SECHSTES KAPITEL
LOTHLÓRIEN
»Wehe! Ich fürchte, wir können hier nicht länger bleiben«, sagte Ara-
gorn. Er schaute zum Gebirge hinüber und hob sein Schwert. »Lebewohl,
Gandalf!« rief er. »Habe ich dir nicht gesagt: Hüte dich, wenn du die
Tore von Moria durchschreitest? Wie wahr habe ich gesprochen! Welche
Hoffnung haben wir ohne dich?«
Er wandte sich zur Gemeinschaft. »Wir müssen es ohne Hoffnung ver-
suchen. Mag sein, daß wir noch Rache nehmen können. Wir wollen uns
gürten und nicht mehr weinen! Kommt! Wir haben einen weiten Weg und
viel zu tun.«
Sie standen auf und schauten sich um. Im Norden endete das Tal in
einer schattigen Schlucht zwischen zwei großen Armen des Gebirges,
über denen drei weiße Gipfel schimmerten: Celebdil, Fanuidhol und
Caradhras, die Berge von Moria. Am oberen Ende der Schlucht floß ein
Wildbach wie eine weiße Litze über eine endlose Treppe kurzer Wasser-
fälle, und ein Sprühnebel hing um die Füße der Berge herum in der Luft.
»Dort drüben ist der Schattenbachsteig«, sagte Aragorn und zeigte auf
die Wasserfälle. »Den tief eingeschnittenen Weg, der an dem Wildbach
entlangführt, hätten wir herunterkommen sollen, wenn das Schicksal
freundlicher gewesen wäre.«
»Oder Caradhras weniger grausam«, sagte Gimli. »Dort steht er und
lächelt in der Sonne!« Er drohte dem hintersten der schneebedeckten Gip-
fel mit der Faust und wandte sich ab.
Im Osten brach der ausgestreckte Arm des Gebirges plötzlich ab, und
dahinter konnte man ferne Lande erkennen, ausgedehnt und undeutlich.
Im Süden erstreckte sich das Nebelgebirge, so weit das Auge reichte.
Weniger als eine Meile entfernt und etwas unterhalb von ihnen, denn
noch immer standen sie hoch oben an der Westseite des Tals, lag ein See.
Er war lang und oval, geformt wie eine große Lanzenspitze, die tief in die
nördliche Schlucht hineinstieß; sein südliches Ende lag nicht mehr im
Schatten, sondern unter dem sonnenhellen Himmel. Dennoch war sein
Wasser dunkel: ein tiefes Blau wie ein klarer Abendhimmel, den man
von einem erhellten Zimmer aus sieht. Seine Oberfläche war still und
ungekräuselt. Um ihn herum war eine glatte Rasenfläche, die an allen Sei-
ten bis zu seinem kahlen, nicht unterbrochenen Rand abfiel.
»Dort liegt der Spiegelsee, der tiefe Kheled-zâram!« sagte Gimli trau-
rig. »Ich erinnere mich, daß er sagte: >Mögest du dich des Anblicks er-
freuen, aber wir können dort nicht verweilen<. Nun werde ich lange wan-
dern, bis ich mich wieder freuen kann. Ich muß hinwegeilen, und er muß
bleiben.«
Die Gemeinschaft ging jetzt die Straße von den Toren hinunter. Sie war
uneben und holprig und wurde allmählich zu einem bloßen Pfad, der sich
zwischen Heidekraut und Ginster, die zwischen den zerborstenen Steinen
wuchsen, dahinzog. Aber immer noch sah man, daß es vor langer Zeit
ein gepflasterter Weg gewesen war, der aus den Niederungen des König-
reichs der Zwerge heraufgeführt hatte. An manchen Stellen waren verfal-
lene Steinbauten neben dem Pfad, und grüne Erdhügel, auf denen
schlanke Birken wuchsen oder Tannen, die im Wind seufzten. Eine Kehre
nach Osten führte sie dicht an die Rasenfläche des Spiegelsees, und dort
stand nicht weit von der Straße eine einzelne Säule, die oben abgebrochen
war.
»Das ist Durins Stein!« rief Gimli. »Ich kann nicht vorübergehen, ohne
einen kurzen Blick auf die Wunder des Tals zu werfen!«
»Dann eile dich!« sagte Aragorn und schaute sich um nach den Toren.
»Die Sonne sinkt früh. Die Orks werden vielleicht nicht vor der Dämme-
rung herauskommen, aber ehe die Nacht hereinbricht, müssen wir fort
sein. Der Mond hat schon stark abgenommen, und es wird dunkel sein
heute nacht.«
»Komm mit mir, Frodo«, rief der Zwerg. »Du sollst nicht weitergehen,
ohne Kheled-zâram gesehen zu haben.« Er rannte den grünen Abhang
hinunter. Frodo folgte ihm langsam, trotz seiner Schmerzen und Müdig-
keit von dem stillen, blauen Wasser angezogen; Sam kam hinter ihm her.
An dem großen Stein blieb Gimli stehen und schaute hinauf. Er war
gesprungen und verwittert, und die undeutlichen Runen auf seiner Seiten-
fläche waren unleserlich. »Diese Säule steht an der Stelle, wo Durin zu-
erst in den Spiegelsee schaute«, sagte der Zwerg. »Laßt uns selbst einmal
hineinschauen, ehe wir gehen!«
Sie beugten sich über das dunkle Wasser. Zuerst konnten sie nichts
sehen. Dann sahen sie allmählich die Umrisse der umgebenden Berge in
dem tiefen Blau gespiegelt, und die Gipfel waren wie Helmbüsche aus
weißen Flammen über ihnen; dahinter war ein Stück Himmel. Dort
schimmerten glitzernde Sterne, wie in der Tiefe versunkene Edelsteine,
obwohl der Himmel oben voller Sonne war. Von ihren eigenen gebückten
Gestalten sahen sie kein Spiegelbild.
»O schöner und wundervoller Kheled-zâram«, sagte Gimli. »Dort liegt
Durins Krone, bis er erwacht. Lebewohl!« Er verneigte sich, wandte sich
ab und eilte zurück über den grünen Rasen zur Straße.
»Was hast du gesehen?« wollte Pippin von Sam wissen, aber Sam war
zu tief in Gedanken, um zu antworten.
Die Straße wandte sich jetzt nach Süden und führte rasch bergab und
aus dem Tal heraus. Etwas unterhalb des Sees kamen sie zu einem tiefen
Brunnen, dessen Wasser klar wie Kristall war, und aus ihm lief über
einen steinernen Rand ein Bach, der schimmernd und murmelnd in einer
steilen, felsigen Rinne weiterfloß.
»Das ist die Quelle, aus der der Silberlauf entspringt«, sagte Gimli.
»Trinkt nicht davon. Das Wasser ist eiskalt.«
»Bald wird er ein rasch dahinströmender Fluß und nimmt das Wasser
von vielen anderen Gebirgsbächen auf«, sagte Aragorn. »Unsere Straße
läuft auf viele Meilen an ihm entlang. Denn ich werde den Weg nehmen,
den Gandalf gewählt hatte, und zuerst hoffe ich in die Wälder zu kom-
men, wo der Silberlauf in den Großen Strom mündet — dort drüben.« Er
zeigte in die Richtung, und als sie hinschauten, sahen sie vor sich den
Bach, der zur Sohle des Tals hinuntersprang und weiter und weiter lief
zum Tiefland, bis er sich in goldenem Dunst verlor.
»Dort liegen die Wälder von Lothlórien«, sagte Legolas. »Das ist der
schönste aller Wohnsitze meines Volkes. Keine Bäume sind wie die Bäume
jenes Landes. Denn im Herbst fallen ihre Blätter nicht ab, sondern färben
sich golden. Erst wenn der Frühling kommt und das neue Grün sich öff-
net, fallen sie ab, und dann sind die Zweige überladen mit gelben Blü-
ten; und der Boden des Waldes ist golden, und golden ist das Dach, und
seine Säulen sind aus Silber, denn die Rinde der Bäume ist glatt und grau.
So heißt es noch in unseren Liedern in Düsterwald. Ich wäre von Herzen
froh, wenn ich am Saum jenes Waldes wäre, und es wäre Frühling!«
»Ich werde sogar im Winter von Herzen froh sein«, sagte Aragorn.
»Aber es liegt noch viele Meilen entfernt. Laßt uns eilen!«
Eine Zeitlang vermochten Frodo und Sam mit den anderen Schritt zu
halten; aber Aragorn schlug ein schnelles Tempo an, und nach einer
Weile blieben sie zurück. Sie hatten nichts gegessen seit dem frühen Mor-
gen. Sams Wunde brannte wie Feuer, und ihm war schwindlig. Obwohl
die Sonne schien, war der Wind kühl nach der warmen Dunkelheit von
Moria. Er fröstelte. Frodo hatte bei jedem Schritt mehr Schmerzen, und
das Atmen fiel ihm schwer.
