ZWEITES KAPITEL
DER RAT VON ELROND

Am nächsten Tag wachte Frodo früh auf und fühlte sich frisch und
munter. Er erging sich auf den Terrassen über dem lautfließenden Brui-
nen und beobachtete, wie die blasse, kühle Sonne über dem fernen Ge-
birge aufging und ihre schrägen Strahlen durch den dünnen, silbrigen
Nebel schickte; der Tau auf den gelben Blättern flimmerte, und die Fäden
des Altweibersommers glitzerten auf jedem Busch. Sam ging neben ihm,
sagte nichts, sondern schnupperte in der Luft und blickte immer wieder
voll Staunen auf die hohen Berge im Osten. Der Schnee war weiß auf
ihren Gipfeln.
Auf einer in den Fels gehauenen Sitzbank an einer Biegung des Pfads
fanden sie Gandalf und Bilbo ins Gespräch vertieft. »Hallo! Guten Mor-
gen!« sagte Bilbo. »Bist du bereit für den großen Rat?«
»Ich bin zu allem bereit«, antwortete Frodo. »Aber am liebsten würde
ich heute Spazierengehen und das Tal erkunden. In diese Kiefernwälder
dort oben würde ich gern gehen.« Er zeigte weit hinauf gen Norden.
»Vielleicht hast du später Gelegenheit«, sagte Gandalf. »Aber noch
können wir keine Pläne machen. Heute gibt es viel zu hören und zu ent-
scheiden.«
Plötzlich, während sie sich noch unterhielten, erklang ein einzelner kla-
rer Glockenton. »Das ist das Glockenzeichen für Elronds Rat«, rief Gan-
dalf. »Kommt nun. Bilbo und du, ihr werdet beide erwartet.«
Frodo und Bilbo folgten dem Zauberer rasch über den gewundenen
Pfad zurück zum Haus, und hinter ihnen marschierte Sam, unaufgefordert
und im Augenblick vergessen.
Gandalf führte sie zu dem Söller, wo Frodo am Abend zuvor seine
Freunde gefunden hatte. Das Licht des klaren Herbstmorgens leuchtete
jetzt im Tal. Das Geräusch von sprudelndem Wasser stieg aus dem schäu-
menden Flußbett auf. Vögel sangen, und ein wohltuender Frieden lag über
dem Land. Frodo kamen seine gefährliche Flucht und die Gerüchte über die
zunehmende Dunkelheit in der Welt draußen nur noch wie Erinnerungen
an einen bösen Traum vor; doch die Gesichter, die sich ihnen zuwandten,
als sie eintraten, waren ernst.
Elrond war da, und verschiedene andere saßen schweigend um ihn
herum. Frodo sah Glorfindel und Glóin; und allein in einer Ecke saß
Streicher, der wieder seine abgetragene Wanderkleidung angelegt hatte.
Elrond zog Frodo auf einen Stuhl neben sich und stellte ihn den Anwe-
senden vor, indem er sagte:
»Hier, meine Freunde, ist der Hobbit Frodo, Drogos Sohn. Wenige sind
je unter größeren Gefahren oder mit einem dringenderen Auftrag hierher
gekommen.«
Dann wies er auf jene, die Frodo noch nicht kannte, und nannte ihre
Namen. Da war ein jüngerer Zwerg an Glóins Seite: sein Sohn Gimli.
Außer Glorfindel waren noch mehrere andere Ratgeber von Elronds Haus
da, unter denen Erestor der ranghöchste war; neben ihm saß Galdor, ein
Elb von den Grauen Anfurten, der mit einem Auftrag von Cirdan, dem
Schiffbauer, gekommen war. Auch ein fremder Elb war da, in grün und
braun gekleidet, Legolas, ein Bote seines Vaters Thranduil, des Königs der
Elben vom Nördlichen Düsterwald. Und etwas abseits saß ein hochge-
wachsener Mann mit einem schönen und edlen Gesicht, dunkelhaarig und
grauäugig, und einem stolzen und ernsten Blick.
Er trug Mantel und Stiefel wie für eine Reise zu Pferde; und obwohl
seine Kleidung reich war und sein Mantel mit Pelz besetzt, wiesen sie
Spuren einer langen Wanderschaft auf. Er hatte einen Kragen aus Silber,
in dem ein einziger weißer Stein prangte. An einem Gehenk trug er ein
großes, silberbeschlagenes Horn, das jetzt auf seinen Knien lag. Er be-
trachtete Frodo und Bilbo voll plötzlichem Staunen.
»Hier«, sagte Elrond und wandte sich an Gandalf, »ist Boromir,
ein Mensch aus dem Süden. Er traf heute vor Tau und Tag ein und fragt
um Rat. Ich habe ihn gebeten, an unserer Besprechung teilzunehmen,
denn hier werden seine Fragen beantwortet werden.«
Nicht alles, was im Rat besprochen und erörtert wurde, braucht hier
berichtet zu werden. Vieles wurde gesagt über Ereignisse in der Welt
draußen, besonders im Süden und in den weiten Landen östlich des Gebir-
ges. Über diese Dinge hatte Frodo schon viele Gerüchte gehört; doch die
Erzählung von Glóin war ihm neu, und als der Zwerg sprach, lauschte er
aufmerksam. Es zeigte sich, daß bei allem Glanz ihrer handwerklichen
Arbeit die Herzen der Zwerge vom Einsamen Berg voll Sorge waren.
»Es ist jetzt viele Jahre her«, sagte Glóin, »daß ein Schatten der Unruhe
auf unser Volk fiel. Woher er kam, haben wir zuerst nicht erkannt. Worte
wurden heimlich geflüstert: es hieß, wir seien auf engem Raum einge-
schlossen und größerer Reichtum und Glanz würde in einer weiteren Welt
gefunden werden. Manche sprachen von Moria: den gewaltigen Werkstät-
ten unserer Väter, die in unserer eigenen Sprache Khazad-dûm genannt
werden; und sie behaupteten, wir hätten endlich die Macht und seien
zahlreich genug, um zurückzukehren.«
Glóin seufzte. »Moria! Moria! Das Wunder der Nördlichen Welt! Zu
tief gruben wir dort und weckten das namenlose Grauen. Lange haben
Morias gewaltige Behausungen leer gestanden, seit Durins Kinder flohen.
Aber jetzt sprachen wir wieder voll Sehnsucht davon, und doch voll
Furcht; denn kein Zwerg hat zu vieler Könige Lebzeiten gewagt, die Tore
von Khazad-dûm zu durchschreiten, mit Ausnahme von Thrór allein,
und er ging zugrunde. Schließlich hörte Balin jedoch auf das Geflüster
und beschloß, zu gehen; und obwohl Dáin es nicht gern erlaubte, nahm er
Ori und Óin und viele von unserem Volk mit, und sie machten sich auf
nach Süden.
Das war vor fast dreißig Jahren. Eine Zeitlang erhielten wir Nachrich-
ten, und sie klangen gut: Die Botschaften besagten, daß sie Moria betre-
ten und dort große Arbeiten begonnen hätten. Dann trat Schweigen ein,
und kein Wort ist seitdem mehr aus Moria gekommen.
Dann erschien vor etwa einem Jahr ein Bote bei Dáin, aber nicht aus
Moria — aus Mordor: ein Reiter in der Nacht, der Dáin an sein Tor rief.
Der Herr Sauron der Große, sagte er, wünsche unsere Freundschaft. Ringe
würde er dafür geben, wie er sie einst gegeben hatte. Und der Bote be-
drängte uns mit Fragen nach Hobbits, von welcher Art sie seien und wo
sie wohnten. >Denn Sauron weiß<, sagte er, daß >einer von ihnen euch
einmal bekannt war<.
Darüber waren wir sehr beunruhigt, und wir gaben keine Antwort.
Und dann senkte er seine grausame Stimme, und er hätte sie weicher
gemacht, wenn er gekonnt hätte. >Als ein kleines Zeichen eurer Freund-
schaft erbittet Sauron folgendes< sagte er: >daß ihr den Dieb findet< —
das war sein Ausdruck — >und ihm, ob er will oder nicht, einen kleinen
Ring abnehmt, den unbedeutendsten aller Ringe, den er einst gestohlen
hat. Es ist nur eine Kleinigkeit, die Sauron möchte, und ein Unterpfand
für euren guten Willen. Findet ihn, und drei Ringe, die die Zwergenfür-
sten einst besaßen, sollen euch zurückgegeben werden, und das Reich
Moria soll auf immerdar euer sein. Besorgt nur Nachrichten über den
Dieb, ob er noch lebt und wo, und ihr werdet reichen Lohn erhalten und
die dauernde Freundschaft des Gebieters. Weigert ihr euch, dann wird es
nicht so gut aussehen. Weigert ihr euch?<
Als er so gesprochen hatte, war sein Atem wie das Zischen einer
Schlange, und allen, die in der Nähe standen, lief es kalt über den Rük-
ken, aber Dáin antwortete: >Ich sage weder ja noch nein. Ich muß über
diese Botschaft nachdenken und über das, was sie unter ihrem schönen
Deckmantel bedeutete
>Denke gut nach, aber nicht zu lange<, sagte er.
>Es ist meine Sache, wie lange ich nachdenke !<, antwortete Dáin.
>Vorläufig<, sagte der Bote und ritt in die Dunkelheit.
Bedrückt waren die Herzen unserer Häuptlinge seit jener Nacht. Es be-
durfte nicht der grausamen Stimme des Boten, um uns zu warnen, daß
seine Worte sowohl eine Drohung als auch Falschheit enthielten; denn
wir wußten bereits, daß sich die Macht, die wieder nach Mordor zurück-
gekehrt ist, nicht geändert hat, und seit alters her hat sie uns getäuscht.
Zweimal ist der Bote wiedergekommen und ohne Antwort geblieben. Das
dritte und letzte Mal, so sagt er, wird bald sein, ehe das Jahr endet.
Und so bin ich schließlich von Dáin ausgesandt worden, um Bilbo zu
warnen, daß er vom Feind gesucht wird, und um nach Möglichkeit zu er-
fahren, warum ER diesen Ring haben will, den unbedeutendsten aller
Ringe. Außerdem erbitten wir Elronds Rat. Denn der Schatten wächst
und zieht näher. Wir erfahren, daß Boten auch zu König Brand in Thai
gekommen sind, und daß ihn Angst erfüllt. Wir befürchten, daß er nach-
geben könnte. Schon droht der Krieg an seiner Ostgrenze. Wenn wir
keine Antwort geben, kann es sein, daß der Feind Menschen, die unter
seiner Herrschaft stehen, veranlaßt, König Brand und auch Dáin anzu-
greifen.«
»Ihr habt gut daran getan, herzukommen«, sagte Elrond. »Ihr werdet
heute alles hören, dessen Ihr bedürft, um die Absichten des Feindes zu
begreifen. Nichts anderes könnt Ihr tun als Widerstand leisten, mit oder
ohne Hoffnung. Aber Ihr steht nicht allein. Ihr werdet erfahren, daß
Eure Sorgen nur Teil der Sorgen der ganzen westlichen Welt sind. Der
Ring! Was sollen wir mit dem Ring tun, dem unbedeutendsten von allen
Ringen, mit der Kleinigkeit, die Sauron haben möchte? Das ist die Ent-
scheidung, die wir fällen müssen.
Zu diesem Zweck habe ich Euch hierher gerufen. Gerufen, sage ich,
obwohl ich Euch, Fremde aus fernen Ländern, nicht zu mir gerufen habe.
Ihr seid hergekommen und habt Euch, wie es scheinen mag, durch Zufall
gerade zur rechten Zeit hier eingefunden. Dennoch ist es nicht so. Glaubt
eher, daß es eine Fügung ist, daß wir, die wir hier sitzen, und niemand
anderes jetzt Rat finden müssen, um den Gefahren der Welt zu begegnen.

