoßen wollten. Sie waren
auf einer Insel in einem Meer von Bäumen, und der Horizont war ver-
schleiert.
Auf der südöstlichen Seite fiel das Gelände sehr steil ab, als ob sich die
Bergabhänge unterhalb der Bäume weit fortsetzten wie Inselküsten, die
eigentlich Wände eines aus einem tiefen Gewässer emporsteigenden Ber-
ges sind. Sie setzten sich an den grünen Grat und blickten über die Wälder
unter ihnen, während sie ihr Mittagsmahl aßen. Als die Sonne stieg und
den Mittagspunkt überschritten hatte, erspähten sie fern im Osten die
graugrünen Umrisse der Höhen, die jenseits des Alten Waldes lagen. Das
munterte sie sehr auf; denn der Anblick von etwas, das sich außerhalb
der Grenzen des Waldes befand, war wohltuend, obwohl sie nicht vorhat-
ten, diesen Weg zu gehen, wenn es sich irgend vermeiden ließ; die Hügel-
gräberhöhen standen in der Hobbitlegende in ebenso unheilvollem Ruf
wie der Wald selbst.
Schließlich rafften sie sich auf, weiterzugehen. Der Pfad, der sie auf
den Berg hinaufgeführt hatte, erschien wieder auf der nordwestlichen
Seite; aber sie waren ihm noch nicht lange gefolgt, als sie merkten, daß er
ständig nach rechts bog. Bald wurde er sehr abschüssig, und sie vermute-
ten, daß er direkt aufs Weidenwindental zusteuerte: ganz und gar nicht
die Richtung, die sie einschlagen wollten. Nach einigem Hin und Her be-
schlossen sie, diesen irreführenden Pfad zu verlassen und sich nach Nor-
den durchzuschlagen; denn obwohl sie die Straße vom Berggipfel aus
nicht hatten sehen können, mußte sie in dieser Richtung liegen, und es
konnten nicht viele Meilen dorthin sein. Auch schien das Land nach Nor-
den und links des Pfades trockener und offener zu sein, und es gab dort
Abhänge, wo die Bäume nicht so dicht standen, und Tannen und Föhren
traten an die Stelle der Eichen und Eschen und der anderen fremdartigen
und namenlosen Bäume des dichteren Waldes.
Zuerst schien ihre Wahl gut gewesen zu sein: sie kamen einigermaßen
schnell voran, obwohl es jedesmal, wenn sie auf einer Lichtung die Sonne
erblickten, so aussah, als seien sie merkwürdig weit nach Osten gekom-
men. Doch nach einer Weile begannen die Bäume wieder dichter zu wer-
den, gerade da, wo sie aus der Ferne geglaubt hatten, daß sie vereinzelter
und weniger zuhauf stünden. Dann entdeckten sie unerwartete tiefe
Bodenfalten wie Furchen von Riesenrädern oder breite Wallgräben und
versunkene Straßen, die seit langem nicht mehr benutzt und von Brombee-
ren überwuchert waren. Sie verliefen zumeist quer zu ihrem Weg, und die
Hobbits konnten nur hinübergelangen, indem sie hineinkrabbelten und
wieder hinaus, was mühselig und schwierig war mit den Ponies. Jedesmal,
wenn sie hinunterkletterten, fanden sie die Mulde voll von dichtem Ge-
büsch und verfilztem Unterholz, das ihnen irgendwie immer den Weg nach
links versperrt und ihn nur freigab, wenn sie sich nach rechts wandten. Und
sie mußten lange auf der Talsohle bleiben, ehe sie einen Weg die nächste
Böschung hinauf fanden. Jedesmal, wenn sie sich hinaufgearbeitet hatten,
erschienen die Bäume noch dichter und dunkler, und immer war es am
schwierigsten, einen Weg nach links oben zu finden, und so mußten sie
zwangsläufig nach rechts und nach unten gehen.
Nach ein oder zwei Stunden hatten sie jeden klaren Richtungssinn ver-
loren, obwohl sie genau wußten, daß sie schon lange gar nicht mehr nach