Schließlich wandte sich Legolas um, und als er sah, daß sie weit zurück
waren, sprach er mit Aragorn. Die anderen hielten an, und Aragorn
rannte zurück und rief Boromir zu, er solle mitkommen.
»Es tut mir leid, Frodo!« rief er voll Sorge. »Soviel ist heute geschehen
und Eile tut uns so not, daß ich ganz vergessen habe, daß du verletzt bist;
und Sam auch. Ihr hättet etwas sagen sollen. Wir haben nichts getan, um
euch Erleichterung zu verschaffen, was wir hätten tun sollen, obwohl alle
Orks von Moria uns auf den Fersen waren. Kommt nun! Ein Stückchen
weiter ist ein Platz, wo wir eine Weile rasten können. Dort will ich für
euch tun, was ich kann. Komm, Boromir. Wir wollen sie tragen.«
Bald darauf kamen sie zu einem anderen Bach, der von Westen herab-
floß und sein sprudelndes Wasser mit dem Silberlauf vereinigte. Zusam-
men stürzten sie sich über ein Gefälle aus grüngefärbtem Stein und
schäumten hinunter in eine Schlucht. Dort wuchsen Tannen, niedrig und
verkrüppelt, und die Hänge waren bewachsen mit Zungenfarn und Hei-
delbeersträuchern. Auf dem Grund der Schlucht war ein ebenes Stück,
wo der Bach geräuschvoll über schimmernde Kiesel floß. Hier rasteten sie.
Es war jetzt nahezu drei Stunden nach Mittag, und es lagen erst wenige
Meilen zwischen ihnen und dem Tor von Moria. Schon stand die Sonne
im Westen.
Während Gimli und die beiden jüngeren Hobbits ein Feuer aus Reisig
und Tannenholz entfachten und Wasser schöpften, kümmerte sich Ara-
gom um Sam und Frodo. Sams Wunde war nicht tief, sah aber häßlich
aus, und Aragorns Gesicht war ernst, als er sie untersuchte. Nach einem
Augenblick blickte er erleichtert auf.
»Du hast Glück gehabt, Sam«, sagte er. »Viele haben als Strafe, wenn
sie ihren ersten Ork erschlagen haben. Schlimmeres erhalten als das. Der
Schnitt ist nicht vergiftet, was die Wunden von Orkklingen oft sind. Er
sollte gut heilen, nachdem ich ihn behandelt habe. Bade die Wunde, wenn
Gimli heißes Wasser hat.«
Aus seinem Beutel holte er einige verwelkte Blätter hervor. »Sie sind
trocken und mögen etwas von ihrer Heilkraft verloren haben«, sagte er.
»Aber immerhin sind es noch ein paar Blätter von athelas, die ich nahe
der Wetterspitze gesammelt habe. Zerdrücke eins im Wasser und wasche
die Wunde sauber, und dann werde ich sie verbinden. Jetzt bist du an der
Reihe, Frodo.«
»Ich bin ganz in Ordnung«, sagte Frodo, der nicht wollte, daß seine
Kleider berührt wurden. »Ich brauche nichts als etwas zu essen und ein
wenig Ruhe.«
»Nein!« sagte Aragorn. »Wir müssen uns anschauen, was Hammer
und Amboß dir getan haben. Ich staune immer noch, daß du überhaupt
am Leben bist.« Vorsichtig streifte er Frodos alte Jacke und den abgetra-
genen Wams ab, und ihm stockte der Atem. Dann lachte er. Der silberne
Harnisch schimmerte vor seinen Augen wie Sonnenstrahlen auf welliger
See. Behutsam zog er ihn aus und hielt ihn hoch, und die Edelsteine dar-
auf glitzerten wie Sterne, und der Klang der geschüttelten Ringe war wie
das Plätschern von Regen auf einem Teich.
»Schaut, Freunde!« rief er. »Hier ist ein hübsches Hobbitfell, um ein
Elbenprinzlein einzuhüllen! Wenn es bekannt wäre, daß Hobbits solche
Pelze haben, dann würden alle Jäger von Mittelerde ins Auenland rei-
ten.«
»Und alle Pfeile aller Jäger der Welt wären vergeblich«, sagte Gimli
und starrte voll Staunen auf das Panzerhemd. »Es ist ein Mithril-Har-
nisch. Mithril! Einen so schönen habe ich noch nie gesehen oder davon
erzählen hören. Ist das der Panzer, von dem Gandalf gesprochen hat?
Dann hat er seinen Wert unterschätzt. Aber es war ein verdientes Ge-
schenk!«
»Ich habe mich oft gefragt, was du und Bilbo so heimlich in seinem
kleinen Zimmer getrieben habt«, sagte Merry. »Gesegnet sei der alte Hob-
bit! Ich liebe ihn mehr denn je. Hoffentlich haben wir Gelegenheit, ihm
davon zu berichten!«
Frodo hatte eine schwärzlich blaue Quetschung auf der rechten Seite
und auf der Brust. Unter dem Kettenpanzer trug er ein Hemd aus wei-
chem Leder, aber an einer Stelle waren die Ringe durch das Leder hin-
durch ins Fleisch gedrückt worden. Auch an der linken Seite hatte Frodo
Prellungen, wo er gegen die Wand gestoßen worden war. Während die
anderen eine Mahlzeit vorbereiteten, badete Aragorn die Wunden mit
Wasser, in dem athelas eingeweicht worden war. Der prickelnde Duft er-
füllte die Schlucht, und alle, die sich über das dampfende Wasser beugten,
fühlten sich erfrischt und gestärkt. Bald ließen Frodos Schmerzen nach,
und das Atmen fiel ihm leichter; allerdings war er noch tagelang steif
und bei jeder Berührung empfindlich. Aragorn machte ihm einen dicken,
weichen Verband auf die Seite.
»Der Panzer ist wunderbar leicht«, sagte er. »Zieh ihn wieder an, wenn
du es aushallen kannst. Ich bin von Herzen froh, daß du einen solchen
Hämisch hast. Lege ihn nicht ab, auch nicht zum Schlafen, es sei denn,
das Schicksal führt dich an einen Ort, wo du eine Zeitlang in Sicherheit
bist; aber das wird kaum vorkommen, solange deine Fahrt dauert.«
Als sie gegessen hatten, machte sich die Gemeinschaft zum Weiterge-
hen bereit. Sie löschten das Feuer und beseitigten alle Spuren. Dann klet-
terten sie aus der Schlucht heraus und folgten wieder der Straße. Sie
waren noch nicht weit gegangen, als die Sonne hinter den westlichen
Höhen versank und große Schatten über die Berghänge herabkrochen.
Dämmerung verhüllte ihre Füße, und Nebel stieg aus den Mulden auf.
Weit im Osten lag das Abendlicht blaß auf der undeutlich erkennbaren
Landschaft ferner Ebenen und Wälder. Sam und Frodo fühlten sich jetzt
wohler und erfrischt und vermochten einigermaßen gut Schritt zu halten,
und mit nur einer kurzen Pause ließ Aragorn die Gruppe noch fast drei
Stunden weitergehen.
Es war dunkel und tiefe Nacht. Viele klare Sterne standen am Himmel,
aber der abnehmende Mond war noch nicht aufgegangen. Gimli und
Frodo bildeten die Nachhut und gingen leise, ohne zu reden und lausch-
ten, ob sie irgendein Geräusch hinter sich auf der Straße hörten. Schließ-
lich brach Gimli das Schweigen.
»Nichts als der Wind ist zu hören«, sagte er. »Es sind keine Unholde in
der Nähe, oder meine Ohren müßten aus Holz sein. Es steht zu hoffen,
daß sich die Orks damit begnügen, uns aus Moria vertrieben zu haben.
Und vielleicht war das ihr einziges Ziel, und sie hatten sonst nichts zu
tun mit uns — mit dem Ring. Allerdings verfolgen Orks ihre Feinde oft
meilenweit in der Ebene, wenn sie einen gefallenen Häuptling zu rächen
haben.«
Frodo antwortete nicht. Er schaute auf Such, und die Klinge war dun-
kel. Dennoch hörte er etwas, oder glaubte es jedenfalls. Kaum waren die
Schatten ringsum gefallen und die Straße hinter ihnen dämmrig, hatte er
wieder leichte Schritte gehört. Selbst jetzt hörte er sie. Er wandte sich
rasch um. Da waren zwei winzig kleine Lichtpünktchen, oder jedenfalls
glaubte er einen Augenblick, sie zu sehen, aber sie glitten sofort zur Seite
und verschwanden.
