DRITTES KAPITEL
DER RING GEHT NACH SÜDEN
Später am selben Tage hielten die Hobbits dann in Bilbos Zimmer noch
eine eigene Versammlung ab. Merry und Pippin waren entrüstet, als sie
hörten, daß Sam sich in den Rat eingeschlichen hatte und als Frodos Ge-
fährte ausgewählt worden war.
»Das ist höchst ungerecht«, sagte Pippin. »Statt ihn hinauszuwerfen
und in Ketten zu legen, belohnt Elrond ihn auch noch für seine Frech-
heit!«
»Belohnt!« erwiderte Frodo. »Ich kann mir keine strengere Bestrafung
vorstellen. Du überlegst dir gar nicht, was du sagst: zu einer so hoffnungs-
losen Fahrt verurteilt, nennst du belohnt? Gestern träumte ich davon, daß
meine Aufgabe erfüllt sei und ich hier eine lange Zeit, vielleicht für
immer ausruhen könnte.«
»Das wundert mich nicht«, sagte Merry, »und ich wünschte, du könn-
test es. Aber wir beneiden Sam, nicht dich. Wenn du gehen mußt, dann
wird es für jeden von uns eine Strafe sein, wenn wir zurückbleiben müs-
sen, und sei es auch in Bruchtal. Wir sind eine lange Strecke Wegs mit dir
gegangen und haben recht mißliche Zeiten durchgemacht. Wir wollen
weitergehen.«
»Genau das meinte ich«, sagte Pippin. »Wir Hobbits sollten zusam-
menhalten, und das werden wir auch. Ich gehe mit, wenn sie mich nicht
anketten. Einer mit Verstand muß in der Gruppe sein.«
»Dann wirst du gewiß nicht ausgewählt, Peregrin Tuk!« sagte Gandalf,
der gerade durch das ebenerdige Fenster hereinschaute. »Aber ihr alle
macht euch unnötige Sorgen. Es ist noch nichts entschieden.«
»Noch nichts entschieden!« rief Pippin. »Was habt ihr denn dann die
ganze Zeit gemacht? Ihr hattet euch ja stundenlang eingeschlossen.«
»Geredet«, sagte Bilbo. »Es gab eine Menge Gerede und für jeden einen
Augenöffner. Selbst für den alten Gandalf. Ich glaube, die Nachricht von
Legolas über Gollum hat sogar ihn überrumpelt, obwohl er darüber hin-
wegging.«
»Du irrst dich«, sagte Gandalf. »Du hast nicht aufgepaßt. Ich hatte es
schon von Gwaihir gehört. Wenn du es wissen willst, die einzigen wirk-
lichen Augenöffner, wie du dich ausdrückst, waren du und Frodo; und
ich war der einzige, der nicht überrascht war.«
»Na, jedenfalls ist noch nichts entschieden«, sagte Bilbo, »außer daß
der arme Frodo und Sam ausgewählt worden sind. Ich hatte die ganze
Zeit gefürchtet, daß es dazu kommen würde, wenn es mir erspart bliebe.
Aber wenn du mich fragst, ich glaube, daß Elrond eine ganze Gruppe
ausschicken wird, sobald die Berichte da sind. Sind sie schon aufgebro-
chen, Gandalf?«
»Ja«, antwortete der Zauberer. »Einige der Kundschafter sind schon
ausgesandt worden. Morgen machen sich weitere auf den Weg. Elrond
schickt Elben, und sie werden mit den Waldläufern Verbindung aufneh-
men und vielleicht auch mit Thranduils Volk in Düsterwald. Und Ara-
gorn ist mit Elronds Söhnen ausgezogen. Wir werden die Lande auf viele
Wegstunden im Umkreis erforschen müssen, ehe irgendein Schritt getan
wird. Also sei guten Muts, Frodo! Du wirst wahrscheinlich ziemlich
lange hierbleiben.«
»Ach«, sagte Sam düster. »Wir werden gerade lange genug warten, bis
es Winter ist.«
»Das läßt sich nicht ändern«, sagte Bilbo. »Teilweise ist es deine
Schuld, Frodo, mein Junge: weil du unbedingt meinen Geburtstag abwar-
ten wolltest. Eine komische Art, ihn zu feiern, ich kann mir nicht helfen.
Den Tag hätte ich nicht ausgesucht, um die S.-B.s nach Beutelsend hin-
einzulassen. Aber so ist es nun mal: ihr könnt nicht bis zum Frühjahr
warten; und ihr könnt nicht jetzt aufbrechen, ehe die Berichte da sind.
Kommt erst der Winter wieder her
Und kracht vor Kälte nachts der Stein,
Stehn Wald und Weiher schwarz und leer,
Ist in der Wildnis übel sein.
Aber ich fürchte, das wird euer Schicksal sein.«
»Das fürchte ich auch«, sagte Gandalf. »Wir können nicht losgehen,
ehe wir nicht über die Reiter Bescheid wissen.«
»Ich dachte, sie seien alle bei der Flut umgekommen?«, fragte Merry.
»Ringgeister kann man nicht auf solche Weise umbringen«, sagte Gan-
dalf. »Die Macht ihres Herrn steckt in ihnen, und durch ihn stehen oder
fallen sie. Wir hoffen, daß alle Neun ihre Pferde und ihre Hüllen verloren
haben und dadurch für eine Weile weniger gefährlich geworden sind;
aber das müssen wir erst genau feststellen. Derweil solltest du versuchen,
deine Sorgen ein wenig zu vergessen, Frodo. Ich weiß nicht, ob ich irgend
etwas tun kann, um dir zu helfen; aber ich will dir etwas ins Ohr flü-
stern. Jemand hat gesagt, es müsse einer mit Verstand in der Gruppe sein.
Er hatte recht. Ich glaube, ich werde mit dir mitkommen.«
So groß war Frodos Freude über diese Ankündigung, daß Gandalf, der
bisher auf dem Fensterbrett gesessen hatte, aufstand, seinen Hut abnahm
und sich verbeugte. »Ich sagte nur, ich glaube, ich werde mitkommen.
Rechne noch mit gar nichts. In dieser Sache wird Elrond viel zu sagen
haben, und dein Freund Streicher. Dabei fällt mir ein, daß ich Elrond
sprechen will. Ich muß mich aufmachen.«
»Was glaubst du, wie lange ich hierbleiben werde?« sagte Frodo zu
Bilbo, als Gandalf gegangen war.
»Ach, ich weiß nicht. In Bruchtal kann ich keine Tage zählen«, ant-
wortete Bilbo. »Aber recht lange, denke ich. Wir können so manches
gute Gespräch führen. Wie wäre es, wenn du mir bei meinem Buch hilfst
und das neue anfängst? Hast du über einen Schluß nachgedacht?«
»Ja, über verschiedene, und alle sind düster und unerfreulich«, sagte
Frodo.
»Oh, das taugt nichts!« meinte Bilbo. »Bücher sollten gut enden. Wie
wäre es damit: und sie setzten sich alle zur Ruhe und lebten danach
glücklich miteinander?«
»Das ist gut, wenn es jemals dazu kommt«, erwiderte Frodo.
»Ach«, sagte Sam, »und wo werden sie leben? Das frage ich mich oft.«
Eine Zeitlang unterhielten sich die Hobbits noch über die vergangene
Fahrt und dachten an die Gefahren, die vor ihnen lagen; aber so wohltätig
war die Stimmung in Bruchtal, daß bald ihre ganze Furcht und Sorge ver-
flogen war. Die Zukunft, ob gut oder schlecht, war nicht vergessen, aber
sie beeinträchtigte die Gegenwart nicht. Gesundheit und Hoffnung wuch-
sen in ihnen, sie waren froh über jeden guten Tag, der ihnen beschert war,
und freuten sich über jede Mahlzeit und jedes Wort und Lied.
So vergingen die Tage, und jeder Morgen war strahlend und schön und
jeder Abend kühl und klar. Doch der Herbst schwand rasch; langsam
verblaßte das goldene Licht zu mattem Silber, und die letzten Blätter fie-
len von den nackten Bäumen. Ein Wind begann kalt vom Nebelgebirge im
Osten zu wehen. Der Jägermond, der Vollmond nach dem Herbstvoll-
mond, rundete sich am nächtlichen Himmel und schlug alle minderen
Gestirne in die Flucht. Doch tief im Süden schimmerte ein Stern rot. Als
der Mond wieder abnahm, schien er jeden Abend heller und heller. Frodo
konnte ihn von seinem Fenster aus sehen, er stand tief am Himmel und
leuchtete wie ein wachsames Auge, das über die Bäume am Rand des Tals
Starrt.
Die Hobbits waren fast zwei Monate in Elronds Haus, der November
war mit den letzten Spuren des Herbstes vergangen, und der Dezember
war schon weit fortgeschritten, als die Kundschafter zurückkehrten.
Einige waren im Norden gewesen, jenseits der Quellen des Weißquells in
den Ettenöden; andere waren nach Westen gegangen und hatten, unter-
stützt von Aragorn und den Waldläufern, die Lande entlang des Flusses
Grauflut bis Tharbad abgesucht, wo die alte Nordstraße bei einer zerstör-
ten Stadt den Fluß kreuzt. Viele waren im Osten und Süden gewesen; und
einige von diesen hatten das Gebirge überquert und Düsterwald besucht;
und andere wieder hatten den Paß an der Quelle des Schwertelflusses er-
stiegen, waren nach Wilderland und über die Schwertelfelder gekommen
und schließlich zum alten Heim von Radagast in Rhosgobel. Radagast
war nicht zu Hause; und sie hatten den Rückweg über den hohen Paß
angetreten, der Schattenbachsteig heißt. Elronds Söhne, Elladan und Eiro-
hir, waren die letzten, die zurückkehrten; sie hatten eine lange Fahrt ge-
macht und waren über den Silberlauf in ein fremdes Land gelangt, aber
über ihren Auftrag wollten sie mit niemandem außer Elrond sprechen.
