VIERTES KAPITEL
EINE WANDERUNG IM DUNKELN
Es war Abend, und das graue Licht schwand rasch, als sie für die
Nacht haltmachten. Sie waren sehr müde. Das Gebirge hüllte sich in eine
immer tiefer werdende Dämmerung, und der Wind war kalt. Gandalf
hatte für jeden noch einen Schluck miruvor aus Bruchtal übrig. Nachdem
sie etwas gegessen hatten, rief er sie zu einer Beratung zusammen.
»Heute nacht können wir natürlich nicht weitergehen«, sagte er. »Der
Angriff auf den Rothornpaß hat uns müde gemacht, und wir müssen hier
eine Weile rasten.«
»Und wohin sollen wir dann gehen?« fragte Frodo.
»Unsere Wanderung und unseren Auftrag haben wir immer noch vor
uns«, antwortete Gandalf. »Wir haben nur die Wahl, entweder weiterzu-
gehen oder nach Bruchtal zurückzukehren.«
Pippins Gesicht heiterte sich deutlich auf bei der bloßen Erwähnung
einer Rückkehr nach Bruchtal; Merry und Sam schauten hoffnungsvoll
auf. Aber Aragorn und Boromir ließen nicht erkennen, was sie dachten.
Frodo sah verwirrt aus.
»Ich wollte, ich wäre wieder dort«, sagte er. »Aber wie kann ich ohne
Scham zurückkehren — es sei denn, es gäbe wirklich keinen anderen Weg
und wir wären schon besiegt?«
»Du hast recht, Frodo«, sagte Gandalf. »Umkehren bedeutet, die Nie-
derlage eingestehen und schlimmeren zukünftigen Niederlagen entgegen-
sehen. Wenn wir jetzt umkehren, dann muß der Ring dort bleiben: es
wird uns nicht möglich sein, uns wieder auf den Weg zu machen. Dann
wird Bruchtal früher oder später belagert und nach einer kurzen, bitteren
Zeit zerstört werden. Die Ringgeister sind tödliche Feinde, aber noch sind
sie nur Schatten der Macht und des Schreckens, die sie besitzen würden,
wenn der Beherrschende Ring wieder an der Hand ihres Herrn wäre.«
»Dann müssen wir weitergehen, wenn es einen Weg gibt«, sagte Frodo
seufzend. Sam verfiel wieder in Trübsinn.
»Es gibt einen Weg, den wir versuchen könnten«, sagte Gandalf. »Ich
meinte von Anfang an, als ich zuerst über diese Wanderung nachdachte,
daß wir ihn versuchen sollten. Aber es ist kein angenehmer Weg, und ich
habe der Gemeinschaft noch nichts darüber gesagt. Aragorn war dage-
gen, solange der Gebirgspaß nicht zumindest versucht worden war.«
»Wenn es ein schlimmerer Weg ist als der Rothornpaß, dann muß er
wahrscheinlich übel sein«, meinte Merry. »Aber du solltest uns lieber
darüber berichten und uns das Schlimmste gleich wissen lassen.«
»Der Weg, von dem ich sprach, führt zu den Minen von Moria«, sagte
Gandalf. Nur Gimli hob den Kopf; seine Augen glühten. Alle anderen
wurden von Schrecken gepackt, als der Name fiel. Selbst bei den Hobbits
erweckte er eine unbestimmte Furcht.
»Der Weg mag nach Moria führen, aber wie können wir hoffen, daß er
durch Moria führt?« fragte Aragorn finster.
»Es ist ein Name von böser Vorbedeutung«, sagte Boromir. »Auch
sehe ich die Notwendigkeit nicht ein, dort hinzugehen. Wenn wir das
Gebirge nicht überqueren können, laßt uns doch nach Süden wandern, bis
wir zur Pforte von Rohan kommen, wo die Menschen mit meinem Volk
befreundet sind; wir können dann die Straße nehmen, der ich auf meinem
Weg hierher gefolgt bin. Oder wir könnten noch weitergehen, den Isen
überqueren und dann über Langstrand und Lebennin und so über die
Lande in der Nähe des Meers nach Gondor gelangen.«
»Die Dinge haben sich geändert, seit du nach Norden gekommen bist,
Boromir«, antwortete Gandalf. »Hast du nicht gehört, was ich euch über
Saruman berichtete? Mit ihm werde ich mich vielleicht noch allein aus-
einandersetzen müssen, ehe alles vorbei ist. Aber der Ring darf nicht in
die Nähe von Isengart kommen, wenn es irgendwie verhindert werden
kann. Die Pforte von Rohan ist für uns versperrt, solange wir den Ringträ-
ger begleiten.
Und was die Länge des Wegs betrifft: wir können uns nicht soviel Zeit
leisten. Eine derartige Wanderung mag ein Jahr dauern, und wir würden
durch viele Lande kommen, die verlassen und hafenlos sind. Und dennoch
wären sie nicht sicher. Sowohl Sarumans als auch des Feindes wachsame
Augen ruhen auf ihnen. Als du nach Norden kamst, Boromir, warst du
in den Augen des Feindes nur ein vereinzelter Wanderer aus dem Süden
und sehr unwichtig für ihn: sein Sinn war auf die Verfolgung des Ringes
gerichtet. Aber jetzt kehrst du zurück als ein Angehöriger der Gemein-
schaft des Ringes, und du bist in Gefahr, solange du bei uns bleibst. Die
Gefahr wird größer werden mit jeder Meile, die wir unter freiem Himmel
nach Süden gehen.
Seit unserem unverhohlenen Versuch, den Gebirgspaß zu überschreiten,
ist unsere Lage schwieriger geworden, fürchte ich. Ich sehe jetzt wenig
Hoffnung, sofern wir nicht eine Zeitlang von der Bildfläche verschwinden
und unsere Spur tarnen. Daher lautet mein Rat: das Gebirge weder zu
überschreiten noch es zu umgehen, sondern unter ihm hindurch zu gehen.
Daß wir diesen Weg einschlagen, wird der Feind am wenigsten erwarten.«
»Wir wissen nicht, was er erwartet«, sagte Boromir. »Es mag sein, daß
er alle wahrscheinlichen und unwahrscheinlichen Wege beobachtet. Nach
Moria zu gehen würde, wenn dem so ist, bedeuten, daß wir in eine Falle
gehen, und das wäre kaum besser, als an die Tore des Dunklen Turms
selbst zu klopfen. Der Name Moria ist unheilvoll.«
»Du sprichst von etwas, worüber du nichts weißt, wenn du Moria mit
Saurons Feste vergleichst«, antwortete Gandalf. »Ich bin der einzige von
euch, der je in den Verliesen des Dunklen Herrschers war, wenn auch nur
in seiner früheren und minderen Behausung Dol Guldur. Diejenigen, die
die Tore von Barad-dûr durchschreiten, kehren nicht zurück. Aber ich
würde euch nicht nach Moria führen, wenn keine Hoffnung bestünde,
wieder herauszukommen. Wenn Orks dort sind, mag es sich als übel für
uns erweisen, das ist richtig. Doch die Mehrzahl der Orks des Nebelgebir-
ges wurde in der Schlacht der Fünf Heere zerstreut oder vernichtet. Die
Adler berichten, daß sich Orks von ferne wieder sammeln, aber es be-
steht Hoffnung, daß Moria noch frei ist.
Es könnte sogar sein, daß Zwerge dort sind und wir Balin, Fundins
Sohn, in irgendeiner tiefen Halle seines Vaters finden. Was immer sich
herausstellen mag, man muß den Pfad beschreiten, den die Not wählt.«
»Ich werde diesen Pfad mit dir beschreiten, Gandalf«, sagte Gimli. »Ich
will mitgehen und einen Blick auf Durins Hallen werfen, was immer dort
auf uns wartet — wenn du die Tore finden kannst, die verschlossen sind.«
»Gut, Gimli«, sagte Gandalf. »Du ermutigst mich. Gemeinsam werden
wir die verborgenen Tore suchen. Und wir werden durchkommen. In den
Ruinen der Zwerge wird der Kopf eines Zwergs weniger leicht zu verwir-
ren sein als die Köpfe von Elben, Menschen oder Hobbits. Indes ist es
nicht das erste Mal, daß ich nach Moria gehe. Ich habe dort lange nach
Thráin, Thrórs Sohn, gesucht, als er vermißt wurde. Ich ging hinein und
kam lebendig wieder heraus!«
»Auch ich bin einmal durch das Schattenbachtor gekommen«, sagte
Aragorn ruhig. »Aber obwohl ich wieder herauskam, habe ich eine sehr
böse Erinnerung. Ich möchte Moria nicht ein zweites Mal betreten.«
»Und ich möchte es nicht ein erstes Mal betreten«, sagte Pippin.
»Ich auch nicht«, murmelte Sam.
»Natürlich nicht!« sagte Gandalf. »Wer wollte schon? Aber die Frage
ist: wer wird mir folgen, wenn ich euch dort hinführe?«
»Ich werde dir folgen«, sagte Gimli eifrig.
»Ich werde dir folgen«, sagte Aragorn bedrückt. »Du bist meiner Führung
gefolgt, als ich euch im Schnee beinahe in ein Verhängnis führte, und du
hast kein Wort des Vorwurfs gesagt. Nun werde ich deiner Führung fol-
gen — wenn diese letzte Warnung dich nicht umstimmt. Ich denke jetzt
nicht an den Ring und auch nicht an uns andere, sondern an dich, Gan-
dalf. Und ich sage dir: hüte dich, wenn du die Tore von Moria durch-
schreitest!«
»Ich werde nicht gehen«, sagte Boromir, »es sei denn, die ganze Ge-
meinschaft überstimmt mich. Was sagen Legolas und das kleine Volk?
Die Stimme des Ringträgers sollte doch gewiß gehört werden?«
»Ich möchte nicht nach Moria gehen«, sagte Legolas.
Die Hobbits sagten nichts. Sam schaute Frodo an. Schließlich sprach
Frodo. »Ich möchte nicht gehen; aber ebensowenig möchte ich Gandalfs
Rat ausschlagen. Ich bitte, daß nicht abgestimmt wird, ehe wir darüber
geschlafen haben. Gandalf wird am hellichten Morgen eher Stimmen be-
kommen als in dieser kalten Düsternis. Wie der Wind heult!«
Nach diesen Worten hüllten sich alle in nachdenkliches Schweigen. Sie
hörten den Wind durch die Felsen und Bäume pfeifen, und ein Heulen
und Wehklagen war rings um sie im leeren Raum der Nacht.