Norden gingen. Sie wurden einfach abgedrängt und folgten einer Rich-
tung, die sie nicht gewählt hatten — nach Osten und Süden, mitten hinein
in den Wald und nicht heraus.
Der Nachmittag verging schon, als sie in eine Senke hineinkrabbelten
und stolperten, die breiter und tiefer war als alle bisherigen. Sie war so
steil und überwachsen, daß es sich als unmöglich erwies, wieder herauszu-
klettern, weder vorwärts noch rückwärts, ohne ihre Ponies und ihr Ge-
päck zurückzulassen. Sie konnten nichts tun, als der Senke zu folgen —
abwärts. Der Boden wurde weich und an manchen Stellen sumpfig; Quel-
len traten aus den Böschungen heraus, und bald merkten sie, daß sie
einem Bach folgten, der durch ein krautiges Bett rieselte und plätscherte.
Dann begann das Gelände rasch abzufallen, der Bach wurde kräftiger und
lauter und floß und sprang geschwind bergab. Sie waren in einem tiefen,
dämmerigen Tobel, überwölbt von hoch über ihnen wachsenden Bäumen.
Nachdem sie eine Weile entlang des Bachs dahingestolpert waren,
kamen sie plötzlich aus der Dämmerung heraus. Wie durch ein Tor sahen
sie vor sich die Sonne. Als sie ins Freie traten, merkten sie, daß sie durch
einen Spalt in einem hohen, steilen Abhang, fast einer Felswand, gekom-
men waren. Zu seinen Füßen lag eine weite, mit Gras und Schilf bestan-
dene Fläche; und in der Ferne war ein zweiter, fast ebenso steiler Abhang
zu sehen. Eine goldene Spätnachmittagssonne lag warm und verschlafen
über diesem versteckten Land. In der Mitte zwischen den beiden Abhän-
gen schlängelte sich gemächlich ein dunkler Fluß mit braunem Wasser,
gesäumt von alten Weiden, überwölbt von Weiden, versperrt durch ge-
stürzte Weiden und gesprenkelt mit Tausenden von verwelkten Weiden-
blättern. Die ganze Luft war voll von ihnen, denn sie flatterten gelb von
den Zweigen, weil eine warme, sanfte Brise leicht durch das Tal wehte;
das Schilf raschelte, und die Weidenäste knackten.
»So, nun habe ich wenigstens eine Ahnung, wo wir sind«, sagte
Merry. »Wir sind fast entgegengesetzt der Richtung gegangen, in die wir
wollten. Das ist der Fluß Weidenwinde. Ich will weitergehen und mich
umschauen.«
Er trat hinaus in den Sonnenschein und verschwand zwischen den
hohen Gräsern. Nach einer Weile kam er zurück und berichtete, daß der
Boden zwischen der Felswand und dem Fluß ziemlich fest sei; an manchen
Stellen reiche die Grasnarbe bis zum Wasser. »Und überdies«, sagte er,
»scheint so etwas wie ein Fußweg an dieser Seite des Flusses entlangzu-
führen. Wenn wir uns links halten und ihm folgen, müssen wir bestimmt
zu guter Letzt an der Ostseite des Waldes herauskommen.«
»Ich will's glauben!« sagte Pippin. »Das heißt, wenn die Spur so weit
geht und uns nicht einfach in einen Sumpf führt und uns da sitzen läßt.
Wer hat die Spur gemacht, was meinst du, und warum? Gewiß nicht uns
zuliebe. Ich bin allmählich sehr mißtrauisch gegen diesen Wald und alles
in ihm, und fange an, alle Geschichten über ihn zu glauben. Und hast du
irgendwelche Vorstellung, wie weit nach Osten wir gehen müßten?«
»Nein«, sagte Merry, »habe ich nicht. Ich weiß überhaupt nicht, wie
weit unten an der Weidenwinde wir sind, oder wer oft genug hierherkom-
men könnte, um einen Pfad zu treten. Aber es gibt keinen anderen Weg
hinaus, den ich sehen oder mir denken kann.«
Da nichts anderes übrig blieb, marschierten sie im Gänsemarsch los,
und Merry führte sie zu dem Pfad, den er entdeckt hatte. Überall waren
die Binsen und Gräser üppig und hoch, stellenweise waren sie weit über
mannshoch; aber sobald der Pfad einmal gefunden war, konnte man ihm
leicht folgen, wie er sich dahinschlängelte und durchwand und sich den
festeren Boden zwischen den Sümpfen und Tümpeln aussuchte. Hier und
dort kreuzte er andere Bächlein, die in Tobein aus dem höher gelegenen
Waldland der Weidenwinde zueilten, und an diesen Stellen waren Baum-
stämme oder Reisigbündel darüber gelegt.
Den Hobbits wurde es sehr heiß. Schwärme von Fliegen aller Arten
umtanzten ihre Ohren, und die Nachmittagssonne brannte ihnen auf den
Rücken. Schließlich kamen sie plötzlich in leichten Schatten; große graue