Nirgends hatten die Boten irgendwelche Spuren der Reiter oder anderer
Diener des Feindes entdeckt oder Nachrichten über sie gehört. Nicht ein-
mal von den Adlern des Nebelgebirges war etwas Neues über sie zu er-
fahren. Von Gollum hatte man nichts gesehen oder gehört; doch die wil-
den Wölfe sammelten sich immer noch und jagten wiederum weit den
Großen Strom hinauf. Drei der schwarzen Pferde hatte man sofort ertrun-
ken an der überfluteten Furt gefunden. Auf den Felsen der Stromschnel-
len weiter unten waren dann die Leichen von fünf weiteren entdeckt wor-
den und außerdem ein langer, schwarzer Mantel, der zerrissen und zer-
fetzt war. Von den Schwarzen Reitern war sonst keine Spur zu sehen, und
ihre Anwesenheit war nirgends spürbar. Sie schienen aus dem Norden
verschwunden zu sein.
»Über acht von den Neun weiß man wenigstens Bescheid«, sagte Gan-
dalf. »Es wäre voreilig, zu sicher zu sein, doch können wir, glaube ich,
hoffen, daß die Ringgeister jetzt zerstreut sind und zu ihrem Herrn in
Mordor zurückkehren mußten, so gut sie konnten, leer und gestaltlos.
Wenn dem so ist, dann wird es einige Zeit dauern, bis sie die Jagd
wieder aufnehmen können. Natürlich hat der Feind noch andere Diener,
aber sie würden die ganze Strecke bis zu den Grenzen von Bruchtal zu-
rücklegen müssen, ehe sie unsere Spur aufnehmen können. Und wenn wir
vorsichtig sind, wird sie schwer zu finden sein. Doch dürfen wir nicht
länger säumen.«
Elrond rief die Hobbits zu sich. Er sah Frodo ernst an. »Die Zeit ist
gekommen«, sagte er. »Wenn sich der Ring auf den Weg machen soll,
dann muß er bald gehen. Doch diejenigen, die mit ihm gehen, dürfen
nicht darauf rechnen, daß sie bei ihrem Auftrag durch Krieg oder Gewalt
unterstützt werden. Sie müssen, ohne jede Hilfe in das Gebiet des Feindes
gehen. Stehst du noch zu deinem Wort, Frodo, daß du der Ringträger sein
willst?«
»Ja«, antwortete Frodo. »Ich werde mit Sam gehen.«
»Dann kann ich dir nicht viel helfen, nicht einmal mit Rat«, sagte
Elrond. »Ich kann sehr wenig von deinem Weg voraussehen; und wie
deine Aufgabe erfüllt werden kann, weiß ich nicht. Der Schatten ist jetzt
bis zum Fuß der Gebirge vorgedrungen und nähert sich sogar den Ufern
der Grauflut; und unter dem Schatten ist alles dunkel für mich. Du wirst
vielen Feinden begegnen, manchen unverhüllten und manchen vermumm-
ten; und du magst Freunde finden auf deinem Weg, wenn du es am
wenigsten erwartest. Ich werde Botschaften aussenden, soweit ich es ver-
mag, an diejenigen, die ich in der weiten Welt kenne; aber so gefährlich
sind die Lande jetzt geworden, daß manche Botschaften vielleicht verloren-
gehen oder später eintreffen als du.
Und ich werde dir Gefährten aussuchen, die so weit mit dir gehen sol-
len, wie sie wollen oder das Schicksal es zuläßt. Ihre Zahl muß klein sein,
denn deine Hoffnung liegt in Schnelligkeit und Heimlichkeit. Hätte ich
eine bewaffnete Streitmacht der Elben wie in der Altvorderenzeit, so
würde sie wenig nützen, sondern nur die Macht Mordors auf den Plan
rufen.
Die Gemeinschaft des Ringes soll aus Neun bestehen; und die Neun
Wanderer sollen es mit den Neun Reitern aufnehmen, die böse sind. Mit
dir und deinem treuen Diener wird Gandalf gehen; denn dies wird seine
große Aufgabe sein und vielleicht das Ende seiner Mühen.
Die übrigen sollen Vertreter der anderen Freien Völker der Welt sein:
der Elben, Zwerge und Menschen. Legolas wird für die Elben mitgehen
und Gimli, Glóins Sohn, für die Zwerge. Sie sind bereit, zumindest bis zu
den Pässen des Gebirges mitzukommen, und vielleicht noch weiter. Für
die Menschen wirst du Aragorn, Arathoms Sohn, bei dir haben, denn
Isildurs Ring betrifft ihn sehr stark.«
»Streicher!« rief Frodo.
»Ja«, sagte er lächelnd. »Ich erbitte wiederum die Erlaubnis, dein Ge-
fährte zu sein, Frodo.«
»Ich hätte dich gebeten, mitzukommen«, sagte Frodo, »nur glaubte ich,
du gingest mit Boromir nach Minas Tirith.«
»Das tue ich auch«, antwortete Aragorn. »Und das Geborstne Schwert
soll neu geschmiedet werden, ehe ich in den Krieg ziehe. Aber du und
wir haben auf Hunderte von Meilen denselben Weg. Daher wird auch
Boromir zur Gemeinschaft gehören. Er ist ein tapferer Mann.«
»Dann müssen noch zwei gefunden werden«, sagte Elrond. »Darüber
will ich nachdenken. Vielleicht finde ich unter meinem Gefolge jemanden,
den zu entsenden mich gut dünkt.«
»Aber dann bleibt ja kein Platz für uns!« rief Pippin ganz bestürzt.
»Wir wollen nicht zurückbleiben. Wir wollen mit Frodo gehen.«
»Nur weil ihr nicht versteht und euch nicht vorstellen könnt, was euch
bevorsteht«, sagte Elrond.
»Das tut Frodo auch nicht«, sagte Gandalf und unterstützte Pippin
damit unerwartet. »Und keiner von uns sieht bis jetzt klar. Es ist richtig,
würden diese Hobbits die Gefahr erkennen, dann würden sie nicht wagen,
mitzugehen. Aber sie würden immer noch den Wunsch haben, zu gehen,
oder wünschen, daß sie es wagten, und beschämt und unglücklich sein.
Ich glaube, Elrond, daß es in diesem Fall gut wäre, eher auf ihre Freund-
schaft als auf große Weisheit zu vertrauen. Selbst wenn Ihr für uns einen
Elbenfürsten wir Glorfindel auswähltet, könnte er doch nicht den Dunklen
Turm stürmen oder den Weg zum Feuer bahnen kraft der Macht, die er
besitzt.«
»Es ist gewichtig, was Ihr sagt«, antwortete Elrond, »doch ich bin im
Zweifel. Ich sehe voraus, daß das Auenland nicht frei von Gefahr sein
wird; und diese beiden hatte ich dorthin zurückschicken wollen als Boten,
damit sie nach Möglichkeit ihre Landsleute vor der ihnen drohenden Ge-
fahr warnen sollten. Jedenfalls bin ich der Meinung, daß der jüngere der
beiden, Peregrin Tuk, zurückbleiben sollte. Mein Herz spricht dagegen,
daß er mitgeht.«
»Dann, Herr Elrond, werdet Ihr mich ins Gefängnis werfen oder in
einen Sack verschnürt heimschicken müssen«, sagte Pippin. »Denn sonst
werde ich der Gemeinschaft folgen.«
»Dann soll es so sein. Du kannst mitgehen«, sagte Elrond und seufzte.
»Nun ist die Zahl Neun voll. In sieben Tagen muß die Gemeinschaft auf-
brechen.«
Elendils Schwert wurde von Elben-Schmieden neu geschmiedet, und auf
seiner Klinge wurden als Sinnbild sieben Sterne zwischen der Mondsichel
und der strahlenden Sonne eingraviert, und darüber standen viele Runen.
Denn Aragorn, Arathoms Sohn, zog in den Krieg im Grenzgebiet von
Mordor. Sehr hell strahlte das Schwert, als es wieder heil war; das Licht
der Sonne schien rötlich auf ihm und das Licht des Mondes kalt, und
seine Schneide war hart und scharf. Und Aragorn gab ihm einen neuen
Namen und nannte es Andúril, Flamme des Westens.
Aragorn und Gandalf gingen zusammen spazieren oder saßen beiein-
ander und sprachen über ihren Weg und die Gefahren, denen sie begeg-
nen würden; und sie zogen die durch Sagen ergänzten und bebilderten
Landkarten und die Lehrbücher zu Rate, die in Elronds Haus waren.
Manchmal war Frodo bei ihnen; doch war er es zufrieden, sich auf ihre
Führung zu verlassen, und er verbrachte möglichst viel Zeit mit Bilbo.
In jenen letzten Tagen saßen die Hobbits des Abends zusammen in der
Halle des Feuers, und dort hörten sie unter vielen anderen Erzählungen
das ganze Lied von Beren und Lúthien und der Gewinnung des Großen
Edelsteins; doch tagsüber, wenn sich Merry und Pippin draußen herum-
trieben, fand man Frodo und Sam bei Bilbo in seinem kleinen Zim-
mer. Dann las Bilbo aus seinem Buch vor (das offenbar immer noch
längst nicht fertig war) oder er gab Kostproben von seinen Versen oder
machte sich Notizen über Frodos Abenteuer.
Am Morgen des letzten Tages war Frodo allein bei Bilbo, und der alte
Hobbit holte unter seinem Bett eine Holzkiste hervor. Er hob den Deckel
auf und stöberte darin herum.
»Hier ist dein Schwert«, sagte er. »Doch wie du weißt, war es zerbro-
chen. Ich nahm es an mich, um es sicher aufzubewahren, habe aber ver-
gessen, die Schmiede zu fragen, ob sie es heilmachen könnten. Jetzt ist
keine Zeit mehr dazu. Deshalb dachte ich, du würdest vielleicht gern die-
ses hier nehmen, was meinst du?«
Er nahm aus der Kiste ein kleines Schwert, das in einer alten, schäbigen
Lederscheide steckte. Dann zog er es heraus, und seine blankgeputzte
und gut gepflegte Klinge glitzerte plötzlich, kalt und hell. »Das ist Stich«,
sagte er und stieß es mit wenig Mühe tief in einen Holzbalken. »Nimm
es, wenn du magst. Ich werde es vermutlich nicht wieder brauchen.«
Frodo nahm es dankbar an.