»Was ist denn?« fragte der Zwerg.
»Ich weiß nicht«, antwortete Frodo. »Ich glaubte Fußtritte zu hören,
und ich glaubte, einen Lichtschein zu sehen — wie Augen. Das habe ich
oft geglaubt, sobald wir nach Moria gekommen waren.«
Gimli blieb stehen und bückte sich zum Boden. »Ich höre nichts als
das Nachtgespräch der Pflanzen und Steine«, sagte er. »Komm! Laß uns
eilen! Die anderen sind schon außer Sicht.«
Der Nachtwind blies ihnen das Tal herauf kalt entgegen. Vor ihnen
erhob sich ein großer grauer Schatten, und sie hörten ein endloses
Rascheln von Blättern wie Pappeln im Wind.
»Lothlórien!« rief Legolas. »Lothlórien! Wir sind am Saum des Golde-
nen Waldes angelangt. Wie schade, daß es Winter ist!«
In der Dunkelheit erhoben sich die Bäume hoch vor ihnen und über-
wölbten die Straße und den Bach, der plötzlich unter ihren ausgebreiteten
Zweigen dahinplätscherte. Im Dämmerlicht der Sterne waren ihre Stämme
grau und ihre bebenden Blätter eine Andeutung von fahlem Gold.
»Lothlórien!« sagte Aragorn. »Froh bin ich, wieder den Wind in den
Bäumen zu hören! Wir sind kaum mehr als fünf Wegstunden vom Moria-
Tor entfernt, aber wir können nicht weiter gehen. Wir wollen hoffen, daß
uns die Macht der Elben heute nacht vor der Gefahr bewahrt, die hinter
uns herkommt.«
»Wenn hier wirklich noch Elben in der dunkel werdenden Welt leben«,
sagte Gimli.
»Es ist lange her, daß einer von meinem eigenen Volk hierher zurück-
gewandert ist, von wo wir dereinst gekommen waren«, sagte Legolas.
»Aber wir hören, daß Lórien noch nicht verlassen ist, denn es gibt hier
eine geheime Macht, die das Böse vom Land fernhält. Das Volk von
Lórien ist indessen selten zu sehen, und vielleicht wohnt es jetzt tief in
den Wäldern und weit von der nördlichen Grenze.«
»Fürwahr, tief im Walde wohnen sie«, sagte Aragorn und seufzte, als
ob irgendeine alte Erinnerung sich in ihm regte. »Wir müssen uns heute
nacht selbst verteidigen. Ein kurzes Stück werden wir noch weitergehen
und uns dann abseits vom Weg einen Platz suchen, wo wir ruhen kön-
nen.«
Er ging weiter; aber Boromir blieb unentschlossen stehen und folgte
ihm nicht. »Gibt es keinen anderen Weg?« fragte er.
»Welchen anderen, schöneren Weg würdest du dir wünschen?« fragte
Aragorn zurück.
»Eine einfache Straße, und führe sie auch durch eine Hecke von
Schwertern«, erwiderte Boromir. »Auf seltsamen Pfaden ist die Gemein-
schaft geführt worden und bisher nur ins Unglück. Gegen meinen Willen
sind wir unter den Schatten von Moria hindurchgegangen, zu unserem
Schaden. Und nun müssen wir den Goldenen Wald betreten, sagst du.
Aber von jenem gefährlichen Lande haben wir in Gondor gehört, und es
heißt, daß wenige wieder herauskommen, die einmal hineingehen; und
daß von den wenigen keiner unversehrt davongekommen ist.«
»Sage nicht unversehrt, aber wenn du unverändert sagst, wirst du
die
Wahrheit sprechen«, antwortete Aragorn. »Doch das Wissen schwindet
in Gondor, Boromir, wenn sie in der Stadt jener, die einst weise waren,
schlecht über Lothlórien reden. Glaub, was du willst, aber es gibt keinen
anderen Weg für uns — es sei denn, du willst zurückgehen zum Moria-
Tor oder die pfadlosen Berge erklimmen oder ganz allein den Großen
Strom durchschwimmen.«
»Dann führe uns!« sagte Boromir. »Aber es ist gefährlich.«
»Gefährlich fürwahr«, antwortete Aragorn, »schön und gefährlich;
doch nur Böse müssen das Land fürchten, oder jene, die irgend etwas
Böses mit sich bringen. Folgt mir!«
Sie waren kaum mehr als eine Meile in den Wald gegangen, als sie auf
einen zweiten Fluß stießen, der rasch von den baumbestandenen Hängen
herabfloß, die sich weiter westlich zum Gebirge hinzogen. Sie hörten den
Fluß zwischen den Schatten zu ihrer Rechten über ein Gefälle plätschern.
Sein dunkles, eilendes Wasser lief vor ihnen über den Pfad und vereinigte
sich mit dem Silberlauf in einem Strudel dämmriger Tümpel zwischen den
Wurzeln der Bäume.
»Das ist der Nimrodel!« sagte Legolas. »Über diesen Fluß haben die
Waldelben einstmals viele Lieder gedichtet, und wir im Norden singen sie
immer noch und erinnern uns des Regenbogens über dem Wasserfall und
der goldenen Blüten, die in seinen Fluten schwammen. Alles ist dunkel
jetzt, und die Nimrodel-Brücke ist abgerissen. Ich will meine Füße darin
baden, denn es heißt, das Wasser sei heilsam für die Müden.« Er ging ein
paar Schritte weiter und stieg das tiefeingeschnittene Ufer hinunter und
watete in den Fluß.
»Folgt mir!« rief er. »Das Wasser ist nicht tief. Laßt uns hinüberwaten!
Auf dem anderen Ufer können wir rasten, und das Plätschern des Was-
sers mag uns Schlaf bringen und unseren Kummer vergessen lassen.«
Einer nach dem anderen kletterten sie hinunter und folgten Legolas.
Einen Augenblick blieb Frodo am Rand stehen und ließ das Wasser über
seine müden Füße rinnen. Es war kalt, aber es fühlte sich rein an, und als
er weiterging und es ihm bis zu den Knien reichte, hatte er das Gefühl,
daß aller Schmutz der Wanderung und alle Müdigkeit von seinen Glie-
dern abgewaschen war.
Als die ganze Gemeinschaft drüben war, setzten sie sich hin, ruhten
und aßen etwas; und Legolas erzählte ihnen Geschichten von Lothlórien,
die die Elben von Düsterwald noch in ihren Herzen bewahrten, von
Sonnenschein und Sternenlicht auf den Wiesen am Großen Strom, ehe
die Welt grau war.
Schließlich trat Schweigen ein, und sie hörten die Musik des Wasser-
falls, die süß durch die Schatten zog. Fast glaubte Frodo eine Stimme sin-
gen zu hören, die sich mit dem Geräusch des Wassers verquickte.
»Hört ihr die Stimme des Nimrodel?« fragte Legolas. »Ich werde euch
ein Lied singen von der Maid Nimrodel, die denselben Namen hatte wie
der Fluß, an dem sie einst lebte. Es ist ein schönes Lied in unserer Wald-
landsprache; aber so lautet es in der Westron-Sprache, wie manche in
Bruchtal es jetzt singen.« Mit leiser Stimme, die im Rascheln der Blätter
über ihnen kaum vernehmbar war, begann er:
Einst lebte eine Elbenmaid
So wie der Morgen hold;
Ihr Kleid, ihr Schuh war ein Geschmeid
Aus Silberglanz und Gold.
Auf ihrer Stirne stand ein Stern,
Im Haare spielte Licht
Wie auf den Hügeln Lóriens fern
Die Sonne heller nicht.
Ihr Haar fiel reich, und gliederweiß
Und schön war sie und frei
Und bog sich wie ein junges Reis
Im Wind so sanft dabei.
Am Wasserfall von Nimrodel,
Der klar und kühl versprüht,
Fiel sie mit ein wie Silber hell
Ins helle Wasserlied.
Heut aber kennt sie keiner mehr
Noch ihren Aufenthalt;
Sie fand nicht Weg noch Wiederkehr
Aus Wildnis, Berg und Wald.
Das Elbenschiff im Hafen lag,
Am Berge sturmgeschützt,
Und harrte ihrer Tag um Tag —
Die See ging weißbemützt.
Ein Sturm kam auf von Norden her
Zur Nacht mit Urgewalt
Und trieb das Schiff hinaus aufs Meer
Ins Dunkel ungestalt.
Der Strand, der Berg verschwamm im Dunst
Vertrübt und ungenau,
Die Wogen türmten sich in Brunst
Und rollten schwer und grau.
Noch schärfte Amroth seinen Blick,
Noch suchte er die Stell'
Das Schiff verfluchend — nicht zurück
Trug's ihn zu Nimrodel.