Äste erstreckten sich über den Pfad. Jeder Schritt vorwärts wurde zögern-
der als der vorige. Schläfrigkeit schien aus dem Boden zu dringen und
ihnen die Beine hinaufzukriechen und sanft aus der Luft auf ihre Köpfe
und Augen zu rieseln.
Frodo spürte, wie sein Kinn absackte und er mit dem Kopf nickte. Gerade
vor ihm fiel Pippin nach vom auf die Knie. Frodo blieb stehen. »Keinen
Zweck«, hörte er Merry sagen. »Kann keinen Schritt mehr ohne Rast.
Muß schlafen. Ist kühl unter den Weiden. Weniger Fliegen!«
Frodo gefiel der Ton nicht. »Kommt weiter!« rief er. »Wir können noch
nicht schlafen. Erst müssen wir aus dem Wald heraus.« Aber den ande-
ren war schon alles gleichgültig. Sam stand neben ihnen, gähnte und blin-
zelte ganz benommen.
Plötzlich merkte Frodo, wie auch er vom Schlaf übermannt wurde. Ihm
schwamm alles vor den Augen. Es war jetzt kaum noch ein Ton zu
hören. Die Fliegen summten nicht mehr. Nur ein leises, kaum hörbares
Geräusch, ein leichtes Flattern wie ein halb geflüstertes Lied schien die
Äste über ihm erzittern zu lassen. Er hob seine schweren Lieder und sah
eine riesige, alte, weißblättrige Weide über sich. Ungeheuer groß sah sie
aus, ihre wuchernden Äste reckten sich empor wie greifende Arme mit
unzähligen langfingrigen Händen, in ihrem knorrigen und gewundenen
Stamm klafften breite Spalten, die schwach knackten, wenn sich die Äste
bewegten. Die vor dem hellen Himmel flatternden Blätter blendeten ihn,
und er kippte vornüber und blieb auf dem Gras liegen, wie er hingefallen
war.
Merry und Pippin schleppten sich ein Stückchen weiter und legten sich
dann hin, den Rücken an den Weidenstamm gelehnt. Hinter ihnen klaff-
ten die großen Spalten weit auseinander, um sie zu empfangen, während
der Baum schwankte und knarrte. Sie sahen hinauf zu den grauen und
gelben Blättern, die sich leicht im Licht bewegten und sangen. Sie schlos-
sen die Augen, und dann schien es ihnen, als könnten sie fast Worte
hören, beruhigende Worte, bei denen es um Wasser und Schlaf ging. Sie
überließen sich dem Zauber und schliefen am Fuß der großen grauen
Weide ein.
Frodo lag eine Weile da und kämpfte gegen den Schlaf an, der ihn
übermannen wollte; dann rappelte er sich mühsam wieder auf. Er ver-
spürte ein unwiderstehliches Verlangen nach kühlem Wasser. »Wart auf
mich, Sam«, stammelte er. »Muß Füße baden eine Minute.«
Halb im Traum taumelte er zu der dem Fluß zugewandten Seite des
Baumes, wo dicke, gewundene Wurzeln in das Wasser hineinwuchsen wie
knorrige kleine Drachen, die sich bückten, um zu trinken. Auf eine
davon setzte er sich rittlings und ließ seine beiden Füße in das kühle
braune Wasser hängen; und dort schlief auch er plötzlich ein, mit dem
Rücken gegen den Baum.
Sam setzte sich, kratzte sich den Kopf und gähnte wie ein Scheunentor.
Er war beunruhigt. Es war schon später Nachmittag, und er fand diese
plötzliche Schläfrigkeit unheimlich. »Da steckt mehr dahinter als Sonne
und Hitze«, murmelte er vor sich hin. »Mir gefällt dieser dicke, große
Baum nicht. Ich trau ihm nicht. Horch nur, wie er jetzt ein Schlaflied
singt! Das wird nicht gut gehen!«
Er riß sich zusammen und stand auf, dann torkelte er los, um zu sehen,
was aus den Ponies geworden war. Er fand, daß zwei ein ganzes Stück den
Pfad entlang gewandert waren; und kaum hatte er sie eingefangen und zu
den anderen zurückgebracht, als er zwei Geräusche hörte; das eine war laut
und das andere leise, aber sehr deutlich. Das eine war ein Platschen von
etwas Schwerem, das in Wasser gefallen war; das andere klang wie das
Schnappen eines Schlosses, wenn sich eine Tür leise und schnell schließt.
Er stürzte zum Ufer zurück. Frodo lag im Wasser, dicht am Rand, und
eine große Baumwurzel über ihm schien ihn hinunterzudrücken, aber er
wehrte sich nicht. Sam packte ihn am Rock, zog ihn unter der Wurzel
hervor und schleppte ihn dann mühselig das Ufer hinauf. Fast sofort
wachte Frodo auf, hustete und spuckte.
»Weißt du was, Sam«, sagte er schließlich, »dieser gemeine Baum hat
mich reingeworfen! Ich habe es gespürt. Die dicke Wurzel drehte sich um
und kippte mich rein!«