»Und dann ist das noch da«, fuhr Bilbo fort. Er holte ein Paket heraus,
das für seine Größe ziemlich schwer zu sein schien. Er wickelte verschie-
dene Lagen alter Lappen ab und hielt dann ein kleines Panzerhemd hoch.
Es war dicht gewebt aus vielen Ringen, beinahe so schmiegsam wie Leinen,
kalt wie Eis und härter als Stahl. Es glänzte wie mondbeschienenes Silber
und war besetzt mit weißen Edelsteinen. Zu ihm gehörte ein Schwert-
gehänge mit Perlen und Bergkristall.
»Hübsch, das Ding, nicht wahr?« sagte Bilbo und bewegte es im
Licht. »Und nützlich. Es ist mein Zwergen-Panzerhemd, das Thorin mir
geschenkt hat. Ich habe es von Michelbinge zurückgeholt, ehe ich auf-
brach, und mit meinem Gepäck hergebracht. Alle Erinnerungstücke an
meine Fahrt habe ich mitgebracht, mit Ausnahme des Ringes. Aber ich
hatte nicht erwartet, hierfür wieder Verwendung zu haben, und ich brau-
che es jetzt nicht, außer um es manchmal zu betrachten. Du spürst das
Gewicht kaum, wenn du es anhast.«
»Ich würde aussehen — nun ja, ich glaube, es wäre nicht angemessen
für mich«, sagte Frodo.
»Genau das habe ich auch gesagt«, erwiderte Bilbo. »Aber mach dir
nichts draus, wie es aussieht. Du kannst es unter deiner Überkleidung tra-
gen. Komm schon! Es soll ein Geheimnis zwischen uns sein. Verrate es
keinem anderen! Aber ich wäre beruhigter, wenn ich wüßte, daß du es
trägst. Ich könnte mir vorstellen, daß es sogar die Dolche der Schwarzen
Reiter abhält«, fügte er leise hinzu.
»Nun gut, dann werde ich es nehmen«, sagte Frodo. Bilbo legte es ihm
an und befestigte Stich an dem glitzernden Schwertgehänge; und dann
zog Frodo seine alten, abgetragenen Hosen, Wams und Jacke darüber.
»Wie ein ganz gewöhnlicher Hobbit schaust du aus«, sagte Bilbo.
»Aber jetzt ist mehr an dir dran, als äußerlich zu sehen ist. Viel Glück
wünsche ich dir!« Er wandte sich ab, blickte aus dem Fenster und ver-
suchte, eine Melodie zu summen.
»Ich weiß gar nicht, wie ich dir dafür danken soll, Bilbo, und für alles
Gute, das du mir bisher angetan hast«, sagte Frodo.
»Versuche es gar nicht erst«, sagte der alte Hobbit, drehte sich um und
schlug ihm auf den Rücken. »Au!« rief er. »Du bist jetzt zu hart, als
daß man dich schlagen könnte! Aber so ist es nun mal: Hobbits müs-
sen zusammenhalten, und Beutlins besonders. Die einzige Gegenlei-
stung, um die ich dich bitte, ist: paß möglichst gut auf dich auf und
bringe alle Nachrichten mit, die du erhalten kannst, und alle alten Lieder
und Erzählungen, an die du herankommst. Ich will mein Bestes tun, um
mein Buch zu beenden, ehe du zurückkommst. Ich würde gern noch ein
zweites schreiben, wenn ich solange am Leben bleibe.« Er unterbrach sich,
wandte sich wieder zum Fenster und sang leise.
Am Feuer sitze ich und denk
An alles, was ich sah,
Und Sommerzeit und Falterflug
Von einst sind wieder da,
Altweiberfäden, gelbes Laub
Im Herbst, der damals war
Mit Morgendunst und. blassem Licht
Und Wind auf meinem Haar.
Am Feuer sitze ich und denk,
Die Welt ist wunderlich,
Folgt auf den Winter doch der Lenz —
Dereinst nicht mehr für mich.
So vieles gibt es immer noch,
Das hab ich nie gesehn,
Ist anders doch in jedem Jahr
Das Grün des Frühlings schön.
An viele Menschen denk ich da,
Die sind schon längst nicht mehr;
Wird nach mir noch so mancher sein,
Der kümmert mich nicht sehr.
Doch wie ich da so sitz und denk,
Da horch ich unverwandt
Nach lieben Schritten an der Tür
Und Stimmen wohlbekannt.
Es war ein kalter, grauer Tag gegen Ende Dezember. Der Ostwind fegte
durch die kahlen Äste der Bäume und rauschte in den dunklen Föhren auf
den Bergen. Wolkenfetzen jagten über ihre Köpfe hinweg, dunkel und
niedrig. Als die freudlosen Schatten des frühen Abends niedersanken,
machte sich die Gruppe zum Aufbruch bereit. Sie sollten in der Dämme-
rung losgehen, denn Elrond hatte ihnen geraten, im Schütze der Nacht zu
wandern, so oft sie konnten, bis sie weit von Bruchtal wären.
»Ihr solltet die vielen Augen von Saurons Dienern fürchten«, sagte er.
»Ich zweifle nicht, daß Nachrichten über die Niederlage der Reiter ihn
schon erreicht haben, und er wird voller Zorn sein. Bald werden nun seine
Späher auf der Erde und in den Lüften in den nördlichen Landen unter-
wegs sein. Selbst vor dem Himmel über euch müßt ihr euch hüten auf
eurem Weg.«
Die Gemeinschaft nahm wenig Kriegsgerät mit, denn sie setzen ihre
Hoffnung auf Heimlichkeit, nicht auf Kampf. Aragorn hatte nur Andú-
ril, doch keine andere Waffe, und er war in abgetragenes Grün und Braun
gekleidet wie ein Waldläufer in der Wildnis. Boromir hatte ein Lang-
sdrwert in der Art von Andúril, aber von weniger edler Herkunft, und er
trug auch einen Schild und sein Kriegshorn.
»Laut und klar erschallt es in den Tälern der Berge«, sagte er, »und
dann sollen alle Feinde Gondors fliehen!« Er setzte es an die Lippen und
blies, und das Echo sprang von Felsen zu Felsen, und alle, die diesen Ton
in Bruchtal hörten, schreckten hoch.
»Ihr solltet das Hörn nicht wieder blasen, Boromir«, sagte Elrond,
»bis Ihr an den Grenzen Eures Landes steht und in bitterer Not seid.«
»Vielleicht«, antwortete Boromir. »Aber immer habe ich beim Auf-
bruch mein Horn erschallen lassen, und wenn wir auch hernach im Schat-
ten wandern mögen, will ich doch nicht wie ein Dieb in der Nacht davon-
gehen.«
Gimli, der Zwerg, war der einzige, der offen ein kurzes Hemd aus
Stahlringen trug, denn den Zwergen machen Lasten nichts aus; und in
seinem Gürtel steckte eine Axt mit breitem Blatt. Legolas hatte einen
Bogen und einen Köcher und in seinem Gürtel einen langen, weißen
Dolch. Die jüngeren Hobbits trugen die Schwerter aus dem Hügelgrab;
doch Frodo nahm nur Stich; und sein Panzerhemd blieb, wie Bilbo es
gewünscht hatte, verborgen. Gandalf trug seinen Stab, doch gegürtet an
seiner Seite war das Elbenschwert Glamdring, das Gegenstück zu Orcrist,
das nun auf Thorins Brust unter dem Einsamen Berg lag.
Alle waren von Elrond gut mit warmer Kleidung ausgestattet worden,
und sie hatten mit Pelz gefütterte Jacken und Mäntel. Lebensmittel, zu-
sätzliche Kleidung und Decken und andere notwendige Dinge wurden auf
ein Pony geladen, und kein anderes war es als das arme Tier, das sie aus
Bree mitgebracht hatten.
Der Aufenthalt in Bruchtal hatte Wunder bei ihm gewirkt: sein Fell
schimmerte, und es schien die Kraft der Jugend zu haben. Sam hatte dar-
auf bestanden, es mitzunehmen, und behauptet, Lutz (wie er es genannt
hatte), würde vor Gram vergehen, wenn er nicht mitkönne.
»Das Tier kann fast sprechen«, sagte er, »und würde sprechen, wenn es
noch länger hierbliebe. Es warf mir einen Blick zu, der ebenso deutlich das
besagte, was Herr Pippin ausgesprochen hat: wenn du mich nicht mitge-
hen läßt, Sam, folge ich dir auf eigene Verantwortung.« So kam Lutz als
Lasttier mit, doch war er der einzige Teilnehmer an der Fahrt, der nicht
niedergeschlagen zu sein schien.
Die Abschiedsworte waren in der großen Halle am Feuer gesprochen
worden, und jetzt warteten sie nur auf Gandalf, der noch nicht aus dem
Haus gekommen war. Ein Schimmer des Kammfeuers drang durch die
offenen Türen, und sanfte Lichter glühten in vielen Fenstern. Bilbo, in
einen Mantel gehüllt, stand schweigend neben Frodo auf den Treppenstu-
fen. Aragorn saß und hatte den Kopf auf die Knie gebeugt; nur Elrond
konnte ganz ermessen, was diese Stunde für ihn bedeutete. Die anderen
sah man nur als graue Schatten in der Dunkelheit.
Sam stand neben dem Pony, spielte mit der Zunge an den Zähnen und
starrte trübsinnig hinab in die Dämmerung, in der der Fluß steinern brau-
ste; sein Abenteuerdurst war auf dem Tiefpunkt angelangt.