Daher soll jetzt offen über die Dinge gesprochen werden, die bis zum
heutigen Tage allen außer wenigen verborgen geblieben sind. Und zuerst
soll, damit alle verstehen können, worin die Gefahr liegt, die Geschichte
des Ringes von Anfang an bis jetzt erzählt werden. Und ich werde mit
diesem Bericht beginnen, obwohl andere ihn beenden sollen.«
Alle hörten dann zu, als Elrond mit seiner klaren Stimme von Sauron
sprach und von den Ringen der Macht und wie sie im langvergangenen
Zweiten Zeitalter der Welt geschmiedet worden waren. Ein Teil der Bege-
benheiten war einigen hier bekannt, die ganze Geschichte aber niemandem,
und viele Augen blickten voll Furcht und Staunen auf Elrond, als er von
den Elbenschmieden von Eregion erzählte und von ihrer Freundschaft mit
Moria und ihrer Wißbegierde, wodurch Sauron sie umgarnte. Denn zu
jener Zeit war er noch nicht als böse anzusehen, und sie nahmen seine
Hilfe an und erlangten gewaltige Fertigkeiten, während er alle ihre
Geheimnisse kennenlernte und sie täuschte und heimlich im Feurigen Berg
den Einen Ring schmiedete, um sie zu beherrschen. Aber Celebrimbor war
auf der Hut vor ihm und versteckte die Drei, die er gemacht hatte; und es
gab Krieg, und das Land wurde verwüstet und das Tor von Moria ge-
schlossen.
Dann spürte er in all den Jahren, die folgten, dem Ring nach, aber da
diese Geschichte anderswo erzählt ist und Elrond sie selbst in seinen Ge-
schichtsbüchern aufgezeichnet hatte, soll sie hier nicht wiederholt werden.
Denn es ist eine lange Erzählung über große und entsetzliche Taten, und so
kurz sich Elrond auch faßte, so stieg die Sonne doch hoch am Himmel, und
der Vormittag verging, ehe er endete.
Von Númenor sprach er, von seinem Ruhm und Sturz und der Rück-
kehr der Könige der Menschen nach Mittelerde aus den Tiefen des Mee-
res, getragen von den Flügeln des Sturms. Dann wurden Elendil der
Große und seine mächtigen Söhne Isildur und Anárion große Herrscher;
und sie errichteten das Nordreich in Amor und das Südreich in Gondor
an den Mündungen des Anduin. Doch Sauron von Mordor überfiel sie,
und sie schlössen das Letzte Bündnis zwischen Elben und Menschen, und
die Heerscharen von Gil-galad und Elendil sammelten sich in Amor.
Dann hielt Elrond eine Weile inne und seufzte. »Ich entsinne mich sehr
wohl der Pracht ihrer Banner«, sagte er. »Es erinnerte mich an den
Glanz der Altvorderenzeit und an die Heere Beleriands, denn so viele
große Fürsten und Hauptleute waren versammelt. Und doch waren es
nicht so viele oder so edle wie damals, als Thangorodrim bezwungen
wurde und die Elben glaubten, das Böse habe für immer ein Ende, und
dem nicht so war.«
»Daran erinnert Ihr Euch?« fragte Frodo und sprach in seiner Verblüf-
fung laut aus, was er dachte. »Ich hatte geglaubt«, stammelte er, als
Elrond sich zu ihm umwandte, »ich hatte geglaubt, daß Gil-galads Sturz
schon vor langer Zeit war.«
»Das ist auch richtig«, antwortete Elrond ernst. »Aber meine Erinne-
rung reicht zurück bis zur Altvorderenzeit. Eärendil war mein Vater, und
er war in Gondolin geboren, bevor es fiel, und meine Mutter war Elwing,
die Tochter Diors, des Sohnes von Lúthien von Doriath. Ich habe drei
Zeitalter im Westen erlebt, und viele Niederlagen und viele fruchtlose
Siege.
Ich war Gil-galads Herold und zog aus mit seinem Heer. Ich war
bei der Schlacht von Dagorlad vor dem Schwarzen Tor von Mordor, wo
wir Sieger blieben. Denn dem Speer von Gil-galad und dem Schwert von
Elendil, Aiglos und Narsil, konnte niemand widerstehen. Ich sah den
letzten Kampf auf den Hängen des Orodruin, wo Gil-galad starb und
Elendil fiel und Narsil unter ihm zerbrach; doch Sauron wurde überwäl-
tigt, und Isildur schnitt den Ring von seiner Hand mit dem geborstenen
Heft vom Schwert seines Vaters und nahm ihn für sich.«
Hier unterbrach ihn der Fremde, Boromir. »So, das ist also aus dem
Ring geworden!« rief er. »Wenn je im Süden eine solche Geschichte er-
zählt worden ist, dann ist sie längst vergessen. Ich habe von dem Großen
Ring dessen, den wir nicht nennen, gehört; doch glaubten wir, er sei beim
Untergang seines ersten Reichs aus der Welt verschwunden. Isildur nahm
ihn also! Das ist wahrlich eine Neuigkeit!«
»ja, leider«, sagte Elrond. »Isildur nahm ihn, was nicht hätte sein dür-
fen. Er hätte damals in das Feuer des nahe gelegenen Orodruin geworfen
werden sollen, wo er gemacht worden war. Aber wenige bemerkten, was
Isildur tat. Er allein stand seinem Vater bei dem letzten tödlichen Kampf
bei; und Gil-galad standen nur Cirdan und ich bei. Doch wollte Isildur
auf unseren Rat nicht hören.
>Den will ich als Wergeld haben für meinen Vater und meinen Brüdern,
sagte er; und daher nahm er ihn, ob wir wollten oder nicht, zum Anden-
ken. Doch bald wurde er durch den Ring betrogen und fand den Tod; und
so wurde der Ring im Norden Isildurs Fluch genannt. Indes war der Tod
vielleicht besser als das, was ihm sonst hätte widerfahren können.
Nur in den Norden gelangte diese Nachricht, und nur wenige erfuhren
sie. Kein Wunder, daß Ihr nicht davon gehört habt, Boromir. Von dem
Verhängnis auf den Schwertelfeldern, wo Isildur fiel, kamen nach langen
Wanderungen über das Gebirge nur drei Mann zurück. Einer von ihnen
war Ohtar, Isildurs Schildknappe, und er brachte die Bruchstücke von
Elendils Schwert mit; er gab sie Valandil, Isildurs Erben, der, da er noch
ein Kind war, in Bruchtal geblieben war. Aber Narsil war geborsten und
sein Licht war ausgelöscht, und es ist bisher nicht wieder geschmiedet
worden.
Fruchtlos nannte ich den Sieg des Letzten Bündnisses? Ganz so war es
nicht, wenn auch das Ziel nicht erreicht wurde. Sauron war geschwächt,
doch nicht vernichtet. Sein Ring war verloren, doch nicht zerstört. Der
Schwarze Turm war geschleift, doch seine Grundmauern standen noch;
denn sie waren mit der Macht des Ringes gebaut worden, und solange er
da ist, bleiben sie erhalten. Viele Elben und viele mächtige Menschen und
viele ihrer Freunde gingen im Kriege zugrunde. Anárion wurde erschla-
gen und Isildur wurde erschlagen; und Gil-galad und Elendil waren nicht
mehr. Niemals wieder wird es ein solches Bündnis zwischen Elben und
Menschen geben; denn die Menschen nehmen an Zahl zu, und die Erstge-
borenen nehmen an Zahl ab, und die beiden Sippen sind einander ent-
fremdet. Und seit jenem Tage ist das Geschlecht von Númenor kraftloser
geworden, und seine Lebensspanne hat sich vermindert.
Nach dem Krieg und dem Gemetzel auf den Schwertelfeldern waren im
Norden die Menschen von Westernis geschwächt, und ihre Stadt Annú-
minas am See Evendim fiel in Trümmern; und Valandils Erben zogen von
dannen und lebten in Fornost an den Nordhöhen, und auch das liegt
heute verlassen. Die Menschen nennen die Höhen Totendeich und fürch-
ten sich, dort zu wandern. Denn das Volk von Amor schwand dahin und
wurde von seinen Feinden verschlungen, seine Herrschaft verging, und
nichts blieb zurück als grüne Grabhügel auf den grasbewachsenen Bergen.
Im Süden hielt sich das Reich Gondor lange; und eine Zeitlang nahm
sein Glanz zu und rief gleichsam die Macht von Númenor vor dessen
Sturz in Erinnerung. Hohe Türme baute jenes Volk und starke Festen und
Anfurten für viele Schiffe; und die geflügelte Krone der Könige der Men-
schen flößte Völkern vieler Zungen ehrfürchtige Scheu ein. Ihre Haupt-
stadt war Osgiliath, die Zitadelle der Sterne, durch deren Mitte der Strom
floß. Und Minas Ithil bauten sie, die Feste des Aufgehenden Mondes, öst-
lich auf einem Ausläufer des Schattengebirges; und westlich am Fuße des
Weißen Gebirges errichteten sie Minas Anor, die Feste der Untergehen-
den Sonne. Dort in den Höfen des Königs wuchs ein weißer Baum aus
dem Samen jenes Baumes, den Isildur über das tiefe Wasser gebracht
hatte und dessen Samen früher aus Eressea gekommen war, und davor
aus dem Äußersten Westen in der Zeit vor den Zeiten, als die Welt jung
war.
Aber das Geschlecht von Meneldil, Anárions Sohn, starb aus im Laufe
der flüchtigen Jahre von Mittelerde, und der Baum verdorrte, und das
Blut der Númenorer vermischte sich mit dem von geringeren Men-
sehen. Dann war die Wache auf den Mauern von Mordor nachlässig, und
finstere Wesen krochen zurück nach Gorgoroth. Und eines Tages erschie-
nen böse Geschöpfe und nahmen Minas Ithil und wohnten dort, und
sie machten eine Stätte des Entsetzens daraus; und es wurde Minas Mor-
gul genannt, die Feste der Magie. Dann wurde Minas Anor in Minas
Tirith unbenannt, die Feste der Wachsamkeit; und diese beiden Städte
führten immer gegeneinander Krieg. Doch Osgiliath, das zwischen
ihnen lag, war verlassen, und in seinen Ruinen gingen Schatten um.
So ist es seit vielen Menschenleben gewesen. Doch die Herrscher von
Minas Tirith kämpfen immer noch, trotzen unseren Feinden und halten
den Fluß offen von Argonath bis zum Meer. Und jetzt endet der Teil der
Geschichte, den ich erzählen wollte. Denn in den Tagen Isildurs ver-
schwand der Beherrschende Ring, und niemand wußte etwas über ihn,
und die Drei wurden frei von seinem Einfluß. Doch nun in letzter Zeit
sind sie wiederum in Gefahr, weil zu unserem Kummer der Eine wieder-
gefunden worden ist. Andere sollen darüber berichten, wie er gefunden
wurde, denn ich habe dabei nur eine kleine Rolle gespielt.«
Er schwieg, und sofort erhob sich Boromir und stand groß und stolz
vor ihnen. »Erlaubt mir, Herr Elrond«, sagte er, »zuerst noch etwas
über Gondor zu sagen; denn ich komme wahrlich aus dem Lande Gondor.
Und es wäre gut, wenn alle wüßten, was dort vor sich geht. Wenige,
glaube ich, wissen von unseren Taten und ahnen kaum, in welcher Gefahr
sie wären, wenn wir zuletzt unterlägen.
Glaubt nicht, daß im Lande Gondor das Blut von Númenor kraftlos
sei oder all sein Stolz und seine Würde vergessen. Durch unsere Beherzt-
heit wird dem wilden Volk des Ostens noch Einhalt geboten und der
Schrecken von Mordor in Schach gehalten; und allein dadurch werden
Frieden und Freiheit bewahrt in den Ländern hinter uns, die wir das Boll-
werk des Westens sind. Aber wenn dem Feind die Übergänge über den
Fluß in die Hände fallen, was dann?
Und diese Stunde ist jetzt vielleicht nicht mehr fern. Der Namenlose
Feind hat sich wieder erhoben. Rauch steigt von neuem aus dem Orodruin
auf, den wir Schicksalsberg nennen. Die Macht des Schwarzen Landes
wächst, und wir sind schwer bedrängt. Als der Feind zurückkehrte,
wurde unser Volk aus Ithilien vertrieben, unserem schönen Gebiet östlich
des Stroms, obwohl wir dort eine feste Stellung und bewaffnete Macht
unterhielten. Doch in eben diesem Jahr, in den Tagen des Juni, wurden
wir plötzlich von Mordor mit Krieg überzogen, und wir wurden hinweg-
gefegt. Wir waren zahlenmäßig unterlegen, denn Mordor verbündete sich
mit den Ostlingen und den grausamen Haradrim; doch nicht durch die
Überzahl wurden wir besiegt. Es war eine Macht da, die wir früher nie ge-
spürt hatten.
Manche sagen, man habe sie sehen können wie einen großen schwarzen
Reiter, einen dunklen Schatten unter dem Mond. Wo immer er hinkam,
wurden unsere Feinde von Raserei gepackt, doch Furcht befiel selbst die
kühnsten unter uns, so daß Roß und Reiter zurückwichen und flohen. Nur
ein Rest unserer Heere im Osten kehrte zurück und zerstörte die letzte
Brücke, die noch inmitten der Trümmer von Osgiliath stand.
Ich gehörte zu der Schar, die die Brücke besetzt hielt, bis sie hinter uns
zusammenbrach. Nur vier konnten sich schwimmend retten: mein Bruder
und ich und zwei andere. Aber noch kämpften wir weiter und hielten das
ganze westliche Ufer des Anduin; und jene, die hinter uns Schutz fanden,
spenden uns Lob, wann immer sie unseren Namen hören: viel Lob, aber
wenig Hilfe. Nur von Rohan werden noch Männer zu uns reiten, wenn
wir rufen.
In dieser bösen Stunde habe ich viele gefährliche Wegstrecken zurück-
gelegt, um als Botschafter zu Elrond zu kommen: hundertundzehn
Tage bin ich ganz allein unterwegs gewesen. Aber ich suche nicht Ver-
bündete im Krieg. Elronds Macht beruht auf Weisheit, nicht auf Waffen,
heißt es. Ich komme, um Rat zu erbitten und die Enträtselung schwieriger
Wörter. Denn am Vorabend des plötzlichen Überfalls hatte mein Bruder
in unruhigem Schlaf einen Traum; und später träumte er denselben
Traum noch oft, und einmal auch ich.
In diesem Traum war mir, als würde der östliche Himmel dunkel und
ein Unwetter zöge näher, doch stand im Westen noch ein bleiches Licht,
und aus dem Licht hörte ich eine Stimme, fern, doch klar, die rief:

Das geborstne Schwert sollt ihr suchen,
Nach Imladris ward es gebracht,
Dort soll euch Ratschlag werden,

Stärker als Morgul-Macht.
Ein Zeichen soll euch künden,

Das Ende steht bevor,
Denn Isildurs Fluch wird erwachen,

Und der Halbling tritt hervor.

Von diesen Worten verstanden wir wenig, und wir sprachen mit unse-
rem Vater Denethor, dem Herrn von Minas Tirith, der beschlagen ist in
Gondors Überlieferungen. Nur das wollte er sagen, daß die Elben seit
alters her ein Tal im hohen Norden Imladris nennen, wo Elrond und Halb-
elben lebten, die größten unter den Wissenden. Da mein Bruder sah, wie
verzweifelt unsere Not war, wollte er auf den Traum hören und Imladris
suchen; weil aber der Weg schwierig und gefährlich war, nahm ich die
Fahrt auf mich. Ungern gab mein Vater seine Einwilligung, und lange bin
ich gewandert über vergessene Straßen und habe Elronds Haus gesucht,
von dem viele gehört hatten, aber wenige wußten, wo es liegt.«
»Und hier in Elronds Haus soll Euch mehr klar werden«, sagte Ara-
gorn und stand auf. Er warf sein Schwert auf den Tisch, der vor Elrond
stand, und die Klinge war in zwei Stücken. »Hier ist das geborstene
Schwert!« sagte er.
»Und wer seid Ihr, und was habt Ihr mit Minas Tirith zu schaffen?«
fragte Boromir und blickte voll Staunen auf das hagere Gesicht des Wald-
läufers und seinen in Wind und Wetter verblichenen Mantel.
»Er ist Aragorn, Arathoms Sohn«, sagte Elrond, »und er stammt
durch viele Vorväter ab von Isildur, Elendils Sohn, von Minas Ithil. Er ist
das Haupt der Dúnedain des Nordens, und wenige sind jetzt noch übrig
von diesem Volk.«
»Dann gehört er dir und gar nicht mir!« rief Frodo verblüfft aus und
sprang auf die Füße, als ob er erwartete, der Ring würde ihm sofort, ab-
verlangt werden.
»Er gehört uns beiden nicht«, sagte Aragorn. »Doch ist bestimmt wor-
den, daß du ihn eine Zeitlang aufbewahren sollst.«
»Hole den Ring heraus, Frodo!« sagte Gandalf feierlich. »Die Zeit ist
gekommen. Halte ihn hoch, und dann wird Boromir den Rest seines Rät-
sels verstehen.«
Es trat Stille ein, und aller Augen wandten sich Frodo zu. Er wurde
plötzlich von Scham und Furcht überflutet; und er empfand ein großes
Widerstreben, den Ring zu enthüllen, und einen Widerwillen, ihn zu be-
rühren. Er wünschte, er wäre weit weg. Der Ring glänzte und glitzerte,
als er ihn mit zitternder Hand hochhielt.
»Schaut!« sagte Elrond. »Isildurs Fluch!«
Boromirs Augen blitzten, als er das Kleinod betrachtete. »Der Halb-
ling!« murmelte er. »Ist also das Ende von Minas Tirith gekommen?
Aber warum sollten wir dann ein geborstenes Schwert suchen?«
»Die Worte lauteten nicht das Ende von Minas Tirith, sagte Ara-
gom. »Doch das Ende und große Taten stehen wahrlich bevor. Denn
das geborstne Schwert ist das Schwert Elendils, das unter ihm zerbrach,;
als er fiel. Es ist von seinen Erben wie ein Schatz gehütet worden, als alle!
anderen Erbstücke verlorengingen; denn seit alters her geht bei uns diej
Rede, daß es wieder neu geschmiedet werden soll, wenn der Ring, Isildurs
Fluch, gefunden ist. Was wollt Ihr nun, nachdem Ihr das Schwert gesehen
habt, das Ihr suchtet? Wollt Ihr, daß das Haus Elendil in das Land Gon-
dor zurückkehrt?«
»Ich bin nicht ausgesandt worden, um irgendwelche Wohltaten zu er-
bitten, sondern um die Bedeutung eines Rätsels herauszufinden«, antwor-
tete Boromir stolz. »Indes sind wir stark bedrängt, und Elendils Schwert
wäre eine Hilfe, auf die wir kaum zu hoffen wagten — wenn so etwas tat-
sächlich aus den Schatten der Vergangenheit wiederkehren könnte.« Er
blickte Aragorn von neuem an, und Zweifel stand in seinen Augen.
Frodo merkte, wie Bilbo an seiner Seite eine ungeduldige Bewegung
machte. Offenbar war er ärgerlich um seines Freundes willen. Plötzlich
stand er auf und machte seinem Herzen Luft:

Nicht alles, was Gold ist, funkelt,
Nicht jeder, der wandert, verlern,
Das Alte wird nicht verdunkelt

Noch Wurzeln der Tiefe erfrorn.
Aus Asche wird Feuer geschlagen,

Aus Schatten geht Licht hervor,
Heil wird geborstnes Schwert

Und König, der die Krone verlor.

