SIEBTES KAPITEL
GALADRIELS SPIEGEL
Die Sonne ging hinter dem Gebirge unter, und die Schatten wurden
dunkler in den Wäldern, als sie wieder weitergingen. Ihre Pfade rührten
nun in Dickichte, wo sich die Dämmerung schon sammelte. Nacht wurde
es unter den Bäumen, während sie wanderten, und die Elben zündeten
ihre silbernen Lampen an.
Plötzlich kamen sie wieder ins Freie und standen unter einem blassen
Abendhimmel, an dem einige frühe Sterne blinkten. Vor ihnen erstreckte
sich eine weite, baumlose Fläche, die einen großen Kreis beschrieb und zu
beiden Seiten abfiel. Dahinter lag in sanftem Schatten ein tiefer Graben,
aber das Gras an seinem Rand war grün, als glühe es noch in der Erinne-
rung an die untergegangene Sonne. Auf der anderen Seite erhob sich zu
großer Höhe eine grüne Mauer; sie umgab einen Berg, der dicht mit Mal-
lornbäumen, größer als alle, die sie bisher in diesem Land gesehen hatten,
bestanden war. Ihre Höhe ließ sich nicht erraten, aber sie ragten in der
Dämmerung empor wie lebende Türme. In ihren reichverzweigten Ästen
und zwischen den sich unablässig bewegenden Blättern schimmerten un-
zählige Lichter, grün, golden und silbern. Haldir wandte sich zu der Ge-
meinschaft um.
»Willkommen in Caras Galadon!« sagte er. »Hier ist die Stadt der
Galadrim, wo der Herr Celeborn und Galadriel, die Herrin von Lórien,
wohnen. Doch können wir hier nicht hinein, weil die Tore nicht nach
Norden schauen. Wir müssen herumgehen zur Südseite, und der Weg ist
nicht kurz, denn die Stadt ist groß.«
Eine mit weißen Steinen gepflasterte Straße führte am äußeren Rand des
Grabens entlang. Auf dieser gingen sie nach Westen, während sich die
Stadt wie eine grüne Wolke zu ihrer Linken erhob; und als die Nacht
dunkler wurde, leuchteten immer mehr Lichter auf, bis der ganze Berg mit
Sternen übersät zu sein schien. Schließlich kamen sie zu einer weißen
Brücke, und als sie sie überquert hatten, zu den großen Toren der Stadt:
diese schauten nach Südwesten und lagen zwischen den Enden der umgeben-
den Mauer, die sich hier überschnitten, und sie waren hoch und stark und
mit vielen Lampen behängt.
Haldir klopfte und sprach ein paar Worte, und die Tore öffneten sich
geräuschlos; aber von den Wächtern konnte Frodo keine Spur entdecken.
Die Wanderer gingen hinein, und die Tore schlössen sich hinter ihnen.
Sie standen jetzt in einer tiefen Gasse zwischen den Enden der Mauer,
und sie schritten rasch hindurch und betraten die Stadt der Bäume. Keine
Bewohner waren zu sehen und kein Fußtritt auf den Wegen zu hören;
aber ringsum und hoch oben in den Lüften erklangen viele Stimmen. Auf
dem Berg hörten sie Gesang, der herabfiel wie sanfter Regen auf Blätter.
Sie gingen viele Pfade entlang und erklommen viele Treppen, bis sie zu
den oberen Stadtteilen kamen und vor sich inmitten einer großen Rasen-
fläche einen schimmernden Springquell sahen. Er war von silbernen Lam-
pen, die an den Zweigen hingen, beleuchtet und fiel in ein silbernes Bek-
ken, aus dem ein weißer Bach überlief. Auf der Südseite der Rasenfläche
stand der mächtigste von allen Bäumen; sein großer, glatter Stamm
schimmerte wie graue Seide, und er ragte gewaltig empor, ehe seine er-
sten Äste hoch oben ihre riesigen Arme unter schattigen Blätterwolken
ausstreckten. Neben ihm stand eine weiße Leiter, und an ihrem Fuß saßen
drei Elben. Sie sprangen auf, als sich die Wanderer näherten, und Frodo
sah, daß sie von hohem Wuchs waren und graue Panzerhemden trugen,
und von ihren Schultern fielen lange, weiße Mäntel.
»Hier wohnen Celeborn und Galadriel«, sagte Haldir. »Es ist ihr
Wunsch, daß ihr hinaufsteigt und mit ihnen sprecht.«
Einer der Elbenwächter blies dann ein helles Signal auf einem kleinen
Hörn, und es wurde dreimal von weit oben beantwortet. »Ich werde als
erster gehen«, sagte Haldir. »Laßt dann Frodo kommen und mit ihm
Legolas. Die anderen mögen folgen, wie sie wünschen. Es ist ein langer
Aufstieg für jene, die an derartige Treppen nicht gewöhnt sind, aber ihr
könnt euch unterwegs ausruhen.«
Als er langsam hinaufstieg, kam Frodo an vielen Fletts vorbei: manche
lagen auf der einen Seite, manche auf der anderen, und manche gingen
um den Baumstamm herum, so daß die Leiter durch sie hindurchführte.
Auf großer Höhe über dem Erdboden kam er zu einem talan, das geräu-
mig war wie das Deck eines großen Schiffs. Darauf war ein Haus gebaut,
so groß, daß es den Menschen auf der Erde fast als Königshalle hätte die-
nen können. Er trat hinter Haldir ein und sah, daß er sich in einem ova-
len Gemach befand, in dessen Mitte der Stamm des großen Mallom wuchs,
der sich jetzt dicht vor seiner Krone verjüngte, aber noch immer eine
Säule von gewaltigem Umfang war.
Das Gemach war von einem sanften Licht erfüllt; seine Wände waren
grün und silbern und sein Dach golden. Viele Elben saßen dort. Auf zwei
Sesseln am Stamm des Baumes, überdacht von einem lebenden Zweig,
saßen Celeborn und Galadriel Seite an Seite. Sie erhoben sich, um ihre
Gäste zu begrüßen, wie es die Sitte der Elben war, selbst jener, die als
mächtige Könige galten. Sehr groß waren sie, und die Herrin nicht weni-
ger groß als der Herr; und sie waren ernst und schön. Sie waren ganz in
Weiß gekleidet; Frau Galadriels Haar war tief golden, und das Haar
des Herrn Celeborn war silbern, lang und leuchtend; aber kein Zeichen
des Alters war an ihnen, es sei denn in den Tiefen ihrer Augen; denn
ihre Augen waren scharf wie Lanzen im Sternenlicht, und doch tiefgrün-
dig, die Bronnen alter Erinnerungen.