»Lutz, mein Jung«, sagte er, »du hättest dich nicht mit uns einlassen
sollen. Du hättest hierbleiben und das beste Heu fressen können, bis das
neue Gras kommt.« Lutz wedelte mit dem Schwanz, sagte aber nichts.
Sam schob sich den Rucksack auf den Schultern zurecht, ging im Geist
alle Dinge durch, die er hineingepackt hatte und überlegte sich, ob er
etwas vergessen habe: sein wichtigster Schatz, sein Kochgeschirr; und die
kleine Büchse mit Salz, die er immer bei sich trug und nachfüllte, wann
immer er konnte; und ein guter Vorrat Pfeifenkraut (aber bei weitem
nicht genug, möchte ich wetten); Feuerstein und Zunder; Wollstrümpfe;
Wäsche; verschiedene Kleinigkeiten seines Herrn, die Frodo vergessen
und Sam eingepackt hatte, um sie triumphierend herauszuholen, wenn sie
gebraucht wurden. Er ging sie alle durch.
»Ein Seil!« murmelte er. »Kein Seil! Und erst gestern abend hast du dir
gesagt: >Sam, wie ist es mit einem Stück Seil? Du wirst es brauchen,
wenn du keins hast.< Ja, ich werde es brauchen. Jetzt kann ich keins mehr
beschaffen.«
In diesem Augenblick kam Elrond mit Gandalf heraus, und er rief die
Gemeinschaft zu sich. »Dies ist mein letztes Wort«, sagte er leise. »Der
Ringträger macht sich auf die Suche nach dem Schicksalsberg. Ihm allein
ist eine Verantwortung auferlegt: er darf den Ring weder wegwerfen noch
ihn einem Diener des Feindes ausliefern oder ihn auch nur irgend jemand
anderem überlassen als den Mitgliedern der Gemeinschaft oder des Rates,
und auch das nur in der größten Not. Die anderen gehen als freiwillige
Gefährten mit ihm, um ihm auf seinem Weg behilflich zu sein. Ihr mögt
verweilen oder umkehren oder andere Pfade beschreiten, wenn sich die
Möglichkeit bietet. Je weiter ihr geht, um so weniger leicht wird es sein,
zurückzukommen; dennoch wird euch kein Eid und keine Verpflichtung
auferlegt, weiter zu gehen, als ihr wollt. Denn noch kennt ihr nicht die
Stärke eurer Herzen und könnt nicht voraussehen, was jedem von euch
auf der Straße begegnen mag.«
»Treulos ist, wer Lebewohl sagt, wenn die Straße dunkel wird«, sagte
Gimli.
»Vielleicht«, sagte Elrond. »Aber laßt denjenigen nicht geloben, im
Dunkeln zu wandern, der den Einbruch der Nacht nicht gesehen hat.«
»Doch mag ein geschworenes Wort das zitternde Herz stärken«, sagte
Gimli.
»Oder es brechen«, erwiderte Elrond. »Schaut nicht zu weit voraus!
Aber geht nun guten Mutes! Lebt wohl, und möge der Segen der Elben
und Menschen und aller Freien Völker euch begleiten. Mögen die Sterne
euer Angesicht bescheinen!«
»Viel ... viel Glück!« rief Bilbo und stotterte vor Kälte. »Ich vermute,
du wirst kein Tagebuch führen können, Frodo, mein Junge, aber ich er-
warte einen vollständigen Bericht, wenn du zurückkommst. Und bleibe
nicht zu lange fort! Lebwohl!«
Noch viele andere von Elronds Gefolge standen in den Schatten,
schauten ihnen nach, als sie gingen, und sagten ihnen mit leisen Stimmen
Lebewohl. Es gab kein Lachen, kein Lied und keine Musik. Schließlich
wandten sie sich ab und verschwanden schweigend in der Dämmerung.
Sie überschritten die Brücke und erklommen langsam den steilen Pfad,
der aus der Talschlucht von Bruchtal hinausführte; und schließlich kamen
sie zu dem Hochmoor, wo der Wind durch die Heide pfiff. Sie warfen
noch einen Blick auf das Letzte Heimelige Haus, dessen Lichter unter
ihnen schimmerten, und schritten weit in die Nacht von dannen.
An der Bruinenfurt verließen sie die Straße, wandten sich nach Süden
und gingen auf schmalen Pfaden durch das hügelige Land. Sie hatten vor,
diese Richtung westlich des Gebirges auf viele Meilen und Tage beizube-
halten. Die Gegend war viel rauher und öder als in dem grünen Tal des
Großen Stroms in Wilderland auf der anderen Seite der Bergkette, und sie
würden langsam vorankommen. Doch hofften sie, auf diese Weise der
Aufmerksamkeit feindlicher Augen zu entgehen. Saurons Späher hatte
man bisher selten in diesem verlassenen Lande gesehen, und die Pfade
waren kaum jemandem bekannt außer dem Volk von Bruchtal.
Gandalf ging voran und neben ihm Aragorn, der diese Gegend selbst
im Dunkeln kannte. Die anderen folgten im Gänsemarsch/und Legolas,
der scharfe Augen hatte, bildete die Nachhut. Der erste Teil ihrer Wan-
derung war bitter und mühselig, und Frodo behielt kaum eine Erinnerung,
abgesehen von dem Wind. An vielen sonnenlosen Tagen wehte er eisig
kalt von dem Gebirge im Osten, und kein Kleidungsstück schien imstande
zu sein, seine tastenden Finger abzuhalten. Obwohl die Gemeinschaft
warme Kleidung hatte, war ihr selten warm, weder beim Gehen noch
beim Rasten. Sie schliefen unruhig um die Mitte des Tages in irgendeiner
Mulde oder verborgen unter dem Gestrüpp von Dombüschen, die an vie-
len Stellen wuchsen. Am späten Nachmittag wurden sie von der Wache
geweckt und nahmen ihre Hauptmahlzeit ein: ein kaltes und freudloses
Mahl in der Regel, denn sie konnten es selten wagen, Feuer zu machen.
Abends gingen sie dann wieder weiter, immer so weit nach Süden, wie
sie nur einen Weg finden konnten.
Zuerst schien es den Hobbits, daß sie zwar gingen und vorwärtsstolper-
ten, bis sie müde waren, aber doch langsam wie Schnecken vorwärtskro-
chen und nirgends hinkamen. Jeden Tag sah das Land nicht viel anders
aus als am Vortag. Und doch rückte das Gebirge ständig näher. Südlich
von Bruchtal waren die Berge höher und zogen sich nach Westen; und am
Fuße der Hauptkette erstreckte sich sogar ein noch größeres Gewimmel
schwarzer Berge und tiefer Täler mit ungestümen Gewässern. Es gab
wenig Pfade, und sie waren gewunden und führten sie oft nur an den
Rand irgendeines steilen Abhangs oder hinunter in tückische Moore.
Sie waren etwa zwei Wochen unterwegs, als sich das Wetter änderte.
Der Wind legte sich plötzlich und sprang dann nach Süden um. Die rasch
ziehenden Wolken stiegen höher und lösten sich auf, und die Sonne kam
heraus, blaß und hell. Nach einem langen, mühsamen Nachtmarsch däm-
merte ein kalter, klarer Morgen. Die Wanderer erreichten einen niedrigen
Grat, gekrönt von alten Hulstbäumen, deren graugrüne Stämme aussa-
hen, als bestünden sie aus dem Gestein der Berge. Ihre dunklen Blätter
glänzten, und ihre Beeren glühten rot im Schein der aufgehenden Sonne.
Weit im Süden sah Frodo undeutlich die Umrisse hoher Berge, die sich
quer zu dem Weg, den die Gruppe ging, zu erstrecken schienen. Links von
dieser hohen Kette erhoben sich drei Gipfel; der höchste und nächste
stand aufrecht wie ein mit Schnee bedeckter Zahn; sein großer, kahler
Nordhang war noch weitgehend im Schatten, doch wo das Sonnenlicht
schräg auf ihn fiel, schimmerte er rot.
Gandalf stand neben Frodo und beschattete die Augen mit der Hand,
als er Ausschau hielt. »Wir habens gut gemacht«, sagte er. »Wir haben
die Grenzen des Landes erreicht, das die Menschen Hülsten nennen; viele
Elben lebten hier in glücklicheren Tagen, als es noch Eregion hieß. Fün-
undvierzig Wegstunden, wie die Krähe fliegt, haben wir zurückgelegt,
obwohl unsere Füße viele lange Meilen mehr gelaufen sind. Das Land und
das Wetter werden jetzt milder sein, aber vielleicht um so gefährlicher.«
»Gefährlich oder nicht, ein richtiger Sonnenaufgang ist höchst willkom-
men«, sagte Frodo, warf seine Kapuze zurück und ließ sich die Morgen-
sonne aufs Gesicht scheinen.
»Aber das Gebirge liegt nun vor uns«, sagte Pippin. »Wir müssen in
der Nacht nach Osten gegangen sein.«
»Nein«, antwortete Gandalf. »Aber bei Tageslicht kannst du weiter
sehen. Die Kette hinter diesen Gipfeln zieht sich nach Südwesten. Es gibt
viele Landkarten in Elronds Haus, aber vermutlich bist du nie auf den
Gedanken gekommen, sie dir anzuschauen?«
»Doch, das habe ich manchmal getan«, sagte Pippin, »aber ich erinnere
mich nicht mehr. Frodo hat einen besseren Kopf für derlei Dinge.«
»Ich brauche keine Karte«, sagte Gimli, der mit Legolas herangekom-
men war und mit einem seltsamen Leuchten in seinen tiefliegenden
Augen um sich schaute. »Das ist das Land, wo unsere Väter einst arbei-
teten, und das Bild dieser Berge haben wir in vielen Werken aus Metall
und Stein festgehalten und in vielen Liedern und Erzählungen. Sie spielen
eine große Rolle in unseren Träumen: Baraz, Zirak, Shathür.