»Vielleicht sind die Verse nicht sehr gut, aber zutreffend — wenn
Elronds Wort Euch nicht genügt. Wenn es eine Fahrt von hundertzehn
Tagen wert war, das zu hören, dann solltet Ihr wohl darüber nachdenken.«
Er setzte sich wieder und schnaubte verächtlich.
»Das habe ich selbst verfaßt«, flüsterte er Frodo zu. »Für den Dúna-
dan, schon vor langer Zeit, als er mir zum erstenmal von sich erzählte.
Ich wünschte fast, meine Abenteuer seien noch nicht zu Ende und ich
könnte mit ihm gehen, wenn sein Tag kommt.«
Aragorn lächelte ihm zu; dann wandte er sich wieder an Boromir.
»Was mich betrifft, so vergebe ich Euch Euren Zweifel«, sagte er. »Wenig
Ähnlichkeit habe ich mit den Statuen von Elendil und Isildur, die in ihrer
ganzen Majestät in Denethors Hallen stehen. Aber ich bin Isildurs Erbe,
nicht Isildur selbst. Ich habe ein hartes Leben gehabt, und ein langes; und
die Wegstunden, die zwischen hier und Gondor liegen, sind nur ein klei-
ner Bruchteil der Entfernungen, die ich zurückgelegt habe. Viele Gebirge
und viele Flüsse habe ich überquert und so manche Ebene durchwandert
bis zu so fernen Ländern wie Rhûn und Harad, wo die Sterne fremd sind.
Doch meine Heimat, wenn ich überhaupt eine habe, ist im Norden.
Denn hier haben Valandils Erben seit vielen Generationen in ununterbro-
chener Folge von Vater zu Sohn immer gelebt. Unsere Tage haben sich
verdunkelt und wir sind wenige geworden; doch immer ist das Schwert in
neue Hände übergegangen. Und das will ich Euch sagen, Boromir, ehe ich
ende. Einsame Männer sind wir, Waldläufer in der Wildnis, Jäger — aber
gejagt haben wir immer die Diener des Feindes; denn sie sind an vielen
Orten zu finden, nicht nur in Mordor.
Wenn Gondor, Boromir, eine tapfere Feste gewesen ist, dann haben wir
eine andere Rolle gespielt. Viele böse Dinge gibt es, denen Eure starken
Mauern und blitzenden Schwerter nicht Einhalt gebieten. Ihr wißt wenig
von den Ländern jenseits Eurer Grenzen. Frieden und Freiheit, sagt Ihr?
Der Norden hätte wenig Frieden und Freiheit gehabt, wenn wir nicht
gewesen wären. Angst hätte diese Länder vernichtet. Aber wenn finstere
Wesen aus den hauslosen Bergen kommen oder aus sonnenlosen Wäldern
herauskriechen, dann fliehen sie vor uns. Welche Straßen würde man
noch entlangzuziehen wagen, welche Sicherheit gäbe es in ruhigen Län-
dern oder nachts in den Häusern der einfachen Leute, wenn die Dúnedain
nicht wachten oder wenn sie schon alle ins Grab gesunken wären?
Und doch ernten wir weniger Dank als Ihr. Wanderer betrachten uns
mit Argwohn, und die Leute vom Lande geben uns verächtliche Namen.
>Streicher< bin ich für einen dicken Mann, der nur einen Tagesmarsch
von Feinden entfernt lebt, die sein Herz erstarren lassen oder seine kleine
Stadt in Trümmern legen würden, wenn er nicht unablässig beschirmt
würde. Und doch möchten wir es nicht anders haben. Wenn einfältige
Leute frei sind von Sorgen und Furcht, werden sie immer einfältig sein,
und wir müssen im geheimen wirken, damit sie es bleiben. Das ist die
Aufgabe meiner Familie gewesen, während die Jahre verstrichen und das
Gras wuchs.
Aber jetzt ändert sich die Welt wieder einmal. Eine neue Stunde bricht
an. Isildurs Fluch ist gefunden. Kampf steht uns bevor. Das Schwert soll
neu geschmiedet werden. Ich werde nach Minas Tirith kommen.«
»Isildurs Fluch sei gefunden, sagt Ihr«, erwiderte Boromir. »Ich habe
einen funkelnden Ring in des Halblings Hand gesehen; doch Isildur ist
dahingeschieden, ehe dieses Zeitalter der Welt begann, heißt es. Woher
wissen die Weisen, daß dieser Ring der seine ist? Und was ist dem Ring
im Laufe der Jahre widerfahren, ehe er von einem so seltsamen Boten
hierher gebracht wurde?«
»Das soll berichtet werden«, sagte Elrond.
»Aber jetzt noch nicht, möchte ich bitten, Herr«, sagte Bilbo. »Bald
steht die Sonne im Mittag, und ich bedarf dringend einer Stärkung.«
»Ich hatte dich nicht genannt«, sagte Elrond lächelnd. »Doch tue ich es
jetzt. Komm! Erzähle uns deine Geschichte. Und wenn du sie noch nicht
in Verse gebracht hast, kannst du sie auch in schlichten Worten berich-
ten. Je kürzer du dich faßt, um so eher wirst du dich stärken können.«
»Sehr wohl«, sagte Bilbo. »Ich werde deinem Wunsch entsprechen.
Doch werde ich jetzt die wahre Geschichte erzählen, und falls einige hier
gehört haben, daß ich sie einst anders erzählte« — und er warf Glóin
einen versteckten Blick zu —, »dann bitte ich sie, es zu vergessen und mir
zu vergeben. Damals wollte ich nur mein Eigentum an dem Schatz gel-
tend machen und den Namen Dieb loswerden, der mir zugelegt worden
war. Aber vielleicht verstehe ich die Dinge jetzt ein wenig besser. Fol-
gendes ist jedenfalls geschehen.«
Manchen war Bilbos Geschichte völlig neu, und sie lauschten voll Ver-
wunderung, während der alte Hobbit, keineswegs ungern, sein Abenteuer
mit Gollum in aller Ausführlichkeit erzählte. Nicht ein einziges Rätsel
ließ er aus. Er hätte sogar über seine Abschiedsfeier und sein Verschwin-
den aus dem Auenland berichtet, wenn er gedurft hätte; doch Elrond hob
die Hand.
»Gut erzählt, mein Freund«, sagte er. »Aber das reicht jetzt. Im
Augenblick genügt es zu wissen, daß der Ring auf Frodo übergegangen
ist, deinen Erben. Laß ihn nun sprechen.«
Weniger bereitwillig als Bilbo schildert Frodo dann alles, was sich seit
dem Tage, als er den Ring erhalten hatte, abgespielt hatte. Über jeden
Schritt auf seiner Fahrt von Hobbingen bis zur Bruinen-Fahrt wurden
an ihn Fragen gerichtet und Überlegungen angestellt, und alles, was er noch
von den Schwarzen Reitern wußte, wurde erörtert. Schließlich setzte er
sich wieder.
»Nicht schlecht«, sagte Bilbo zu ihm. »Du hättest eine gute Geschichte
daraus gemacht, wenn sie dich nicht dauernd unterbrochen hätten. Ich
habe versucht, mir ein paar Notizen zu machen, aber wir werden irgend-
wann alles noch einmal zusammen durchgehen müssen, wenn ich es auf-
schreiben soll. Das ist ja Stoff für ganze Kapitel, ehe du überhaupt hier-
her gekommen bist!«
»Ja, es ist eine ziemlich lange Erzählung geworden«, antwortete Frodo.
»Aber mir kommt der Bericht noch nicht vollständig vor. Ich will noch eine
ganze Menge wissen, besonders über Gandalf.«
Galdor von den Anfurten, der in der Nähe saß, hatte das gehört. »Das
gilt auch für mich«, rief er. Er wandte sich an Elrond und sagte: »Die
Weisen mögen guten Grund zu der Annahme haben, daß der Fund des
Halblings wirklich der lang umstrittene Große Ring ist, so unwahrschein-
lich es jenen vorkommen mag, die weniger wissen. Aber könnten wir
nicht die Beweise hören? Und auch das möchte ich noch fragen. Was ist
mit Saruman? Er ist ein großer Gelehrter der Ringkunde, und dennoch ist
er nicht unter uns. Wie lautet sein Rat — wenn er die Dinge weiß, die wir
gehört haben?«
»Die Fragen, die du stellst, Galdor, gehören zusammen«, sagte Elrond.
»Ich hatte sie nicht übersehen, und sie sollen beantwortet werden. Doch
diese Dinge zu erklären, ist Gandalfs Aufgabe. Und ich rufe ihn als letz-
ten auf, denn das ist der Ehrenplatz, und in dieser ganzen Sache ist er der
Anführer gewesen.«
»Manche, Galdor«, sagte Gandalf, »würden die Nachrichten von Glóin
und Frodos Verfolgung als ausreichenden Beweis ansehen, daß der Fund
des Halblings für den Feind von großem Wert ist.
Es ist zwar ein Ring. Aber welcher denn nun? Die Neun haben die
Nazgûl. Die Sieben sind erbeutet oder vernichtet.« Bei diesen Worten
machte Glóin eine Bewegung, sagte aber nichts. »Über die Drei wissen
wir Bescheid. Welcher nun ist der, nach dem er solches Verlangen trägt?
Es ist wahrlich viel Zeit verstrichen zwischen dem Fluß und dem Ge-
birge, zwischen dem Verlust und dem Finden. Doch die Lücke im Wissen
der Weisen ist endlich geschlossen worden. Allerdings zu langsam. Denn
der Feind war uns dicht auf den Fersen, dichter, als ich erwartet hatte.
Und es ist gut, daß er erst dieses Jahr, in diesem Sommer, wie es scheint,
die volle Wahrheit erfuhr.
Einige hier werden sich erinnern, daß ich selbst es vor vielen Jahren
wagte, die Schwelle des Geisterbeschwörers in Dol Guldur zu überschrei-
ten, heimlich sein Tun und Lassen erforschte und auf diese Weise heraus-
fand, daß unsere Befürchtungen zutrafen: er war niemand anders als
Sauron, unser Feind seit alters her, der endlich wieder Gestalt annahm und
Macht erhielt. Manche werden sich auch entsinnen, daß Saruman uns davon
abriet, offen gegen ihn vorzugehen, und lange haben wir ihn nur beobach-
tet. Als indes sein Schatten wuchs, hat Saruman endlich nachgegeben,
und der Rat zeigte seine Kraft und vertrieb das Böse aus Düsterwald —
und das war gerade in dem Jahr, als dieser Ring gefunden wurde: ein selt-
samer Zufall, wenn es ein Zufall war.
Aber wir waren zu spät dran, wie Elrond vorausgesehen hatte. Sauron
hatte uns ebenfalls beobachtet und sich lange auf unseren Schlag vorbe-
reitet; er hatte Mordor aus der Ferne über Minas Morgul regiert, wo seine
Neun Diener wohnten, bis alles bereit war. Dann wich er vor uns zurück,
aber er gab nur vor, zu fliehen, und bald darauf kam er zum Dunklen
Turm und zeigte seinen wahren Charakter. Dann versammelte sich zum
letzten Mal der Rat; denn nun erfuhren wir, daß er immer eifriger nach
dem Einen suchte. Wir fürchteten, daß er irgendwelche Nachrichten über
ihn habe, von denen wir nichts wußten. Doch Saruman sagte: nein, und
wiederholte, was er uns schon vorher gesagt hatte: daß der Eine niemals
wieder in Mittelerde gefunden werden würde.
>Im schlimmsten Fall<, sagte er, >weiß unser Feind, daß wir ihn nicht
haben und er immer noch vermißt wird. Aber was verloren wurde, kann
gefunden werden, glaubt er. Fürchtet nichts! Seine Hoffnung wird ihn
trügen. Habe ich diese Sache nicht gründlich erforscht? In den Großen
Anduin ist er gefallen; und vor langer Zeit, als Sauron schlief, ist er den
Fluß hinunter ins Meer gespült worden. Dort soll er liegen bis zum
Ende<.«
Gandalf schwieg und blickte von dem Söller gen Osten auf die fernen
Gipfel des Nebelgebirges, zu deren Füßen die Gefahr der Welt so lange
verborgen gewesen war. Er seufzte.
»Dann machte ich den Fehler«, sagte er. »Ich hatte mich einlullen las-
sen von den Worten Sarumans des Weisen; doch hätte ich früher nach
der Wahrheit forschen sollen, dann wäre unsere Gefahr jetzt kleiner.«
»Wir alle machten den Fehler«, sagte Elrond, »aber wärest du nicht so
wachsam gewesen, hätte uns die Dunkelheit vielleicht schon verschlun-
gen. Doch sprich weiter.«
»Von Anfang an schwante mir nichts Gutes, obwohl ich keinen Grund
dafür nennen konnte«, sagte Gandalf. »Und ich wollte wissen, wie dieses
Ding zu Gollum gekommen war und wie lang er es besessen hatte. Des-
halb stellte ich eine Wache auf, die ihn beobachten sollte, denn ich ver-
mutete, daß er binnen kurzem aus seiner Dunkelheit hervorkommen und
nach seinem Schatz suchen würde. Er kam, aber er entschlüpfte uns und
wurde nicht gefunden. Und dann ließ ich die Sache leider ruhen, beobach-
tete nur und wartete ab, wie wir es allzu oft getan haben.
Die Zeit verstrich mit vielen Sorgen, bis meine Zweifel wieder erwach-
ten und mich plötzlich Angst überkam. Woher stammte der Ring des
Hobbits? Was sollte mit ihm geschehen, wenn meine Befürchtung sich
bewahrheitete? Über diese Dinge mußte ich mir klar werden. Doch sprach
ich über meine Befürchtung noch mit niemandem, denn ich wußte, wie
gefährlich eine geflüsterte Bemerkung zur unrichtigen Zeit sein konnte,
wenn sie weitergegeben wurde. In all den langen Kriegen mit dem Dunk-
len Turm war Verrat immer unser größter Feind gewesen.
Das war vor siebzehn Jahren. Bald bemerkte ich, daß Späher aller
Arten, selbst Tiere und Vögel, um das Auenland zusammengezogen
wurden, und meine Furcht wuchs. Ich bat die Dúnedain um Hilfe, und
ihre Wache wurde verstärkt; und Aragorn, dem Erben Isildurs, schüt-
tete ich mein Herz aus.«
»Und ich«, sagte Aragorn, »gab den Rat, daß wir die Jagd nach Gol-
lum aufnehmen sollten, obwohl es dafür vielleicht schon zu spät war.
Und da es nur recht und billig zu sein schien, daß Isildurs Erbe sich be-
mühen sollte, Isildurs Fehler wiedergutzumachen, begab ich mich zusam-
men mit Gandalf auf die lange und hoffnungslose Suche.«
Dann erzählte Gandalf, wie sie ganz Wilderland ausgekundschaftet
hatten, sogar bis hinunter zum Schattengebirge und den Bollwerken Mor-
dors. »Dort hörten wir Gerüchte über ihn, und wir vermuten, daß er sich
lange in den dunklen Bergen aufgehalten hat; aber wir fanden ihn nie-
mals, und schließlich verzweifelte ich. Und dann in meiner Verzweiflung
dachte ich wieder an eine Probe, die es vielleicht unnötig machen würde,
Gollum zu finden. Der Ring selbst könnte vielleicht sagen, ob er der Eine
sei. Mir fielen Worte wieder ein, die bei dem Rat gesprochen worden
waren: Worte von Saruman, die damals nur halb beachtet wurden. In
meinem Herzen hörte ich sie jetzt deutlich.
>Die Neun, die Sieben und die Drei<, sagte er, >hatten jeder einen eige-
nen Edelstein. Nicht aber der Eine. Er war rund und ohne Schmuck, als ob
er einer der minderen Ringe sei; doch brachte sein Schöpfer Zeichen dar-
auf an, die der Erfahrene vielleicht noch sehen und lesen kann.<
Worin diese Zeichen bestanden, sagte er nicht. Wer sollte es jetzt wis-
sen? Der Schöpfer des Ringes. Und Saruman? Doch so groß sein Wissen
sein mag, es muß eine Quelle haben. In wessen Hand außer Saurons ist
dieses Ding je gewesen, ehe es verlorenging? Nur in Isildurs Hand.
Mit diesem Gedanken gab ich die Jagd auf und begab mich rasch nach
Gondor. In früheren Tagen waren die Angehörigen meines Ordens dort
gut aufgenommen worden, doch am besten von allen Saruman. Oft ist er
lange Zeit Gast der Herren der Stadt gewesen. Der Herr Denethor emp-
fing mich weniger herzlich als früher, und nur ungern erlaubte er mir,
seine vielen Schriftrollen und Bücher durchzusehen.
>Wenn Ihr, wie Ihr sagt, wirklich nur nach Aufzeichnungen aus alter
Zeit und über die Anfänge der Stadt sucht, dann lest nur!< sagte er.
>Denn für mich ist das, was war, weniger dunkel als das, was kommen
wird, und das ist meine Sorge. Doch sofern Ihr nicht größere Fähigkeiten
habt als selbst Saruman, der lange hier geforscht hat, werdet Ihr nicht
finden, das mir nicht wohlbekannt ist, denn ich bin ein Meister in den
Überlieferungen dieser Stadt.<
So sprach Denethor. Und doch befinden sich unter seinen Schätzen
viele Aufzeichnungen, die heute nur noch wenige lesen können, selbst
von den Weisen, denn ihre Schriftzeichen und Sprachen sind für die spä-
teren Menschen dunkel geworden. Und dort in Minas Tirith, Boromir,
liegt noch immer, ungelesen, wie ich glaube, von allen außer von Saru-
man und mir, seit die Könige vergingen, eine Schriftrolle, die Isildur
selbst verfaßt hat. Denn Isildur ist nicht gleich nach dem Krieg in Mordor
abgezogen, wie manche erzählt haben.«
»Manche im Norden vielleicht», warf Boromir ein. »In Gondor wissen
alle, daß er zuerst nach Minas Anor ging und eine Zeitlang bei seinem
Neffen Meneldil blieb und ihn unterwies, ehe er ihm die Herrschaft über
das Südliche Königreich übertrug. Damals pflanzte er dort den letzten
Schößling des Weißen Baums zum Andenken an seinen Bruder.«
»Und damals verfaßte er auch diese Schriftrolle«, sagte Gandalf. »Des-
sen entsinnt man sich anscheinend in Gondor nicht. Diese Schriftrolle
betrifft den Ring, und folgendes schrieb Isildur darin:

Der Große Ring soll jetzt ein Erbstück des Nördlichen Königreichs wer-
den, doch Aufzeichnungen darüber sollen in Gondor bleiben, wo auch Er-
ben Elendils weilen, damit nicht eine Zeit kommt, in der die Erinnerung
an diese großen Dinge verblaßt.