Plötzlich sprang Aragorn auf. »Wie der Wind heult!« rief er. »Er heult
mit Wolfsstimmen. Die Warge sind nach Westen über das Gebirge ge-
kommen!«
»Müssen wir nun noch bis morgen warten«? fragte Gandalf. »Es ist,
wie ich gesagt habe. Die Jagd hat begonnen! Selbst wenn wir die Morgen-
dämmerung noch erleben, wer wird jetzt noch bei Nacht nach Süden wan-
dern wollen, wenn ihm die wilden Wölfe auf der Spur sind?«
»Wie weit ist es nach Moria?« fragte Boromir.
»Es gab ein Tor südwestlich des Caradhras, etwa fünfzehn Meilen, wie
die Krähe fliegt, und vielleicht zwanzig, wie der Wolf läuft«, antwortete
Gandalf.
»Dann laßt uns morgen früh, sobald es hell ist, aufbrechen, wenn wir
können«, sagte Boromir. »Der Wolf, den man hört, ist schlimmer als der
Ork, den man fürchtet.«
»Richtig!« sagte Aragorn und lockerte sein Schwert in der Scheide.
»Aber wo der Warg heult, da lauert auch der Ork.«
»Ich wollte, ich hätte Elronds Rat befolgt«, flüsterte Pippin Sam zu.
»Ich tauge doch nichts. Es ist nicht genug Schneid von Bandobras dem
Bullenraßler in mir: dieses Geheul läßt mir das Blut gerinnen. Ich kann
mich nicht entsinnen, daß mir jemals so jämmerlich zumute war.«
»Mir ist das Herz auch bis zu den Zehenspitzen gerutscht, Herr Pip-
pin«, sagte Sam. »Aber noch sind wir nicht gefressen, und wir haben ja
ein paar tapfere Leute hier bei uns. Was immer dem alten Gandalf noch
bevorstehen mag, ich will wetten, es ist nicht der Bauch eines Wolfs.«
Um sich in der Nacht verteidigen zu können, erklomm die Gruppe den
Gipfel des kleinen Berges, unter dem sie Schutz gesucht hatte. Auf ihm
wuchsen einige alte, verkrüppelte Bäume, um die herum in einem unvoll-
ständigen Kreis große Findlinge lagen. In der Mitte zündeten sie ein
Feuer an, denn es bestand keine Hoffnung mehr, daß Dunkelheit und Stille
sie davor bewahren würden, von der jagenden Meute entdeckt zu werden.
Sie saßen um das Feuer herum, und diejenigen, die nicht Wache hiel-
ten, schlummerten unruhig. Lutz, das arme Pony, zitterte und schwitzte.
Das Heulen der Wölfe kam jetzt von allen Seiten, manchmal näher,
manchmal ferner. In der dunklen Nacht sah man viele glänzenden Augen
über den Rand des Berges starren. Manche kamen sogar fast bis an den
Steinwall. An einer Lücke im Kreis blieb ein großer Wolf stehen und
blickte zu ihnen herüber. Er brach in ein schauerliches Geheul aus, als ob
er ein Anführer sei, der seine Meute zum Angriff zusammenruft.
Gandalf stand auf, schritt auf ihn zu und hielt seinen Stab hoch.
»Höre, Saurons Hund!« rief er. »Gandalf ist hier. Fliehe, wenn dir deine
stinkende Haut lieb ist. Ich werde sie dir vom Schwanz bis zur Schnauze
runzlig machen, wenn du in diesen Ring hereinkommst.«
Der Wolf knurrte und machte einen großen Satz auf sie zu. In diesem
Augenblick hörte man ein scharfes Schwirren. Legolas hatte seinen
Bogen abgeschossen. Es gab einen scheußlichen Schrei, und die sprin-
gende Gestalt fiel zu Boden; der Elbenpfeil hatte ihr die Kehle durch-
bohrt. Die spähenden Augen verschwanden plötzlich. Gandalf und Ara-
gorn gingen ihnen nach, aber der Berg war verlassen: die jagende Meute
war geflohen. Rundum wurde die Dunkelheit still, und keinen Schrei trug
der seufzende Wind mehr zu ihnen.
Die Nacht war kalt; im Westen war der abnehmende Mond am Unter-
gehen und schimmerte dann und wann durch die aufreißenden Wolken.
Plötzlich fuhr Frodo aus dem Schlaf hoch. Ohne Warnung brach ein
wütendes und wildes Geheul rings um das ganze Lager aus. Eine große
Schar Warge hatte sich leise gesammelt und griff jetzt von allen Seiten auf
einmal an.
»Werft Holz auf das Feuer!« rief Gandalf den Hobbits zu. »Zieht eure
Klingen und stellt euch Rücken an Rücken!«
In den auflodernden Schein, als das frische Holz sich entflammte, sah
Frodo viele graue Gestalten, die über den Steinwall sprangen. Immer
mehr folgten. Einem riesigen Anführer stieß Aragorn sein Schwert in
die Kehle; einem anderen hieb Boromir den Kopf ab. Neben ihnen stand
Gimli breitbeinig da und schwang seine. Zwergenaxt. Der Bogen von
Legolas sang.
Im flackernden Licht des Feuers schien Gandalf plötzlich zu wachsen:
er wurde zu einer großen drohenden Gestalt wie ein steinernes Denkmal
irgendeines alten Königs auf einem Berg. Er bückte sich wie eine Wolke,
nahm einen brennenden Ast auf und schritt den Wölfen entgegen. Sie
wichen vor ihm zurück. Hoch in die Luft warf er den glühenden Ast. Er
flammte auf mit einem plötzlichen weißen Glanz wie ein Blitz; und Gan-
dalfs Stimme grollte wie Donner.
»Naur an edraith ammen! Naur dan i ngaurhoth!" rief er.
Es gab ein Brausen und Knacken, und der Baum über ihm trieb mit
einemmal Blätter und Blüten aus hellen Flammen. Das Feuer sprang von
Baumwipfel zu Baumwipfel. Der ganze Berg war überzogen von blenden-
dem Licht. Die Schwerter und Messer der Verteidiger schimmerten und
glänzten. Der letzte Pfeil von Legolas fing in der Luft Feuer und durch-
bohrte brennend das Herz eines großen Wolfshäuptlings. Alle anderen
flohen.
Langsam erstarb das Feuer, bis nichts davon blieb als fallende Asche
und Funken; ein bitterer Rauch kräuselte sich über den verbrannten
Baumstümpfen und stieg dunkel über dem Berg auf, als der erste Schein
der Morgendämmerung den Himmel schwach erhellte. Ihre Feinde waren
verjagt und kamen nicht zurück.
»Was habe ich gesagt, Herr Pippin?« sagte Sam, als er sein Schwert in
die Scheide steckte. »Die Wölfe werden ihn nicht kriegen. Das war be-
stimmt ein Augenöffner! Hätte mir fast das Haar vom Kopf gesengt!«
Als es richtig hell geworden war, war nichts mehr von den Wölfen zu
sehen, und sie suchten vergebens nach den Leichen der getöteten. Keine
Spur des Kampfes war geblieben als die verkohlten Bäume und die Pfeile
von Legolas, die auf dem Berggipfel lagen. Alle waren unbeschädigt bis
auf einen, von dem nur noch die Spitze da war.
»Es ist, wie ich gefürchtet hatte«, sagte Gandalf. »Das waren keine
gewöhnlichen Wölfe, die in der Wildnis nach Futter jagten. Laßt uns
schnell essen und gehen!«
An jenem Tag schlug das Wetter wieder um, fast als ob es unter dem
Befehl irgendeiner Macht stünde, die keinen Schnee mehr brauchte, nach-
dem sich die Gruppe von dem Paß zurückgezogen hatte, eine Macht, die
jetzt helles Licht haben wollte, damit jedes Lebewesen, das sich in der
Wildnis bewegte, von weither gesehen werden konnte. Der Wind hatte
während der Nacht über Nord auf Nordwest gedreht, und jetzt legte er
sich. Die Wolken verschwanden südwärts, und der Himmel öffnete sich,
hoch und blau. Als sie am Berghang standen, bereit zum Aufbruch,
schimmerte ein blasses Sonnenlicht über den Gipfeln.
»Wir müssen das Tor vor Sonnenuntergang erreichen«, sagte Gandalf,
»sonst fürchte ich, daß wir es überhaupt nicht erreichen. Es ist nicht weit,
aber unser Weg mag nicht der geradeste sein, denn hier kann uns Ara-
gom nicht rühren; er ist selten in diesem Land gewandert, und ich bin nur
einmal unter der Westmauer von Moria gewesen, und das ist lange her.
»Dort liegt sie«, sagte er und zeigte nach Südosten, wo die Berge steil
zu den Schatten zu ihren Füßen abfielen. In der Ferne konnte man un-
deutlich eine Reihe nackter Felsen sehen, und in ihrer Mitte, höher als die
anderen, eine große graue Wand. »Als wir vom Paß aufbrachen, führte
ich euch nach Süden und nicht zurück zu unserem Ausgangspunkt, wie
einige von euch vielleicht bemerkt haben. Das war gut so, denn nun
haben wir mehrere Meilen weniger zu laufen, und Eile tut not. Laßt uns
gehen!«
»Ich weiß nicht, worauf ich hoffen soll«, sagte Boromir düster. »Daß
Gandalf findet, was er sucht, oder daß wir feststellen, wenn wir zu den
Felsen kommen, daß die Tore auf immer verloren sind. Eins scheint so
schlimm wie das andere zu sein, und zwischen den Wölfen und der Mauer
in der Falle zu sitzen, das Wahrscheinlichste. Geh voran!«
Gimli ging jetzt mit dem Zauberer voraus, so begierig war er, nach
Moria zu kommen. Zusammen führten sie die Gemeinschaft zurück zum
Gebirge. In alter Zeit hatte der einzige Weg nach Moria vom Westen her
entlang eines Bachs geführt, des Sirannon, der am Fuße der Felswand in
der Nähe der Tore entsprang. Aber entweder hatte Gandalf den richtigen
Weg verfehlt oder das Land hatte sich in den letzten Jahren verändert; jeden-
falls stieß er nicht dort auf den Bach, wo er ihn vermutete, nämlich nur
ein paar Meilen südlich ihres Ausgangspunkts.
Der Morgen wurde zum Mittag, und immer noch wanderte die Gemein-
schaft und kletterte durch eine kahle Landschaft aus rotem Stein. Nir-
gends sahen sie Wasser schimmern oder hörten es rauschen. Alles war
öde und trocken. Ihr Mut sank. Sie sahen kein lebendiges Wesen, und
kein Vogel war am Himmel; aber was die Nacht bringen würde, wenn sie
in diesem trostlosen Land von ihr überrascht würden, wagte sich keiner
auszumalen.