Erst einmal in meinem Leben habe ich sie von weitem wirklich gese-
hen, aber ich kenne sie und ihre Namen, denn unter ihnen liegt Khazad-
dûm, die Zwergenbinge, die jetzt Schwarze Grube heißt, Moria in der
Elbensprache. Dort drüben erhebt sich Barazinbar, das Rothorn, der
grausame Caradhras; und dahinter sind die Silberzinne und der Wolken-
kopf: Celebdil der Weiße und Fanuidhol der Graue, die wir Zirak-zigil
und Bundushathur nennen.
Dort teilt sich das Nebelgebirge, und zwischen den beiden Gabeln liegt
das tief schattige Tal, das wir nicht vergessen können: Azanulbizar, das
Schattenbachtal, das die Elben Nanduhirion nennen.«
»Das Schattenbachtal ist unser Ziel«, sagte Gandalf. »Wenn wir den
Paß erklimmen, der Rothornpaß heißt, am anderen Ende des Caradhras,
dann kommen wir über den Schattenbachsteig hinunter in das tiefe Tal
der Zwerge. Dort liegt der Spiegelsee, und dort hat der Fluß Silberlauf
seine eisigen Quellen.«
»Dunkel ist das Wasser des Kheled-zâram«, sagte Gimli, »und kalt sind
die Quellen des Kibil-nâla. Mein Herz zittert bei dem Gedanken, daß ich
sie vielleicht bald sehe.«
»Mögest du dich des Anblicks erfreuen, mein guter Zwerg!« sagte
Gandalf. »Aber was immer du tun magst, wir jedenfalls können in jenem
Tal nicht bleiben. Wir müssen entlang des Silberlaufs in die geheimen
Wälder gehen und auf diesem Wege zum Großen Strom, und dann ... «
Er hielt inne.
»Ja, und wohin dann?« fragte Merry.
»Zum Ziel unserer Wanderung — am Ende«, antwortete Gandalf. »Zu
weit voraus können wir nicht schauen. Laßt uns froh sein, daß wir den
ersten Abschnitt bewältigt haben. Ich glaube, wir werden hier rasten,
nicht nur tagsüber, sondern auch in der Nacht. Die Luft ist bekömmlich
in Hulsten. Viel Böses muß ein Land befallen, ehe es die Elben ganz ver-
gißt, die einstmals hier wohnten.«
»Das ist wahr«, sagte Legolas. »Doch gehörten die Elben dieses Landes
zu einem Volk, das uns, den Waldelben, fremd war, und die Bäume und
das Gras erinnern sich ihrer nicht mehr. Nur höre ich, wie die Steine um
sie klagen: tief gruben sie uns aus, schön verarbeiteten sie uns, hoch bau-
ten sie uns; aber sie sind fort. Sie sind fort. Vor langer Zeit suchten sie
die Anfurten.«
An jenem Morgen machten sie ein Feuer in einer tiefen Mulde, die ge-
schützt war durch große Hulstbüsche, und ihr Abendbrot-Frühstück war
das fröhlichste seit Bruchtal. Sie hatten es nicht eilig mit dem Schlafen,
denn sie erwarteten, daß sie die ganze Nacht würden durchschlafen kön-
nen, und vor dem Abend des nächsten Tages wollten sie nicht weiterge-
hen. Nur Aragorn war schweigsam und unruhig. Nach einer Weile ver-
ließ er die Gefährten und schlenderte auf den Kamm; dort stand er im
Schatten eines Baumes, schaute nach Süden und Westen und hielt den
Kopf, als ob er lausche. Dann kam er zum Rand der Mulde zurück und
blickte hinunter auf die anderen, die lachten und sich unterhielten.
»Was ist los, Streicher?« rief Merry hinauf. »Was suchst du? Vermißt
du den Ostwind?«
»Nein, wirklich nicht«, antwortete er. »Aber ich vermisse etwas. Ich
bin zu vielen Jahreszeiten im Lande Hulsten gewesen. Kein Volk wohnt
mehr hier, doch zu allen Zeiten viele andere Geschöpfe, vor allem Vögel.
Und doch sind jetzt alle Lebewesen außer euch still. Ich spüre das. Nichts
ist zu hören auf Meilen im Umkreis, und eure Stimmen scheinen ein Echo
im Boden hervorzurufen. Ich verstehe es nicht.«
Gandalf schaute auf, plötzlich interessiert. »Aber was, glaubst du,
könnte der Grund sein?« fragte er. »Steckt mehr dahinter als die Überra-
schung, vier Hobbits zu sehen, ganz zu schweigen von uns anderen, wo
Leute hier so selten gesehen oder gehört werden?«
»Ich hoffe, daß es das ist«, antwortete Aragorn. »Aber ich bin noch
von einem Gefühl der Wachsamkeit und Furcht erfüllt, das ich hier noch
nie gehabt habe.«
»Dann müssen wir vorsichtiger sein«, sagte Gandalf. »Wenn man
einen Waldläufer bei sich hat, dann tut man gut daran, auf ihn zu hören,
besonders wenn der Waldläufer Aragorn ist. Wir dürfen nicht mehr laut
reden, sondern müssen still sein und eine Wache aufstellen.«
Sam war an der Reihe, an jenem Tag die erste Wache zu übernehmen,
aber Aragorn gesellte sich zu ihm. Die ändern schliefen ein. Dann nahm
die Stille so zu, daß sogar Sam es merkte. Das Atmen der Schläfer
war deutlich zu hören. Das Schweifwedeln des Ponys und das gelegent-
liche Scharren seiner Füße wurden laute Geräusche. Sam konnte seine
eigenen Gelenke knacken hören, wenn er sich bewegte. Eine Totenstille
war um ihn, und über allem hing ein klarer, blauer Himmel, als die Sonne
vom Osten aus höher stieg. Weit im Süden erschien ein dunkler Fleck und
wuchs und zog nach Norden wie Rauch, der vom Wind getrieben wird.
»Was ist das, Streicher? Es sieht nicht wie eine Wolke aus«, sagte Sam
flüsternd zu Aragorn. Er antwortete nicht, sondern starrte gebannt auf
den Himmel; es dauerte nicht lange, da konnte auch Sam sehen, was sich
da näherte. Schwärme von Vögeln, die sehr schnell flogen, große Kreise
zogen und das ganze Land überspannten, als ob sie etwas suchten; und sie
kamen stetig näher.
»Leg dich flach und still hin«, zischte Aragorn und zog Sam in den
Schatten eines Hulstbaumes; denn eine ganze Schar hatte sich plötzlich
von dem Hauptschwarm abgesondert und flog in geringer Höhe auf den
Bergrücken zu. Sam hielt die Vögel für eine große Krähenart. Als sie
über ihren Köpfen hinwegflogen in einem so dichten Haufen, daß ihr
Schatten ihnen dunkel über den Boden unten folgte, hörte man ein rauhes
Krächzen.
Erst als sie fern im Norden und Westen verschwunden und der Himmel
wieder klar war, erhob sich Aragorn. Er sprang auf und weckte Gandalf.
»Scharen von schwarzen Krähen überfliegen das ganze Land zwischen
dem Gebirge und der Grauflut«, sagte er. »Sie haben auch Hulsten über-
flogen. Sie sind hier nicht heimisch; es sind crebain aus Fangorn und
Dunland. Ich weiß nicht, was sie vorhaben: möglicherweise fliehen sie
vor irgendwelchen Gefahren im Süden; aber ich glaube eher, daß sie das
Land auskundschaften. Ich habe auch viele Falken gesehen, die sehr hoch
flogen. Ich glaube, wir sollten heute abend weitergehen. Hulsten ist für
uns nicht länger sicher: es wird beobachtet.«
»Und der Rothornpaß dann ebenso«, sagte Gandalf. »Wie wir da hin-
überkommen sollen, ohne gesehen zu werden, kann ich mir nicht vorstel-
len. Aber darüber werden wir nachdenken, wenn es so weit ist. Daß wir
aufbrechen sollten, sobald es dunkel ist, damit hast du, fürchte ich,
recht.«
»Zum Glück hat unser Feuer nicht stark geraucht und war schon ziem-
lich heruntergebrannt, als die crebain kamen«, sagte Aragorn. »Es muß
ausgehen, und wir dürfen es nicht wieder anmachen.«
»Na, wenn das nicht abscheulich und ärgerlich ist!« sagte Pippin. Die
Neuigkeit: kein Feuer und nachts weitergehen, war ihm schonend beige-
bracht worden, als er am Spätnachmittag aufwachte. »Und alles wegen
eines Schwarms Krähen! Ich hatte mich auf eine wirklich gute Mahlzeit
heute abend gefreut: etwas Warmes!«
»Du kannst dich weiter darauf freuen«, sagte Gandalf. »Es mögen dir
noch viele unerwartete Festessen bevorstehen. Was mich betrifft, so hätte
ich gern eine Pfeife, um behaglich zu rauchen, und wärmere Füße. Eins
steht jedenfalls fest: es wird wärmer, wenn wir nach Süden kommen.«
»Zu warm, das würde mich nicht wundem«, sagte Sam leise zu Frodo.
»Aber ich finde es allmählich Zeit, daß wir den Feurigen Berg zu Gesicht
bekommen und das Ende der Straße sehen, sozusagen. Zuerst dachte ich,
es sei dieses Rothorn hier, oder wie immer es heißt, bis dann Gimli sein
Sprüchlein hersagte. Ganz schön zungenbrecherisch muß die Zwergensprache
sein!« Landkarten besagten Sam gar nichts, und alle Entfernungen in die-
sen fremden Landen waren so riesig, daß er sich gar nicht mehr zurecht-
fand.
Den ganzen Tag über hielt sich die Gemeinschaft versteckt. Immer wie-
der flogen die schwarzen Vögel über sie hinweg; aber als die Sonne rot
im Westen unterging, verschwanden sie nach Süden. In der Abenddäm-
merung machte sich die Gemeinschaft auf den Weg; sie wandten sich
halb nach Osten und hielten auf den Caradhras zu, der weit entfernt im
letzten Schein der verschwindenden Sonne schwach rot schimmerte. Ein
weißer Stern nach dem anderen kam heraus, als der Himmel verblaßte.