Er selber herrschte einst im Wald,
Ein König von Geblüt,
Als Lóriens Macht noch golden galt
Und elbisch sang das Lied.
Nun schoß er wie ein schlanker Pfeil
Ins Wasser tief hinab
Und tauchte möwengleich und heil
Hervor aus nassem Grab.
Der Wind zerwühlte ihm das Haar,
Weiß flog der Schaum um ihn,
Dann sah man ihn wie einen Schwan
Die Wogen reitend ziehn.
Doch drang kein Wort von Westen her
In unser Elbenland,
Und. keiner hörte jemals mehr
Von Amroth, der entschwand.
Legolas stockte, und der Gesang brach ab. »Ich kann nicht weitersin-
gen«, sagte er. »Das ist nur ein Teil, aber ich habe viel vergessen. Das
Lied ist lang und traurig, denn es erzählt, wie Leid über Lothlórien kam,
das Lórien der Blütezeit, als die Zwerge Böses im Gebirge erweckten.«
»Aber die Zwerge schufen das Böse nicht«, sagte Gimli.
»Das habe ich nicht gesagt, aber das Böse kam«, antwortete Legolas
traurig. »Damals verließen viele Elben von Nimrodels Sippe ihre Woh-
nungen und zogen fort, und Nimrodel verirrte sich im Süden, auf den
Pässen des Weißen Gebirges; und sie kam nicht zu dem Schiff, wo
Amroth, ihr Liebster, auf sie wartete. Doch im Frühling, wenn der Wind
durch die jungen Blätter streicht, kann man das Echo ihrer Stimme noch
an dem Wasserfall hören, der ihren Namen trägt. Und wenn der Wind im
Süden steht, dringt Amroths Stimme herüber von der See; denn der Nim-
rodel fließt in den Silberlauf, den die Elben Celebrant nennen, und der
Celebrant fließt in Anduin den Großen, und der Anduin fließt in die
Bucht von Belfalas, wo die Elben von Lórien Segel setzen. Doch weder
Nimrodel noch Amroth kehrten je zurück.
Es wird erzählt, daß sie ein Haus gebaut hatte in den Zweigen eines
Baums, der nahe dem Wasserfall wuchs; denn es war Sitte bei den Elben
von Lórien, in den Bäumen zu wohnen, und vielleicht ist es heute noch
so. Daher wurden sie die Galadrim genannt, das Baumvolk. Tief in ihrem
Wald sind die Bäume sehr groß. Das Volk der Wälder grub nicht im
Boden wie die Zwerge und baute auch keine Festungen aus Stein, ehe der
Schatten kam.«
»Und selbst heutzutage könnte man sich vorstellen, daß das Wohnen in
Bäumen sicherer ist, als auf dem Boden zu sitzen«, sagte Gimli. Er
schaute über den Bach zu dem Weg, der zurückführte zum Schattenbach-
tal, und dann hinauf zum Dach aus dunklen Zweigen.
»Deine Worte enthalten guten Rat, Gimli«, sagte Aragorn. »Wir können
kein Haus bauen, aber heute nacht werden wir es wie die Galadrim machen
und in den Baumwipfeln Zuflucht suchen, wenn wir können. Wir haben
länger hier am Weg gesessen, als klug war.«
Die Gemeinschaft verließ jetzt den Pfad und ging in den Schatten des
dichteren Waldes, nach Westen entlang dem Gebirgsbach, hinweg vom
Silberlauf. Nicht weit von den Wasserfällen von Nimrodel fanden sie eine
Gruppe Bäume, von denen manche über den Bach ragten. Ihre großen
Stämme waren gewaltig, aber ihre Höhe ließ sich nicht erraten.
»Ich werde hinaufklettern«, sagte Legolas. »Bäume sind mir vertraut,
von der Wurzel bis zu den Zweigen, obwohl diese Bäume von einer Art
sind, die mir fremd ist, außer als Name in Liedern. Mellyrn werden sie
genannt, und es sind jene, die die gelben Blüten tragen. Aber ich bin
noch nie auf einen hinaufgestiegen. Jetzt werde ich sehen, welche Form
sie haben und wie sie wachsen.«
»Wie immer es sein mag«, sagte Pippin, »es müssen schon wunderbare
Bäume sein, wenn sie einem, der kein Vogel ist, Nachtruhe bieten können.
Ich kann nicht auf einer Stange schlafen!«
»Dann grabe dir eine Höhle im Boden«, sagte Legolas, »wenn das mehr
deiner Art entspricht. Aber du mußt rasch und tief graben, wenn du
dich vor den Orks verstecken willst.« Er sprang leichtfüßig in die Höhe
und packte einen Ast, der hoch über seinem Kopf hing. Doch während er
noch einen Augenblick daran schaukelte, sprach plötzlich eine Stimme
aus dem Baumschatten über ihm.
»Daro!" sagte sie in befehlendem Ton, und Legolas ließ sich vor Über-
raschung und Schreck wieder auf die Erde fallen. Er wich an den Baum-
stamm zurück.
»Steht still!« flüsterte er den anderen zu. »Rührt euch nicht und redet
nicht!«
Sie hörten leises Lachen über ihren Köpfen, und dann sprach eine an-
dere klare Stimme in der Elbensprache. Frodo konnte wenig von dem ver-
stehen, was gesagt wurde, denn die Sprache, die das Waldvolk östlich des
Gebirges sprach, war der des Westens sehr unähnlich. Legolas schaute auf
und antwortete in derselben Sprache.
»Wer sind sie und was sagen sie?« fragte Merry.
»Es sind Elben«, sagte Sam. »Kannst du ihre Stimmen nicht hören?«
»Ja, es sind Elben«, sagte Legolas, »und sie sagen, ihr atmet so laut, daß
sie euch im Dunkeln erschießen könnten.« Sam legte rasch die Hand über
den Mund. »Aber sie sagen auch, daß ihr keine Angst zu haben braucht.
Sie haben uns schon lange bemerkt. Sie haben meine Stimme über den
Nimrodel gehört und gewußt, daß ich einer ihrer Verwandten aus dem
Norden bin, und daher haben sie uns nicht daran gehindert, herüberzu-
kommen; und nachher haben sie mein Lied gehört. Nun bitten sie mich,
mit Frodo hinaufzuklettern; denn sie scheinen Nachrichten über ihn und
unsere Wanderung erhalten zu haben. Die anderen bitten sie, ein wenig
zu warten und am Fuße des Baums Wache zu halten, bis sie entschieden
haben, was geschehen soll.«
Aus den Schatten wurde eine Leiter herabgelassen; sie bestand aus
Stricken, silbergrau und schimmernd im Dunkeln, und obwohl sie
schwach aussah, erwies sie sich als stark genug, um viele Menschen zu
tragen. Legolas eilte leichtfüßig hinauf, und Frodo folgte langsam;
hinter ihm kam Sam und versuchte, nicht laut zu atmen. Die Äste des
Mallornbaums wuchsen fast waagrecht aus dem Stamm heraus und bogen
sich dann nach oben; doch nahe dem Wipfel teilte sich der Hauptstamm
in eine Krone von vielen Ästen, und zwischen diesen war eine hölzerne
Plattform gebaut worden, oder ein Flett, wie man solche Dinge damals
nannte; die Elben nannten es talan. Man erreichte das Flett durch ein
run-
des Loch in der Mitte, durch das die Leiter hindurchführte.
Als Frodo schließlich zum Flett kam, saß Legolas mit drei anderen
Elben zusammen. Sie waren in schattiges Grau gekleidet, und man sah sie
nicht zwischen den Baumstämmen, außer wenn sie sich plötzlich beweg-
ten. Sie standen auf, und einer von ihnen deckte eine kleine Lampe auf,
aus der ein schmaler silberner Strahl schien. Er hielt sie hoch und schaute
Frodo und Sam ins Gesicht. Dann stellte er das Licht wieder ab und
sprach Willkommensworte in der Elbensprache. Frodo erwiderte sie stok-
kend.
»Willkommen!« sagte der Elb dann in der Gemeinsamen Sprache, und
er sprach langsam. »Wir gebrauchen selten eine andere Sprache als unsere
eigene; denn wir leben jetzt im Herzen des Waldes und lassen uns nicht
gern mit irgendwelchen anderen Leuten ein. Selbst unsere eigene Sippe im
Norden ist von uns getrennt. Doch einige von uns gehen noch immer in
die Ferne, um Nachrichten zu sammeln und unsere Feinde zu beobachten,
und sie beherrschen die Sprachen anderer Länder. Ich bin einer von ihnen.
Haldir ist mein Name. Meine Brüder, Rûmil und Orophin, verstehen eure
Sprache kaum.