Und nach diesen Worten beschrieb Isildur, wie der Ring war, als er ihn
gefunden hatte.

Er war heiß, als ich ihn zuerst nahm, heiß wie glühende Kohle, und
meine Hand war versenget, so daß ich bezweifele, ob ich jemals wieder
von dem Schmerz befreit werde. Doch jetzt, da ich schreibe, ist er abge-
kühlt und scheinet zu schrumpfen, obwohl er weder seine Schönheit noch
seine Form verlieret. Die Schrift auf ihm, die zuerst klar war wie eine rote
Flamme, verblasset schon und ist jetzt kaum mehr zu lesen. Sie hat die
Form der Elbenschrift von Eregion, denn in Mordor haben sie keine Buch-
staben für solche feine Arbeit; doch die Sprache ist mir unbekannt. Ich
schätze, es wird die Sprache des Schwarzen Landes sein, denn sie ist ge-
mein und grob. Was sie Böses besaget, weiß ich nicht; aber ich zeichne
hier eine Abschrift auf, falls sie so verblasset, daß sie nicht mehr zu er-
kennen ist. Der Ring vermisset vielleicht die Hitze von Saurons Hand, die
schwarz war und doch wie Feuer brannte, und so ging Gil-galad zu
Grunde; und vielleicht, wenn das Gold wieder heiß gemacht würde,
würde die Schrift wieder frisch. Doch ich für mein Teil will es nicht
wagen, diesem Ring Schaden zuzufügen: von allen Werken Saurons ist es
das einzig schöne. Es ist mir kostbar, obwohl ich es mit großen Schmer-
zen erwarb.

Als ich diese Worte las, war meine Aufgabe erfüllt. Denn die nachge-
zeichnete Schrift war wirklich, wie Isildur vermutete, in der Sprache von
Mordor und der Diener des Turms.. Und was sie besagte, war bereits be-
kannt. Denn an dem Tag, als Sauron den Einen zuerst aufstreifte, ge-
wahrte ihn Celebrimbor, der Schöpfer der Drei, und von ferne hörte er
ihn diese Worte sprechen, und so wurden seine bösen Absichten enthüllt.
Sofort nahm ich Abschied von Denethor, doch gerade, als ich nach
Norden ging, erhielt ich Botschaft aus Lórien, daß Aragorn dort vorbei-
gekommen war und daß er das Geschöpf mit Namen Gollum gefunden
hatte. Daher wollte ich ihn zuerst treffen und seine Geschichte hören. In
welche grausamen Gefahren er sich begeben hatte, wagte ich nicht zu er-
raten.«
»Darüber zu berichten, ist kaum nötig«, sagte Aragorn. »Wenn ein
Mann unbedingt in Sicht des Schwarzen Tores wandern oder auf die töd-
lichen Blumen des Morgul-Tals treten muß, dann sind ihm die Gefahren
sicher. Auch ich verzweifelte zuletzt und machte mich auf den Heimweg.
Und dann stieß ich durch schieres Glück auf das, was ich suchte: die Spu-
ren weicher Füße neben einem schlammigen Tümpel. Aber jetzt war die
Spur frisch und geschwind, und sie führte nicht nach Mordor, sondern
kam von dort. Ich folgte ihr den Rändern der Totensümpfe entlang,
und dann hatte ich ihn. Er lauerte an einem sumpfigen Teich und starrte
ins Wasser, als die Abenddämmerung hereinbrach, und da fing ich ihn,
Gollum. Er war bedeckt mit grünem Schleim. Er wird mich niemals lie-
ben, fürchte ich; denn er biß mich, und ich war nicht sanft. Nichts bekam
ich je aus seinem Mund heraus als die Abdrücke seiner Zähne. Ich fand,
es war der schlimmste Teil meiner ganzen Fahrt, dieser Weg zu-
rück, als ich ihn Tag und Nacht bewachte, ihn vor mir gehen ließ mit
einem Strick um den Hals und geknebelt, bis er zahm geworden war
durch den Mangel an Essen und Trinken, und so trieb ich ihn vor mir her
nach Düsterwald. Schließlich brachte ich ihn dorthin und übergab ihn den
Elben, denn wir waren überein gekommen, daß das geschehen sollte; und
ich war froh, seiner Gesellschaft ledig zu sein, denn er stank. Ich für mein
Teil hoffe, ihn niemals wiederzusehen; aber Gandalf kam und ertrug eine
lange Unterhaltung mit ihm.«
»Ja, eine lange und mühselige«, sagte Gandalf, »aber nicht ohne Ge-
winn. Zum Beispiel stimmte die Geschichte, die er mir über seinen Verlust
erzählte, mit der überein, die Bilbo heute zum ersten Mal öffentlich er-
zählt hat; aber das war nicht wichtig, weil ich es schon vermutet hatte.
Dann aber erfuhr ich zum ersten Mal, daß Gollums Ring aus dem Großen
Fluß in der Nähe der Schwertelfelder gekommen war. Und ich erfuhr auch,
daß er ihn lange besessen hatte. Viele Lebensalter seiner kleinen Gattung.
Die Macht des Ringes hatte seine Jahre weit über ihre Lebensspanne ver-
längert; aber diese Macht besitzen nur die Großen Ringe.
Und wenn das noch nicht Beweis genug ist, Galdor, dann gibt es noch
die andere Probe, von der ich gesprochen habe. Auf eben diesem Ring,
den ihr hier gesehen habt, als er hochgehalten wurde, der rund und
schmucklos ist, können die Buchstaben, von denen Isildur berichtete,
immer noch gelesen werden, wenn einer die Willensstärke besitzt, das
goldene Ding eine Weile ins Feuer zu legen. Das habe ich getan, und das
habe ich gelesen:

Ash nazg durbatulûk,
ash nazg gimbatul,
ash nazg thrakatulûk
agh burzum-ishi krimpatul.«


Es war verblüffend, wie sich die Stimme des Zauberers verändert hatte.
Sie wurde plötzlich drohend, machtvoll, hart wie Stein. Ein Schatten
schien vor der im Mittag stehenden Sonne vorüberziehen, und der Söller
wurde einen Augenblick dunkel. Alle zitterten, und die Elben hielten sich
die Ohren zu.
»Niemals zuvor hat irgendeine Stimme gewagt, Wörter in jener Spra-
che in Imladris auszusprechen, Gandalf der Graue«, sagte Elrond, als sich
der Schatten verzog und die Gesellschaft wieder atmete.
»Und wir wollen hoffen, daß niemand sie hier wieder sprechen wird«,
antwortete Gandalf. »Dennoch bitte ich Euch nicht um Entschuldigung,
Herr Elrond. Denn wenn jene Sprache nicht bald in allen Winkeln des
Westens vernommen werden soll, dann müssen wir jeden Zweifel daran
beseitigen, daß dieses Ding tatsächlich das ist, was die Weisen erklärt
haben: der Schatz des Feindes, beladen mit all seiner Bosheit: und in ihm
liegt ein großer Teil seiner einstmaligen Stärke. Aus den Schwarzen Jahren
stammen die Worte, die die Schmiede von Eregion hörten, und dann wuß-
ten sie, daß sie betrogen worden waren:

Ein Ring, sie zu knechten, sie alle zu finden,
ins Dunkel zu treiben und ewig zu binden.