Plötzlich rief Gimli, der vorausgeeilt war, ihnen etwas zu. Er stand auf
einer Kuppe und zeigte nach rechts. Sie eilten hinauf und sahen unter sich
ein tiefes, schmales Flußbett. Es war wasserlos bis auf ein dünnes Rinnsal,
das zwischen den braunen und rotgefleckten Steinen sickerte. Doch war
an der ihnen zunächst liegenden Seite ein Pfad, unterbrochen zwar und
stark ausgewaschen, der sich zwischen den verfallenen Mauern und Pfla-
stersteinen einer alten Straße dahinzog.
»Ah! Hier ist es endlich!« sagte Gandalf. »Hier floß der Bach: Siran-
non, den Torbach pflegten sie ihn zu nennen. Aber was mit dem Wasser
geschehen ist, ahne ich nicht. Früher war es rasch und geräuschvoll.
Kommt. Wir müssen weiter. Wir sind spät dran.«
Die Gemeinschaft war fußwund und müde; aber sie schleppten sich
verbissen noch viele Meilen auf dem unebenen und gewundenen Pfad
weiter. Die Sonne hatte den Mittagspunkt überschritten und wandte sich
nach Westen. Nach einer kurzen Pause und einem eiligen Mahl gingen
sie weiter. Vor ihnen türmten sich drohend die Berge, aber ihr Pfad lag in
einer Bodensenke, und sie konnten nur die hohen Hänge und weit im Osten
die Gipfel sehen.
Schließlich kamen sie zu einer scharfen Kehre. Dort wendete die Straße,
die bisher zwischen dem Rand des Flußbetts und einem Steilhang zur Lin-
ken nach Süden verlaufen war, wieder nach Osten. Als sie um die Kehre
kamen, sahen sie vor sich eine niedrige Felswand, etwa fünf Klafter hoch,
die oben gezackt war. Dort herunter tröpfelte etwas Wasser durch eine
breite Spalte, die aussah, als sei sie von einem Wasserfall gegraben wor-
den, der einst stark und voll war.
»Die Dinge haben sich wahrlich verändert!« sagte Gandalf. »Aber es
besteht kein Zweifel über den Ort. Das dort ist alles, was von dem Was-
serfall übrig ist. Wenn ich mich richtig erinnere, waren daneben Stufen in
den Felsen gemeißelt, aber die Hauptstraße verlief links davon und stieg
in mehreren Schleifen bis zu dem ebenen Gelände oben. Früher war hier
ein flaches Tal hinter dem Wasserfall bis zu den Mauern von Moria,
durch das der Sirannon neben der Straße floß. Laßt uns gehen und schauen,
wie die Dinge jetzt aussehen.«
Ohne Schwierigkeiten fanden sie die Steinstufen, und Gimli sprang
rasch hinauf, gefolgt von Gandalf und Frodo. Als sie oben ankamen,
sahen sie, daß sie auf diesem Wege nicht weiterkommen konnten, und es
wurde ihnen klar, warum der Torbach ausgetrocknet war. Hinter ihnen
füllte die sinkende Sonne den kühlen westlichen Himmel mit glitzerndem
Gold. Vor ihnen erstreckte sich ein dunkler, stiller See. Weder Himmel
noch Sonnenuntergang spiegelten sich auf seiner düsteren Oberfläche.
Der Sirannon war gestaut worden und hatte das ganze Tal überflutet.
Hinter dem unheimlichen Gewässer erhoben sich riesige Felsen, deren fin-
stere Wände bleich schimmerten im Abendlicht: endgültig und unüber-
schreitbar. Keine Spur von einem Tor oder Eingang, nicht einen Spalt
oder Riß konnte Frodo in dem bedrohlichen Gestein erkennen.
»Das sind die Mauern von Moria«, sagte Gandalf und zeigte über das
Wasser. »Und dort stand einstmalen das Tor, das Elbentor am Ende der
Straße von Hulsten, über die wir gekommen sind. Aber dieser Weg ist
versperrt. Keiner von uns, nehme ich an, wird am Ende des Tages durch
dieses trübe Wasser schwimmen wollen. Es sieht recht ungesund aus.«
»Wir müssen uns einen Weg am Nordufer suchen«, sagte Gimli. »Als
erstes müssen wir den Hauptpfad hinaufgehen und sehen, wohin der uns
führt. Selbst wenn kein See da wäre, könnten wir das Lastpony nicht
die Treppe hinaufbringen.«
»In die Minen können wir das arme Tier sowieso nicht mit hineinneh-
men«, sagte Gandalf. »Der Weg unter dem Gebirge ist dunkel und stel-
lenweise schmal und steil, so daß das Pony dort nicht laufen kann, selbst
wenn wir es können.«
»Armer, alter Lutz«, sagte Frodo. »Daran hatte ich gar nicht gedacht.
Und der arme Sam! Was wird er wohl dazu sagen?«
»Es tut mir leid«, sagte Gandalf. »Der arme Lutz ist ein nützlicher Ge-
fährte gewesen, und es greift mir ans Herz, ihn jetzt seinem Schicksal zu
überlassen. Wenn es nach meinem Kopf gegangen wäre, wären wir mit
weniger Gepäck losgegangen und hätten kein Tier mitgenommen, vor
allem nicht eins, an dem Sam hängt. Ich habe von Anfang an gefürchtet,
daß wir diesen Weg würden einschlagen müssen.«
Der Tag neigte sich seinem Ende zu, und kalte Sterne glitzerten am
Himmel hoch über dem Sonnenuntergang, als die Gruppe, so rasch sie
konnte, die Hänge erklomm und an die Seite des Sees kam. An der brei-
testen Stelle schien er nicht mehr als zwei oder drei Achtelmeilen breit zu
sein. Wie weit nach Süden er sich erstreckte, konnten sie im abnehmen-
den Licht nicht sehen; aber sein nördliches Ende war nicht mehr als eine
Meile von der Stelle entfernt, an der sie standen, und zwischen den Fels-
graten, die das Tal umschlossen, und dem Wasser lag ein Streifen offenes
Gelände. Sie eilten sich, denn sie hatten immer noch ein oder zwei Meilen
zu gehen bis zu der Stelle am anderen Ufer, auf die Gandalf zuhielt; und
dann mußte er ja noch das Tor finden.
Als sie zur nördlichsten Ecke des Sees kamen, fanden sie einen schma-
len Wasserarm, der ihren Weg versperrte. Das Wasser darin war grün
und unbeweglich, und das Ganze war wie ein schleimiger Arm, der auf
das Gebirge zeigte. Gimli ging unbeirrt weiter und stellte fest, daß das
Wasser seicht war, nicht mehr als knöcheltief am Rand. Sie gingen im
Gänsemarsch hinter ihm her und tasteten sich vorsichtig weiter, denn
unter den krautigen Tümpeln lagen glitschige und schmierige Steine, und
man konnte leicht ausrutschen. Frodo überlief ein Schauder, so ekelte er
sich vor dem unreinen Wasser, das seine Füße berührte.
Als Sam, der letzte der Gruppe, Lutz am anderen Ufer aufs Trockene
führte, hörten sie ein leises Geräusch: ein Rauschen und dann ein Plat-
schen, als hätte ein Fisch die stille Wasseroberfläche aufgerührt. Sie
wandten sich rasch um und sahen Wellengekräusel, schwarzgerändert,
das Schatten warf in dem verblassenden Licht: große Ringe, die sich von
einem Punkt weit draußen im See ausbreiteten. Es war ein gurgelndes
Geräusch zu hören, und dann trat Stille ein. Die Dämmerung wurde
dunkler, und die letzten Strahlen der untergehenden Sonne wurden von
Wolken verhüllt.
Gandalf schlug jetzt ein schnelles Tempo an, und die anderen folgten
ihm, so rasch sie konnten. Sie kamen zu dem Streifen trockenen Landes
zwischen dem See und den Felsen: er war schmal, manchmal kaum fünf-
zehn Ellen breit und übersät mit herabgestürzten Felsen und Steinen;
doch fanden sie einen Weg, hielten sich dicht an der Felswand und so
weit ab vom dunklen Wasser, wie sie konnten. Nachdem sie eine Meile
nach Süden am Ufer entlanggegangen waren, stießen sie auf Hulstbäume.
Stümpfe und tote Zweige lagen im flachen Wasser, Reste, wie es schien,
von alten Dickichten oder einer Hecke, die einstmals die Straße durch das
jetzt überflutete Tal gesäumt hatte. Doch dicht unter der Felswand standen,
noch immer kräftig und lebendig, zwei hohe Bäume, größer als alle Hulst-
bäume, die Frodo je gesehen oder sich vorgestellt hatte. Ihre großen Wur-
zeln reichten von der Felswand bis zum Wasser. Oben von der Treppe
aus hatten sie unter dem hochragenden Fels wie bloße Büsche ausgesehen,
aber jetzt türmten sie sich hoch auf, steif, dunkel und schweigend, sie
warfen tiefe Nachtschatten zu ihren Füßen und standen wie Schildwachen
am Ende der Straße.
»So, da sind wir endlich!« sagte Gandalf. »Hier endete der Elbenweg
von Hulsten. Hulst war das Wahrzeichen der Bewohner jenes Landes, und
sie pflanzten ihn hier, um das Ende ihres Bereiches zu kennzeichnen; denn
das Westtor war hauptsächlich für sie angelegt worden, damit sie es bei
ihrem Handel mit den Herren von Moria benutzen konnten. Das waren
glücklichere Tage, als es noch zeitweise enge Freundschaft zwischen Völ-
kern verschiedener Arten gab, selbst zwischen Zwergen und Elben.«
»Es war nicht die Schuld der Zwerge, daß diese Freundschaft
schwand«, sagte Gimli.
»Ich habe nicht gehört, daß es die Schuld der Elben war«, sagte Legolas.
»Ich habe beides gehört«, sagte Gandalf. »Und ich will jetzt kein Urteil
darüber abgeben. Aber ich bitte zumindest euch beide, Legolas und
Gimli, Freunde zu sein und mir zu helfen. Ich brauche euch beide. Das
Tor ist verschlossen und verborgen, und je schneller wir es finden, um so
besser. Es wird Nacht!«
Dann wandte er sich an die anderen und sagte: »Während ich suche,
wollt ihr euch bitte alle bereit machen, in die Minen zu gehen? Denn hier,
fürchte ich, müssen wir unserem guten Lasttier Lebewohl sagen. Ihr müßt
viel von den Sachen zurücklassen, die wir gegen die bittere Kälte mitge-
nommen haben: ihr werdet sie drinnen nicht brauchen und, wie ich hoffe,
auch nicht, wenn wir durchkommen und in den Süden wandern. Statt des-
sen muß jeder von uns einen Teil dessen nehmen, was das Pony getragen
hat, vor allem Lebensmittel und Wasserschläuche.«
»Aber du kannst doch den armen alten Lutz nicht in dieser einsamen
Gegend zurücklassen, Herr Gandalf!« rief Sam ärgerlich und unglücklich.