Aber wir haben Gerüchte gehört, daß ihr kämt, denn die Boten von
Elrond sind auf ihrem Heimweg über den Schattenbachsteig durch Lórien
gekommen. Seit vielen Jahren hatten wir nicht von Hobbits, von Halblin-
gen, gehört und wußten nicht, daß noch welche in Mittelerde lebten. Ihr
seht nicht übel aus! Und da ihr mit einem Elben von unserer Sippe ge-
kommen seid, sind wir bereit, euch zu helfen, wie Elrond gebeten hat;
obwohl es nicht unsere Gewohnheit ist. Fremde durch unser Land zu
geleiten. Doch heute nacht müßt ihr hierbleiben. Wieviele seid ihr?«
»Acht«, sagte Legolas. »Ich selbst, vier Hobbits und zwei Menschen,
von denen einer Aragorn ist, ein Elbenfreund aus dem Volk von Wester-
nis.«
»Der Name von Aragorn, Arathoms Sohn, ist bekannt in Lórien«,
sagte Haldir, »und er steht bei der Herrin in Gunst. Dann ist alles gut,
Aber du hast bisher nur von sieben gesprochen.«
»Der achte ist ein Zwerg«, sagte Legolas.
»Ein Zwerg!« wiederholte Haldir. »Das ist nicht gut. Seit den Dunklen
Tagen haben wir nichts mehr mit den Zwergen zu tun gehabt. Sie dürfen
unser Land nicht betreten. Ich kann ihn nicht hereinlassen.«
»Aber er ist vom Einsamen Berg und gehört zu Dáins vertrauenswür-
digem Volk und ist mit Elrond befreundet«, sagte Frodo. »Elrond selbst
hat ihn als Gefährten für uns ausgewählt, und er ist tapfer und treu.«
Die Elben sprachen leise miteinander und verhörten Legolas in ihrer
eigenen Sprache. »Nun gut«, sagte Haldir schließlich. »Wir werden es
tun, obwohl es uns nicht gefällt. Wenn Aragorn und Legolas ihn bewa-
chen und für ihn bürgen, werden wir ihn hereinlassen; aber er muß mit
verbundenen Augen durch Lothlórien gehen.
Doch jetzt dürfen wir nicht länger verhandeln. Eure Leute sollten nicht
auf dem Erdboden bleiben. Wir haben die ganze Zeit Wache gehalten an
den Flüssen, seit wir vor vielen Tagen eine große Schar Orks am Rande
der Berge nach Norden ziehen sahen, nach Moria. Wölfe heulen an den
Grenzen des Waldes. Wenn ihr wirklich aus Moria kommt, kann die Ge-
fahr nicht fern sein. Gleich in der Früh müßt ihr morgen weitergehen.
Die vier Hobbits sollen hier heraufklettern und bei uns bleiben — wir
fürchten sie nicht. Im nächsten Baum ist noch ein talan. Dort sollen
die
anderen Zuflucht suchen. Du, Legolas, sollst uns für sie bürgen. Rufe uns,
wenn irgend etwas nicht stimmt. Und habe ein Auge auf diesen Zwerg!«
Legolas stieg sofort die Leiter hinunter, um Haldirs Botschaft zu über-
bringen; und bald darauf kletterten Merry und Pippin zu dem hohen Flett
hinauf. Sie waren außer Atem und schienen recht verängstigt.
»So«, sagte Merry keuchend. »Wir haben eure Decken und auch unsere
heraufgeschleppt. Streicher hat das übrige Gepäck in einem hohen Laub-
haufen versteckt.«
»Ihr hättet eure Sachen nicht gebraucht«, sagte Haldir. »Es ist kalt im
Winter in den Baumwipfeln, obwohl der Wind heute nacht im Süden
steht; aber wir haben für euch Essen und Getränke, die die Nachtkälte
vertreiben, und wir haben Felle und Mäntel, die wir entbehren können.«
Die Hobbits nahmen dieses zweite (und weit bessere) Abendessen gern
an. Dann wickelten sie sich warm ein, nicht nur in die Pelzmäntel der
Elben, sondern auch in ihre eigenen Decken, und versuchten zu schlafen.
Aber trotz ihrer Müdigkeit fiel das nur Sam leicht. Hobbits mögen die
Höhe nicht und schlafen nicht in oberen Stockwerken, selbst wenn es
Treppen gibt. Das Flett sagte ihnen als Schlafzimmer gar nicht zu. Es
hatte keine Wände, nicht einmal ein Geländer; nur an einer Seite war ein
leichter, geflochtener Wandschirm, der beweglich war und je nach dem
Wind verschoben werden konnte.
Pippin redete noch eine Weile. »Wenn ich auf dieser Bett-Empore ein-
schlafe, hoffe ich, daß ich nicht hinunterrolle«, sagte er.
»Sobald ich einmal eingeschlafen bin«, meinte Sam, »werde ich weiter-
schlafen, ob ich hinunterrolle oder nicht. Und je weniger geredet wird,
um so schneller werde ich einduseln, wenn du weißt, was ich meine.«
Frodo lag einige Zeit wach und schaute hinauf zu den Sternen, die
durch das bleiche Dach bebender Blätter schimmerten. Sam schnarchte an
seiner Seite schon lange, ehe er die Augen schloß. Undeutlich konnte er
die grauen Gestalten von zwei Elben sehen, die regungslos dasaßen, die
Arme um die Knie gelegt, und flüsternd miteinander sprachen. Der dritte
war hinuntergegangen, um auf einem der unteren Äste Wache zu halten.
Schließlich schlief Frodo ein, eingelullt von dem Wind in den Zweigen
über ihm und dem süßen Murmeln des Nimrodel-Wasserfalls unter ihm,
und das Lied von Legolas ging ihm immer noch durch den Sinn.
Spät in der Nacht wachte er auf. Die anderen Hobbits schliefen. Die
Elben waren fort. Die Mondsichel glänzte undeutlich zwischen den Blät-
tern. Der Wind hatte sich gelegt. Nicht weit entfernt hörte er ein heiseres
Lachen und das Tappen vieler Füße unten auf dem Boden. Metall
klirrte. Die Geräusche erstarben langsam und schienen nach Süden, weiter
drinnen im Wald, zu verhallen.
Ein Kopf kam plötzlich durch das Loch im Flett zum Vorschein. Frodo
setzte sich erschreckt auf und sah dann, daß es ein Elb mit einer grauen
Kapuze war. Er blickte zu den Hobbits hinüber.
»Was ist denn?« fragte Frodo.
»Yrch!" zischelte der Elb und warf die aufgerollte Strickleiter auf das
Flett.
»Orks!« wiederholte Frodo. »Was tun sie?« Aber der Elb war schon
fort.
Es waren keine Geräusche mehr zu hören. Selbst die Blätter waren still,
und sogar der Wasserfall schien zum Schweigen gebracht worden zu sein.
Frodo saß da und fröstelte in all seinen Decken. Er war dankbar, daß sie
nicht auf dem Erdboden erwischt worden waren; aber er hatte das Gefühl,
daß die Bäume wenig Schutz boten, höchstens Deckung. Orks konnten
Fährten ebenso gut verfolgen wie Hunde, hieß es, und außerdem konnten
sie klettern. Er zog Stich heraus: er leuchtete und glänzte wie eine blaue
Flamme; und dann verblaßte er langsam und wurde wieder matt. Obwohl
sein Schwert nicht mehr glänzte, wurde Frodo das Gefühl einer unmittel-
baren Gefahr nicht los, sondern es verstärkte sich eher. Er stand auf,
kroch zu der Öffnung und schaute hinunter. Er war fast sicher, daß er
weit unten am Fuße des Baums hörte, wie sich etwas leise bewegte.
Nicht Elben waren das; denn das Waldvolk war völlig geräuschlos in
seinen Bewegungen. Dann hörte er schwach ein Geräusch wie Schnup-
pem; und etwas schien an der Rinde des Baumstamms zu kratzen. Er
starrte hinunter ins Dunkle und hielt den Atem an.
Etwas kletterte jetzt herauf und atmete leise zischend durch geschlos-
sene Zähne. Dann sah Frodo dicht am Stamm zwei blasse Augen herauf-
kommen. Sie hielten an und starrten nach oben, ohne zu blinzeln. Plötz-
lich wandten sie sich ab, und eine schattenhafte Gestalt schlüpfte um den
Baumstamm herum und verschwand.
Unmittelbar darauf kam Haldir rasch durch die Äste heraufgeklettert.
»Da war etwas in diesem Baum, das ich noch nie zuvor gesehen habe«,
sagte er. »Es war kein Ork. Es floh, sobald ich den Baumstamm berührte.
Es schien sehr vorsichtig zu sein und Erfahrung mit Bäumen zu haben,
sonst hätte ich gedacht, daß es einer von euch Hobbits sei.