Haldir führte Frodo vor sie, und der Herr begrüßte ihn in seiner eige-
nen Sprache. Frau Galadriel sagte kein Wort, sah ihm aber lange ins
Gesicht.
»Nehmt jetzt neben meinem Sessel Platz, Frodo aus dem Auenland«,
sagte Celeborn. »Wenn alle gekommen sind, werden wir miteinander
reden.«
Jeden der Gefährten begrüßte er bei seinem Eintritt höflich mit
Namen. »Willkommen, Aragorn, Arathorns Sohn!« sagte er. »Achtund-
dreißig Jahre der Welt draußen sind verstrichen, seit Ihr in dieses Land
kamt; und jene Jahre lasten schwer auf Euch. Doch das Ende ist nahe, ob
zum Guten oder zum Bösen. Legt hier Eure Bürde eine Weile beiseite!«
»Willkommen, Thranduils Sohn! Allzu selten wandern meine Ver-
wandten aus dem Norden hierher.«
»Willkommen, Gimli, Glóins Sohn! Lange ist es her, fürwahr, seit wir
einen von Dûrins Volk in Caras Galadon sahen. Doch heute haben wir
unser altes Gesetz gebrochen. Möge es, obwohl die Welt jetzt düster ist,
ein Zeichen sein, daß bessere Tage bevorstehen und die Freundschaft zwi-
schen unseren Völkern erneuert wird.« Gimli verneigte sich tief.
Als alle Gäste vor seinem Sessel Platz genommen hatten, schaute er sie
wieder an. »Hier sind acht«, sagte er. »Neun sollten aufbrechen, so hieß
es in der Botschaft. Aber vielleicht ist der Plan geändert worden, und wir
haben es nicht erfahren. Elrond ist fern, und die Dunkelheit nimmt zu
zwischen uns, und das ganze Jahr hindurch ist der Schatten länger gewor-
den.«
»Nein, der Plan wurde nicht geändert«, sagte Frau Galadriel. Sie sprach
zum ersten Mal. Ihre Stimme war klar und melodisch, aber tiefer als man
es bei Frauen gewöhnt ist. »Gandalf der Graue brach mit der Gemein-
schaft auf, doch hat er die Grenzen dieses Landes nicht überschritten.
Nun sagt uns, wo er ist; denn es verlangte mich sehr, wieder mit ihm zu
sprechen. Doch kann ich ihn aus weiter Ferne nicht sehen, es sei denn, er
käme in den Bereich von Lothlórien: ein grauer Nebel ist um ihn, und die
Wege seiner Füße und seines Geistes sind mir verborgen.«
»Wehe!« sagte Aragorn. »Gandalf der Graue ist in den Schatten ge-
stürzt. Er ist in Moria geblieben und nicht entkommen.«
Bei diesen Worten weinten alle Elben in der Halle laut vor Trauer und
Verwunderung. »Das sind schlimme Nachrichten«, sagte Celeborn, »die
schlimmsten, die hier in langen Jahren voller furchtbarer Taten verkündet
worden sind.« Er wandte sich an Haldir. »Warum ist mir nicht früher
davon berichtet worden?« fragte er in der Elbensprache.
»Wir haben mit Haldir nicht über unser Tun und unsere Absichten
gesprochen«, sagte Legolas. »Zuerst waren wir müde, und die Gefahr war
zu nahe hinter uns; und nachher haben wir eine Zeitlang fast unsere
Trauer vergessen, als wir voll Freude auf den schönen Pfaden von Lórien
wandelten.«
»Dennoch ist unser Trauer groß, und unser Verlust nicht wiedergut-
zumachen«, sagte Frodo. »Gandalf war unser Leiter, und er führte uns
durch Moria; und als unser Entkommen schon hoffnungslos erschien, ret-
tete er uns, und er fiel.«
»Erzählt uns nun die ganze Geschichte«, sagte Celeborn.
Da berichtete Aragorn alles, was auf dem Paß des Caradhras und in
den folgenden Tagen geschehen war; und er sprach von Balin und seinem
Buch und dem Kampf in der Kammer von Mazarbul und dem Feuer und
der schmalen Brücke und dem Kommen des Schreckens. »Etwas Böses der
Alten Welt schien es zu sein, wie ich es nie zuvor gesehen habe«, sagte
Aragorn. »Es war zugleich ein Schatten und eine Flamme, stark und ent-
setzlich.«
»Es war ein Balrog von Morgoth«, sagte Legolas. »Von allen Elbenflüchen
der tödlichste, außer dem Einen, der in dem Dunklen Turm lauert.«
»Wahrlich, ich sah auf der Brücke, was uns in unseren schwärzesten
Träumen verfolgt, ich sah Dûrins Fluch«, sagte Gimli leise, und Entsetzen
stand in seinen Augen.
»Wehe!« sagte Celeborn. »Lange haben wir gefürchtet, daß ein Schrek-
ken unter Caradhras schläft. Aber hätte ich gewußt, daß die Zwerge die-
ses Böse in Moria wieder aufgestört haben, dann hätte ich Euch verboten,
die Nordgrenze zu überschreiten. Euch und allen, die mit Euch gingen.
Und wenn es möglich wäre, dann würde man sagen, daß Gandalf zuletzt
aus Weisheit in Narrheit verfiel, da er unnötig in das Netz von Moria
ging.«
»Vorschnell wäre fürwahr derjenige, der solches meinte«, sagte Gala-
driel ernst. »Unnötig war keine von Gandalfs Taten im Leben. Diejenigen,
die ihm folgten, kannten seine Gedanken nicht und können über seine
genaue Absicht nicht berichten. Aber wie immer es mit dem Führer sein
mag, die Gefolgsleute sind schuldlos. Bereue nicht, daß du den Zwergen
willkommen geheißen hast. Wäre unser Volk lange und fern von Lothló-
rien verbannt gewesen, wer von den Galadrim, selbst Celeborn der Weise,
würde in der Nähe vorbeigehen und nicht wünschen, einen Blick auf die
alte Heimat zu werfen, auch wenn sie ein Wohnort von Drachen gewor-
den wäre?