»Das will ich nicht, und damit basta. Nachdem er so weit mitgekommen
ist und überhaupt!«
»Es tut mir leid, Sam«, sagte der Zauberer. »Aber wenn sich das Tor
öffnet, glaube ich nicht, daß du imstande sein wirst, Lutz hineinzuzerren,
in die lange Dunkelheit von Moria. Du wirst dich entscheiden müssen
zwischen Lutz und deinem Herrn.«
»Er würde Herrn Frodo auch in eine Drachenhöhle folgen, wenn ich
ihn führte«, protestierte Sam. »Es wäre so gut wie Mord, ihn jetzt frei
laufen zu lassen mit all diesen Wölfen rundum.«
»Es wird kein Mord sein, hoffe ich«, sagte Gandalf. Er legte dem Pony
die Hand auf den Kopf und sprach leise zu ihm. »Geh, beschützt und ge-
führt von meinen Worten«, sagte er. »Du bist ein kluges Tier und hast in
Bruchtal viel gelernt. Mach dich auf den Weg zu Gegenden, wo du Gras
findest, und gelange schließlich so zu Elronds Haus oder wo immer du
hingehen möchtest.«
»So, Sam. Er wird genausoviel Aussicht haben, den Wölfen zu ent-
kommen und nach Hause zu gelangen wie wir.«
Sam stand niedergeschlagen neben dem Pony und gab keine Antwort.
Lutz schien zu verstehen, um was es ging, schmiegte sich an Sam und
legte ihm die Nase ans Ohr. Sam brach in Tränen aus, löste die Gurte,
nahm dem Pony das ganze Gepäck ab und warf es auf den Boden. Die
anderen gingen die Sachen durch, legten alles auf einen Haufen, was zu-
rückbleiben konnte, und teilten das übrige unter sich auf.
Als das geschehen war, wandten sie sich zu Gandalf um. Er schien
nichts getan zu haben. Er stand zwischen den beiden Bäumen und starrte
auf die kahle Felswand, als ob er mit den Augen ein Loch hineinbohren
könnte. Gimli lief hin und her und klopfte ab und zu mit seiner Axt auf
den Stein. Legolas stand an den Felsen gepreßt, als ob er lausche.
»Ja, hier sind wir, und alles ist bereit«, sagte Merry, »aber wo ist die
Tür? Ich kann keine Spur von ihr entdecken.«
»Zwergentüren soll man nicht sehen, wenn sie geschlossen sind«, sagte
Gimli. »Sie sind unsichtbar, und selbst ihre Meister können sie nicht fin-
den oder öffnen, wenn ihr Geheimnis vergessen ist.«
»Aber diese Tür sollte nicht ein Geheimnis sein, das nur den Zwergen
bekannt war«, sagte Gandalf, der plötzlich wieder lebendig wurde und
sich umdrehte. »Sofern nicht alles völlig verändert ist, mögen Augen, die
wissen, wonach sie suchen müssen, die Zeichen entdecken.«
Er ging auf die Wand zu. Rechts zwischen dem Schatten der Bäume
war eine glatte Fläche, und über sie ließ er seine Hände hin- und herglei-
ten und murmelte Wörter. Dann trat er zurück.
»Schaut!« sagte er. »Könnt ihr jetzt etwas sehen?«
Der Mond beschien nun die graue Felswand; aber sonst konnten sie
eine Weile nichts sehen. Dann erschien langsam auf der Oberfläche, über
die die Hände des Zauberers gestrichen hatten, schwache Linien wie
dünne Silberadem, die sich durch den Stein zogen. Zuerst waren sie nicht
mehr als blasse Mettenwebfäden, so fein, daß sie nur ab und zu aufblink-
ten, wenn das Mondlicht auf sie traf, aber stetig wurden sie breiter und
klarer, bis sich ihre Zeichnung erraten ließ.
Oben, so hoch, wie Gandalf hatte reichen können, war ein Bogen von
ineinander verschlungenen Buchstaben in einer Elbenschrift. Darunter
konnte man, obwohl die Striche stellenweise verwischt oder unterbrochen
waren, die Umrisse eines Ambosses und Hammers sehen, und darüber
eine Krone mit sieben Sternen. Darunter waren wieder zwei Bäume zu
sehen, und jeder trug Mondsicheln. Deutlicher als alles andere schimmerte
in der Mitte der Tür ein einziger Stern mit vielen Strahlen.
»Das sind Durins Wahrzeichen!« rief Gimli.
»Und das ist der Baum der Hochelben!« sagte Legolas.
»Und der Stern des Hauses Féanor«, sagte Gandalf. »Sie sind aus ithil-
din gearbeitet, das nur Sternenlicht und Mondlicht widerspiegelt und
schläft, bis es von jemandem berührt wird, der Worte spricht, die jetzt in
Mittelerde längst vergessen sind. Es ist lange her, daß ich sie hörte, und
ich mußte tief nachdenken, bis ich sie mir wieder ins Gedächtnis rufen
konnte.«
»Was besagt die Schrift?« fragte Frodo, der die Inschrift auf dem
Bogen zu entziffern versuchte. »Ich glaubte, daß ich Elbenbuchstaben
kenne, aber diese kann ich nicht lesen.«
»Die Wörter sind in der Elbensprache des Westens von Mittelerde in
der Altvorderenzeit«, antwortete Gandalf. »Aber sie besagen nichts, was
für uns von Bedeutung ist. Sie lauten: Die Türen von Dünn, des Herrn
von Maria. Sprich, freund, und tritt ein. Und darunter steht in kleiner
und schwacher Schrift: Ich, Narvi, machte sie. Celebrimbor von Hulsten
zeichnete diese Buchstaben."
»Was bedeutet das sprich, Freund, und tritt ein?« fragte Merry.
»Das ist doch ganz klar«, antwortete Gimli. »Wenn du ein Freund bist,
sage das Losungswort und die Tür wird sich öffnen und du kannst eintre-
ten.«
»Ja«, sagte Gandalf, »diese Tür wird wahrscheinlich durch Worte ge-
steuert. Manche Zwergentore öffnen sich nur zu besonderen Zeiten und
nur für bestimmte Personen; und manche haben Schlösser und Schlüssel,
die auch dann noch erforderlich sind, wenn alle notwendigen Zeiten und
Wörter bekannt sind. Diese Tür hat keinen Schlüssel. Zu Durins Zeiten
war sie nicht geheim. Aber wenn sie geschlossen war, konnte jeder, der
das Losungswort wußte, es aussprechen und hineingehen. So wenigstens
ist es überliefert, nicht wahr, Gimli?«
»So ist es«, antwortete der Zwerg »Aber wie das Wort lautete, des-
sen entsinnt man sich nicht mehr. Narvi und seine Kunst und seine ganze
Sippe sind von der Erde verschwunden.«
»Aber weißt denn du das Wort nicht, Gandalf?« fragte Boromir über-
rascht.
»Nein!« sagte der Zauberer.
Die anderen sahen verzweifelt aus; nur Aragorn, der Gandalf gut
kannte, blieb still und ungerührt.
»Was hat es dann für einen Sinn gehabt, uns in diese verfluchte Ge-
gend zu bringen?« rief Boromir und blickte sich schaudernd nach dem
Wasser um. »Du hast uns gesagt, du seiest einmal durch die Minen ge-
gangen. Wie kann das sein, wenn du nicht weißt, wie man hinein-
kommt?«
»Die Antwort auf deine erste Frage, Boromir«, sagte der Zauberer,
»ist, daß ich das Wort nicht weiß — noch nicht weiß. Doch werden
wir bald weitersehen. Und«, fügte er hinzu, und seine Augen funkelten
unter den gesträubten Brauen, »du magst dann nach dem Sinn meiner

Hier steht in der Fëanorian-Schrift nach Art und Weise von
Beleriand geschrieben:
Ennyn Durin Aran Moria: pedo mellon a minno. Im Narvi hain echant: Celebrim-
bor o Eregion teithant i thiw hin.
Taten fragen, wenn sie sich als sinnlos erwiesen haben. Was deine andere
Frage betrifft: zweifelst du an meinem Bericht? Oder hast du keinen Ver-
stand mehr? Ich kam nicht von dieser Seite. Ich kam von Osten.
Wenn du es wissen willst, werde ich dir sagen, daß diese Tür sich
nach außen öffnet. Von innen kannst du sie mit der Hand aufstoßen. Von
draußen ist sie durch nichts zu bewegen außer durch das Zauberwort. Sie
läßt sich nicht mit Gewalt öffnen.«
»Was willst du denn nun tun?« fragte Pippin, uneingeschüchtert von
den gesträubten Augenbrauen des Zauberers.
»Mit deinem Kopf die Tür einschlagen, Peregrin Tuk«, sagte Gandalf.
»Wenn der sie nicht aufbringt und ich ein wenig Ruhe vor törichten Fra-
gen habe, dann will ich nach dem Losungswort suchen.
Ich kannte einstmals jeden Zauberspruch in allen Sprachen der Elben,
Menschen oder Orks, der je für einen solchen Zweck gebraucht wurde. Ich
kann mich noch an zehn Dutzend erinnern, ohne in meinem Gedächtnis
graben zu müssen. Aber nur ein paar Versuche, glaube ich, werden nötig
sein; und ich werde nicht Gimli um Wörter der geheimen Zwergensprache
angehen müssen, die sie niemandem beibringen. Denn die Losungsworte
waren elbisch, wie die Schrift auf dem Bogen; das erscheint mir gewiß.«
Er trat wieder an den Felsen heran und berührte mit seinem Stab leicht
den silbernen Stern in der Mitte unter dem Amboßzeichen.
Annon edhellen, edro hi ammen!
Fennas nogothrim, lasto beth lammen!
sagte er mit befehlender Stimme. Die Silberlinien wurden blaß, aber
der glatte graue Stein rührte sich nicht.
Viele Male wiederholte er diese Wörter in verschiedener Reihenfolge
oder wandelte sie ab. Dann versuchte er es mit einem Zauberspruch nach
dem anderen, und sprach einmal schneller und lauter und dann wieder
leise und langsam. Dann sagte er viele einzelne Wörter in der Elbenspra-
che. Nichts geschah. Die Felswand ragte hoch auf in der Nacht, die un-
zähligen Sterne erglühten, der Wind wehte kalt und die Tür blieb ge-
schlossen.