Ich habe nicht geschossen, denn ich wagte nicht, irgendwelche Schreie
hervorzurufen: wir können keinen Kampf riskieren. Eine große Schar
Orks ist vorbeigezogen. Sie haben den Nimrodel überquert — verflucht
seien ihre schmutzigen Füße in diesem reinen Wasser! — und sind auf
dem alten Weg neben dem Fluß weitergegangen. Sie schienen irgendwel-
che Fährte aufzunehmen und haben in der Nähe der Stelle, wo ihr Halt
gemacht hattet, den Boden eine Zeitlang untersucht. Wir drei konnten es
nicht mit hundert von ihnen aufnehmen, deshalb sind wir ein Stück vor-
ausgegangen und haben mit verstellten Stimmen gesprochen und sie weiter
in den Wald hineingelockt.
Orophin ist jetzt in aller Eile zu unseren Behausungen gegangen, um
unser Volk zu warnen. Nicht einer von den Orks wird je aus Lórien zu-
rückkehren. Und viele Elben werden an der Nordgrenze auf der Lauer lie-
gen, ehe die nächste Nacht hereinbricht. Aber ihr müßt sofort den Weg
nach Süden einschlagen, sobald es ganz hell ist.«
Bleich brach der Tag im Osten an. Als das Licht zunahm, sickerte es
durch die gelben Blätter des Mallorn, und es kam den Hobbits vor, als
scheine die frühe Sonne eines kühlen Sommermorgens. Ein blaßblauer
Himmel lugte durch die sich bewegenden Blätter. Als Frodo durch eine
Öffnung auf der Südseite des Fletts schaute, sah er das ganze Tal des Sil-
berlaufs vor sich liegen wie ein fahlgoldenes Meer, das sanft im Winde
wogt.
Der Morgen war noch jung und kühl, als sich die Gemeinschaft wieder
aufmachte, jetzt von Haldir und seinem Bruder Rûmil geführt. »Leb wohl,
süßer Nimrodel!« rief Legolas. Frodo blickte zurück und erhaschte einen
Schimmer von weißem Schaum zwischen den grauen Baumstämmen.
»Leb wohl«, sagte er. Ihm war, als würde er niemals wieder ein so schönes
fließendes Gewässer hören, das seine unzähligen Melodien in einer un-
endlich wechselvollen Musik harmonisch verband.
Sie gingen zurück zu dem Weg, der immer noch auf der Westseite des
Silberlaufs blieb, und folgten ihm ein Stück nach Süden. Dort waren
Abdrücke von Orkfüßen auf dem Boden. Aber bald bog Haldir ab und
ging mitten zwischen den Bäumen durch, und dann hielt er in ihrem
Schatten am Flußufer an.
»Dort drüben jenseits des Flusses ist einer von meinem Volk«, sagte
er, »obwohl ihr ihn vielleicht nicht seht.« Er stieß einen Ruf aus, der wie
der leise Pfiff eines Vogels klang, und aus einem Dickicht von jungen
Bäumen trat ein in Grau gekleideter Elb, der seine Kapuze zurückgewor-
fen hatte; sein Haar schimmerte wie Gold in der Morgensonne. Als Haldir
geschickt eine Rolle Tauwerk hinüberwarf, fing er sie auf und befestigte
das Ende an einem Baum in der Nähe des Ufers.
»Celebrant ist hier schon ein starker Strom, wie ihr seht«, sagte Haldir,
»und er ist nicht nur schnell, sondern auch tief und sehr kalt. Wir setzen
so weit nördlich den Fuß nicht hinein, wenn es nicht sein muß. Doch in
diesen Tagen der Wachsamkeit schlagen wir keine Brücken. Auf diese
Weise überqueren wir den Fluß! Folgt mir!« Er machte sein Ende des
Taues ebenfalls an einem Baum fest und lief dann leichtfüßig über den
Fluß und wieder zurück, als ob es eine Straße sei.
»Ich kann darauf laufen«, sagte Legolas. »Aber die anderen sind nicht
so geschickt. Müssen sie schwimmen?«
»Nein«, antwortete Haldir. »Wir haben noch zwei Taue. Wir werden
sie über dem ersten befestigen, eins in Schulterhöhe und eins halbhoch,
und wenn sich die Fremden vorsichtig daran festhalten, sollten sie hin-
überkommen können.«
Nachdem diese dürftige Brücke geschlagen war, überquerten die Ge-
fährten sie, einige behutsam und langsam, andere mit größerer Leichtig-
keit. Von den Hobbits machte es Pippin am besten, da er sicher auf den
Beinen war, und er hielt sich, als er rasch hinüberging, nur mit einer
Hand fest; aber er hatte seine Augen fest auf das Ufer gerichtet und sah
nicht nach unten. Sam schlurfte hinüber, klammerte sich krampfhaft fest
und schaute hinunter in das blasse, strudelnde Wasser, als ob es ein Ab-
grund im Gebirge sei.
Er atmete erleichtert auf, als er drüben war. »Man lernt durch das
Leben! wie der Ohm zu sagen pflegte. Obwohl er dabei an Gartenbau
dachte und nicht daran, wie Vögel auf einer Stange zu schlafen oder zu
versuchen, wie eine Spinne zu laufen. Nicht einmal mein Onkel Adolf hat
jemals solche Kunststücke versucht!«
Als schließlich die ganze Gemeinschaft auf dem Ostufer des Silber-
laufs versammelt war, machten die Elben die Taue los und rollten zwei
davon auf. Rûmil, der auf der anderen Seite geblieben war, zog das letzte
zurück, hängte es sich über die Schulter und ging, noch einen Gruß win-
kend, wieder zurück, um am Nimrodel Wache zu halten.
»Nun, Freunde«, sagte Haldir, »jetzt habt ihr den Naith von Lórien
betreten, oder den Gehren, wie ihr sagen würdet, denn es ist das Land,
das wie eine Lanzenspitze zwischen den Armen des Silberlaufs und An-
duin dem Großen liegt. Wir lassen nicht zu, daß Fremde die Geheimnisse
des Naith auskundschaften. Wenigen ist überhaupt je erlaubt worden, den
Fuß auf dieses Land zu setzen.
Wie es vereinbart war, werde ich daher Gimli, dem Zwerge, die Augen
verbinden. Die anderen mögen eine Weile so laufen, bis wir näher an
unsere Behausungen herankommen, unten in Egladil, in dem Winkel zwi-
schen den Gewässern.«
Das gefiel Gimli ganz und gar nicht. »Die Vereinbarung ist ohne meine
Zustimmung getroffen worden«, sagte er. »Ich will nicht mit verbunde-
nen Augen gehen wie ein Bettler oder ein Gefangener. Und ich bin kein
Späher. Mein Volk hat niemals mit irgendeinem der Diener des Feindes
etwas zu tun gehabt. Und ebenso wenig haben wir den Elben Schaden
zugefügt. Bei mir ist die Wahrscheinlichkeit, daß ich euch verrate, nicht
größer als bei Legolas oder irgendeinem anderen meiner Gefährten.«
»Ich zweifle nicht an dir«, antwortete Haldir. »Doch so lautet unser
Gesetz. Ich habe das Gesetz nicht gemacht und kann es nicht umgehen.
Ich habe schon viel getan, daß ich dir erlaubt habe, den Celebrant zu
überschreiten.«
Gimli war eigensinnig. Er stellte sich breitbeinig hin und legte die
Hand auf den Stiel seiner Axt. »Ich will mit unverbundenen Augen wei-
tergehen«, sagte er, »oder heimkehren in mein eigenes Land, wo man
weiß, daß ich meinem Wort getreu bin, obwohl ich allein in der Wildnis
zugrunde gehen würde.«
»Du kannst nicht zurückgehen«, sagte Haldir streng. »Nachdem du
jetzt so weit gekommen bist, mußt du vor den Herrn und die Herrin ge-
bracht werden. Sie sollen über dich entscheiden, wie es ihnen beliebt, ob
du festgehalten werden sollst oder gehen darfst. Du kannst die Flüsse
nicht wieder überqueren, und hinter dir stehen jetzt geheime Schildwa-
chen, an denen du nicht vorbeikommst. Du würdest erschlagen, ehe du
sie sähest.«
Gimli zog seine Axt aus dem Gürtel. Haldir und sein Gefährte spann-
ten ihre Bögen. »Zum Kuckuck mit den Zwergen und ihrer Halsstarrig-
keit!« sagte Legolas.