Dunkel ist das Wasser von Kheled-zâram, und kalt sind die Quellen
von Kibil-nâla, und schön waren die vielsäuligen Hallen von Khazad-dûm
in der Altvorderenzeit vor dem Sturz mächtiger Könige unter dem
Stein.« Sie schaute Gimli an, der finster und traurig dasaß, und sie
lächelte. Und als der Zwerg hörte, daß die Namen in seiner eigenen alten
Sprache genannt wurden, hob er den Kopf und sah ihr in die Augen; und
ihm schien, als blicke er plötzlich einem Feind ins Herz und sehe dort
Liebe und Verständnis. Staunen malte sich in seinem Gesicht, und dann
lächelte auch er.
Er erhob sich unbeholfen, verbeugte sich nach Zwergenart und sagte:
»Doch schöner ist das lebendige Land Lórien, und Frau Galadriel über-
trifft alle Edelsteine, die unter der Erde liegen!«
Es trat ein Schweigen ein. Schließlich sprach Celeborn wieder. »Ich
wußte nicht, daß Eure Lage so schlimm war«, sagte er. »Möge Gimli
meine harten Worte vergessen: ich sprach sie in der Verwirrung meines
Herzens. Ich will tun, was ich vermag, um Euch zu helfen, entsprechend
dem Wunsch und Verlangen eines jeden von Euch, aber besonders desjeni-
gen von den kleinen Leuten, der die Bürde trägt.«
»Eure Aufgabe ist uns bekannt«, sagte Galadriel zu Frodo. »Aber
mehr wollen wir hier öffentlich nicht davon sprechen. Indes wird es sich
vielleicht erweisen, daß Ihr nicht vergebens in dieses Land gekommen
seid, um Hilfe zu suchen, wie Gandalf selbst gewiß beabsichtigt hatte.
Denn der Herr der Galadrim gilt als der Weiseste der Elben von Mittel-
erde und als Geber von Geschenken, die mächtiger sind als Könige. Er hat
im Westen gelebt seit den Tagen der Morgendämmerung, und ich habe un-
zählige Jahre bei ihm gelebt; denn vor dem Fall von Nargothrond oder
Gondolin bin ich über das Gebirge gekommen, und zusammen haben wir
Zeitalter der Welt hindurch gegen die lange Niederlage gekämpft.
Ich war es, die zuerst den Weißen Rat einberief. Und wenn meine Ab-
sichten nicht durchkreuzt worden wären, hätte Gandalf der Graue ihn
geleitet, und dann wären die Dinge vielleicht anders gelaufen. Aber
selbst jetzt besteht noch Hoffnung. Ich will Euch nicht Rat geben und
sagen, tut dies oder tut jenes. Denn nicht dadurch, daß ich etwas tue oder
ersinne oder zwischen diesem und einem anderen Vorgehen wähle, kann
ich nützen; sondern nur dadurch, daß ich weiß, was war und was ist und
zum Teil auch, was sein wird. Aber das will ich Euch sagen: Eure Fahrt
steht auf Messers Schneide. Geht nur um ein Weniges fehl, und sie wird
scheitern, was den Untergang für alle bedeutet. Und doch besteht Hoff-
nung, solange die ganze Gemeinschaft treu ist.«
Und nach diesen Worten hielt Galadriel sie mit ihrem Blick gefangen
und schaute schweigend der Reihe nach jeden einzelnen von ihnen for-
schend an. Keiner außer Legolas und Aragorn vermochte ihren Blick lange
zu ertragen. Sam errötete gleich und ließ den Kopf hängen.
Schließlich entließ Frau Galadriel sie aus ihrem Blick und lächelte.
»Laßt Euch das Herz nicht schwer machen«, sagte sie. »Heute nacht sollt
Ihr in Frieden schlafen.« Dann seufzten die Gäste und fühlten sich plötz-
lich ermattet wie Leute, die lange und gründlich vernommen worden sind,
obwohl kein Wort gesprochen worden war.
»Geht nun!« sagte Celeborn. »Ihr seid erschöpft nach so viel Trauer
und Plage. Selbst wenn Eure Fahrt für uns nicht so wichtig wäre, hättet
Ihr in dieser Stadt Zuflucht finden sollen, bis Ihr geheilt und erfrischt
seid. Nun sollt Ihr ruhen, und wir wollen eine Weile nicht von Eurem
weiteren Weg sprechen.«
In jener Nacht schlief die Gemeinschaft zu ebener Erde, sehr zur Zu-
friedenheit der Hobbits. Die Elben hatten ein Zelt zwischen den Bäumen in
der Nähe des Springbrunnens für sie aufgebaut und ihnen weiche Lager
darin bereitet. Dann hatten sie mit ihren schönen Elbenstimmen Worte
des Friedens gesprochen und sie verlassen. Eine Weile redeten die Wande-
rer noch von ihrer letzten Nacht in den Baumwipfeln und von dem Weg,
den sie während des Tages zurückgelegt hatten, und von dem Herrn und
der Herrin; denn noch brachten sie es nicht über das Herz, weiter zurück-
zuschauen.
»Warum bist du so rot geworden, Sam?« fragte Pippin. »Du hast rasch
klein beigegeben. Man hätte denken können, daß du ein schlechtes Gewis-
sen hattest. Ich hoffe, es war nichts Schlimmeres als ein verruchter Plan,
mir eine meiner Decken zu stehlen.«
»Sowas habe ich nie vorgehabt«, antwortete Sam, dem nicht nach Spa-
ßen zumute war. »Wenn du es wissen willst, mir war, als hätte ich gar
nichts an, und das gefiel mir nicht. Sie schien in mich hineinzusehen und
mich zu fragen, was ich tun würde, wenn sie mir Gelegenheit gäbe, zu-
rück ins Auenland zu fliegen zu einer hübschen kleinen Höhle mit — mit
einem eigenen Gärtchen.«
»Das ist komisch«, sagte Merry. »Fast genau dasselbe Gefühl habe ich
gehabt. Nur — ach, ich glaube, ich will nichts darüber sagen«, meinte er
verlegen.