»Du hast geträumt, nehme ich an, Herr Frodo«, sagte Sam. »Du solltest
dich nicht an eine solche Stelle setzen, wenn du müde bist.«
»Was ist mit den anderen?« fragte Frodo. »Ich möchte mal wissen, was
für Träume sie haben.«
Sie gingen herum auf die andere Seite des Baumes, und dann verstand
Sam das Zuschnappen, das er gehört hatte. Pippin war verschwunden.
Der Spalt, vor den er sich gelegt hatte, war völlig geschlossen, so daß
nicht eine Ritze mehr zu sehen war. Merry war gefangen: ein zweiter
Spalt hatte sich über seinem Leib geschlossen; seine Beine lagen draußen,
aber alles andere war drinnen in einer dunklen Höhle, und ihre Ränder
griffen zu wie eine Zange.
Frodo und Sam schlugen erst auf den Baumstamm ein, wo Pippin gele-
gen hatte. Dann mühten sie sich verbissen, die Backen des Spalts ausein-
anderzuziehen, die den armen Merry festhielten. Es war völlig nutzlos.
»Was für eine abscheuliche Geschichte!« rief Frodo wütend. »Warum
sind wir je in diesen schrecklichen Wald gekommen? Ich wollte, wir
wären alle wieder in Krickloch!« Er trat mit aller Wucht gegen den Baum,
ohne Rücksicht auf seine Füße. Ein kaum wahrnehmbarer Schauer lief
über den Stamm und hinauf bis zu den Zweigen; die Blätter raschelten
und wisperten, aber es klang jetzt wie schwaches und fernes Gelächter.
»Haben wir eigentlich eine Axt in unserem Gepäck, Herr Frodo?«
fragte Sam.
»Ich habe nur ein kleines Beil mitgenommen, um Brennholz zu hak-
ken«, sagte Frodo. »Das würde nicht viel nützen!«
»Moment mal«, rief Sam, dem das Wort Brennholz einen Gedanken
eingegeben hatte. »Mit Feuer könnten wir was machen!«
»Könnten wir«, meinte Frodo zweifelnd. »Wir könnten es aber auch
schaffen, Pippin drinnen lebendig zu rösten.«
»Wenigstens könnten wir versuchen, diesem Baum weh zu tun oder
ihm Angst zu machen«, sagte Sam grimmig. »Wenn er sie nicht freiläßt,
hacke ich ihn um, und wenn ich ihn abnagen müßte.« Er rannte zu den
Ponies und kam gleich mit zwei Zunderbüchsen und dem Beil zurück.
Rasch sammelten sie trockenes Gras und Blätter und Borkenstückchen;
und machten einen Haufen von kleingebrochenen Zweigen und zerhack-
ten Stöcken. Diese schichteten sie gegen den Stamm an der Seite des Bau-
mes, die den Gefangenen entgegengesetzt war. Kaum hatte Sam einen
Funken in den Zunder geschlagen, da entzündete sich das trockene Gras,
und ein Flammenstoß und Rauch stiegen auf. Die Zweige knackten.
Kleine Feuerzungen leckten an der trockenen, eingekerbten Rinde des
alten Baumes und versengten sie. Ein Zittern lief durch die ganze Weide.
Die Blätter über ihren Köpfen schienen vor Schmerz und Wut zu zischen.
Merry gab einen lauten Schrei von sich, und tief aus dem Inneren des
Baumes hörten sie einen erstickten Klagelaut von Pippin.
»Macht es aus! Macht es aus!« schrie Merry. »Er drückt mich ent-
zwei, wenn ihr es nicht tut. Er hat es gesagt!«
»Wer? Was?« brüllte Frodo und rannte auf die andere Seite des Bau-
mes.
»Macht es aus! Macht es aus!« bettelte Merry. Die Äste der Weide be-
gannen sich heftig zu bewegen. Man hörte ein Geräusch wie von einem
Wind, der sich erhob und auf die Äste aller anderen Bäume ringsum über-
griff, als ob sie einen Stein in den ruhigen Schlummer des Flußtals ge-
worfen und damit eine Welle der Wut erregt hätten, die durch den ganzen
Wald lief. Sam schob mit dem Fuß das kleine Feuer auseinander und zer-
trat die Funken. Aber Frodo lief, ohne eine klare Vorstellung zu haben,
warum er es tat und was er sich davon erhoffte, den Pfad entlang und
schrie: Hilfe! Hilfe! Hilfe! Ihm war, als könne er kaum den Ton seiner
eigenen schrillen Stimme hören: sobald er die Rufe ausgestoßen hatte,
wurden sie von dem Weiden-Wind davongetragen und gingen im Getöse
der Blätter unter. Er war verzweifelt: mutlos und ratlos.
Plötzlich blieb er stehen. Es kam eine Antwort, oder wenigstens
glaubte er es; aber sie schien aus der anderen Richtung zu kommen, den
Pfad weiter hinunter aus dem Wald. Er wandte sich um und lauschte, und
bald konnte kein Zweifel mehr sein: jemand sang ein Lied; eine tiefe,
fröhliche Stimme sang sorglos und vergnügt, aber sie sang Unsinn:

Dong — long! Dongelong! Läute laute lillo!
Wenn — wann, Weidenmann! Bimmel bammel billo!
Tom Born! Toller Tom! Tom Bombadillo!

Halb hoffnungsvoll und halb irgendeine neue Gefahr fürchtend, standen
Frodo und Sam jetzt beide still. Plötzlich erhob sich aus einer langen
Kette von Unsinnwörtern (so erschienen sie jedenfalls) die Stimme laut
und klar und sang folgendes Lied:

Dong — long! Dongelong! Dongelong, mein Schätzchen!
Leicht geht der Wetterwind, fliegt das Federspätzchen,
Dort am Fuß des Berges, dort im hellen Sonnenlicht
Wartet meine Holde auf das kalte Sternenlicht,
Steht das Kind der Wasserfrau auf des Hauses Schwelle,
Schlank wie der Weidenzweig, klarer als die Quelle.
Bringt der alte Bombadil Wasserlilien wieder,
Hüpft vor Freude heim zu ihr! Hört ihr seine Lieder?
Dong — long! Dongelong! Dongelonge — lerio!
Goldbeere! Goldenbeer — honiggelbe Beer-io!
Armer alter Weidenmann, zieh doch ein die Wurzeln,
Tom hat Eile, dunkel wird's, mag nicht drüber purzeln,
Tom bringt Wasserlilien mit, bringt sie immer wieder,
Dong — long! Dongelong! Hört Ihr seine Lieder?