Unter Führung von Aragorn fanden sie einen guten Weg. Frodo kam
es vor, als sei er ein Überbleibsel einer alten Straße von Hulsten zum
Gebirgspaß, die einst breit und gut angelegt gewesen war. Der Mond, der
jetzt voll war, stieg über den Bergen auf und warf ein blasses Licht, in
dem die Schatten der Steine schwarz waren. Viele sahen aus, als ob sie
von Hand bearbeitet worden seien, obwohl sie jetzt durcheinandergewor-
fen und in Trümmern in einer unwirtlichen, kahlen Landschaft lagen.
Es war die kalte, schauerliche Stunde vor der Morgendämmerung, und
der Mond stand tief. Frodo schaute zum Himmel auf. Plötzlich sah oder
fühlte er, wie ein Schatten vor den Sternen vorbeizog, als ob sie einen
Augenblick verblaßten und dann wieder leuchteten. Ihm rann ein
Schauer über den Rücken.
»Hast du etwas vorüberziehen sehen?< flüsterte er Gandalf zu, der vor
ihm ging.
»Nein, aber ich fühlte es, was immer es war«, antwortete er. »Es mag
nichts gewesen sein, nur ein Wolkenfetzchen.«
»Dann ist es aber schnell dahingesegelt«, murmelte Aragorn, »und
nicht mit dem Wind.«
Nichts weiter geschah in jener Nacht. Der nächste Morgen wurde sogar
noch strahlender als der vorige. Aber es war wieder kalt; schon drehte
sich der Wind wieder auf Osten. Noch zwei Nächte marschierten sie wei-
ter und stiegen stetig, aber langsamer, denn ihr Weg kletterte in die Berge
hinauf, und das Gebirge türmte sich immer näher und näher auf. Am
dritten Morgen erhob sich der Caradhras vor ihnen, ein mächtiger Gipfel,
dessen Spitze mit Schnee wie mit Silber bedeckt war, dessen steile, kahle
Hänge aber dunkelrot wie mit Blut befleckt waren.
Der Himmel sah schwärzlich aus, und die Sonne war fahl. Der Wind
hatte jetzt auf Nordost gedreht. Gandalf schnupperte in der Luft und
schaute zurück.
»Es wird Winter hinter uns«, sagte er leise zu Aragorn. »Die Höhen
im Norden sind weißer, als sie waren; und der Schnee liegt weiter hinun-
ter auf ihren Hängen. Heute nacht werden wir hoch hinauf müssen zum
Rothornpaß. Auf dem schmalen Weg kann es sein, daß wir von Spähern
gesehen werden, und irgend etwas Böses mag uns auflauern; doch viel-
leicht erweist sich das Wetter als ein schrecklicherer Feind als alles an-
dere. Was hältst du jetzt von deinem Weg, Aragorn?«
Frodo hörte diese Worte mit an und entnahm daraus, daß Gandalf und
Aragorn eine schon sehr viel früher begonnene Beratung fortsetzten. Er
lauschte gespannt.
»Ich habe von Anfang bis zum Ende nicht viel von unserem Weg ge-
halten, das weißt du ganz genau, Gandalf«, antwortete Aragorn. »Und es
werden immer mehr bekannte und unbekannte Gefahren auftauchen, je
weiter wir gehen. Aber wir müssen weitergehen; und es hat keinen
Zweck, den Übergang über die Berge hinauszuzögern. Weiter südlich gibt
es keine Pässe mehr vor der Pforte von Rohan. Diesem Weg traue ich
nicht seit deinen Nachrichten über Saruman. Wer weiß, welcher Seite die
Marschälle der Herren der Rösser jetzt dienen?«
»Ja, wer weiß!« sagte Gandalf. »Aber es gibt noch einen Weg, und
zwar nicht über den Paß des Caradhras: den dunklen und geheimen Weg,
von dem wir gesprochen haben.«
»Aber laß uns nicht wieder davon sprechen! Noch nicht. Sage nichts
zu den anderen, ich bitte dich, nicht ehe es klar ist, daß es keinen anderen
Weg gibt.«
»Wir müssen uns entscheiden, ehe wir weitergehen«, antwortete Gan-
dalf.
»Dann wollen wir uns die Sache durch den Kopf gehen lassen, während
die anderen ruhen und schlafen«, sagte Aragorn.
Am späten Nachmittag, als die anderen ihr Frühstück beendeten, gin-
gen Gandalf und Aragorn zusammen beiseite und schauten zum Caradh-
ras hinüber. Seine Hänge waren jetzt dunkel und drohend, und der Gipfel
war von grauen Wolken verhangen. Frodo beobachtete die beiden und
fragte sich, welches Ergebnis die Beratung wohl haben werde. Als sie zu
der Gruppe zurückkehrten, sprach Gandalf, und Frodo wußte nun, daß
beschlossen worden war, das Wetter und den hohen Paß auf sich zu neh-
men. Er war erleichtert. Er konnte nicht erraten, welches der andere
dunkle und geheime Weg sei, aber seine bloße Erwähnung schien Ara-
gorn schon mit Schrecken erfüllt zu haben, und Frodo war froh, daß der
Plan aufgegeben worden war.
»Nach Anzeichen, die wir in letzter Zeit gesehen haben«, sagte Gan-
dalf, »fürchte ich, daß der Rothornpaß beobachtet wird. Und ich habe
auch Zweifel hinsichtlich des Wetters. Es mag Schnee geben. Wir müssen
so schnell gehen, wie wir nur können. Selbst dann werden wir zwei Mär-
sche brauchen, um die Höhe des Passes zu erreichen. Heute abend wird es
früh dunkel werden. Wir müssen aufbrechen, sobald ihr fertig seid.«
»Ich möchte noch ein Wort des Rats hinzufügen, wenn ich darf«, sagte
Boromir. »Ich bin unter dem Schatten des Weißen Gebirges geboren und
weiß einiges über Wanderungen in großen Höhen. Wir werden in bittere
Kälte geraten, wenn nicht in noch Schlimmeres, ehe wir auf der anderen
Seite wieder hinunter kommen. Es wird uns nichts nützen, wenn wir uns
so gut verbergen, daß wir dabei erfrieren. Wenn wir hier aufbrechen, wo
noch ein paar Bäume und Büsche wachsen, sollte jeder von uns ein Bündel
Brennholz mitnehmen, so groß, wie er es tragen kann.«
»Und Lutz könnte auch noch ein bißchen nehmen, nicht wahr, mein
Jung?« sagte Sam. Das Pony sah ihn traurig an.
»Sehr gut«, sagte Gandalf. »Aber wir dürfen das Holz nicht verwen-
den — nicht, sofern wir nicht vor die Wahl gestellt sind zwischen Feuer
und Tod.«
Die Gemeinschaft machte sich wieder auf den Weg und kam zuerst
rasch voran; aber bald wurde der Weg steil und schwierig. Der sich
schlängelnde und ansteigende Pfad war an vielen Stellen fast verschwun-
den und durch viele herabgestürzte Steine versperrt. Unter dicken Wolken
wurde die Nacht stockdunkel. Ein bitterkalter Wind fegte über die Felsen.
Um Mittemacht waren sie bis zu den Knien der hohen Berge gekommen.
Ihr schmaler Pfad zog sich jetzt unter einer senkrechten Felswand zu ihrer
Linken hin, über der sich die unheilvollen Flanken des Caradhras unsicht-
bar auftürmten; zu ihrer Rechten war ein Abgrund von Dunkelheit, denn
hier fiel das Gelände plötzlich in eine tiefe Schlucht ab.
Mühselig erklommen sie einen steilen Hang und hielten oben einen
Augenblick an. Frodo spürte eine sanfte Berührung auf seinem Gesicht.
Er streckte den Arm aus und sah, wie mattweiße Schneeflocken auf sei-
nen Ärmel niederfielen.
Sie gingen weiter. Aber es dauerte nicht lange, da schneite es heftig,
die ganze Luft war voll Schnee, der Frodo in die Augen wirbelte. Die
dunklen gebeugten Gestalten von Gandalf und Aragorn, die nur ein oder
zwei Schritte vor ihm gingen, waren kaum zu sehen.
»Das gefällt mir ganz und gar nicht«, keuchte Sam hinter ihm. »Schnee
ist gut an einem schönen Morgen, aber ich liege gern im Bett, wenn er
fällt. Ich wünschte, diese Menge ginge nach Hobbingen. Da würden sich
die Leute vielleicht freuen.« Außer in den Hochmooren des Nordviertels
waren heftige Schneefälle im Auenland selten und wurden als ein erfreu-
liches Ereignis und eine Gelegenheit zur Kurzweil angesehen. Kein leben-
der Hobbit (mit Ausnahme von Bilbo) konnte sich an den Grausamen
Winter von 1311 erinnern, als weiße Wölfe über den zugefrorenen Bran-
dywein ins Auenland eindrangen.
Gandalf blieb stehen. Der Schnee lag dick auf seiner Kapuze und seinen
Schultern; er reichte schon knöchelhoch an seine Stiefel.
»Das habe ich gefürchtet«, sagte er. »Was sagst du nun, Aragorn?«
»Daß ich es auch gefürchtet habe«, antwortete Aragorn, »aber weniger
als andere Dinge. Ich kannte die Gefahr des Schnees, obwohl es selten so
weit südlich so stark schneit, außer hoch oben im Gebirge; und wir sind
noch nicht hoch; wir sind noch weit unten, wo die Pfade gewöhnlich den
ganzen Winter über offen sind.«
»Ich frage mich, ob das eine List des Feindes ist«, sagte Boromir. »In
meinem Land heißt es, er könne die Stürme im Schattengebirge, das an
den Grenzen Mordors liegt, lenken. Er verrügt über seltsame Kräfte und
viele Verbündete.«
»Sein Arm ist wahrlich lang geworden«, sagte Gimli, »wenn er Schnee
vom Norden herabholen kann, um uns hier dreihundert Meilen entfernt
zu plagen.«
»Sein Arm ist lang geworden«, sagte Gandalf.