Allen war es offenbar gleich ergangen: jeder von ihnen hatte das Ge-
fühl gehabt, daß er vor die Wahl gestellt werde zwischen einem furchter-
regenden Schatten, der vor ihnen lag, und etwas anderem, das er sich sehr
wünschte: ganz klar vor Augen stand es ihm, und um es zu erlangen,
brauchte er sich bloß vom Wege abzuwenden und die Fahrt und den Krieg
gegen Sauron anderen zu überlassen.
»Und mir kam es außerdem so vor«, sagte Gimli, »als ob meine Ent-
scheidung geheimbleiben und nur mir selbst bekannt sein würde.«
»Ich fand es überaus merkwürdig«, sagte Boromir. »Vielleicht war es
nur eine Prüfung, und sie wollte unsere Gedanken lesen für ihren eigenen
guten Zweck; aber fast möchte ich meinen, daß sie uns in Versuchung
führte und uns etwas anbot, was zu gewähren angeblich in ihrer Macht
stand. Es bedarf keiner Erwähnung, daß ich nicht darauf hörte. Die Men-
schen von Minas Tirith stehen treu zu ihrem Wort.« Aber was ihm die
Herrin, wie er glaubte, angeboten habe, erzählte Boromir nicht.
Und was Frodo betraf, so wollte er nichts sagen, obwohl Boromir ihn
mit Fragen bestürmte. »Sie hielt dich lange in ihrem Blick, Ringträger«,
sagte er.
»Ja«, antwortete Frodo. »Aber was immer mir dabei in den Sinn kam,
will ich für mich behalten.«
»Na, sei vorsichtig!« sagte Boromir. »Ich bin nicht so sehr überzeugt
von dieser Elben-Herrin und ihren Absichten.«
»Sprich nicht schlecht von Frau Galadriel«, sagte Aragorn streng. »Du
weißt nicht, was du sagst. In ihr und in diesem Land gibt es nichts Böses,
sofern nicht jemand es selbst hierher bringt. Dann soll er sich hüten! Aber
zum ersten Mal, seit ich Bruchtal verließ, werde ich heute nacht ohne Furcht
schlafen. Und möge ich fest schlafen und eine Weile meine Trauer ver-
gessen! Ich bin müde an Leib und Seele.« Er warf sich auf sein Bett und
sank sofort in einen langen Schlaf.
Die anderen taten es ihm bald gleich, und kein Geräusch oder Traum
störte ihren Schlummer. Als sie aufwachten, lag der Rasen vor dem Zelt
im hellen Tageslicht, und der Springquell stieg und fiel glitzernd in der
Sonne.
Sie blieben einige Tage in Lothlórien, soviel sie wußten oder sich erinner-
ten. Die ganze Zeit, während sie dort waren, schien die Sonne, nur dann
und wann fiel ein sanfter Regen, und wenn er vorbei war, hinterließ er alles
frisch und rein. Die Luft war kühl und mild, als ob es frühes Frühjahr
sei, und doch empfanden sie um sich die tiefe und nachdenkliche Stille
des Winters. Es schien ihnen, als täten sie wenig außer essen und trinken
und ruhen und Spazierengehen unter den Bäumen; und es war genug.
Den Herrn und die Herrin hatten sie nicht wiedergesehen, und sie führ-
ten kaum Gespräche mit dem Elbenvolk; denn wenige waren einer ande-
ren als ihrer eigenen Waldsprache mächtig. Haldir hatte sich von ihnen
verabschiedet und war an die Nordgrenze zurückgekehrt, wo seit den
Nachrichten über Moria, die die Gemeinschaft mitgebracht hatte, die
Wachen verstärkt worden waren. Legolas war oft fort und bei den Gala-
drim, und nach der ersten Nacht schlief er nicht mehr mit den anderen
Gefährten, obwohl er zurückkam, um mit ihnen zu essen und sich zu un-
terhalten. Häufig nahm er Gimli mit, wenn er über Land ging, und die
anderen wunderten sich über diese Veränderung.
Wenn die Gefährten zusammensaßen oder spazierengingen, sprachen
sie jetzt von Gandalf, und alles, was jeder von ihm gewußt oder gesehen
hatte, trat ihnen wieder deutlich vor Augen. Als sie von ihren Verlet-
zungen und der Müdigkeit des Körpers geheilt waren, wurde die Trauer
über ihren Verlust bitterer. Oft hörten sie nahebei Elbenstimmen singen,
und sie wußten, daß sie Klagelieder über Gandalfs Sturz sangen, denn sie
hörten seinen Namen unter den lieblich und traurig klingenden Wörtern,
die sie nicht verstehen konnten.
Mithrandir, Mithrandir, sangen die Elben, 0 Pilger grau! Denn so
nannten sie ihn gern. Aber wenn Legolas bei seinen Gefährten war,
wollte er ihnen die Lieder nicht übersetzen und sagte, er habe nicht die
Kenntnisse und für ihn sei die Trauer noch zu nahe, ein Grund zum Wei-
nen und nicht zum Singen.
Es war Frodo, der zuerst etwas von seinem Leid in stammelnde Worte
kleidete. Er fühlte sich selten getrieben, Lieder oder Reime zu machen;
sogar in Bruchtal hatte er zugehört und nicht selbst gesungen, obwohl er
in seinem Gedächtnis manches bewahrt hatte, das andere früher gedichtet
hatten. Doch jetzt, als er neben dem Springquell in Lórien saß und
ringsum die Stimmen der Elben hörte, nahmen seine Gedanken Gestalt an
in einem Lied, das ihm schön erschien; als er aber versuchte, es für Sam
zu wiederholen, waren nur noch Bruchstücke übrig, verblaßt wie eine
Handvoll welker Blätter.
Stand einst daheim der Abend grau,
Vernahm man seinen leichten Tritt;
Dann ging er fort vor Tag und Tau
Auf weite Fahrt, nahm keinen mit.
Von Wilderland zum Westmeer hin,
Von Nord bis Süd die Reise ging
Durch Drachentor und finstre Furt
Und Wald, der voller Schatten hing.
Mit Zwerg und Hobbit, Elb und Mensch
Sprach er in ihrem Mutterlaut,
Mit Vögeln sprach er und Getier
Und war mit jedem wohlvertraut.
Der Rücken von der Last gebeugt;
Posaunenstimme; sanfte Hand
Voll Heilkraft; tödlich scharfes Schwert:
So zog der Pilger überland.