»Kommt«, sagte Aragorn. »Wenn ich weiterhin der Führer dieser
Gemeinschaft sein soll, dann müßt ihr tun, was ich gebiete. Es ist hart für
den Zwergen, anders als die anderen behandelt zu werden. Wir alle wollen
uns die Augen verbinden lassen, sogar Legolas. Das wird das Beste sein,
obwohl das Wandern dadurch langsam und langweilig wird.«
Gimli lachte plötzlich. »Eine lustige Schar von Narren werden wir ab-
geben! Wird Haldir uns alle an einer Leine führen wie viele blinde Bett-
ler, die nur einen Hund haben? Aber ich wäre schon zufrieden, wenn nur
Legolas meine Blindheit teilt!«
»Ich bin ein Elb und verwandt mit dem Volk hier!« sagte Legolas, der
jetzt seinerseits ärgerlich wurde.
»Nun laßt uns ausrufen: >Zum Kuckuck mit den Elben und ihrer Hals-
starrigkeit!« sagte Aragorn. »Aber der ganzen Gemeinschaft soll es
gleich ergehen. Komm, verbinde unsere Augen, Haldir!«
»Ich werde vollen Schadenersatz verlangen für jeden Sturz und ver-
stauchten Zeh, wenn du uns nicht gut führst«, sagte Gimli, als sie ihm
ein Tuch vor die Augen banden.
»Du wirst keinen Grund zur Klage haben«, sagte Haldir. »Ich werde
euch gut führen, und die Wege sind eben und gerade.«
»Ach, was für eine törichte Zeit!« sagte Legolas. »Alle hier sind Feinde
des einen Feindes, und doch muß ich blind einhergehen, während die Sonne
durch Blätter aus Gold fröhlich in den Wald scheint!«
»Töricht mag es erscheinen«, antwortete Haldir. »Indes zeigt sich die
Macht des Dunklen Gebieters nirgends deutlicher als in der Entfremdung
aller derjenigen, die ihm noch Widerstand leisten. So wenig finden wir
noch Treu und Glauben in der Welt außerhalb von Lothlórien, mit Aus-
nahme vielleicht von Bruchtal, daß wir es nicht wagen, durch unsere Ver-
trauensseligkeit unser Land zu gefährden. Wir leben jetzt auf einer Insel
inmitten vieler Gefahren, und unsere Hände liegen häufiger auf der
Bogensehne als auf der Harfe.
Lange Zeit sind die Flüsse unsere Verteidigung gewesen, aber sie sind
wahrlich kein Schutz mehr; denn der Schatten ist rings um uns nach Nor-
den gekrochen. Manche reden vom Fortgehen, aber dafür scheint es schon
zu spät zu sein. Die Gebirge im Westen werden bösartig; die Lande im
Osten sind öde und voll von Saurons Geschöpfen; und es geht das Ge-
rücht, daß wir jetzt nicht ungefährdet durch Rohan nach Süden gehen
können, und daß die Mündungen des Großen Stroms vom Feind bewacht
werden. Selbst wenn wir die Gestade des Meers erreichen könnten, wür-
den wir dort nicht länger Schutz finden. Es heißt, es gäbe noch Anfurten
der Hochelben, doch liegen sie weit im Norden und Westen, jenseits des
Landes der Halblinge. Doch wo das sein mag, wissen vielleicht der Herr
und die Herrin, aber ich nicht.«
»Du solltest es zumindest erraten, nachdem du uns gesehen hast«, sagte
Merry. »Es gibt Elben-Anfurten westlich meines Landes, des Auenlands,
wo Hobbits leben.«
»Ein glückliches Volk sind die Hobbits, daß sie nahe den Meeresküsten
leben!« rief Haldir. »Es ist fürwahr lange her, seit einer von meinem Volk
die See erblickt hat, doch erinnern wir uns ihrer noch in Liedern. Erzähle
mir von diesen Anfurten, während wir laufen.«
»Das kann ich nicht«, sagte Merry. »Ich habe sie nie gesehen. Niemals
zuvor bin ich außerhalb meines Landes gewesen. Und wenn ich gewußt
hätte, wie die Welt draußen ist, dann hätte ich wohl überhaupt nicht den
Mut gehabt, es zu verlassen.«
»Nicht einmal, um das schöne Lothlórien zu sehen?« fragte Haldir.
»Die Welt ist wahrlich voller Gefahren, und es gibt viele dunkle Orte auf
ihr; doch noch immer gibt es vieles Schöne, und obwohl heute in allen
Landen Liebe mit Leid vermengt ist, wird das Schöne vielleicht um so
größer.
Einige unter uns sagen in ihren Liedern, der Schatten werde sich zu-
rückziehen und es werde wieder Frieden einkehren. Indes glaube ich
nicht, daß die Welt um uns jemals wieder wie früher sein wird oder das
Licht der Sonne so, wie es einstmals war. Für die Elben, fürchte ich, wird
es bestenfalls ein Waffenstillstand sein, während dessen sie ungehindert
das Meer erreichen und Mittelerde für immer verlassen können. Ach,
welch ein Jammer um Lothlórien, das ich liebe! Es wäre ein armseliges
Leben in einem Lande, wo kein Maliern wächst. Aber ob es jenseits des
Großen Meers Mallornbäume gibt, hat keiner berichtet.«
Während sie so sprachen, ging die Gemeinschaft, geführt von Haldir,
langsam im Gänsemarsch über die Waldwege, während der andere Elb
hinterherging. Sie spürten, daß der Boden unter ihren Fußen eben und
weich war, und nach einer Weile schritten sie ungezwungener aus und
hatten keine Angst mehr, sich zu verletzen oder zu fallen. Seines Ge-
sichtssinns beraubt, stellte Frodo fest, daß sein Gehör und andere Sinne
geschärft waren. Er konnte die Bäume riechen und das Gras, auf dem sie
gingen. Er konnte im Rascheln der Blätter, im Murmeln des Flusses zu
seiner Rechten und in den hellen, klaren Vogelstimmen am Himmel viele
verschiedene Melodien hören. Er spürte die Sonne auf seinem Gesicht und
seinen Händen, wenn sie über eine freie Lichtung kamen.
Von dem Augenblick an, als er den Fuß auf das jenseitige Ufer des Sil-
berlaufs gesetzt hatte, war er von einem seltsamen Gefühl befallen wor-
den, und es verstärkte sich, als er jetzt weiter in den Naith hineinkam:
ihm schien, er habe über eine Brücke der Zeit einen Winkel der Altvor-
derenzeit betreten und ergehe sich jetzt in einer Welt, die nicht mehr
war. In Bruchtal lebte die Erinnerung an die alten Dinge; in Lórien lebten
die alten Dinge noch in der lebendigen Welt. Böses hatte man dort gese-
hen und gehört und Leid erfahren; die Elben fürchteten die Welt draußen
und mißtrauten ihr: Wölfe heulten an des Waldes Grenzen; doch auf dem
Lande Lórien lag kein Schatten.
Den ganzen Tag über marschierten die Gefährten, bis sie den kühlen
Abend kommen fühlten und den frühen Nachtwind zwischen vielen Blät-
tern wispern hörten. Dann rasteten sie und schliefen ohne Furcht auf dem
Boden; denn ihre Führer erlaubten ihnen nicht, ihre Augenbinden abzu-
nehmen, und blind konnten sie nicht klettern. Am Morgen gingen sie
ohne Hast wieder weiter. Mittags hielten sie an, und Frodo merkte, daß
sie hinausgekommen waren in den Sonnenschein. Plötzlich hörte er den
Klang vieler Stimmen um sich herum.
Eine Elben-Heerschar war leise herangekommen; sie eilte an die nörd-
lichen Grenzen, um sie gegen einen Angriff aus Moria zu schützen; und
sie brachte Nachrichten mit, von denen Haldir einige weitergab. Die plün-
dernden Orks waren angegriffen und fast völlig aufgerieben worden; die
Überlebenden waren nach Westen in Richtung auf das Gebirge entflohen
und wurden verfolgt. Auch ein merkwürdiges Geschöpf war gesehen
worden, das mit gebeugtem Rücken und den Händen dicht am Boden lief,
wie ein Tier, und doch nicht von Tiergestalt. Es hatte sich nicht einfangen
lassen, und sie hatten es nicht erschossen, weil sie nicht wußten, ob es gut
oder böse war, und das Geschöpf war den Silberlauf abwärts nach Süden
verschwunden.