Während sie anhielten, hatte sich der Wind gelegt, und das Schneien
ließ nach, bis es fast aufhörte. Sie stapften weiter. Aber sie hatten nicht
mehr als eine Achtelmeile zurückgelegt, als der Sturm mit neuer Wut
wieder losbrach. Der Wind pfiff, und das Schneien wurde zu einem aus-
gewachsenen Schneesturm. Bald fiel selbst Boromir das Weitergehen
schwer. Die Hobbits, völlig zusammengekrümmt, quälten sich hinter den
größeren Leuten her, aber es war klar, daß sie nicht viel weiter gehen
konnten, wenn das Schneetreiben anhielt. Frodos Füße waren schwer wie
Blei. Pippin blieb zurück. Selbst Gimli, so zäh, wie nur irgendein Zwerg
sein konnte, murrte, als er sich vorwärtsschleppte.
Die Gemeinschaft blieb plötzlich stehen, als ob sie sich wortlos darüber
verständigt hätte. Sie hörten unheimliche Geräusche in der sie umgeben-
den Dunkelheit. Es mochte nur der Wind gewesen sein, der durch die
Spalten und Rinnen der Felswand heulte, aber es klang wie schrille
Schreie und wildes Gelächter. Steine begannen vom Berghang zu fallen,
über ihre Köpfe zu sausen oder neben ihnen auf den Pfad zu schlagen.
Immer wieder hörten sie ein dumpfes Rumpeln, als ob ein großer Ge-
steinsbrocken von den unsichtbaren Hängen über ihnen herabrollte.
»Wir können heute nacht nicht weitergehen«, sagte Boromir. »Soll das
Wind nennen, wer will; es sind grausame Stimmen in der Luft, und diese
Steine sind auf uns gezielt.«
»Ich nenne es Wind«, sagte Aragorn. »Aber dadurch wird das, was du
sagst, nicht unwahr. Es gibt viele böse und feindliche Wesen auf der
Welt, die zwar wenig Liebe empfinden für jene, die auf zwei Beinen ge-
hen, aber dennoch nicht mit Sauron verbündet sind, sondern ihre eigenen
Ziele verfolgen. Manche sind länger auf dieser Welt gewesen als er.«
»Caradhras wurde der Grausame genannt und hatte einen schlechten
Ruf«, sagte Gimli, »vor langen Jahren, als man in diesen Landen von
Sauron noch nichts vernommen hatte.«
»Es kommt wenig darauf an, wer der Feind ist, wenn wir seinen Angriff
nicht abschlagen können«, sagte Gandalf.
»Aber was können wir denn tun?« rief Pippin unglücklich. Er stützte
sich auf Merry und Frodo und zitterte.
»Entweder hierbleiben, wo wir sind, oder zurückgehen«, sagte Gandalf.
»Es hat keinen Zweck, weiterzugehen. Nur ein wenig höher, wenn ich
mich recht erinnere, verläßt dieser Pfad die Felswand und durchläuft eine
breite, flache Mulde am Fuß eines langen, steilen Hangs. Wir hätten dort
keinen Schutz vor Schnee oder Steinen — oder sonst irgendetwas.«
»Und es hat keinen Zweck, zurückzugehen, solange der Sturm anhält«,
sagte Aragorn. »Auf dem Weg herauf sind wir an keiner Stelle vorbei-
gekommen, die mehr Schutz bot als diese Felswand, unter der wir jetzt
sind.«
»Schutz!« murmelte Sam. »Wenn das Schutz ist, dann sind eine Wand
und kein Dach ein Haus.«
Die Gemeinschaft drängte sich jetzt so dicht an der Felswand zusam-
men, wie sie nur konnte. Sie lag nach Süden und sprang unten ein wenig
vor, so daß sie hofften, sie würde ihnen etwas Schutz vor den Nordwin-
den und vor fallenden Steinen bieten. Aber der Wind wirbelte von allen
Seiten, und der Schnee rieselte in immer dichteren Wolken herab.
Sie kauerten sich eng zusammen mit dem Rücken zur Felswand. Lutz,
das Pony, stand geduldig, aber niedergeschlagen vor den Hobbits und
schirmte sie ein wenig ab; aber es dauerte nicht lange, da reichte ihm der
angewehte Schnee bis über die Fesselgelenke, und es stieg ein wenig
höher. Wenn die Hobbits nicht größere Gefährten gehabt hätten, wären
sie bald völlig vom Schnee begraben gewesen.
Eine große Schläfrigkeit überkam Frodo; er fühlte, wie er rasch in
einen warmen und nebelhaften Traum versank. Er glaubte, ein Feuer
wärme seine Zehen, und aus den Schatten am anderen Ende des Kamins
hörte er Bilbos Stimme. Ich halte nicht viel von deinem Tagebuch, sagte
er. Schneestürme am zwölften Januar: du brauchtest nicht zurückzukom-
men, um mir das zu berichten!
Aber ich wollte mich ausruhen und schlafen, Bilbo, antwortete Frodo
mühsam, und dann merkte er, daß er geschüttelt wurde, und es war
schmerzlich, geweckt zu werden. Boromir hatte ihn aus einem Nest aus
Schnee aufgehoben.
»Das wird der Tod der Halblinge sein, Gandalf«, sagte Boromir. »Es ist
sinnlos, hier sitzenzubleiben, bis uns der Schnee über die Köpfe reicht.
Wir müssen etwas tun, um uns zu retten.«
»Gib ihnen das hier«, sagte Gandalf, kramte in seinem Rucksack und
holte eine Lederflasche heraus. »Gerade ein Schluck für jeden — für uns
alle. Es ist sehr kostbar. Es ist miruvor, der Heiltrank von Imladris.
Elrond gab ihn mir beim Abschied. Reich ihn herum!«
Kaum hatte Frodo ein wenig von dem warmen und würzigen Trank
geschluckt, spürte er neuen Mut in seinem Herzen, und die schwere
Schläfrigkeit verließ seine Glieder. Auch die anderen waren belebt und
schöpften neue Hoffnung und Kraft. Aber der Schnee ließ nicht nach. Er
wirbelte dichter denn je um sie her, und der Wind pfiff lauter.
»Was haltet ihr jetzt von Feuer?« fragte Boromir plötzlich. »Die Wahl
zwischen Feuer und Tod scheint jetzt nahe zu sein, Gandalf. Zweifellos
werden wir vor feindlichen Augen verborgen sein, wenn der Schnee uns
bedeckt, aber das wird uns nichts nützen.«
»Du kannst Feuer machen, wenn du es vermagst«, antwortete Gandalf.
»Wenn irgendwelche Beobachter da sind, die diesen Sturm ertragen kön-
nen, dann können sie uns mit oder ohne Feuer sehen.«
Aber obwohl sie auf Boromirs Rat Holz und Kienspäne mitgebracht
hatten, überstieg es die Fähigkeiten von Elben und selbst Zwergen, eine
Flamme zu schlagen, die sich in dem wirbelnden Wind hielt oder das
nasse Holz in Brand setzte. Schließlich legte Gandalf widerstrebend selbst
Hand an. Er nahm ein Reisigbündel auf, hielt es einen Augenblick hoch
und stieß dann mit einem befehlenden Wort, naur an edraith ammen!, sei-
nen Stab mitten hinein. Sofort schoß ein grüner und blauer Flammen-
strahl hervor, das Holz entflammte sich und knisterte.
»Wenn welche da sind, es zu sehen, dann habe zumindest ich mich
ihnen offenbart«, sagte er. »Ich habe Gandalf ist hier mit Zeichen ge-
schrieben, die alle lesen können von Bruchtal bis zu den Mündungen des
Anduin.«
Aber die Gruppe kümmerte sich nicht mehr um Beobachter oder feind-
liche Augen. Sie waren von Herzen froh, als sie den Schein des Feuers
sahen. Das Holz brannte fröhlich; und obwohl ringsum der Schnee
zischte und Schlammpfützen unter ihre Füße krochen, wärmten sie froh
ihre Hände an der Glut. Da standen sie und beugten sich im Kreis über
die kleinen tanzenden und flackernden Flammen. Ein roter Schein lag auf
ihren müden und ängstlichen Gesichtern; hinter ihnen war die Nacht wie
eine schwarze Wand.
Aber das Holz brannte schnell, und noch immer schneite es.
Das Feuer war heruntergebrannt und das letzte Reisigbündel daraufge-
worfen.
»Die Nacht geht ihrem Ende zu«, sagte Aragorn. »Die Morgendämme-
rung ist nicht mehr weit.«
»Wenn irgendein Morgen durch diese Wolken dämmern kann«, sagte
Gimli.
Boromir trat aus dem Kreis heraus und schaute hinauf in die Schwärze.
»Der Schnee wird weniger«, sagte er, »und der Wind läßt nach.«
Frodo schaute mißmutig auf die Flocken, die immer noch aus dem Dun-
kel fielen und im Lichte des sterbenden Feuers einen Augenblick weiß
aufleuchteten; doch lange konnte er kein Anzeichen dafür entdecken, daß
es weniger schneite. Dann plötzlich, als der Schlaf ihn wieder zu über-
mannen begann, merkte er, daß der Wind sich tatsächlich gelegt hatte
und die Flocken größer wurden, aber weniger dicht fielen. Sehr langsam
wurde es dämmrig. Schließlich hörte das Schneien ganz auf.
Als das Licht heller wurde, zeigte es eine schweigende, verhüllte Welt.
Unterhalb ihres Zufluchtsorts waren weiße Buckel und Kuppen und form-
lose Tiefen, unter denen der Pfad, den sie gekommen waren, völlig ver-
schwunden war; aber die Höhen über ihnen waren in dicken Wolken ver-
borgen, die noch mit viel Schnee drohten.