Wieder näherte sich Gandalf der Wand, hob die Arme und sprach in
befehlendem und allmählich zornigem Ton. Edro, edro! rief er und schlug
mit seinem Stab auf den Felsen, öffne dich, öffne dich! schrie er und
wie-
derholte denselben Befehl in allen Sprachen, die je im Westen von Mittel-
erde gesprochen worden waren. Dann warf er seinen Stab auf die Erde
und setzte sich schweigend hin.
In diesem Augenblick trug der Wind von weither zu ihren lauschenden
Ohren das Heulen von Wölfen. Das Pony Lutz bäumte sich vor Angst
auf, und Sam sprang zu ihm und sprach leise auf ihn ein.
»Laß ihn nicht weglaufen«, sagte Boromir. »Es scheint, daß wir ihn
noch brauchen, wenn uns die Wölfe nicht finden. Wie ich diesen stinki-
gen Teich hasse!« Er bückte sich, hob einen großen Stein auf und schleu-
derte ihn weit in das dunkle Wasser.
Der Stein verschwand mit einem leisen Plumps; aber in demselben Au-
genblick gab es ein Rauschen und Gurgeln. Große Wellenkreise bildeten
sich auf der Oberfläche hinter der Stelle, wo der Stein hineingefallen war,
und sie bewegten sich langsam auf den Fuß der Felswand zu.
»Warum hast du das getan, Boromir?« sagte Frodo. »Ich hasse diesen
Ort auch, und ich habe Angst. Ich weiß nicht wovor: nicht vor Wölfen
oder der Dunkelheit hinter der Tür, sondern vor etwas anderem. Ich habe
Angst vor dem See. Schrecke ihn nicht auf!«
»Ich wollte, wir könnten weg!« sagte Merry.
»Warum tut Gandalf nicht rasch etwas?« fragte Pippin.
Gandalf beachtete sie nicht. Er saß mit gebeugtem Kopf da, entweder
verzweifelt oder angestrengt nachdenkend. Das klagende Geheul der
Wölfe war wieder zu hören. Die Wellen auf dem Wasser wurden größer
und kamen näher; einige schlugen schon ans Ufer.
Mit einer Plötzlichkeit, die sie alle zusammenfahren ließ, sprang der
Zauberer auf. Er lachte! »Ich habe es!« rief er. »Natürlich, natürlich!
Lächerlich einfach, wie die meisten Rätsel, wenn man die Lösung kennt.«
Er nahm seinen Stab auf, trat vor den Felsen und sagte mit klarer
Stimme: Mellon!
Der Stern leuchtete kurz auf und verblaßte wieder. Dann zeichnete sich
geräuschlos eine große Tür ab, obwohl vorher nicht eine Ritze oder eine
Angel sichtbar gewesen war. Langsam teilte sie sich und schwang Zoll
um Zoll nach außen, bis beide Türhälften gegen den Felsen schlugen.
Durch die Öffnung sah man schattenhaft eine Treppe, die steil hinauf-
führte; aber hinter den untersten Stufen war die Dunkelheit schwärzer als
die Nacht. Die Gruppe stand da und staunte.
»Ich habe also doch unrecht gehabt«, sagte Gandalf. »Und Gimli auch.
Ausgerechnet Merry war auf der richtigen Fährte. Das Losungswort
hatte die ganze Zeit auf der Eingangstür gestanden! Die Übersetzung hätte
lauten sollen Sage >Freund< und tritt ein. Ich brauchte nur das
Elbenwort
für Freund auszusprechen, und schon öffnete sich die Tür. Ganz
einfach.
Zu einfach für einen Gelehrten und Schriftkundigen in unserer mißtrau-
ischen Zeit. Damals waren die Zeiten glücklicher. Nun laßt uns gehen!«
Er schritt voran und setzte seinen Fuß auf die unterste Stufe. Aber in
diesem Augenblick ereignete sich verschiedenes. Frodo fühlte, daß irgend
etwas ihn am Knöchel packte, und er fiel mit einem Schrei hin. Das Pony
Lutz wieherte vor Angst wie wild, drehte sich um und schoß am Seeufer
entlang in die Dunkelheit. Sam sprang ihm nach, und als er dann Frodos
Schrei hörte, rannte er weinend und fluchend zurück. Die anderen fuhren
herum und sahen das Wasser des Sees brodeln, als ob eine ganze Heer-
schar von Schlangen vom südlichen Ende herangeschwommen käme.
Aus dem Wasser war ein langer, gekrümmter Fangarm herausgekro-
chen; er war blaßgrün, leuchtend und naß. Sein gefingertes Ende hatte
Frodos Fuß gepackt und zog ihn ins Wasser. Sam lag auf den Knien und
stach jetzt mit dem Dolch auf den Arm ein.
Der Arm ließ Frodo los, und Sam zog Frodo fort und schrie um Hilfe.
Zwanzig andere Arme kamen aus dem Wellengekräusel hervor. Das
dunkle Wasser brodelte, und es stank abscheulich.
»Hinein ins Tor! Die Stufen hinauf! Rasch!« schrie Gandalf und
sprang zurück. Alle bis auf Sam hatten vor Entsetzen wie angewurzelt
dagestanden; jetzt scheuchte er sie auf und trieb sie voran.
Es war gerade noch rechtzeitig. Sam und Frodo hatten erst ein paar
Stufen erklommen und Gandalf eben erst begonnen hinaufzusteigen, als
sich die Greifarme über das Ufer ringelten und an der Felswand und der
Tür herumtasteten. Einer schlängelte sich über die Schwelle, im Sternen-
licht glänzend. Gandalf drehte sich um und hielt inne. Wenn er überlegte,
welches Wort die Tür von innen schließen würde, so war das überflüssig.
Viele Schlangenarme packten die Türflügel von beiden Seiten und
schwangen sie mit entsetzlicher Kraft herum. Mit lautem Getöse fielen sie
zu, und alles Licht war ausgeschlossen. Ein Geräusch von Reißen und
Krachen drang dumpf durch den massiven Fels.
Sam, der sich an Frodos Arm klammerte, brach in der schwarzen Dun-
kelheit auf einer Stufe zusammen. »Armer alter Lutz!« sagte er mit er-
stickter Stimme. »Armer alter Lutz! Wölfe und Schlangen! Aber die
Schlangen waren zu viel für ihn. Ich mußte mich entscheiden, Herr Frodo.
Ich mußte mit dir kommen.«
Sie hörten, wie Gandalf wieder die Stufen hinunterging und mit seinem
Stab gegen die Tür stieß. Ein Beben lief durch den Stein und die Stufen
erzitterten, aber die Tür öffnete sich nicht.
»Na ja«, sagte der Zauberer. »Der Durchgang hinter uns ist nun ver-
sperrt, und es gibt nur noch einen Ausgang — auf der anderen Seite des
Gebirges. Nach dem Geräusch zu urteilen, fürchte ich, daß Findlinge auf-
getürmt und die Bäume entwurzelt und vor das Tor geworfen worden
sind. Das tut mir leid; denn die Bäume waren schön und hatten so lange
dort gestanden.«
»Ich spürte, daß etwas Entsetzliches in der Nähe war von dem Augen-
blick an, da mein Fuß zuerst das Wasser berührte«, sagte Frodo. »Was für
ein Wesen war das, oder waren es viele?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Gandalf. »Aber die Arme waren alle
von einer Absicht geleitet. Irgend etwas ist aus den dunklen Wassern un-
ter dem Gebirge hervorgekrochen oder herausgetrieben worden. Es gibt
in den Tiefen der Welt noch ältere und gemeinere Geschöpfe als Orks.«
Seinen Gedanken, daß, was immer es war, das in dem See haust, zuerst
von allen aus der Gruppe nach Frodo gegriffen hatte, sprach er nicht aus.
Boromir murmelte leise etwas, aber das widerhallende Gestein ver-
stärkte es zu einem heiseren Flüstern, das alle hören konnten: »In den
Tiefen der Welt! Und dahin gehen wir nun gegen meinen Wunsch. Wer
wird uns jetzt führen in diesem tödlichen Dunkel?«
»Ich«, sagte Gandalf, »und Gimli soll mit mir gehen. Folgt meinem
Stab.«
Als der Zauberer voranging auf den großen Stufen, hielt er seinen Stab
hoch, und aus seiner Spitze drang ein schwaches Licht. Die breite Treppe
war heil und unbeschädigt. Zweihundert Stufen zählten sie, breit und flach;
und oben fanden sie einen gewölbten Gang mit ebenem Boden, der weiter
in die Dunkelheit hinein führte.
»Wollen wir uns nicht hier auf den Treppenabsatz setzen, ausruhen
und etwas essen, da wir kein Speisezimmer finden können?« fragte Frodo.
Er hatte das Entsetzen über die greifenden Arme fast überwunden und
merkte plötzlich, daß er ungeheuer hungrig war.
Der Vorschlag wurde von allen begrüßt; und sie setzten sich auf die
oberen Stufen, verschwommene Gestalten in der Finsternis. Nachdem
sie gegessen hatten, gab Gandalf jedem einen dritten Schluck miruvor aus
Bruchtal.
»Viel länger wird es nicht mehr reichen, fürchte ich«, sagte er. »Aber
ich glaube, wir haben es nötig nach dem Schrecken am Tor. Und sofern
wir nicht großes Glück haben, werden wir das, was übrig ist, noch brau-
chen, ehe wir die andere Seite sehen! Geht auch sparsam mit dem Wasser
um! Es gibt viele Bäche und Quellen in den Minen, aber sie sollten nicht
angerührt werden. Wir werden Gelegenheit haben, unsere Schläuche und
Flaschen zu füllen, ehe wir zum Schattenbachtal hinunterkommen.«
»Wie lange wird das dauern?« fragte Frodo.