Wisset auch, meine Freunde, daß ich noch mehr von Gollum erfuhr. Er
hat nur höchst ungern gesprochen, und seine Geschichte war unklar.
Aber es ist über jeden Zweifel erhaben, daß er nach Mordor ging und
ihm dort alles, was er wußte, abgepreßt worden ist. Daher weiß der Feind,
daß der Eine gefunden ist und lange im Auenland war; und da seine Die-
ner den Ring fast hier bis zu unserer Tür verfolgt haben, wird er auch
bald wissen oder weiß vielleicht schon jetzt, da ich spreche, daß wir ihn
hier haben.«
Alle saßen eine Weile still da, bis schließlich Boromir fragte: »Er ist
ein kleines Geschöpf, dieser Gollum, sagt Ihr? Klein, aber groß im Un-
heilstiften. Was ist aus ihm geworden? Welches Schicksal habt Ihr ihm
bereitet?«
»Er ist im Gefängnis, aber weiter auch nichts«, sagte Aragorn. »Er hat
viel gelitten. Es besteht kein Zweifel, daß er gefoltert worden ist, und die
Furcht vor Sauron bedrückt sein Herz. Ich für mein Teil bin froh, daß er
dingfest ist unter den wachsamen Augen der Elben von Düsterwald.
Seine Bosheit ist groß und verleiht ihm eine Stärke, die schier unglaublich
ist bei einem so mageren und verschrumpelten Geschöpf. Er könnte noch
viel Unheil stiften, wenn er frei wäre. Und ich bin sicher, daß er nur Er-
laubnis erhielt, Mordor zu verlassen, um einen bösen Auftrag auszufüh-
en.«
»Oh weh!« rief Legolas, und sein schönes Elbengesicht war sehr be-
kümmert. »Die Nachricht, die zu überbringen ich ausgesandt wurde, muß
nun ausgesprochen werden. Es ist keine gute Nachricht, doch habe ich
erst hier erkannt, wie schlimm sie den Anwesenden erscheinen muß.
DerSméagol, der jetzt Gollum genannt wird, ist entkommen.«
»Entkommen?« rief Aragorn. »Das ist fürwahr eine schlechte Nach-
richt. Wir alle werden sie noch bitterlich verwünschen, fürchte ich. Wie
kam es, daß Thranduils Volk seine Pflicht versäumte?«
»Nicht durch mangelnde Wachsamkeit«, sagte Legolas; »doch vielleicht
durch zu viel Freundlichkeit. Und wir fürchten, daß der Gefangene Hilfe
von anderen bekam und daß mehr von unserem Tun und Lassen bekannt
geworden ist, als uns lieb sein kann. Wir bewachten dieses Geschöpf Tag
und Nacht, wie Gandalf es angeordnet hatte, obschon wir der Aufgabe
bald überdrüssig waren. Doch Gandalf hieß uns immer noch auf seine
Heilung hoffen, und wir brachten es nicht übers Herz, ihn immer in un-
terirdischen Verliesen zu lassen, wo er wieder in seine schwarzen Gedan-
ken zurückfallen würde.«
»Ihr wart weniger rücksichtsvoll zu mir«, sagte Glóin, und seine
Augen blitzten, als er sich seiner eigenen Gefangenschaft in den tiefen
Gewölben unter den Hallen der Elbenkönige erinnerte.
»Schon gut!« sagte Gandalf. »Bitte unterbrecht uns nicht, mein guter
Glóin. Das war damals ein bedauerliches Mißverständnis, das längst auf-
geklärt ist. Wenn all der Groll, den Elben und Zwerge gegeneinander
hegen, hier vorgebracht werden soll, dann können wir gleich auf den Rat
verzichten.«
Glóin stand auf und verbeugte sich, und Legolas fuhr fort. »Bei schö-
nem Wetter führten wir Gollum in den Wald, und dort kletterte er gern
auf einen hohen Baum, der für sich weit von den anderen stand. Oft lie-
ßen wir ihn bis zu den höchsten Ästen hinaufklimmen, bis er den freien
Wind spüren konnte. Doch stellten wir am Fuß des Baumes eine Wache
auf. Eines Tages weigerte er sich, herunterzukommen, und die Wachpo-
sten hatten keine Lust, ihm nachzuklettern; denn er hatte den Trick ge-
lernt, sich mit den Füßen wie auch mit den Händen an den Zweigen fest-
zuklammern; so saßen sie bis tief in die Nacht unter dem Baum.
Es war eben jene Sommernacht, allerdings mondlos und sternlos, in der
uns unvermutet die Orks überfielen. Wir vertrieben sie nach einiger Zeit;
es waren ihrer viele, und sie kämpften wütend, doch waren sie von jen-
seits des Gebirges gekommen und den Wald nicht gewohnt. Als der
Kampf vorüber war, stellten wir fest, daß Gollum fort war, und seine
Wachen waren erschlagen oder gefangengenommen. Dann wurde uns
klar, daß der Angriff zu seiner Befreiung unternommen worden war, und
daß er vorher davon gewußt hatte. Wie dieser Plan geschmiedet worden
war, ahnen wir nicht; doch ist Gollum listig, und der Späher des Feindes
sind viele. Die finsteren Geschöpfe, die in dem Jahr vertrieben wurden,
als der Drachen besiegt wurde, sind in großer Zahl zurückgekehrt, und
Düsterwald ist wieder ein böser Ort, mit Ausnahme unseres Reichs.
Es ist uns nicht gelungen, Gollum wieder einzufangen. Wir fanden
seine Spur zwischen den Spuren von vielen Orks, und sie führte tief in
den Wald hinein in südlicher Richtung. Doch es dauerte nicht lange, und
wir verloren sie, und wir wagten nicht, die Jagd fortzusetzen, denn wir
kamen in die Nähe von Dol Guldur, und das ist immer noch ein sehr
böser Ort; wir gehen diesen Weg nicht.«
»Nun wohl«, sagte Gandalf. »Er ist fort. Und wir haben keine Zeit,
noch einmal nach ihm zu suchen. Er muß tun, was er will. Doch könnte
es sein, daß er noch eine Rolle zu spielen hat, die weder er noch Sauron
vorausgesehen haben.
Und jetzt will ich Galdors weitere Fragen beantworten. Wie steht es
mit Saruman? Was bedeuten uns seine Ratschläge in dieser Not? Diese
Geschichte muß ich ganz erzählen, denn allein Elrond hat sie bisher ge-
hört, und auch nur kurz; doch wird sie sich auf alles auswirken, was wir
beschließen müssen. Sie ist das letzte Kapitel der Erzählung des Ringes,
soweit sie bis jetzt geht.
Ende Juni war ich im Auenland, aber mein Herz war von Furcht be-
drückt, und ich ritt zur Südgrenze des kleinen Landes; denn ich hatte eine
Vorahnung von irgendeiner Gefahr, die mir noch verborgen war, die sich
aber näherte. Dort erhielt ich Botschaften über Krieg und Niederlage in
Gondor, und als ich von dem Schwarzen Schatten hörte, überfiel mich ein
Schauer. Aber ich fand nichts außer einigen Flüchtlingen aus dem Süden;
und doch schien mir, daß sie von einer Furcht erfüllt waren, über die sie
nicht sprechen konnten. Ich wandte mich dann nach Osten und Norden
und ritt über den Grünweg; und nicht weit von Bree traf ich einen Reiter,
der auf einer Böschung an der Straße saß, und sein Pferd graste neben
ihm. Es war Radagast der Braune, der einstmals in Rhosgobel gewohnt
hatte, nahe den Grenzen von Düsterwald. Er gehört meinem Orden an,
doch hatte ich ihn viele Jahre nicht gesehen.
>Gandalf!< rief er. >Dich suche ich. Aber ich bin fremd in diesen Ge-
genden. Ich wußte nur, daß du in einem wilden Gebiet mit dem merk-
würdigen Namen Auenland zu finden seiest.<
>Deine Vermutung war richtige sagte ich. >Aber drücke dich nicht so
aus, wenn du einen der Einheimischen triffst. Du bist jetzt nahe den
Grenzen des Auenlands. Und was willst du von mir? Es muß dringend
sein. Du warst nie ein Wanderer, es sei denn, von großer Not getriebene
>Ich habe einen dringenden Auftrage sagte er. >Ich bringe schlechte
Nachrichtens Dann schaute er sich um, als ob die Hecken Ohren hätten.
>Nazgûl<, flüsterte er. >Die Neun sind wieder unterwegs. Heimlich haben
sie den Fluß überschritten und ziehen nach Westen. Sie haben sich als
schwarze Reiter verkleidete
Nun war mir klar, was ich befürchtet hatte, ohne es zu wissen.
>Der Feind muß in großer Not sein oder eine große Absicht haben<,
sagte Radagast. >Doch was ihn veranlaßt, sich um diese entlegenen und
verlassenen Gegenden zu kümmern, kann ich nicht erratene
>Was meinst du damit?< fragte ich.
>Man hat mir gesagt, daß die Reiter, wo immer sie hinkommen, sich
nach einem Land, genannt Auenland, erkundigen.<
>Das Auenland<, sagte ich; aber mein Herz wurde schwer. Denn selbst
die Weisen mögen sich davor fürchten, den Neun Widerstand zu leisten,
wenn sie sich unter ihrem grausamen Anführer sammeln. Ein großer
König und Hexenmeister war er einstmals, und jetzt verbreitet er eine
tödliche Furcht. >Wer hat dir das gesagt und wer hat dich ausgesandt?<
fragte ich.
>Saruman der Weiße<, antwortete Radagast. >Und er trug mir auf, dir
zu sagen, daß er helfen will, wenn du dessen bedarfst; aber du mußt seine
Hilfe sofort erbitten, sonst ist es zu späte
Und diese Botschaft gab mir Hoffnung. Denn Saruman der Weiße ist
der Größte meines Ordens. Radagast ist gewiß ein ehrenwerter Zauberer,
ein Meister der Gestalten und Farbverwandlungen; und er hat große
Kenntnisse von Kräutern und Tieren, und Vögel sind seine besondern
Freunde. Aber Saruman hat lange die Künste des Feindes selbst erforscht,
und so war es uns oft möglich, ihm zuvorzukommen. Nach Sarumans
Plänen haben wir ihn von Dol Guldur vertrieben. Es hätte sein können,
daß er irgendwelche Waffen gefunden hatte, die die Neun abzuwehren
vermochten.
>Ich werde zu Saruman gehen<, sagte ich.
>Dann mußt du gleich gehen<, sagte Radagast. >Denn ich habe viel Zeit
gebraucht, dich zu finden, und die Tage werden knapp. Mir wurde gesagt,
ich sollte dich vor dem Mittsommer finden, und das ist jetzt. Selbst wenn
du dich auf der Stelle aufmachst, wirst du ihn kaum erreichen, ehe die
Neun das Land entdecken, das sie suchen. Ich selbst werde gleich zurück-
kehren.< Und damit stieg er auf und wollte sofort losreiten.
>Warte einen Augenblicke sagte ich. >Wir werden deine Hilfe brau-
chen und die Hilfe aller Geschöpfe, die sie gewähren wollen. Schicke Bot-
schaften an alle Tiere und Vögel, die deine Freunde sind. Sage ihnen, sie
sollen Nachricht geben über alles, was in dieser Angelegenheit für Saru-
man und Gandalf wichtig ist. Laß Botschaften nach Orthanc schicken.<
>Das will ich tun<, sagte er und stob von dannen, als ob die Neun hin-
ter ihm her wären.
Ich konnte ihm nicht gleich folgen. Ich war an diesem Tage schon sehr
weit geritten, und ich war ebenso müde wie mein Pferd. Und ich mußte
die Dinge überdenken. Ich blieb die Nacht in Bree und kam zu dem
Schluß, daß mir keine Zeit bliebe, ins Auenland zurückzukehren. Nie
habe ich einen größeren Fehler gemacht!
Allerdings schrieb ich eine Botschaft für Frodo und verließ mich dar-
auf, daß mein Freund, der Gastwirt, sie ihm schicken würde. Bei Morgen-
grauen ritt ich davon, und schließlich kam ich zu Sarumans Behausung.
Das ist weit im Süden in Isengart, am Ende des Nebelgebirges, nicht weit
von der Pforte von Rohan. Und Boromir wird euch bestätigen, daß das ein
großes, offenes Tal ist, das zwischen dem Nebelgebirge und den nördlich-
sten Ausläufern von Ered Nimrais liegt, des Weißen Gebirges seiner Hei-
mat. Aber Isengart ist ein Kranz steiler Felsen, die das Tal wie eine
Mauer umschließen, und in der Mitte dieses Tals steht ein Turm aus
Stein, genannt Orthanc. Er ist nicht von Saruman erbaut worden, sondern
vor langer Zeit von den Menschen von Númenor; und er ist sehr hoch
und hat viele Geheimnisse; doch sieht er nicht aus wie eine Festung. Er
kann nur über den Felsenring von Isengart erreicht werden; und in die-
sem Felsenring gibt es nur ein Tor.
Eines Abends kam ich spät zu dem Tor, das wie ein großer Bogen in
der Felswand ist; und es wird streng bewacht. Aber die Torhüter hielten
schon nach mir Ausschau und sagten mir, Saruman erwarte mich. Ich
ritt unter dem Bogen durch, und das Tor schloß sich leise hinter mir, und
plötzlich hatte ich Angst, obwohl ich keinen Grund dafür wußte.
Und ich ritt bis zum Fuß des Orthanc und gelangte zu Sarumans
Schwelle; und dort kam er mir entgegen und führte mich hinauf in sein
hochgelegenes Zimmer. Er trug einen Ring am Finger.
>So bist du also gekommen, Gandalf<, sagte er ernst. Doch in seinen
Augen schien ein weißes Licht zu leuchten, als ob ein kaltes Lachen in
seinem Herzen sei.
>Ja, ich bin gekommene sagte ich. >Ich bin gekommen, um dich um
Hilfe zu bitten, Saruman der Weiße.< Und dieser Titel schien ihn zu
ärgern.
>So, wirklich, Gandalf der Graue!< spottete er. >Um Hilfe? Man hat sel-
ten davon gehört, daß Gandalf der Graue um Hilfe bittet, er, der so listig
und so weise ist, durch die Lande wandert und sich in alle Angelegenhei-
ten einmischt, ob sie ihn etwas angehen oder nicht.<
Ich sah ihn verwundert an. >Wenn ich mich nicht täusche<, sagte ich,
>sind jetzt Dinge im Gange, die erfordern, daß wir alle unsere Kräfte ver-
einigen<
>Das mag schon sein<, sagte er. >Doch der Gedanke kommt dir spät.
Wie lange, frage ich mich, hast du mir, dem Haupt des Rates, eine Sache
von höchster Wichtigkeit verheimlicht? Was führt dich jetzt her von dei-
nem Schlupfwinkel im Auenland ?<
>Die Neun sind wieder zum Vorschein gekommene antwortete ich. >Sie
haben den Fluß überschritten. So sagte mir Radagast.<
>Radagast der Braune !< lachte Saruman, und er verbarg seinen Hohn
nicht länger. >Radagast der Vogelbändiger! Radagast der Einfältige! Rada-
gast der Narr! Immerhin hatte er gerade genug Verstand, um die Rolle zu
spielen, die ich ihm zugedacht hatte. Denn du bist gekommen, und das
war der ganze Zweck meiner Botschaft. Und hier wirst du bleiben, Gan-
dalf der Graue, und dich von deinen Fahrten ausruhen. Denn ich bin
Saruman der Weise, Saruman der Ringmacher, Saruman der Vielfar-
bige !<
Ich sah ihn an und bemerkte, daß sein Gewand, das mir weiß erschie-
nen war, es gar nicht war, sondern aus allen Farben gewirkt war, und
wenn er sich bewegte, dann schimmerten und schillerten sie, daß es das
Auge verwirrte.
>Mir gefällt weiß bessere sagte ich.
>Weiß!< höhnte er. >Das ist für den Anfang gut. Weißer Stoff kann
gefärbt werden. Das weiße Blatt kann beschrieben werden; und das weiße
Licht kann gebrochen werden.<
>Dann ist es aber nicht länger weiß<, sagte ich. >Und derjenige, der
etwas zerbricht, um herauszufinden, was es ist, hat den Pfad der Weisheit
verlassen.<
>Mit mir brauchst du nicht zu reden wie mit einem der Narren, die du
zu Freunden hast<, sagte er. >Ich habe dich nicht hierher kommen lassen,
um von dir belehrt zu werden, sondern um dich vor die Wahl zu stellen.<
Dann richtete er sich stolz auf und begann daraufloszureden, als ob er
eine lange einstudierte Rede hielte. >Die Tage der Altvorderen sind vor-
bei. Die Mittleren Tage vergehen. Die Tage der Jüngeren beginnen. Die
Zeit der Elben ist vorüber, aber unsere Zeit ist nahe: die Welt der Men-
schen, die wir beherrschen müssen. Aber wir müssen Macht haben,
Macht, alle Dinge zu ordnen, wie wir wollen, für jenes Wohl, das nur die
Weisen erkennen können.
Und höre, Gandalf, mein alter Freund und Helfer !< fuhr er fort, kam
näher zu mir heran und sprach jetzt mit einer sanfteren Stimme. >Ich
sagte wir, denn wir mögen es sein, wenn du dich mir anschließt. Eine
neue Macht steigt auf. Gegen sie werden uns die alten Verbündeten und
Verfahren gar nichts nützen. Es besteht keine Hoffnung mehr für Elben
und sterbende Númenorer. Das also ist die Wahl, vor die du oder wir ge-
stellt sind. Wir können uns dieser Macht anschließen. Es wäre klug, Gan-
dalf. Auf diese Weise besteht Hoffnung. Ihr Sieg ist nahe; und reichen
Lohn werden diejenigen erhalten, die ihr geholfen haben. Wenn die
Macht wächst, werden ihre erprobten Freunde auch wachsen. Und die
Weisen wie du und ich werden mit Geduld schließlich so weit kommen,
daß wir ihr Verhalten lenken, sie kontrollieren. Wir können den rechten
Augenblick abwarten, wir können unsere Gedanken in unseren Herzen
verschließen, vielleicht das Böse, das nebenher angerichtet wird, beklagen,
doch das hohe und letzte Ziel billigen: Wissen, Herrschaft, Ordnung; alle
diese Dinge, die zu erreichen wir uns bisher vergeblich bemüht haben,
eher gehindert als unterstützt durch unsere schwachen und untätigen
Freunde. Unsere Absichten brauchen sich nicht wirklich zu ändern und
würden sich auch nicht ändern, nur unsere Mittel.<
>Saruman<, sagte ich, >Reden dieser Art habe ich schon früher gehört,
aber aus dem Munde von Abgesandten aus Mordor, die geschickt wur-
den, um die Unwissenden zu täuschen. Ich kann mir nicht vorstellen,
daß du mich von so weit her hast kommen lassen, nur um meine Ohren
zu ermüden.<
Er warf mir einen versteckten Blick zu und überlegte eine Weile. >Gut,
ich sehe, daß dieses kluge Vorgehen dir nicht empfehlenswert erscheine,
sagte er. >Noch nicht? Nicht, wenn ein besserer Weg ersonnen werden
kann?<
Er trat auf mich zu und legte seine lange Hand auf meinen Arm. >Und
warum nicht, Gandalf?< flüsterte er. >Warum nicht? Der Beherrschende
Ring? Wenn wir über ihn verfügen, würde die Macht auf uns übergehen.
Das ist der wahre Grund, warum ich dich habe herkommen lassen. Denn
in meinem Dienst stehen viele Augen, und ich glaube, daß du weißt, wo
das kostbare Stück jetzt ist. Stimmt es nicht? Oder warum fragen die
Neun nach dem Auenland, und was hast du dort zu schaffen?< Als er
das sagte, flackerte plötzlich eine Gier, die er nicht verbergen konnte, in
seinen Augen auf.
>Saruman<, sagte ich und wich vor ihm zurück, >nur eine Hand jeweils
kann den Ring tragen, und das weißt du sehr wohl, also spare dir die
Mühe, wir zu sagen! Aber ich würde ihn dir nicht geben, nein, nicht ein-
mal Nachricht über ihn würde ich dir geben, nun, da ich weiß, was du im
Sinne hast. Du warst das Haupt des Rates, aber du hast endlich dein wah-
res Gesicht gezeigt. Die Wahl, vor die ich gestellt bin, scheint darin zu
bestehen, mich entweder Sauron zu unterwerfen oder dir. Keins von bei-
den werde ich tun. Hast du noch anderes zu bieten?<
Er war jetzt kalt und gefährlich. >Ja<, sagte er. >Ich habe nicht erwartet,
daß du Weisheit erkennen lassen würdest, nicht einmal zu deinem eige-
nen Vorteil; doch habe ich dir die Möglichkeit geboten, mir freiwillig zu
helfen und dir damit viel Ärger und Pein zu ersparen. Die dritte Möglich-
keit ist die, hierzubleiben bis zum Ende.<
>Bis zu welchem Ende?<
>Bis du mir offenbarst, wo der Eine zu finden ist. Es mag Mittel und
Wege geben, dich zur Vernunft zu bringen. Oder bis er dir zum Trotz
gefunden ist und der Gebieter Zeit hat, sich weniger gewichtigen Dingen
zuzuwenden: sich eine, sagen wir, passende Belohnung für die Behinde-
rung und Unverschämtheit von Gandalf dem Grauen auszudenken.<
>Das mag sich als keins der weniger gewichtigen Dinge erweisen<,
sagte ich. Er lachte mich aus, denn meine Worte waren leeres Gerede, und
er wußte es.
Sie nahmen mich und setzten mich allein auf die Zinne von Orthanc,
dorthin, wo Saruman gewöhnlich die Sterne beobachtete. Es gibt keinen
Abstieg außer über eine schmale Treppe von vielen tausend Stufen, und
das Tal darunter schien weit entfernt. Ich schaute hinunter und sah, daß
es, während es früher grün und schön gewesen war, jetzt voller Gruben
und Schmieden war. Wölfe und Orks hausten in Isengart, denn Saruman
stellte in eigener Sache eine große Streitmacht auf, wetteifernd mit Sau-
ron und noch nicht in seinem Dienst. Über seinen ganzen Werkstätten
lagerte dichter Rauch und hüllte sogar die Flanken des Orthanc ein. Ich
stand allein auf einer Insel in den Wolken; und ich hatte keine Flucht-
möglichkeit, und meine Tage waren bitter. Es war schneidend kalt, und
ich hatte nur wenig Raum, um auf- und abzuschreiten, wenn ich darüber
nachgrübelte, daß die Reiter in den Norden kamen.
Daß die Neun in der Tat wieder umgingen, dessen war ich sicher, ganz
abgesehen von Sarumans Worten, die Lügen sein konnten. Lange, ehe ich
nach Isengart gekommen war, hatte ich nämlich unterwegs Nachrichten
erhalten, die nicht falsch sein konnten. Ich bangte um meine Freunde im
Auenland; doch hatte ich immer noch Hoffnung. Ich hoffte, daß Frodo
sich sofort aufgemacht habe, wie mein Brief verlangt hatte, und daß er
Bruchtal erreicht habe, ehe die tödliche Verfolgung begann. Und sowohl
meine Furcht als auch meine Hoffnung erwiesen sich als unbegründet.
Denn meine Hoffnung gründete sich auf einen dicken Mann in Bree; und
meine Furcht gründete sich auf Saurons Listigkeit. Aber dicke Männer,
die Bier verkaufen, müssen vielen Bestellungen nachkommen; und Sau-
rons Macht ist immer noch geringer, als die Furcht uns glauben läßt.
Doch im Felsenring von Isengart, gefangen und allein, war es nicht ein-
fach, sich vorzustellen, daß die Jäger, vor denen alle flohen oder ihnen sich
unterwarfen, im weit entfernten Auenland scheitern sollten.«
»Ich habe dich gesehen!« rief Frodo. »Du bist immer hin- und herge-
gangen. Der Mond schimmerte auf deinem Haar.«
Gandalf hielt erstaunt inne und sah ihn an. »Es war nur ein Traum«,
sagte Frodo. »Er ist mir gerade wieder eingefallen. Ich hatte ihn ganz ver-
gessen. Es ist einige Zeit her, daß ich das träumte; nachdem ich das
Auenland verlassen hatte, glaube ich.«
»Das war dann reichlich spät, wie du gleich sehen wirst. Ich war in
einer üblen Lage. Und wer mich kennt, wird zugeben, daß ich selten in
solcher Not gewesen war und ein derartiges Mißgeschick nicht gut er-
trage. Gandalf der Graue wie eine Fliege im verräterischen Netz einer
Spinne! Doch selbst bei den tückischen Spinnen mag es einen schwachen
Faden geben.
Zuerst fürchtete ich, was Saruman zweifellos beabsichtigt hatte, daß
auch Radagast umgefallen sei. Doch hatte ich, als wir uns trafen, in sei-
ner Summe oder seinen Augen keinerlei Anzeichen bemerkt, daß etwas
nicht stimmte. Sonst wäre ich nicht nach Isengart gegangen oder wäre
vorsichtiger gewesen. Das hatte Saruman vermutet, und deshalb hatte er
Absichten verheimlicht und seinen Boten getäuscht. Es wäre
sowieso zwecklos gewesen, wenn er versucht hätte, den ehrlichen Rada-
gast für eine Verräterei zu gewinnen. Radagast suchte in gutem Glauben
nach mir, und deshalb hatte ich auf ihn gehört.
Daran scheiterte Sarumans schnöder Plan. Denn Radagast hatte keinen
Grund, nicht zu tun, worum ich ihn gebeten hatte; und er ritt nach
Düsterwald, wo er viele alte Freunde hatte. Und die Adler des Gebirges
flogen überallhin und sahen viele Dinge: das Sammeln der Wölfe und die
Anwerbung der Orks; und die Neun Reiter, die hierhin und dorthin
durch die Lande zogen; und sie hörten von Gollums Flucht. Und sie
schickten einen Boten aus, der mir diese Nachrichten überbringen sollte.
So geschah es, daß in einer mondhellen Nacht, als der Sommer sich
neigte, Gwaihir, der Herr der Winde, der schnellste der Großen Adler,
unerwartet nach Orthanc kam; und er fand mich auf der Zinne stehend.
Dann sprach ich mit ihm, und er trug mich davon, ehe Saruman es be-
merkte. Ich war schon weit von Isengart, als die Wölfe und Orks aus
dem Tor herausströmten, um mich zu verfolgen.
>Wie weit kannst du mich tragen?< fragte ich Gwaihir.
>Viele Wegstunden<, antwortete er. >Aber nicht ans Ende der Welt. Ich
war ausgesandt, Nachrichten zu überbringen, nicht Lasten zu tragen. <
>Dann muß ich ein Roß auf der Erde haben<, sagte ich, >und zwar ein
ungemein schnelles Roß, denn nie zuvor habe ich Eile so bitter nötig ge-
habte
>Dann werde ich dich nach Edoras bringen, wo der Herr von Rohan in
seinen Hallen sitzt<, sagte er. >Denn das ist nicht weit.< Und ich war froh,
denn in der Riddermark von Rohan wohnen die Rohirrim, die Herren der
Rösser, und es gibt keine Pferde wie jene, die in dem großen Tal zwischen
dem Nebelgebirge und dem Weißen Gebirge gezüchtet werden.
>Glaubst du, daß man den Menschen von Rohan noch trauen kann?<
fragte ich Gwaihir, denn Sarumans Verrat hatte meinen Glauben erschüt-
tert.
>Sie entrichten Tribut in Form von Pferden<, antwortete er, >und schik-
ken jährlich viele nach Mordor, oder jedenfalls heißt es so; doch noch
sind sie nicht unterjocht. Aber wenn Saruman böse geworden ist, wie du
sagst, dann kann sich ihr Schicksal nicht lange verzögern.<