Ein weiser König, hochgemut,
Er zürnte schnell, er lachte bald;
Ein Mann im abgetragnen Hut
Am Wanderstab, gebückt und alt.
Er hielt die Brücke, er allein,
Da brach sein Stab — da wuchs sein Ruhm
Trotz Unterwelt und flammenschein
Bei seinem Tod in Khazad-dûm.
»Na, demnächst wird du noch Herrn Bilbo übertreffen«, sagte Sam.
»Nein, das glaube ich nicht«, sagte Frodo. »Aber noch kann ich es
nicht besser machen.«
»Aber wenn du es nochmal versuchst, Herr Frodo, dann wirst du hof-
fentlich auch ein Wort über sein Feuerwerk sagen. Ungefähr so:
Raketen spieen alle Pracht
Und bunte Sterne in die Nacht
Wie glühnde Lava aus dem Berg:
Nie sah man solch ein Feuerwerk.
Obwohl den Raketen damit bei weitem nicht Gerechtigkeit widerfährt.«
»Nein, das werde ich dir überlassen, Sam. Oder vielleicht Bilbo. Aber
— ach , ich kann nicht mehr darüber reden. Mir ist der Gedanke unerträg-
lich, ihm die Nachricht zu überbringen.«
Eines Abends gingen Frodo und Sam im kühlen Dämmerlicht spazie-
ren. Beide waren wieder von Unruhe erfüllt. Auf Frodo war plötzlich der
Schatten des Abschieds gefallen: er wußte irgendwie, daß die Zeit nahte,
da er Lothlórien verlassen mußte.
»Was hältst du jetzt von den Elben, Sam?« fragte er. »Ich habe dir
diese Frage schon einmal gestellt — es scheint sehr lange her zu sein.
Aber du hast seitdem mehr von ihnen gesehen.«
»Allerdings«, sagte Sam. »Und ich nehme an, es gibt Elben und Elben.
Eibisch sind sie alle, aber doch nicht alle gleich. Dieses Volk hier, die sind
keine Wanderer und auch nicht heimatlos, und sie scheinen unsereinem
etwas näher zu sein; sie scheinen hierher zu gehören, mehr sogar als die
Hobbits ins Auenland. Ob sie das Land gemacht haben oder das Land sie,
ist schwer zu sagen, wenn du weißt, was ich meine. Es ist wundervoll still
hier. Nichts scheint zu geschehen, und offenbar will das auch niemand.
Wenn irgendein Zauber dabei ist, dann sitzt er ganz tief, wo ich sozusa-
gen meine Hand nicht drauflegen kann.«
»Man kann ihn überall sehen und fühlen«, sagte Frodo.
»Immerhin«, sagte Sam, »sieht man niemanden, der ihn bewirkt. Kein
Feuerwerk, wie es der arme alte Gandalf zu machen pflegte. Ich wundere
mich, daß wir in all diesen Tagen den Herrn und die Herrin nicht zu
sehen bekommen. Ich stelle mir vor, daß sie ein paar wundervolle Dinge
tun könnte, wenn sie es wollte. Zu gern würde ich etwas Elbenzauber
sehen, Herr Frodo!«
»Ich nicht«, antwortete Frodo. »Ich bin zufrieden. Und ich vermisse
nicht Gandalfs Feuerwerk, sondern seine buschigen Augenbrauen und
sein aufbrausendes Wesen und seine Summe.«
»Du hast recht«, sagte Sam. »Und glaube ja nicht, daß ich etwa nör-
geln wollte. Ich habe mir oft gewünscht, ein bißchen Elbenzauber zu
sehen, wie es in den alten Geschichten erzählt wird, aber ich habe nie von
einem besseren Land gehört als diesem. Es ist, als ob man zu Hause sei
und gleichzeitig in Ferien, wenn du mich verstehst. Ich möchte hier nicht
weg. Und trotzdem habe ich allmählich das Gefühl, daß wir, wenn wir
weiterziehen müssen, es am besten bald hinter uns bringen.
Die Arbeit, die man nie beginnt, dauert am längsten, wie der alte
Ohm zu sagen pflegte. Und ich glaube nicht, daß diese Leute hier viel
mehr tun können, um uns zu helfen, mit oder ohne Zauber. Wenn wir
dieses Land verlassen, werden wir Gandalf noch mehr vermissen, glaube
ich.«
»Ich fürchte, das ist nur allzu wahr, Sam«, sagte Frodo. »Und doch
hoffe ich sehr, daß wir die Herrin der Elben noch sehen, ehe wir aufbre-
chen.«
Gerade als er das sagte, sahen sie Frau Galadriel auf sich zukommen,
als ob sie ihre Worte gehört habe. Groß und weiß und schön ging sie un-
ter den Bäumen. Sie sprach kein Wort, sondern winkte sie nur zu sich.
Sie führte sie über die Südhänge des Berges Caras Caladon, und nach-
dem sie durch eine hohe, grüne Hecke hindurchgeschritten waren, kamen
sie zu einem umzäunten Garten. Keine Bäume wuchsen dort, und er lag
offen unter dem Himmel. Der Abendstern war schon aufgegangen und
leuchtete mit einem weißen Feuer über den Wäldern im Westen. Über
eine lange Treppe stieg Frau Galadriel hinunter in eine grüne Mulde;
durch sie floß murmelnd ein silberner Bach, der aus dem Springquell auf
dem Berg entsprang. Im Grund der Mulde standen auf einem niedrigen
Sockel, der wie ein Baum mit Ästen geformt war, eine breite, flache sil-
berne Schale und daneben ein silberner Krug.
Mit Wasser aus dem Bach füllte Frau Galadriel die Schale bis zum
Rand und hauchte dann darauf, und als das Wasser wieder ruhig war,
sprach sie. »Hier ist Galadriels Spiegel«, sagte sie. »Ich habe euch hierher
gebracht, damit ihr hineinschauen könnt, wenn ihr wollt.«
Die Luft war sehr still und das enge Tal dunkel, und die Elben-Herrin
neben ihm war groß und blaß. »Wonach sollen wir schauen und was wer-
den wir sehen?« fragte Frodo voller Furcht.