Frodo und Sam standen wie bezaubert da. Der Wind legte sich. Die
Blätter hingen wieder schweigend an den unbewegten Zweigen. Noch ein
Lied erschallte, und dann erschien über dem Schilf, den Weg entlang hüp-
fend und tänzelnd, ein alter schäbiger Hut mit einem hohen Hutkopf, und
eine lange blaue Feder steckte im Band. Mit einem weiteren Hopser und
Sprung kam dann ein Mensch in Sicht, oder wenigstens schien es so.
Jedenfalls war er zu dick und schwer für einen Hobbit, wenn auch nicht
eigentlich lang genug für einen von den Großen Leuten, obschon er Lärm
genug für einen machte, wie er so in hohen gelben Stiefeln auf seinen dik-
ken Beinen angestapft kam und durch Gras und Schilf stürmte wie eine
Kuh, die zur Tränke geht. Er hatte einen blauen Mantel und einen langen
braunen Bart; seine Augen waren blau und strahlend und sein Gesicht
rot wie ein reifer Apfel, aber zerknittert von hundert Lachfalten. In den
Händen trug er auf einem großen Blatt wie auf einem Tablett ein kleines
Häufchen weißer Wasserlilien.
»Hilfe!« schrien Frodo und Sam und rannten mit ausgestreckten Hän-
den auf ihn zu.
»Brr! Halt! Immer mit der Ruhe!« rief der alte Mann, in dem er eine
Hand hochhielt, und sie blieben wie angewurzelt stehen, als seien sie vor
Schreck erstarrt. »Nun, meine kleinen Burschen, wo wollt ihr denn hin,
schnaufend wie ein Blasebalg? Was ist denn hier los? Wißt ihr, wer ich
bin? Ich bin Tom Bombadil. Sagt mir, was ihr für Kummer habt. Tom,
der hat es eilig jetzt. Drückt mir meine Lilien nicht!«
»Meine Freunde sind in der Weide gefangen!« rief Frodo atemlos.
»Herr Merry wird in einem Spalt zerquetscht!« rief Sam.
»Was?« rief Tom Bombadil und machte einen Luftsprung. »Der Alte
Weidenmann? Nichts Schlimmeres als das? Das kann rasch bereinigt wer-
den. Ich kenne die Melodie für ihn. Alter grauer Weidenmann! Ich werde
ihm das Mark erstarren lassen, wenn er sich nicht benimmt. Ich werde
ihm seine Wurzeln wegsingen! Ich werde einen Wind herbeisingen und
ihm Blatt und Ast wegblasen! Alter Weidenmann!«
Vorsichtig legte er seine Lilien ins Gras und rannte zum Baum. Da sah
er Merrys Füße noch herausragen — alles andere war schon hineingezogen
worden. Tom legte seinen Mund an den Spalt und begann mit leiser
Stimme zu singen. Sie konnten die Worte nicht verstehen, aber offen-
sichtlich wurde Merry aufgeweckt. Seine Beine begannen zu strampeln.
Tom sprang beiseite, brach einen langen, herabhängenden Zweig ab und
schlug die Weide damit. »Du läßt sie jetzt wieder heraus, alter Weiden-
mann!« sagte er. »Was ist dir denn eingefallen? Du solltest nicht wach
sein. Iß Erde! Grabe tief! Trink Wasser! Geh schlafen! Bombadil spricht!«
Er packte Merrys Füße und zog ihn aus dem plötzlich nachgebenden Spalt
heraus.
Dann gab es ein heftiges Knarren, der andere Spalt brach auf und her-
aus sprang Pippin, als ob er einen Fußtritt bekommen hätte. Darauf
schlössen sich beide Spalte wieder mit einem lauten Schnappen. Ein
Schauer lief über den Baum von der Wurzel bis zur Spitze, und dann war
es völlig still.
»Vielen Dank«, sagten die Hobbits einer nach dem anderen.
Tom Bombadil brach in Lachen aus. »So, meine kleinen Burschen«,
sagte er und bückte sich, um ihnen ins Gesicht zu schauen. »Ihr werdet
jetzt mit mir nach Hause kommen. Der Tisch ist reich gedeckt mit gelbem
Rahm, Honigwaben, Weißbrot und Butter. Goldbeere wartet schon. Zeit
genug für Fragen am Abendbrottisch. Folgt mir, so rasch ihr's vermögt!«
Damit nahm er seine Lilien auf, winkte einladend mit der Hand und ging
hüpfend und tänzelnd den Pfad nach Osten entlang, immer noch lauter
Unsinn singend.
Zu verblüfft und zu erleichtert, um zu reden, folgten ihm die Hobbits,
so schnell sie konnten. Aber das war nicht schnell genug. Tom ver-
schwand bald vor ihnen, und sein Gesang wurde schwächer und klang
entfernter. Plötzlich drang seine Stimme mit einem lauten Hallo! wieder
ganz deutlich zu ihnen.

Hoppe — hopp! Lauft mir nach längs der Weidenwinde,
Tom geleitet euch nach Haus, folget ihm geschwinde,
Westwärts sinkt die Sonne schon, bald, da stolpern alle,
Wenn die Nacht niedersinkt, lockt die warme Halle:

Aus den Fenstern dringt das Licht freundlich gelb und gelber,
fürchtet keine Finsternis noch die Weide selber,
Weder Wurzel noch Gestrüpp! Tom wird euch geleiten
Und wir wollen gleich das Fest — dongelong — bereiten.