»Auch bringen sie mir«, sagte Haldir, »eine Botschaft des Herrn und
der Herrin der Galadrim. Ihr sollt alle mit unverbundenen Augen gehen,
selbst der Zwerg Gimli. Offenbar weiß die Herrin, wer und was jedes
Mitglied eurer Gruppe ist. Vielleicht sind neue Nachrichten aus Bruchtal
eingetroffen.«
Zuerst nahm er Gimlis Augenbinde ab. »Ich bitte um Vergebung!«
sagte er und verbeugte sich tief. »Schau uns nun mit freundlichen Augen
an! Blicke dich um und freu dich, denn du bist der erste Zwerg seit Dûrins
Tagen, der die Bäume des Naith erblickt!«
Als Frodo die Binde abgenommen wurde, schaute er auf und hielt den
Atem an. Sie standen auf einem freien Platz. Links erhob sich ein großer
Hügel, bedeckt mit einem Rasen so grün wie der Frühling in der Altvor-
derenzeit. Oben wuchsen, wie eine Doppelkrone, zwei Baumkreise: die
Bäume des äußeren Kreises hatten eine schneeweiße Rinde und waren
blattlos, aber schön in ihrer ebenmäßigen Nacktheit: im inneren Kreis
standen sehr hohe Mallornbäume; sie waren noch blaßgolden belaubt.
Hoch zwischen den Ästen eines Baumes, der genau in der Mitte stand,
leuchtete ein weißes Flett. Zu den Füßen der Bäume und überall auf den
grünen Hängen des Hügels war das Gras mit kleinen, goldenen Blüten in
Sternenform übersät. Zwischen ihnen, die auf schlanken Stengeln nickten,
standen noch andere Blumen, weiß und ganz blaßgrün: sie schimmerten
wie ein Nebel inmitten der satten Farbe des Grases. Über alledem war der
Himmel blau, und die Nachmittagssonne glühte über dem Hügel und warf
lange grüne Schatten unter den Bäumen.
»Schaut! Ihr seid nach Cerin Amroth gekommen«, sagte Haldir. »Dies
ist das Herz des alten Reichs, wie es vor langer Zeit war, und hier ist der
Hügel von Amroth, wo in glücklicheren Tagen sein hohes Haus stand.
Hier blühen immerdar die Winterblumen in dem nicht welkenden Gras:
die gelbe elanor und die blasse niphredil. Wir werden hier eine
Weile blei-
ben und in der Abenddämmerung in die Stadt der Galadrim kommen.«
Die anderen warfen sich auf das duftende Gras, aber Frodo blieb noch
eine Weile stehen, von Staunen erfüllt. Ihm schien es, als sei er durch ein
hohes Fenster getreten, das auf eine verschwundene Welt blickt. Ein Licht
lag auf ihr, für das seine Sprache keinen Namen hatte. Alles, was er sah,
war wohlgeformt, aber die Formen schienen klar umrissen, als seien sie
erst, als ihm die Augenbinde abgenommen wurde, ersonnen und geschaffen
worden, und zugleich alt, als ob sie seit eh und je dagewesen waren. Er sah
keine Farben außer denen, die er kannte, Gold und Weiß und Blau und
Grün, aber sie waren frisch und strahlend, als nehme er sie in diesem
Augenblick zu erstenmal wahr und erfinde neue und wunderbare Namen
für sie. Hier konnte im Winter kein Herz um Sommer oder Frühling
trauern. Kein Makel, kein Gebrechen, keine Mißbildung ließ sich an irgend
etwas entdecken, das auf der Erde wuchs. Kein Fehl war am Lande Lórien.
Er wandte sich um und sah, daß Sam jetzt neben ihm stand, sich ver-
blüfft umschaute und die Augen rieb, als ob er nicht sicher sei, daß er
wach sei. »Die Sonne scheint, und es ist gewißlich heller Tag«, sagte er.
»Ich dachte, daß Elben nur Mond und Sterne im Sinn hätten; aber das
hier ist elbischer als alles, wovon ich je gehört habe. Mir ist zumute, als
sei ich innerhalb eines Liedes, wenn du weißt, was ich meine.«
Haldir schaute sie an und schien beides zu verstehen, Sams Gedanken
und seine Worte. Er lächelte. »Du spürst die Macht der Herrin der Gala-
drim«, sagte er. »Würde es euch Freude machen, mit mir den Cerin
Amroth zu besteigen?«
Sie folgten ihm , als er leicht über die grasbewachsenen Hänge hinauf-
stieg. Obwohl Frodo lief und atmete und um ihn her lebende Blätter und
Blumen von demselben kühlen Wind bewegt wurden, der sein Gesicht
fächelte, hatte er das Gefühl, als sei er in einem zeitlosen Land, das nicht
verging oder sich veränderte oder in Vergessenheit geriet. Wenn er fort war
und wieder in die äußere Welt hinübergewechselt hatte, würde Frodo, der
Wanderer aus dem Auenland, immer noch hier wandeln auf dem Gras
zwischen elanor und niphredil im schönen Lothlórien.
Sie betraten den Kreis der weißen Bäume. Der Südwind blies über Cerin
Amroth und seufzte zwischen den Ästen. Frodo stand still und hörte in
weiter Ferne große Wogen an Ufer branden, die vor langer Zeit hinweg-
gewaschen worden waren, und er hörte Seevögel schreien, deren Art auf
der Erde ausgestorben war.
Haldir war weitergegangen und erklomm jetzt das hohe Flett. Als
Frodo sich anschickte, ihm zu folgen, legte er seine Hand neben der Leiter
auf den Baum: niemals zuvor war ihm so plötzlich und deutlich zum
Bewußtsein gekommen, wie sich die Rinde eines Baums anfühlt und wie
sie und das Leben in ihr beschaffen sind. Das Holz und die Berührung
erfüllte ihn mit Freude, nicht mit der des Försters oder Schreiners; es war
die Freude am lebendigen Baum selbst.
Als er schließlich auf die hohe Plattform trat, nahm Haldir seine Hand
und drehte ihn nach Süden. »Schau zuerst in dieser Richtung«, sagte er.
Frodo sah, immer noch in einiger Entfernung, einen Berg aus vielen
mächtigen Bäumen oder eine Stadt aus grünen Türmen: was von beiden
es war, konnte er nicht sagen. Von dort her schienen ihm die Macht und
das Licht zu kommen, die das ganze Land in ihrem Banne hielten. Er
sehnte sich plötzlich danach, wie ein Vogel fliegen zu können, um in der
grünen Stadt auszuruhen. Dann schaute er nach Osten und sah das ganze
Land Lórien abfallen zum blaß schimmernden Anduin, dem Großen
Strom. Er ließ seine Augen über den Fluß hinweg schweifen, und alles
Licht erlosch, und er war wieder in der Welt, die er kannte. Jenseits des
Flusses erschien das Land flach und leer, formlos und verschwommen, bis
es sich in weiter Ferne wieder erhob wie eine Mauer, dunkel und trostlos.
Die Sonne, die auf Lothlórien lag, hatte keine Kraft, den Schatten jener
fernen Höhe zu erhellen.
»Dort liegt die Festung von Süd-Düsterwald«, sagte Haldir. »Sie ist
umgeben von einem Wald aus dunklen Tannen, und die Bäume kämpfen
miteinander, und ihre Zweige verrotten und verdorren. In der Mitte auf
einer steinigen Höhe steht Dol Guldur, wo der verborgene Feind lange
seine Behausung hatte. Wir fürchten, daß es jetzt wieder bewohnt ist, und
mit siebenfacher Macht. In letzter Zeit hängt oft eine schwarze Wolke
darüber. Auf dieser Höhe kannst du die beiden feindlichen Mächte
sehen; und immer kämpfen sie jetzt in Gedanken miteinander, aber wäh-
rend das Licht den wahren Kern der Dunkelheit wahrnimmt, ist sein eige-
nes Geheimnis noch nicht entdeckt. Noch nicht.« Er wandte sich um und
stieg rasch hinab, und sie folgten ihm.
Am Fuße des Berges fand Frodo Aragorn, der still und schweigend
wie ein Baum dastand; in seiner Hand hielt er eine kleine, goldene elanor-
Blüte, und ein Licht leuchtete in seinen Augen. Er war in irgendeiner
schönen Erinnerung versunken; und als Frodo ihn ansah, wußte er, daß
Aragorn Dinge schaute, wie sie einstmals an eben diesem Ort gewesen
waren. Denn die bitteren Jahre waren ausgelöscht aus seinem Gesicht,
und er schien in Weiß gekleidet zu sein, ein junger Ritter, groß und
schön; und er richtete Worte in der Elbensprache an jemanden, den Frodo
nicht sehen konnte. Armen vanimelda, namarie! sagte er, und dann holte
er tief Luft, kehrte aus seinen Gedanken zurück, sah Frodo an und
lächelte.
»Hier ist das Herz des Elbentums auf Erden«, sagte er, »und hier weilt
mein Herz allezeit, es sei denn, ein Licht leuchtete jenseits der dunklen
Wege, die wir noch gehen müssen, du und ich. Komm mit mir!« Und er
nahm Frodos Hand und verließ den Berg Cerin Amroth und kehrte nie-
mals als Lebender dahin zurück.