»Viele Dinge zu enthüllen kann ich dem Spiegel befehlen«, antwortete
sie, »und manchen kann ich zeigen, was sie zu sehen verlangen. Doch
wird der Spiegel auch nicht erbetene Dinge zeigen, und diese sind oft
merkwürdiger und nützlicher als jene Dinge, die zu erblicken wir uns wün-
schen. Was du sehen wirst, wenn du den Spiegel frei wirken läßt, kann
ich nicht sagen. Denn er zeigt Dinge, die waren, und Dinge, die sind, und
Dinge, die noch sein mögen, aber was er nun sieht, weiß selbst der Weise-
ste nicht immer. Möchtest du hineinschauen?«
Frodo antwortete nicht.
»Und du?« fragte sie Sam. »Denn das ist es wohl, was ihr Zauber
nennt, glaube ich; obwohl ich nicht genau verstehe, was die Leute damit
meinen; und sie scheinen dasselbe Wort auch auf die Betrügereien des
Feindes anzuwenden. Aber das hier ist, wenn du willst, Galadriels Zau-
ber. Hast du nicht gesagt, du wolltest Elbenzauber sehen?«
»Ja«, sagte Sam; er war ein wenig hin- und hergerissen zwischen
Furcht und Neugier. »Ich will gern mal gucken, Herrin, wenn ich darf.«
»Und ich hätte nichts dagegen, mal eben zu sehen, was zu Hause vor
sich geht«, raunte er Frodo zu. »Mir kommt es so vor, als sei ich schon
schrecklich lange weg. Aber höchstwahrscheinlich werde ich nur die
Sterne sehen oder irgend etwas, das ich nicht verstehe!«
»Höchstwahrscheinlich«, sagte die Herrin und lachte leise. »Aber
komm, du sollst sehen, was du magst. Berühre das Wasser nicht!«
Sam kletterte hinauf zu dem Sockel und beugte sich über die Schale.
Das Wasser sah streng und dunkel aus. Sterne spiegelten sich darin.
»Nur Sterne, wie ich es mir gedacht habe«, sagte er. Dann gab er einen
Ausruf der Verwunderung von sich, denn die Sterne verschwanden. Als
ob ein dunkler Schleier fortgezogen worden sei, wurde der Spiegel erst
grau und dann klar. Er sah die Sonne darin scheinen, und Äste von Bäu-
men bewegten sich und schwankten im Wind hin und her. Aber ehe Sam
sich schlüssig werden konnte, was er eigentlich sah, verblaßte das Licht;
und jetzt glaubte er Frodo zu sehen, der mit bleichem Gesicht unter einem
großen, dunklen Felsen lag und fest schlief. Dann schien es ihm, als ginge
er selbst einen dunklen Gang entlang und stiege eine endlose Wendel-
treppe empor. Er merkte plötzlich, daß er verzweifelt etwas suchte, aber
was es war, wußte er nicht. Wie ein Traum verwandelte sich das Bild
plötzlich und kehrte um, und er sah wieder Bäume. Doch standen sie dies-
mal nicht so nahe, und er konnte sehen, was vorging: sie schwankten
nicht im Wind, sondern stürzten krachend zu Boden.
»He!« rief Sam empört. »Da ist dieser Timm Sandigmann, der Bäume
abhackt, was er nicht sollte. Die dürfen nicht gefällt werden; das ist
doch die Allee hinter der Mühle, die der Straße nach Wasserau Schatten
gibt. Ich wünschte, ich könnte Timm zu packen kriegen, dann würde ich
ihn fällen!«
Aber jetzt bemerkte Sam, daß die Alte Mühle verschwunden war, und
dort, wo sie gestanden hatte, ein großes Gebäude aus roten Ziegeln er-
richtet wurde. Ein ganzer Haufen Leute war eifrig an der Arbeit. In der
Nähe war ein hoher roter Schornstein. Schwarzer Rauch schien die Ober-
fläche des Spiegels zu umwölken.
»Da geht irgendeine Teufelei im Auenland vor sich«, sagte er. »Elrond
wußte, was er tat, als er Herrn Merry zurückschicken wollte.« Dann
schrie Sam plötzlich auf und sprang zurück. »Ich kann nicht hierbleiben«,
sagte er aufgebracht. »Ich muß nach Hause. Sie haben den Beutelhalden-
weg aufgegraben, und da zieht der arme alte Ohm mit seinen Sieben-
sachen auf einem Karren den Bühl hinunter. Ich muß nach Hause!«
»Du kannst nicht allein nach Hause gehen«, sagte Frau Galadriel. »Du
hattest nicht den Wunsch, ohne deinen Herrn nach Hause zu gehen, ehe
du in den Spiegel schautest, und doch wußtest du, daß böse Dinge im
Auenland geschehen könnten. Erinnere dich, daß der Spiegel viele Dinge
zeigt, und nicht alle müssen schon geschehen sein. Manche werden nie-
mals geschehen, es sei denn, daß jene, die die Bilder sehen, von ihrem
Pfad abweichen, um sie zu verhindern. Der Spiegel ist gefährlich als Füh-
rer für Taten.«
Sam setzte sich auf die Erde und legte den Kopf in die Hände. »Ich
wünschte, ich wäre nie hierher gekommen, und ich will auch keinen Zau-
ber mehr sehen«, sagte er und schwieg dann. Nach einem Augenblick
sprach er weiter, undeutlich, als ob er mit den Tränen kämpfte. »Nein, ich
werde auf dem langen Weg mit Herrn Frodo nach Hause gehen, oder
überhaupt nicht«, sagte er. »Aber ich hoffe doch, daß ich eines Tages
nach Hause komme. Wenn das, was ich gesehen habe, sich als wahr er-
weist, dann kann einer was erleben!«
»Möchtest du jetzt hineinschauen, Frodo?« fragte Frau Galadriel. »Du
hattest nicht den Wunsch gehabt. Elbenzauber zu sehen, und warst zufrie-
den.«
»Ratet Ihr mir, hineinzuschauen?« fragte Frodo.
»Nein«, antwortete sie. »Ich rate dir weder das eine noch das andere.