»Ich kann es nicht sagen«, antwortete Gandalf. »Es hängt von vielen
Zufällen ab. Aber wenn alles glatt geht, ohne Mißgeschick und ohne daß
wir uns verirren, werden wir drei oder vier Märsche brauchen, nehme ich
an. Es können in gerader Linie kaum weniger als vierzig Meilen sein von
der Westtür zum Osttor, und die Straße mag viele Biegungen machen.«
Nach einer nur kurzen Rast gingen sie weiter. Alle wollten die Wan-
derung so schnell wie möglich hinter sich bringen und waren trotz
ihrer Müdigkeit bereit, noch mehrere Stunden zu laufen. Gandalf ging
wiederum voraus. Mit der linken Hand hielt er seinen schimmernden Stab
hoch, dessen Licht gerade den Boden vor seinen Füßen erhellte; in der
rechten Hand hielt er sein Schwert Glamdring. Hinter ihm kam Gimli,
und seine Augen funkelten in dem düsteren Licht, wenn er seinen Kopf
von einer Seite zur anderen drehte. Hinter dem Zwerg ging Frodo, und
auch er hatte sein kurzes Schwert Stich gezogen. Kein Schimmer kam von
den Klingen von Stich und Glamdring, und das war tröstlich. Denn da
diese Schwerter das Werk von Elbenschmieden aus der Altvorderenzeit
waren, schimmerten sie mit einem kalten Licht, wenn irgendwelche Orks
in der Nähe waren. Hinter Frodo ging Sam, und dann kamen Legolas, die
jungen Hobbits und Boromir. Als letzter im Dunkeln ging düster und
schweigsam Aragorn.
Der Gang führte ein paarmal um die Ecke und begann dann abzufallen.
Es ging eine ganze Weile stetig abwärts, und dann wurde der Weg wieder
eben. Die Luft war heiß und stickig, aber nicht verpestet, und zeitweise
spürten sie einen kühleren Luftzug auf ihren Gesichtern, der aus nur halb
geahnten Öffnungen in der Wand kam. Deren gab es viele. Im blassen
Schein des Zaubererstabes sah Frodo flüchtig Treppen und Bögen und
andere Gänge und Schächte, die hinaufführten oder steil hinab oder ein-
fach an beiden Seiten schwarz gähnten. Es war verwirrend und hoff-
nungslos, sich den Weg zu merken.
Gimli konnte Gandalf sehr wenig helfen, abgesehen von seinem uner-
schütterlichen Mut. Zumindest war er nicht, wie die meisten anderen,
allein schon durch die Dunkelheit eingeschüchtert. Oft fragte ihn der Zau-
berer an Stellen, wo es zweifelhaft war, welchen Weg man einschlagen
sollte, um seine Meinung; aber es war immer Gandalf, der das letzte Wort
sprach. Die Minen von Moria waren riesiger und verzweigter, als Gimli,
Glóins Sohn, sich hatte vorstellen können, obwohl er doch ein Zwerg des
Gebirgsstammes war. Für Gandalf waren die weit zurückliegenden Erin-
nerungen an eine frühere Wanderung nur eine geringe Hilfe, aber selbst
in der Düsternis und trotz aller Windungen des Weges wußte er, wohin
er gehen wollte, und er zögerte nicht, solange es einen Pfad gab, der zu
seinem Ziel führte.
»Fürchtet euch nicht!« sagte Aragorn. Die Pause war länger als üblich,
und Gandalf und Gimli flüsterten miteinander; die anderen standen zu-
sammengedrängt weiter hinten und warteten ängstlich. »Fürchtet euch
nicht! Ich habe so manche Wanderung mit ihm gemacht, wenn auch nie-
mals eine so dunkle; und in Bruchtal kennt man Taten von ihm, die grö-
ßer sind als alle, die ich gesehen habe. Er wird sich nicht verirren — wenn
sich überhaupt ein Weg finden läßt. Er hat uns trotz unserer Befürchtun-
gen hierher gebracht, und er wird uns auch wieder hinausbringen, was
immer es ihn selbst auch kosten mag. Er wird eher den Weg nach Hause
finden in dunkler Nacht als die Katzen der Königin Berúthiel.«
Es war gut für die Gemeinschaft, daß sie einen solchen Führer hatte.
Sie hatten kein Brennholz und keine Möglichkeit, Fackeln herzustellen;
bei dem verzweifelten Kampf an der Tür waren viele Sachen zurückge-
blieben. Aber ohne irgendein Licht wären sie bald zu Schaden gekom-
men. Es gab nicht nur viele Wege, zwischen denen man sich entscheiden
mußte, sondern an vielen Stellen auch Löcher und Gruben und dunkle
Brunnenschächte neben dem Pfad, in denen ihre Schritte widerhallten. Es
gab Spalten und Risse in den Wänden und auf dem Boden, und immer
wieder tat sich eine Schrunde vor ihren Füßen auf. Die breiteste maß über
sechs Fuß, und es dauerte lange, bis Pippin genug Mut aufbrachte, um
über das grauenhafte Loch zu springen. Das Geräusch von aufgewühltem
Wasser drang von tief unten herauf, und es klang, als ob ein großes
Mühlrad sich in der Tiefe drehte.
»Ein Seil!« murmelte Sam. »Ich wußte, ich würde es brauchen, wenn
ich keins habe!«
Als diese Gefahren immer häufiger wurden, verlangsamte sich ihr
Marsch. Schon schien es ihnen, als seien sie endlos immer weiter und wei-
ter gegangen bis an den Fuß der Berge. Sie waren mehr als müde, und
doch lag kein Trost in dem Gedanken, irgendwo anzuhalten. Frodos Stim-
mung hatte sich etwas gehoben, nachdem er den Schlangen entkommen
war, etwas gegessen und einen Schluck von dem Trank erhalten hatte-
aber jetzt wurde er wieder von einer tiefen Unruhe befallen, ja von
Schrecken. Obwohl man in Bruchtal den Dolchstoß geheilt hatte, war
diese schlimme Wunde nicht ohne Wirkung geblieben. Seine Sinne waren
geschärft, und mehr als früher wurde er Dinge gewahr, die man nicht
sehen konnte. Ein Zeichen der Veränderung, das er bald bemerkt hatte,
war, daß er jetzt im Dunkeln besser sehen konnte als irgendeiner seiner
Gefährten, vielleicht mit Ausnahme von Gandalf. Und überdies war er
der Ringträger: der Ring hing an einer Kette auf seiner Brust, und zuzei-
ten schien er eine schwere Last zu sein. Frodo war überzeugt, daß Böses
vor ihnen lag und Böses ihnen folgte; aber er sagte nichts. Er packte das
Heft seines Schwertes fester und ging verbissen weiter.
Die hinter ihm Gehenden redeten nicht viel, und wenn, dann nur in
hastigem Flüstern. Es war nichts zu hören als das Geräusch ihrer eigenen
Füße; das dumpfe Stampfen von Gimlis Zwergenstiefeln; der schwere
Schritt von Boromir; der leichte Tritt von Legolas; das leise, kaum hör-
bare Trappeln von Hobbitfüßen; und von hinten das langsame, feste
Auftreten von Aragorn mit seinen langen Schritten. Als sie einen
Augenblick anhielten, hörten sie überhaupt gar nichts, es sei denn gele-
gentlich ein schwaches Rinnen oder Tröpfeln von unsichtbarem Wasser.
Und dennoch begann Frodo etwas anderes zu hören, oder bildete sich
ein, es zu hören: Schritte von weichen, nackten Füßen. Es war niemals
laut genug oder nah genug, um ganz sicher zu sein, daß er es hörte; aber
nachdem es einmal angefangen hatte, hörte es nicht mehr auf, solange die
Gemeinschaft weiterging. Aber es war kein Echo, denn wenn sie anhielten,
tappelte es noch eine Weile und wurde dann still.
Es war nach Einbruch der Nacht gewesen, als sie die Minen betreten
hatten. Sie waren mehrere Stunden lang mit nur kurzen Unterbrechungen
gelaufen, als Gandalf auf das erste ernstliche Hindernis stieß. Vor ihm
erhob sich ein breiter, dunkler Bogen, der den Weg in drei Gänge freigab:
sie führten alle in etwa dieselbe Richtung, nach Osten, aber der linke
Gang fiel ab, während der rechte anstieg, und der mittlere schien glatt
und eben weiterzulaufen, aber er war sehr schmal.
»An diese Stelle kann ich midi überhaupt nicht erinnern«, sagte Gan-
dalf, als er ratlos unter dem Bogen stand. Er hob seinen Stab in der Hoff-
nung, daß er irgendwelche Zeichen oder Inschriften finden würde, die
ihm die Wahl erleichtern könnten; aber nichts Derartiges war zu sehen.
»Ich bin zu müde, um mich zu entscheiden«, sagte er und schüttelte den
Kopf. »Und ich nehme an, daß ihr alle ebenso müde seid oder noch
müder. Wir sollten lieber für den Rest der Nacht hierbleiben. Ihr wißt,
was ich meine. Hier drinnen ist es immer dunkel; aber draußen steht der
Mond jetzt im Westen, und Mittemacht ist vorüber.«
»Armer alter Lutz«, sagte Sam. »Ich möchte mal wissen, wo er ist. Ich
hoffe, diese Wölfe haben ihn noch nicht erwischt.«
Links von dem großen Torbogen fanden sie eine steinerne Tür; sie war
halb geschlossen, ließ sich aber leicht aufstoßen. Dahinter schien eine
große, in den Fels gehauene Kammer zu liegen.
»Langsam! Langsam!« rief Gandalf, als Merry und Pippin hineinstürm-
ten, froh, für die Rast einen Platz zu finden, wo sie wenigstens etwas
mehr das Gefühl von Schutz haben würden, als in dem offenen Gang.
»Langsam! Ihr wißt doch nicht, was drinnen ist. Laßt mich vorgehen.«
Er ging vorsichtig hinein, und die anderen kamen einzeln nach. »Da!«
sagte er und zeigte mit seinem Stab in die Mitte des Fußbodens. Vor sei-
nen Füßen sahen sie ein großes rundes Loch wie die Mündung eines
Brunnenschachts. Zerbrochene, rostige Ketten lagen am Rand und hingen
hinunter in den dunklen Schacht. Stücke von Steinen lagen in der Nähe.
»Einer von euch hätte hineinfallen können und würde sich immer noch
fragen, wann er wohl auf dem Grund ankommt«, sagte Aragorn zu
Merry.. »Laßt den Führer vorangehen, solange ihr einen habt.«
»Das scheint eine Wachstube gewesen zu sein, um die drei Gänge zu
bewachen«, sagte Gimli. »Das Loch war gewiß ein Brunnen für die Ver-
sorgung der Wachen, abgedeckt mit einem steinernen Deckel. Aber der
Deckel ist zerbrochen, und wir müssen im Dunkeln vorsichtig sein.«
Der Brunnen übte eine seltsame Anziehungskraft auf Pippin aus. Wäh-
rend die anderen Decken ausrollten und an den Wänden der Kammer,
möglichst weit entfernt von dem Loch im Fußboden, sich ihre Betten
machten, kroch er an den Rand und schaute hinein. Ein kühler Luft-
hauch wehte ihm ins Gesicht, der aus unsichtbaren Tiefen aufstieg. Einer
plötzlichen Regung folgend, tastete er nach einem losen Stein und ließ ihn
hineinfallen. Er fühlte sein Herz viele Male schlagen, ehe ein Ton zu
hören war. Dann kam von weit unten, als ob der Stein an irgendeinem
höhlenartigen Ort in tiefes Wasser gefallen sei, ein Plumps, sehr
entfernt,
aber verstärkt und wiederholt in dem hohlen Schacht.