Er setzte mich vor dem Morgengrauen im Lande Rohan ab; aber ich
habe meine Geschichte allzu sehr ausgedehnt. Der Rest muß kürzer sein.
In Rohan fand ich das Böse bereits am Werk: Sarumans Lügen; und der
König des Landes wollte auf meine Warnungen nicht hören. Er hieß mich
ein Pferd nehmen und davonreiten; und ich traf eine Wahl, die mir sehr
gefiel, aber ihm weniger. Ich nahm das beste Pferd in seinem Land, und
niemals habe ich eins gesehen, das ihm gleichkam.«
»Dann muß es wirklich ein edles Tier sein«, sagte Aragorn. »Und es
bekümmert mich mehr als viele Nachrichten, die schlimmer zu sein schei-
nen, daß Sauron solchen Tribut erhebt. Es war nicht so, als ich zuletzt in
jenem Lande war.«
»Und auch jetzt ist es nicht so, das will ich beschwören«, sagte Boro-
mir. »Es ist eine Lüge, die der Feind ausstreut. Ich kenne die Menschen
von Rohan, sie sind treu und tapfer, unsere Verbündeten, und sie wohnen
noch in den Landen, die wir ihnen einstmals gaben.«
»Mordors Schatten liegt auf weit entfernten Ländern«, antwortete
Aragorn. »Saruman ist ihm erlegen. Rohan wird bedrängt. Wer weiß,
was Ihr finden werdet, wenn Ihr jemals dorthin zurückkehrt?«
»Zumindest das nicht«, sagte Boromir, »daß sie ihr Leben mit Pferden
erkaufen. Nächst ihren Blutsverwandten lieben sie ihre Pferde. Und nicht
ohne Grund, denn die Pferde der Riddermark kommen von den Feldern
des Nordens, weit entfernt von dem Schatten, und ihre Rasse stammt wie
das Geschlecht ihrer Herren aus den freien Tagen von einst.«
»So ist es fürwahr«, sagte Gandalf. »Und eines ist unter ihnen, das
hätte in der Morgendämmerung der Welt geboren sein können. Die
Pferde der Neun können sich nicht mit ihm messen; unermüdlich und
schnell wie der Wind. Schattenfell nannten sie es. Bei Tage schimmert
sein Fell wie Silber; und bei Nacht ist es wie ein Schatten und eilt ungese-
hen dahin. Leicht ist sein Schritt. Niemals zuvor hatte ein Mann es gerit-
ten, doch ich nahm es und zähmte es; und so geschwind trug es mich, daß
ich ins Auenland kam, als Frodo auf den Hügelgräberhöhen war, obwohl
ich erst von Rohan aufgebrochen war, als er von Hobbingen aufbrach.
Aber meine Angst wuchs, während ich ritt. Überall im Norden hörte
ich von den Reitern, und obwohl ich ihnen von Tag zu Tag näher kam,
waren sie mir doch immer voraus. Sie hatten sich verteilt, wie ich erfuhr:
einige blieben an der Ostgrenze, nicht weit vom Grünweg, und einige
drangen vom Süden her ins Auenland ein. Ich kam nach Hobbingen, und
Frodo war fort; doch wechselte ich ein paar Worte mit dem alten Gam-
dschie; viele Worte und wenig zur Sache. Er hatte viel zu sagen über die
mißlichen Eigenschaften der neuen Eigentümer von Beutelsend.
>Ich mag keine Veränderungen<, sagte er, >Nicht zu meinen Lebzeiten,
und am allerwenigsten, wenn es zum Schlimmsten kommt<. — »Wenn es
zum Schlimmsten kommt<, wiederholte er viele Male.
>Zum Schlimmsten ist ein böses Wort<, sagte ich zu ihm, >und ich
hoffe, du wirst es nicht erleben.< Aber aus all seinem Gerede entnahm
ich schließlich, daß Frodo noch nicht einmal eine Woche zuvor Hobbin-
gen verlassen hatte, und daß ein schwarzer Reiter am selben Abend auf
den Bühl gekommen war. Dann ritt ich voller Angst weiter. Ich kam
nach Bockland und fand es in Aufruhr und aufgescheucht wie einen
Ameisenhaufen, in den man einen Stock hineingestoßen hatte. Ich kam
zu dem Haus in Krickloch, es war aufgebrochen worden und leer; doch
auf der Schwelle lag ein Mantel, der Frodo gehört hatte. Dann verließ
mich die Hoffnung eine Weile, und ich wartete nicht ab, um neue Nach-
richten zu sammeln, die mich vielleicht getröstet hätten. Vielmehr ritt ich
weiter auf den Spuren der Reiter. Es war schwierig, ihnen zu folgen, denn
sie führten hierhin und dorthin, und ich war ratlos. Doch schien mir, daß
ein oder zwei von ihnen nach Bree geritten waren; und diesen Weg schlug
ich ein, denn ich dachte an Worte, die vielleicht dem Gastwirt gesagt
worden sein könnten.
>Butterblume heißt er<, dachte ich. »Wenn diese Verzögerung seine
Schuld ist dann werde ich alle Butter aus ihm herausschmelzen. Auf
einem langsamen Feuer werde ich den alten Narren rösten.< Er erwartete
auch nichts weniger, denn als er mein Gesicht sah, fiel er platt auf den
Boden und begann auf der Stelle zu schmelzen.«
»Was hast du mit ihm gemacht?« rief Frodo besorgt aus. »Er war wirk-
lich sehr freundlich zu uns und tat, was er nur konnte.«
Gandalf lachte. »Nur keine Sorge!«, sagte er. »Ich habe ihn nicht gebis-
sen und nur sehr wenig gebellt. Ich war so überglücklich durch die Neu-
igkeiten, die ich aus ihm herausholte, nachdem er aufgehört hatte zu zit-
tern, daß ich den alten Burschen umarmte. Wie es vorsich gegangen war,
konnte ich damals noch nicht erraten, aber ich erfuhr, daß du die Nacht
zuvor in Bree gewesen und am Morgen mit Streicher weggegangen warst.
>Streicher!< rief ich und schrie vor Freude.
>Ja, Herr, leider, Hern, sagte Butterblume, der mich mißverstanden
hatte. >Er hat sich an sie herangemacht, und ich konnte es nicht verhin-
dern, daß sie sich mit ihm einließen. Sie haben sich die ganze Zeit, als sie
hier waren, sehr merkwürdig benommen; eigensinnig, könnte man,
sagen.<
>Esel! Dummkopf! Dreifach wackerer und geliebter Gerstenmann!<
sagte ich. >Das ist die beste Nachricht, die ich seit Mittsommer bekommen
habe: ein Goldstück ist sie mindestens wert. Möge ein Zauber bewirken,
daß dein Bier sieben Jahre lang an Vortrefflichkeit zunimmt! Nun kann
ich mir eine ruhige Nacht gönnen, die erste seit ich weiß nicht wann.<