Ich bin kein Ratgeber. Du magst etwas lernen, und ob das, was du siehst,
nun schön oder schlecht ist, es mag nützlich sein oder auch nicht. Sehen
ist sowohl gut als auch gefährlich. Und dennoch glaube ich, Frodo, daß
du genug Mut und Weisheit für das Wagnis hast, denn sonst hätte ich
dich nicht hergebracht. Halte es, wie du willst!«
»Ich will schauen«, sagte Frodo, stieg hinauf zu dem Sockel und beugte
sich über das dunkle Wasser. Sofort hellte sich der Spiegel auf, und er sah
eine zwielichtige Landschaft. Berge dräuten dunkel in der Ferne vor einem
fahlen Himmel. Eine lange graue Straße zog sich dahin, bis sie außer
Sicht war. In weiter Ferne ging eine Gestalt langsam die Straße entlang,
undeutlich und klein zuerst, aber sie wurde größer und klarer, als sie
näher kam. Plötzlich erkannte Frodo, daß sie ihn an Gandalf erinnerte.
Fast hätte er den Namen des Zauberers laut gerufen, und dann sah er, daß
die Gestalt nicht in Grau, sondern in Weiß gekleidet war, in ein Weiß,
das schwach in der Dämmerung schimmerte; und in der Hand hielt sie
einen weißen Stab. Der Kopf war so gebeugt, daß Frodo das Gesicht nicht
erkennen konnte, und plötzlich wandte sich die Gestalt ab, weil die Straße
eine Biegung beschrieb, und verschwand aus dem Spiegel. Zweifel stiegen
in Frodo auf: war das eine Vision von Gandalf auf einer seiner vielen ein-
samen Wanderungen vor langer Zeit, oder war es Saruman?
Nun wechselte das Bild. Kurz und stark verkleinert, aber sehr lebendig er-
blickt er Bilbo, wie er unruhig in seinem Zimmer auf- und abging. Der Tisch
war mit allen möglichen Papieren übersät; Regen schlug gegen die Fenster.
Dann trat eine Pause ein, und danach folgten viele rasche Szenen, von
denen Frodo irgendwie wußte, daß sie Teile dieser bedeutsamen Ge-
schichte waren, in die er hineinverwickelt war. Der Nebel klärte sich auf,
und er sah etwas, das er noch nie erblickt hatte, doch sofort erkannte: das
Meer. Die Dunkelheit brach herein. Das Meer stieg und tobte in einem
großen Sturm. Dann sah er gegen die Sonne, die blutrot in Wolken ver-
sank, die schwarzen Umrisse eines großen Schiffs, das mit zerfetzten
Segeln aus dem Westen herankam. Dann einen breiten Strom, der durch
eine bevölkerte Stadt floß. Dann eine weiße Festung mit sieben Türmen.
Und dann wieder ein Schiff mit schwarzen Segeln, aber jetzt war es Mor-
gen, und das Licht glitzerte auf dem Wasser, und eine Flagge, die einen
weißen Baum zeigte, schimmerte in der Sonne. Ein Rauch wie von Feuer
und Kampf stieg auf, und wieder ging die Sonne in einem brennenden
Rot unter, das zu einem grauen Nebel verblaßte; und in dem Nebel fuhr
ein kleines Schiff davon, auf dem Lichter blinkten. Es verschwand, und
Frodo seufzte und wollte schon zurücktreten.
Da wurde der Spiegel plötzlich völlig dunkel, so dunkel, als ob sich in der
sichtbaren Welt ein Loch aufgetan habe, und Frodo schaute in eine Leere.
In dem schwarzen Abgrund erschien ein einzelnes Auge, das langsam
wuchs, bis es fast den ganzen Spiegel ausfüllte. So entsetzlich war es, daß
Frodo wie angewurzelt dastand und weder aufzuschreien noch seinen
Blick abzuwenden vermochte. Das Auge war von Feuer umrandet, aber es
selbst war glasig, gelb wie ein Katzenauge, wachsam und angespannt, und
der schwarze Schlitz seiner Pupille öffnete sich über einem Abgrund, ein
Fenster zum Nichts.
Dann begann sich das Auge zu bewegen und hier und dort zu suchen;
und Frodo wußte ganz genau und voller Entsetzen, daß unter den vielen
Dingen, die es suchte, er eines war. Aber er wußte auch, daß es ihn nicht
sehen konnte — noch nicht, nicht, solange er es nicht wollte. Der Ring,
der an seiner Kette um seinen Hals hing, wurde schwer, schwerer als ein
großer Stein, und Frodos Kopf wurde nach unten gezogen. Der Spiegel
schien heiß zu werden, und Dampfkringel stiegen vom Wasser auf. Frodo
glitt vornüber.
»Berühre das Wasser nicht!« sagte Frau Galadriel leise. Das Bild ver-
blaßte, und Frodo merkte, daß er auf die kühlen Sterne schaute, die in der
silbernen Schale blinkten. Er trat zurück, zitterte von Kopf bis Fuß und
blickte Frau Galadriel an.
»Ich weiß, was du zuletzt gesehen hast«, sagte sie. »Denn daran denke
auch ich. Habe keine Angst! Aber glaube nicht, daß nur durch Singen unter
den Bäumen oder auch durch die schlanken Pfeile der Elbenbogen dieses
Land Lothlórien gehalten und gegen den Feind verteidigt wird. Ich sage
dir, Frodo, daß ich, während ich mit dir spreche, den Dunklen Herrscher
wahrnehme und seine Absichten erkenne, oder diejenigen seiner Absichten,
die die Elben betreffen. Und immer trachtet er, mich und meine Gedanken
zu sehen. Aber noch ist die Tür verschlossen!«
Sie hob ihre weißen Arme und streckt ihre Hände nach dem Osten aus
in einer Geste der Abwehr und Ablehnung. Eärendil, der Abendstern,
den die Elben über alles liebten, strahlte klar am Himmel. So hell strahlte
er, daß die Gestalt der Elben-Herrin einen schwachen Schatten auf den
Boden warf. Seine Strahlen glänzten auf dem Ring an ihrem Finger; der
Ring glitzerte wie poliertes Gold, mit Silberlicht überzogen, und ein wei-
ßer Stein auf ihm blinkte, als sei der Abendstern herabgekommen, um
auf ihrer Hand zu ruhen. Frodo betrachtete den Ring ehrfürchtig; denn
plötzlich war ihm, als begriffe er es.
»Ja«, sagte sie und erriet seine Gedanken. »Es ist nicht erlaubt, darüber
zu sprechen, und Elrond dürfte es nicht. Aber es kann nicht verborgen
bleiben vor dem Ringträger und einem, der das Auge gesehen hat. Wahr-
lich, einer der Drei ist in dem Land Lórien und auf Galadriels Finger. Es
ist Nenya, der Ring aus Adamant, und ich bin sein Hüter.