»Was ist das?« rief Gandalf. Er war erleichtert, als Pippin beichtete,
was er getan hatte; aber er war ärgerlich, und Pippin sah, wie seine
Augen blitzten. »Närrischer Tuk!« knurrte er. »Unsere Wanderung ist
eine ernste Angelegenheit, kein Hobbit-Spaziergang. Wirf dich nächstes
Mal selbst hinein, dann kannst du uns in Zukunft keinen Ärger mehr
bereiten. Jetzt sei still!«
Mehrere Minuten lang war nichts zu hören; aber dann drang aus der
Tiefe schwaches Klopfen herauf: Tumm-Tapp, Tapp-Tumm, Es hörte auf,
und als das Echo verhallt war, fing es wieder an: Tapp-Tumm, Tumm-
Tapp, Tapp-Tapp, Tumm. Es klang beunruhigend wie Signale irgendeiner
Art; doch nach einer Weile hörte das Klopfen auf und begann auch nicht
wieder.
»Das waren Hammergeräusche, oder ich müßte mich sehr irren«, sagte
Gimli.
»Ja«, antwortete Gandalf, »und es gefällt mir gar nicht. Es mag nichts
mit Peregrins törichtem Stein zu tun haben; aber wahrscheinlich ist
irgend etwas aufgescheucht worden, was man besser in Ruhe gelassen
hätte. Bitte, tut nichts dergleichen wieder! Laßt uns hoffen, daß wir uns
etwas ausruhen können ohne weiteren Ärger. Du, Pippin, kannst die erste
Wache übernehmen, zur Belohnung«, brummte er, als er sich in eine
Decke einwickelte.
Pippin saß unglücklich im Stockdunkeln an der Tür; aber er drehte sich
immer wieder um, denn er fürchtete, daß irgend etwas Unbekanntes aus
dem Brunnen herauskriechen könnte. Er wünschte, er könnte das Loch
abdecken, und sei es auch nur mit einer Decke, aber er wagte sich nicht
zu rühren oder in die Nähe des Brunnens zu gehen, obwohl Gandalf zu
schlafen schien.
In Wirklichkeit war Gandalf wach, obwohl er still lag und nichts sagte.
Er dachte angestrengt nach, versuchte, sich alle Erinnerungen an seine
frühere Wanderung in den Minen ins Gedächtnis zurückzurufen und
überlegte sich besorgt, welchen Weg er nun einschlagen sollte; eine fal-
sche Richtung könnte jetzt verhängnisvoll sein. Nach einer Stunde stand
er auf und kam zu Pippin.
»Geh in eine Ecke und schlaf, mein Junge«, sagte er ganz freundlich.
»Du brauchst Schlaf, nehme ich an. Ich kann kein Auge zutun, da kann
ich genauso gut die Wache übernehmen.
Ich weiß, was mit mir los ist«, murmelte er, als er sich an die Tür
setzte. »Ich brauche was zu rauchen! Seit dem Morgen vor dem Schnee-
sturm habe ich nicht geraucht.«
Das letzte, was Pippin sah, ehe er einschlief, war die dunkle Gestalt des
Zauberers, der auf dem Boden hockte und einen glimmenden Span in sei-
nen knorrigen Händen zwischen den Knien hielt. Einen Augenblick be-
leuchtete die Flamme seine scharfe Nase und das Rauchwölkchen.
Gandalf war es, der sie alle weckte. Etwa sechs Stunden hatte er allein
gewacht und die anderen ruhen lassen. »Und während der Wachen habe
ich einen Entschluß gefaßt«, sagte er. »Bei dem mittleren Weg habe ich
ein ungutes Gefühl; bei dem linken gefällt mir der Geruch nicht: da un-
ten ist die Luft verpestet, oder ich bin kein Führer. Ich werde den rechten
Gang nehmen. Es ist Zeit, daß wir wieder nach oben klettern.«
Acht dunkle Stunden lang, nicht gerechnet zwei kurze Pausen, mar-
schierten sie weiter; und sie begegneten keiner Gefahr und hörten nichts
und sahen nichts als den schwachen Schein des Zauberstabs, der wie ein
Irrlicht vor ihnen hertanzte. Der Gang, den Gandalf gewählt hatte, stieg
ununterbrochen an. Soweit sie es beurteilen konnten, führte er in großen
Kurven bergan und wurde allmählich immer höher und breiter. Auf kei-
ner Seite waren jetzt Durchgänge zu anderen Stollen, und der Boden war
eben und unversehrt, ohne Risse oder Spalten. Offensichtlich waren sie
auf eine ehemals wichtige Straße gestoßen; und sie kamen rascher voran
als bei ihrem ersten Marsch.
Auf diese Weise legten sie, in direkter Linie nach Osten gemessen,
etwa fünfzehn Meilen zurück, obwohl sie in Wirklichkeit vielleicht zwan-
zig Meilen oder mehr gelaufen waren. Als sich die Straße nach oben
wand, besserte sich Frodos Stimmung ein wenig; aber er war immer noch
bedrückt und hörte noch zuzeiten, oder glaubte es wenigstens, weit hinter
der Gemeinschaft und über ihre eigenen Schritte hinaus einen ihnen fol-
genden Schritt, der kein Echo war.
Sie waren so weit marschiert, wie die Hobbits es ohne Rast vermoch-
ten, und alle dachten an einen Platz, wo sie schlafen könnten, als plötz-
lich rechts und links die Wände verschwanden. Offenbar waren sie durch
irgendeinen gewölbten Torweg in einen schwarzen, leeren Raum gekom-
men. Hinter ihnen war ein starker Strom wärmerer Luft spürbar, und vor
ihnen lag die Dunkelheit kalt auf ihren Gesichtern. Sie blieben stehen und
scharten sich ängstlich zusammen.
Gandalf schien erfreut. »Ich habe den richtigen Weg gewählt«, sagte er.
»Endlich kommen wir in die bewohnbaren Teile, und ich vermute, daß die
Ostseite jetzt nicht mehr fern ist. Aber wir sind noch hoch oben, be-
trächtlich höher als das Schattenbachtor, wenn ich mich nicht sehr irre.
Nach der Luft zu schließen, müssen wir in einer großen Halle sein. Ich
will jetzt ein wenig wirkliches Licht wagen.«
Er hob seinen Stab, und für einen kurzen Augenblick leuchtete eine
Flamme auf wie ein Blitzstrahl. Große Schatten sprangen auf und flohen,
und für eine Sekunde sahen sie ein riesiges Dach hoch über ihren Köpfen,
getragen von vielen mächtigen Säulen aus Stein. Vor ihnen und zu beiden
Seiten erstreckte sich eine gewaltige, leere Halle; ihre schwarzen Wände,
blank und glatt wie Glas, glänzten und schimmerten. Drei andere Ein-
gänge sahen sie, dunkle, schwarze Bogen: einen direkt vor ihnen, der
nach Osten ging, und je einen auf beiden Seiten. Dann ging das Licht aus.
»Mehr will ich jetzt nicht wagen«, sagte Gandalf. »Früher gab es große
Fenster an der Bergseite und Schächte, die hinaufreichten zum Licht in
den oberen Bereichen der Minen. Ich glaube, wir haben sie jetzt erreicht,
aber es ist Nacht draußen, und vor dem Morgen werden wir es nicht fest-
stellen können. Wenn ich recht habe, werden wir morgen vielleicht den
Morgen hereinschauen sehen. Aber einstweilen ist es wohl besser, nicht
weiterzugehen. Laßt uns ruhen, wenn wir können. Bisher ist alles gut
gegangen, und den größten Teil des dunklen Weges haben wir hinter uns.
Doch sind wir noch nicht hindurch, und es ist noch weit bis hinunter zu
den Toren, die in die Welt hinausrühren.«
Die Gemeinschaft verbrachte die Nacht in der großen, höhlenartigen
Halle, eng zusammengedrängt in einer Ecke, um dem Durchzug zu entge-
hen: durch den östlichen Torbogen strömte ständig kalte Luft herein. Als
sie dort lagen, ringsum von hohler und unermeßlicher Dunkelheit umge-
ben, fühlten sie sich bedrückt von der Einsamkeit und Riesigkeit der un-
terirdischen Hallen und der sich endlos verzweigenden Treppen und
Gänge. Auch die wildesten Vorstellungen, die sich die Hobbits nach
dunklen Gerüchten gemacht hatten, blieben weit hinter der tatsächlichen
Furchtbarkeit und Großartigkeit von Moria zurück.
»Da muß aber einstmals eine gewaltige Schar von Zwergen hier gewe-
sen sein«, sagte Sam. »Und jeder von ihnen muß fünfhundert Jahre lang
eifriger geschafft haben als Dachse, um all das zu machen, und das meiste
noch dazu in hartem Fels! Wofür haben sie das alles gemacht? Gewiß
haben sie doch in diesen dunklen Höhlen nicht gewohnt?«
»Das sind keine Höhlen«, antwortete Gimli. »Dies ist das große Reich
und die Stadt Zwergenbinge. Und einstmals war es hier nicht dunkel,
sondern voller Licht und Glanz, wie es noch in unseren Liedern überlie-
fert wird.«
Er stand auf und begann im Dunkeln mit tiefer Stimme zu singen, und
das Echo drang hinauf bis zum Dach.
Die Welt war jung, die Berge grün,
Als fleckenlos der Mond noch schien,
Nicht Berg noch Tal, nicht Strom noch Land
War da, zu Durins Zeit, benannt.
Er gab den Dingen Nam und Stand,
Trank ersten Trunk vom Quellenrand
Und sah im Spiegel Widerschein
Von Sternen, Gold und Edelstein,
Sah sich zu Häupten eine Krön
Aufblinken und verschatten schon.
Die Welt war jung, die Gipfel frei
Zu jener Zeit, die längst vorbei,
Die mächtigen Herrn von Nargothrond
Und Gondolin sind längst entthront
Und leben westlich, fern und weit,
Die Welt war schön zu Durins Zeit.
Die Felsengründe waren sein,
Mit Gold verziert und Edelstein
Und silbern köstlich ausgelegt,
Das Tor von Runenkraft geprägt,
Und tausend Lampen aus Kristall
Verströmten Licht allüberall,
Ein helleres fließt nicht in die Welt
Von Sonne, Mond und Sternenzelt.