Danach hörten die Hobbits nichts mehr. Fast sofort schien die Sonne
zwischen den Bäumen hinter ihnen zu versinken. Sie dachten an das
schräge Abendlicht, das auf dem Brandyweinfluß glitzert, und an die
Fenster von Bockenburg, die mit Hunderten von Lichtem zu schimmern
beginnen. Große Schatten fielen auf sie; Stämme und Äste von Bäumen
hingen dunkel und drohend über dem Pfad. Weiße Nebel stiegen auf und
wogten über dem Fluß und strichen um die Wurzeln der Bäume an seinen
Ufern. Selbst aus dem Boden zu ihren Füßen stieg ein schattenhafter
Dampf auf und verquickte sich mit der rasch hereinbrechenden Dämme-
rung.
Es wurde schwierig, dem Pfad zu folgen, und sie waren sehr müde. Ihre
Beine waren wie Blei. Seltsame flüchtige Geräusche zogen durch die
Büsche und Binsen zu beiden Seiten; und wenn sie hinauf schauten zum
fahlen Himmel, erblickten sie sonderbare knorrige und knotige Gesichter,
die sich dunkel gegen das Zwielicht abhoben und auf sie herunterschiel-
ten von dem hohen Hang und den Rändern des Waldes. Sie empfanden
dieses Land allmählich als unwirklich und hatten das Gefühl, durch einen
unheilvollen Traum zu taumeln, der zu keinem Erwachen führt.
Gerade, als sie merkten, daß ihre Schritte immer langsamer wurden,
fiel ihnen auf, daß das Gelände leicht anstieg. Das Wasser begann zu
murmeln. In der Dunkelheit konnten sie dort den weißen Schimmer von
Gischt erkennen, wo der Fluß einen kleinen Wasserfall hinunterfließt.
Dann hörten plötzlich die Bäume auf und die Nebel blieben zurück. Die
Hobbits traten aus dem Wald heraus und sahen eine große Grasfläche vor
sich. Der Fluß, jetzt schmal und hurtig, plätscherte ihnen fröhlich entge-
gen und schimmerte hier und dort im Licht der Sterne, die schon am
Himmel standen.
Das Gras unter ihren Füßen war weich und kurz, als sei es gemäht oder
geschnitten worden. Die Ausläufer des Waldes dahinter waren gestutzt,
säuberlich wie eine Hecke. Der Pfad war nun leicht erkennbar, gut ge-
pflegt und mit Steinen begrenzt. Er zog sich zum Gipfel einer grasbedeck-
ten Kuppe hinauf, jetzt grau in der fahlen Sternennacht; und dort, immer
noch hoch über ihnen auf einem zweiten Hang, sahen sie die Lichter eines
Hauses funkeln. Hinunter führte der Pfad und dann wieder hinauf über
einen langgestreckten, grasbewachsenen Berghang dem Licht entgegen.
Plötzlich ergoß sich ein breiter gelber Strahl hell aus einer Tür, die geöff-
net worden war. Da lag Tom Bombadils Haus vor ihnen, hinauf, hinab,
unter dem Berg. Hinter ihm erhob sich ein steiler Rücken grau und kahl,
und jenseits davon die dunklen Umrisse der Hügelgräberhöhen fern in der
östlichen Nacht.
Sie alle hasteten jetzt voran. Hobbits und Ponies. Schon waren ihre
Müdigkeit und ihre Ängste halb verflogen. Dong-long! Dongelong! schallte
es ihnen zur Begrüßung entgegen.

Dong-long! Dongelong! Springt, ihr kleinen Leute!
Hobbits! Ponies! Kommt heran, ja die ganze Meute!
Jetzt beginnt der große Spaß, laßt uns alle singen!

Dann fiel eine andere klare Stimme ein, so jung und so uralt wie der
Frühling, gleich der Melodie eines fröhlichen Gewässers, das aus einem
strahlenden Morgen in den Bergen hinabfließt in die Nacht, strömte sie
ihnen wie Silber entgegen:

Jetzt beginnt unser Lied! Laßt uns alle singen
Von Regen, Sonne, Mond und Stern, Tau auf Vogelschwingen,
Wind über freiem Land, trübem Nebelwetter,
Glockenheide, lichtem Grün zarter junger Blätter,
Schilfrohr am dunklen Teich, Lilien auf dem Weiher,
Singt vom Kind der Wasserfrau und Tom, dem treuen Freier!

Und mit diesem Lied standen die Hobbits auf der Schwelle, und ein
goldenes Licht hüllte sie ein.

<= =>