Gimli schaute hinauf und schüttelte den Kopf. »Caradhras hat uns noch
nicht vergeben«, sagte er. »Er wird noch mehr Schnee auf uns schleudern,
wenn wir weitergehen. Je schneller wir zurück- und hinuntergehen, um so
besser.«
Dem stimmten alle zu, aber der Rückzug war jetzt schwierig. Es war
nicht ausgeschlossen, daß er sich sogar als unmöglich erweisen würde.
Nur ein paar Schritte von der Asche ihres Feuers entfernt, lag der Schnee
viele Fuß hoch, höher als die Köpfe der Hobbits; stellenweise war er vom
Wind zusammengeschaufelt und zu großen Verwehungen vor der Fels-
wand aufgehäuft worden.
»Wenn Gandalf mit einer hellen Flamme vor uns hergehen würde,
könnte er vielleicht einen Pfad für uns schmelzen«, sagte Legolas. Der
Sturm hatte ihm wenig ausgemacht, und er allein von der ganzen Ge-
meinschaft war noch guten Muts.
»Wenn Elben über Berge zu fliegen vermögen, könnten sie die Sonne
holen, um uns zu retten«, antwortete Gandalf. »Aber ich muß etwas
haben, auf das ich einwirken kann. Schnee kann ich nicht verbrennen.«
»Nun«, meinte Boromir, »wenn Köpfe versagen, müssen Leiber herhal-
ten, wie es in meinem Lande heißt. Die Stärksten von uns müssen einen
Weg bahnen. Schaut! Obwohl jetzt alles schneebedeckt ist, zog sich unser
Pfad, den wir gekommen sind, dort drüben um jenen Felsvorsprung. Dort
war es, wo uns der Schnee zuerst zu schaffen machte. Wenn wir diesen
Punkt erreichen könnten, würde es dahinter wahrscheinlich leichter sein.
Es ist nicht mehr als eine Achtelmeile bis dahin, schätze ich.«
»Dann wollen wir beide einen Weg dahin bahnen«, sagte Aragorn.
Aragorn war der größte von der Gruppe, aber Boromir, der nur wenig
kleiner war, war breiter und kräftiger gebaut. Er ging voraus, und Ara-
gorn folgte ihm. Nur langsam kamen sie voran und mußten sich bald sehr
quälen. Stellenweise war der Schnee brusthoch, und oft schien Boromir
eher zu schwimmen oder mit seinen langen Armen zu graben als zu ge-
hen.
Legolas schaute ihnen eine Weile mit einem Lächeln auf den Lippen zu,
und dann wandte er sich an die anderen. »Die Stärksten müssen einen
Weg suchen, sagt ihr? Aber ich sage: laßt einen Pflüger pflügen, aber
wählt zum Schwimmen einen Otter aus und zum Laufen über Gras und
Blatt oder über Schnee — einen Elben.«
Damit sprang er leichtfüßig auf, und jetzt fiel Frodo auf, als ob er es
zum erstenmal sähe, obwohl er es lange gewußt hatte, daß der Elb keine
Stiefel trug, sondern nur leichte Schuhe wie sonst auch, und seine Füße
hinterließen wenig Eindrücke im Schnee.
»Leb wohl«, sagte er zu Gandalf. »Ich gehe die Sonne suchen!«
Dann schoß er, rasch wie ein Läufer über festen Sand, davon und über-
holte die sich mühselig vorwärtsarbeitenden Männer, winkte ihnen zu, als
er an ihnen vorbeikam, und verschwand in der Ferne hinter dem Felsen-
vorsprung.
Die anderen warteten zusammengekauert und schauten zu, bis Boromir
und Aragorn zu schwarzen Pünktchen in der Weiße wurden. Schließlich
waren sie gar nicht mehr zu sehen. Die Zeit verging. Die Wolken hingen
wieder tiefer, und jetzt wirbelten auch wieder einige Schneeflocken herab.
Eine Stunde war vielleicht verstrichen, obwohl es ihnen sehr viel länger
erschienen war, als sie endlich Legolas zurückkommen sahen. Gleichzeitig
tauchten auch Boromir und Aragorn weit hinter ihm an der Biegung auf
und quälten sich den Hang herauf.
»Ja«, rief Legolas, als er auf sie zulief, »die Sonne habe ich nicht mitge-
bracht. Sie ergeht sich in den blauen Gefilden des Südens, und eine kleine
Schneeverwehung auf dem Rothornbuckel ist ihr völlig gleichgültig.
Aber ich habe einen Hoffnungsstrahl für diejenigen mitgebracht, deren
Schicksal es ist, auf Füßen zu laufen. Die größte Schneeverwehung von
allen ist gerade dort an der Kehre, und da sind unsere starken Männer
beinahe begraben worden. Sie waren verzweifelt, bis ich zurückkam und
ihnen sagte, daß die Verwehung kaum breiter ist als eine Mauer. Und auf
der anderen Seite wird der Schnee plötzlich weniger, und weiter unter ist
es kaum mehr als eine weiße Bettdecke, um die Zehen eines Hobbits zu
kühlen.«
»Ach ja«, brummte Gimli, »es ist so, wie ich gesagt habe. Es war kein
gewöhnlicher Schneesturm. Es ist Caradhras' Bosheit. Er liebt Elben und
Zwerge nicht, und die Schneewehe hat er dahin gelegt, um uns den Flucht-
weg abzuschneiden.«
»Aber zum Glück hat dein Caradhras vergessen, daß ihr Menschen bei
euch habt«, sagte Boromir, der in eben dem Augenblick heraufkam.
»Und noch dazu mannhafte Menschen, wenn ich das sagen darf; obwohl
weniger tüchtige Männer mit Spaten euch vielleicht mehr genützt hätten.
Immerhin haben wir eine Gasse durch die Wehe gebahnt, und dafür kön-
nen uns alle dankbar sein, die nicht, so leicht dahinlaufen wie Elben.«
»Aber wie sollen wir bis dort unten kommen, selbst wenn ihr die
Wehe durchstoßen habt?« fragte Pippin und sprach damit das aus, was
alle Hobbits gedacht hatten.
»Habt Hoffnung«, antwortete Boromir. »Ich bin müde, aber etwas
Kraft habe ich noch, und Aragorn auch. Wir werden die kleinen Leute
tragen. Die anderen werden es auf dem von uns getretenen Pfad schon
schaffen. Komm, Herr Peregrin, mit dir werde ich den Anfang machen.«
Er hob den Hobbit hoch. »Halte dich an meinem Rücken fest! Meine
Arme werde ich brauchen!« sagte er und ging los. Aragorn kam mit
Merry hinterdrein. Pippin staunte über Boromirs Kraft, als er den Durch-
gang sah, den er ohne jedes Werkzeug nur mit seinen mächtigen Glied-
maßen gebahnt hatte. Selbst jetzt, beladen wie er war, verbreiterte er noch
die Spur für diejenigen, die nach ihm kamen, indem er im Gehen den
Schnee beiseite schob.
Sie kamen schließlich zu der großen Wehe. Sie lag quer zu dem Berg-
pfad und war wie eine steile Mauer, deren obere Kante scharf wie mit
Messern geschnitten war, und die sich mehr als doppelt so hoch erhob wie
Boromirs Körpergröße; und in der Mitte war ein Durchgang getreten, der
wie eine Brücke hinauf- und wieder hinabführte. Am anderen Ende wur-
den Merry und Pippin abgesetzt, und dort warteten sie mit Legolas auf
die anderen.
Nach einer Weile kam Boromir mit Sam zurück. Hinter ihm kam auf
dem schmalen, aber jetzt gut ausgetretenen Pfad Gandalf; er führte Lutz,
auf dem Gimli inmitten des Gepäcks hockte. Als letzter kam Aragorn,
der Frodo trug. Sie gingen durch die schmale Gasse; aber kaum hatte
Frodo den Boden berührt, als mit lautem Gerumpel eine Stein- und
Schneelawine herabstürzte. Ihr Stäuben machte die Gemeinschaft, die sich
vor der Felswand zusammenkauerte, halb blind, und als die Luft wieder
klar war, sahen sie, daß der Pfad hinter ihnen verschüttet war.
»Genug! Genug!« rief Gimli. »Wir gehen ja schon, so schnell wir kön-
nen!« Und mit diesem letzten Streich schien die Bosheit des Berges in der
Tat erschöpft zu sein, als ob Caradhras befriedigt sei, daß die Eindring-
linge zurückgeschlagen waren und nicht wagen würden, wiederzukom-
men. Es hörte auf zu schneien, die Wolken begannen aufzureißen, und es
wurde heller.
Wie Legolas gesagt hatte, wurde der Schnee immer weniger, je tiefer
sie kamen, so daß selbst die Hobbits laufen konnten. Bald standen sie
wieder an dem flachen Vorsprung oberhalb des steilen Hangs, wo es in
der Nacht zuerst zu schneien begonnen hatte.
Es war jetzt schon spät am Morgen. Von diesem hohen Punkt aus
schauten sie nach Westen über das tiefere Gelände. Weit in der Ferne lag
am Fuße des Berges die Mulde, von der aus sie aufgestiegen waren, um
den Paß zu erreichen.
Frodo taten die Beine weh. Er war durchfroren bis auf die Knochen und
hungrig; und ihm schwindelte, als er an den langen und mühseligen
Abstieg dachte. Schwarze Flecken schwammen ihm vor den Augen. Er
rieb sich die Augen, aber die schwarzen Flecken blieben. In der Ferne
unter ihm, aber immer noch hoch über den niedrigeren Vorbergen, kreis-
ten schwarze Punkte in der Luft.
»Da sind die Vögel wieder«, sagte Aragorn und zeigte nach unten.
»Das läßt sich jetzt nicht ändern«, sagte Gandalf. »Mögen sie gut oder
böse sein oder überhaupt nichts mit uns zu tun haben, wir jedenfalls
müssen sofort hinunter. Nicht einmal an den Knien des Caradhras wollen
wir noch eine Nacht abwarten!«
Ein kalter Wind blies hinter ihnen her, als sie dem Rothompaß den
Rücken wandten und müde den Hang hinunterstolperten. Caradhras hatte
sie besiegt.