Der Hammer auf den Amboß hieb,
Der Stichel grub, der Meißel trieb,
Geschärfte Schwerterklinge sang,
Der Reichtum wuchs bei jedem Gang.
Von Amethyst, Beryll, Opal,
Metall, geschuppt, war voll der Saal,
Von Panzerhemden, Schild und Speer
Die Borte in den Kammern schwer.
Froh lebte damals Durins Volk,
Die Harfe klang, der Sänger sang,
Und vor den Toren stieß ins Horn
Der Wächter zu der Stunden Gang.
Die Welt ist grau, der Berg ist alt,
Die Essen leer, die Aschen kalt,
Kein Harfner singt, kein Hammer fällt;
Das Dunkel herrscht in Durins Welt,
Sein Grab liegt unter Schatten da
In Khazad-dûm, in Moria.
Die Sterne glitzern wunderlich
Im Spiegelsee, die Krone blich,
Tief ist der See, der sie begräbt,
Bis Durin sich vom Schlaf erhebt.
»Das gefällt mir!« sagte Sam. »Das möchte ich gerne lernen. In Khazad-
dûm, in Moria! Aber es macht die Dunkelheit noch bedrückender, wenn
man an all die Lampen denkt. Liegen hier immer noch Haufen von Edel-
steinen und Gold herum?«
Gimli antwortete nicht. Nachdem er sein Lied gesungen hatte, wollte er
nichts mehr sagen.
»Haufen von Edelsteinen?« sagte Gandalf. »Nein. Die Orks haben
Moria oft geplündert; in den oberen Hallen ist nichts zurückgeblieben.
Und seit die Zwerge geflohen sind, wagt niemand, die Schächte und
Schatzkammern in den großen Tiefen aufzusuchen: sie sind im Wasser
versunken — oder in einem Schatten der Furcht.«
»Warum wollen die Zwerge dann zurückkommen?« fragte Sam.
»Wegen mithril«, antwortete Gandalf. »Morias Reichtum beruhte nicht
auf Gold und Edelsteinen, dem Spielzeug der Zwerge; und nicht auf
Eisen, ihrem Diener. Derlei Dinge fanden sie hier, das ist wahr, vor allem
Eisen. Aber sie hätten es nicht nötig gehabt, danach zu graben: alles, was
sie begehrten, konnten sie im Tauschhandel erhalten. Doch allein hier
und sonst nirgends in der Welt wurde Moria-Silber gefunden, oder Wahr-
Silber, wie manche es genannt haben: mithril ist der elbische Name. Die
Zwerge haben einen Namen dafür, den sie nicht sagen. Sein Wert betrug
das Zehnfache von Gold und ist jetzt unermeßlich; denn oberirdisch ist
wenig davon übrig, und nicht einmal die Orks wagen hier danach zu gra-
ben. Die Adern erstrecken sich weit nach Norden zum Caradhras hin und
hinab in die Dunkelheit. Die Zwerge sprechen nicht darüber; aber ebenso
wie mithril die Grundlage ihres Reichtums war, so war es auch ihr Ver-
derben: sie gruben zu gierig und zu tief und störten das auf, wovor sie
flohen: Durins Fluch. Von dem, was sie ans Licht gebracht hatten, haben
die Orks fast alles an sich gerafft und als Tribut an Sauron abgeführt, der
es begehrte.
Mithril! Jedermann wollte es. Man konnte es wie Kupfer hämmern
und wie Glas glätten; und die Zwerge wußten ein Metall daraus zu
machen, leicht und trotzdem härter als getemperter Stahl. Seine Schönheit
glich der des gewöhnlichen Silbers, aber die Schönheit von mithril
wurde
nicht matt oder trübe. Die Elben liebten es sehr; und abgesehen von man-
chem anderen machten sie daraus ithildin, Sternenmond, wie ihr auf der
Tür gesehen habt. Bilbo hatte einen Harnisch aus Mithril-Ringen, den
Thorin ihm geschenkt hatte. Ich möchte gern wissen, wo er geblieben ist.
Wahrscheinlich verstaubt er weiter im Museum von Michelbinge.
»Was?« rief Gimli, aus seinem Schweigen aufgeschreckt. »Ein Panzer-
hemd aus Moria-Silber? Das war ein königliches Geschenk!«
»Ja«, sagte Gandalf. »Ich habe es ihm niemals gesagt, aber der Har-
nisch war mehr wert als das ganze Auenland und alles darinnen.«
Frodo sagte nichts, aber er faßte unter sein Wams und berührte die
Ringe seines Kettenhemds. Ihm wurde ganz schwindlig bei dem Gedan-
ken, daß er den Wert des ganzen Auenlands auf dem Leibe trug. Hatte
Bilbo das gewußt? Er zweifelte nicht, daß Bilbo das sehr wohl gewußt
hatte. Wahrlich ein königliches Geschenk. Aber nun wanderten seine
Gedanken hinweg von den dunklen Minen nach Bruchtal, zu Bilbo, und
nach Beutelsend zu der Zeit, als Bilbo noch da war. Er wünschte von gan-
zem Herzen, daß er wieder dort und es noch wie damals wäre, daß er den
Rasen mähte oder sich mit den Blumen zu schaffen machte und nie von
Moria oder mithril — oder dem Ring gehört hätte.
Es trat ein tiefes Schweigen ein. Einer nach dem anderen schlief ein.
Frodo hielt Wache. Als ob es ein Atem wäre, der durch unsichtbare
Türen aus großer Tiefe kam, überfiel ihn Grauen. Seine Hände waren
kalt und seine Stirn feucht. Er lauschte. Zwei langsam hinschleichende
Stunden lang lauschte er angespannt; aber er hörte keinen Ton, nicht ein-
mal das eingebildete Echo eines Schritts.
Seine Wache war fast vorüber, als er drüben, wo er den westlichen Tor-
bogen vermutete, zwei bleiche Lichtpunkte zu sehen glaubte, fast wie
leuchtende Augen. Er fuhr zusammen. Sein Kopf war vornüber gesunken.
»Ich muß beinahe während der Wache eingeschlafen sein«, dachte er.
»Ich war am Anfang eines Traumes.« Er stand auf, rieb sich die Augen
und blieb stehen und starrte ins Dunkel, bis er von Legolas abgelöst
wurde.
Als er sich hinlegte, schlief er schnell ein, aber ihm war, als ob sich
der Traum fortsetzte: er hörte Flüstern und sah die beiden bleichen Licht-
punkte, die sich langsam näherten. Er wachte auf und merkte, daß die
anderen sich leise unterhielten und ihm ein schwaches Licht aufs Gesicht
fiel. Hoch oben über dem östlichen Torbogen kam ein langer, blasser
Lichtstrahl durch einen Schacht in der Nähe des Daches; und jenseits der
Halle schimmerte auch durch den nördlichen Torbogen schwach und ent-
fernt Licht.
Frodo setzte sich auf. »Guten Morgen!« sagte Gandalf. »Denn Morgen
ist es nun endlich. Ich habe recht gehabt, wie du siehst. Wir sind hoch
oben auf der Ostseite von Moria. Ehe der Tag heute vorbei ist, sollten wir
die Großen Tore finden und das Wasser des Spiegelsees vor uns im Schat-
tenbachtal liegen sehen.«
»Es wird mich freuen«, sagte Gimli. »Ich habe Moria gesehen, und es
ist sehr groß, aber es ist dunkel und schrecklich geworden; und wir haben
keine Spur von meiner Sippe gefunden. Ich bezweifle jetzt, daß Balin
jemals hierherkam.«
Nachdem sie gefrühstückt hatten, beschloß Gandalf, gleich weiterzuge-
hen. »Wir sind müde, aber wir sollten uns lieber ausruhen, wenn wir
draußen sind«, sagte er. »Ich glaube, daß keiner von uns gern eine wei-
tere Nacht in Moria verbringen möchte.«
»Nein, gewiß nicht«, sagte Boromir. »Welchen Weg wollen wir neh-
men? Dort drüben durch den östlichen Bogen?«
»Vielleicht«, antwortete Gandalf. »Aber ich weiß noch nicht genau, wo
wir sind. Wenn ich mich nicht sehr irre, vermutlich oberhalb und nördlich
der Großen Tore; und es mag nicht leicht sein, den richtigen Weg dort
hinunter zu finden. Der Weg durch den östlichen Bogen wird sich wahr-
scheinlich als derjenige erweisen, den wir nehmen müssen; aber ehe wir
uns entscheiden, sollten wir uns umschauen. Laßt uns dem Licht dort
nachgehen, das durch die nördliche Tür hereinfällt. Wenn wir ein Fenster
finden könnten, wäre das nützlich, aber ich fürchte, das Licht kommt nur
durch tiefe Schächte.«
Geführt von ihm, ging die Gemeinschaft unter dem nördlichen Bogen
durch. Sie befanden sich nun in einem breiten Gang. Als sie weitergin-
gen, wurde der Lichtschein stärker, und sie sie sahen jetzt, daß er durch
eine Türöffnung zu ihrer Rechten drang. Sie war hoch und oben flach,
und die Steintür hing noch in den Angeln und stand halb offen. Dahinter
lag ein großer, rechtwinkliger Raum. Er war nur schwach erleuchtet, aber
ihren Augen, die so lange an Dunkelheit gewöhnt gewesen waren, er-
schien er blendend hell, und sie blinzelten, als sie eintraten.
Ihre Füße wirbelten eine dicke Staubschicht auf dem Boden auf und
stolperten über Dinge, deren Form sie zuerst nicht erkennen konnten.
Die Kammer war durch einen breiten Schacht in der Ostwand erhellt; er
führte schräg aufwärts, und ganz oben konnten sie einen kleinen, rechtek-
kigen Flecken blauen Himmels sehen. Das Licht des Schachts fiel genau
auf einen Tisch in der Mitte des Raums: einen einzigen, länglichen Block,
etwa zwei Fuß hoch, auf dem eine große weiße Steinplatte lag.
»Das sieht wie ein Grab aus«, murmelte Frodo und beugte sich mit
einem seltsamen Gefühl der Vorahnung vor, um besser sehen zu können.
Gandalf trat rasch neben ihn. Auf der Platte waren Runen tief eingegra-
ben:
»Das sind Daerons Runen, wie sie früher in Moria gebräuchlich
waren«, sagte Gandalf. »Hier steht in den Sprachen der Menschen und
Zwerge:
BALIN FUNDINS SOHN
HERR VON MORIA.«
»Er ist also tot«, sagte Frodo. »Ich hatte es gefürchtet.« Gimli zog seine
Kapuze über das Gesicht.