Er vermutet es, aber er weiß es nicht — noch nicht. Begreifst du jetzt,
warum dein Kommen für uns wie ein Vorbote des Schicksals ist? Denn
wenn du scheiterst, dann werden wir dem Feinde offenbart. Doch wenn du
Erfolg hast, dann wird unsere Macht gemindert und Lothlórien wird ver-
gehen, und die Fluten der Zeit werden es hinwegspülen. Wir müssen
nach dem Westen ziehen oder ein Landvolk der Täler und Höhlen werden,
das langsam vergißt und vergessen wird.«
Frodo senkte den Kopf. »Und was wünscht Ihr?« fragte er schließlich.
»Daß, was sein sollte, sein wird«, antwortete sie. »Die Liebe der Elben
zu ihrem Land und ihren Werken ist tiefer als die Tiefen der See, und ihr
Schmerz ist unendlich und kann niemals ganz gelindert werden. Dennoch
werden sie eher alles aufgeben, als sich Sauron zu unterwerfen: denn sie
kennen ihn jetzt. Für Lothlóriens Schicksal bist du nicht verantwortlich,
aber für die Erledigung deiner eigenen Aufgabe. Doch würde ich mir
wünschen, wenn es irgend etwas nützte, daß der Eine Ring niemals ge-
schmiedet oder niemals wiedergefunden worden wäre.«
»Ihr seid weise und furchtlos und schön, Frau Galadriel«, sagte Frodo.
»Ich will Euch den Einen Ring geben, wenn Ihr ihn verlangt. Er ist eine
zu gewichtige Sache für mich.«
Galadriel lachte plötzlich hell auf. »Weise mag Frau Galadriel sein«,
sagte sie, »doch hier hat sie einen gefunden, der ihr an Höflichkeit gleich-
kommt. Mit Liebenswürdigkeit rächst du dich dafür, daß ich dein Herz bei
unserer ersten Begegnung auf die Probe gestellt habe. Du beginnst, mit
scharfen Augen zu sehen. Ich leugne nicht, daß mein Herz sehr begehrt
hat, um das zu bitten, was du anbietest. Viele lange Jahre habe ich dar-
über nachgesonnen, was ich tun würde, wenn mir der Große Ring in die
Hände fiele, und siehe da! er ist in meiner Reichweite. Das Böse, das vor
langer Zeit erdacht war, wirkt auf mancherlei Weise, ob Sauron selbst
steht oder fällt. Würde das nicht eine edle Tat gewesen sein, die dem Ein-
fluß seines Ringes zuzuschreiben wäre, wenn ich ihn meinem Gast mit
Gewalt oder unter Drohungen abgenommen hätte?
Und nun ist es endlich soweit. Du willst mir den Ring freiwillig geben!
Anstelle des Dunklen Herrschers willst du eine Königin einsetzen. Und
ich werde nicht dunkel sein, sondern schön und entsetzlich wie der Mor-
gen und die Nacht! Schön wie das Meer und die Sonne und der Schnee
auf dem Gebirge! Grausam wie der Sturm und der Blitz! Stärker als die
Grundfesten der Erde. Alle werden mich lieben und verzweifeln!«
Sie hob die Hand, und von dem Ring, den sie trug, ging ein starkes
Licht aus, das nur sie allein erleuchtete und alles andere dunkel ließ. Sie
stand vor Frodo und schien jetzt unermeßlich groß zu sein, und unerträg-
lich schön, entsetzlich und verehrungswürdig. Dann ließ sie die Hand sin-
ken, und das Licht verblaßte, und plötzlich lachte sie wieder, und siehe
da! sie war geschrumpft: eine schlanke Elbenfrau, in einfaches Weiß ge-
kleidet, deren liebliche Stimme leise und traurig war.
»Ich bestehe die Prüfung«, sagte sie. »Ich werde schwächer werden und
in den Westen gehen und Galadriel bleiben.«
Sie standen eine Weile schweigend da. Schließlich sprach die Herrin
wieder. »Laßt uns zurückgehen«, sagte sie. »Am Morgen müßt ihr auf-
brechen. Denn nun haben wir uns entschieden, und der Strom des Schick-
sals fließt weiter.«
»Ich möchte gern etwas fragen, ehe wir gehen«, sagte Frodo. »Etwas,
das ich Gandalf oft in Bruchtal hatte fragen wollen. Ich darf den Einen
Ring tragen: warum kann ich nicht all die anderen sehen und die Gedan-
ken von denen, die sie tragen, erraten?«
»Du hast es nicht versucht«, antwortete sie. »Erst dreimal hast du den
Ring auf den Finger gesteckt, seit du wußtest, was du besaßest. Versuche
es nicht! Es würde dich vernichten. Hat Gandalf dir nicht gesagt, daß der
Ring Macht verleiht entsprechend der Natur jedes Besitzers? Ehe du diese
Macht anwenden könntest, müßtest du weit stärker werden und deinen
Willen dazu ausbilden, andere zu beherrschen. Doch selbst so, als Ring-
träger und einer, der ihn auf dem Finger getragen und gesehen hat, was
verborgen ist, ist deine Sehkraft schärfer geworden. Du hast meine Ge-
danken deutlicher wahrgenommen als viele, die für weise gehalten wer-
den. Du hast das Auge von dem gesehen, der die Sieben und die Neun
hat. Und hast du nicht den Ring auf meinem Finger gesehen und erkannt?
Hast du«, fragte sie Sam, »meinen Ring gesehen?«
»Nein, Herrin«, antwortete er. »Um Euch die Wahrheit zu sagen, ich
wunderte mich, wovon Ihr redetet. Ich sah einen Stern durch Euren Fin-
ger. Aber wenn Ihr mir verzeihen wollt, daß ich es ausspreche: ich
glaube, mein Herr hat recht gehabt. Ich wünschte. Ihr würdet seinen Ring
nehmen. Ihr würdet die Dinge in Ordnung bringen. Ihr würdet dafür sor-
gen, daß sie nicht alles aufgraben und den Ohm hinauswerfen. Ihr würdet
manche Leute zahlen lassen für ihre Gemeinheiten.«
»Das würde ich«, sagte sie. »So würde es anfangen. Aber damit würde
es nicht aufhören, leider! Wir wollen nicht mehr davon reden. Laßt uns
gehen!«