So blieb ich diese Nacht dort und fragte mich, was wohl aus den Rei-
tern geworden sei; denn bisher wußte man offenbar in Bree nur von
zweien. Doch in der Nacht hörten wir mehr. Zumindest fünf kamen von
Westen, und sie rissen die Tore nieder und jagten durch Bree wie ein
Sturmwind; und die Leute in Bree zittern immer noch und warten auf das
Ende der Welt. Vor dem Morgengrauen stand ich auf und ritt ihnen nach.
Ich weiß nicht genau, was geschehen war, aber ich reimte es mir fol-
gendermaßen zusammen. Ihr Anführer hatte sich irgendwo weit südlich
von Bree verborgen, während zwei voraus durch das Dorf ritten und vier
weitere ins Auenland eindrangen. Aber nach ihren Mißerfolgen in Bree
und Krickloch kehrten sie zu ihrem Anführer zurück, um ihm Bericht zu
erstatten, und so blieb die Straße eine Weile unbewacht, außer durch ihre
Späher. Dann schickte der Anführer einige nach Osten direkt über Land,
und er selbst ritt mit den übrigen wutentbrannt die Straße entlang.
Ich galoppierte wie ein Sturmwind zur Wetterspitze und erreichte sie
an meinem zweiten Tag nach Bree vor Sonnenuntergang — und sie waren
schon vor mir da. Sie zogen sich vor mir zurück, denn sie spürten das
Aufkommen meines Zorns und wagten sich ihm nicht auszusetzen,
solange die Sonne am Himmel stand. Aber sie kreisten mich des Nachts
ein, und ich wurde auf dem Berggipfel belagert, in dem alten Ringwall
des Amon Sûl. Ich wurde wahrlich schwer bedrängt: solche Blitze und
Flammen sind auf der Wetterspitze seit den Signalfeuern der Kriege in
alter Zeit nicht mehr gesehen worden.
Bei Sonnenaufgang entkam ich und floh nach Norden. Ich konnte nicht
hoffen, mehr zu tun. Es war unmöglich, dich, Frodo, in der Wildnis zu
finden, und der Versuch wäre töricht gewesen, da mir alle Neun auf den
Fersen waren. So mußte ich mich auf Aragorn verlassen. Doch hoffte ich,
einige von ihnen abzulenken und Bruchtal vor euch zu erreichen und euch
Hilfe zukommen zu lassen. Vier Reiter folgten mir tatsächlich, aber nach
einer Weile gaben sie es auf und begaben sich offenbar zur Furt. Das
nützte ein wenig, denn auf diese Weise waren es nur fünf und nicht neun,
die euer Lager angriffen.
Ich traf hier schließlich nach einem langen und beschwerlichen Weg
ein, den Weißquell hinauf und durch die Ettenöden, von Norden also. Fast
vierzehn Tage brauchte ich von der Wetterspitze, denn zwischen den Fel-
sen der Troll-Höhen konnte ich nicht reiten, und Schattenfell kehrte
um. Ich schickte ihn zurück zu seinem Herrn; doch eine große Freund-
schaft ist zwischen uns erwachsen, und wenn ich ihn brauche, wird er auf
meinen Ruf kommen. Aber so geschah es, daß ich nur drei Tage vor dem
Ring nach Bruchtal kam, und Nachrichten darüber, in welcher Gefahr er
war, waren bereits eingetroffen — und das erwies sich wahrlich als gut.
Und das, Frodo, ist das Ende meines Berichts. Mögen Elrond und die
anderen seine Länge verzeihen. Doch ist es noch niemals geschehen, daß
Gandalf eine Verabredung nicht einhielt und nicht kam, wenn er es ver-
sprochen hatte. Dem Ringträger eine Erklärung für ein so ungewöhn-
liches Vorkommnis zu geben, schien mir erforderlich.
So, nun ist die Geschichte von Anfang bis Ende erzählt. Hier sind wir
alle, und hier ist der Ring. Aber unserem Ziel sind wir noch keineswegs
näher gekommen. Was sollen wir mit ihm tun?«
Es trat ein Schweigen ein. Schließlich sprach Elrond.
»Die Nachricht über Saruman ist betrüblich«, sagte er. »Denn wir ver-
trauten ihm, und er ist in all unsere Ratschlüsse eingeweiht. Es ist gefähr-
lich, allzu weit die Künste des Feindes zu erforschen, sei es mit guten oder
mit bösen Absichten. Doch solchen Abfall und Verrat hat es leider schon
früher gegeben. Von den Erzählungen, die wir heute gehört haben, war
die von Frodo die seltsamste für mich. Ich habe wenige Hobbits gekannt,
außer Bilbo hier; und mir scheint, daß er vielleicht nicht so einzigartig
und einmalig ist, wie ich geglaubt hatte. Die Welt hat sich sehr gewan-
delt, seit ich zuletzt auf den westlichen Straßen war.
Die Grabunholde kennen wir unter vielen Namen; und vom Alten Wald
sind viele Geschichten erzählt worden. Die Zeit ist vorüber, da ein Eich-
hörnchen von Baum zu Baum hüpfen konnte von dem Land, das heute das
Auenland ist, nach Dunland westlich von Isengart. In jenen Landen
wanderte ich einst und kannte viele wilde und merkwürdige Wesen. Doch
hatte ich Bombadil vergessen, wenn er wirklich derselbe ist, der vor langer
Zeit in den Wäldern und Bergen umging und damals schon älter als alt
war. Zu jener Zeit war das nicht sein Name. Iarwain Ben-adar nannten
wir ihn, den Ältesten und Vaterlosen. Doch so mancher andere Name ist
ihm seitdem von anderen Völkern gegeben worden: Forn von den Zwer-
gen, Orald von den Menschen des Nordens, und noch andere Namen. Er
ist ein seltsames Geschöpf, doch vielleicht hätten wir ihn zu unserer Bera-
tung einladen sollen.«
»Er wäre nicht gekommen«, sagte Gandalf.
»Könnten wir nicht immer noch einen Boten zu ihm schicken und seine
Hilfe erbitten?« fragte Erestor. »Es scheint, daß er sogar über den Ring
Macht besitzt.«
»Nein, so würde ich es nicht ausdrücken«, meinte Gandalf. »Man
müßte eher sagen, der Ring hat keine Macht über ihn. Bombadil ist sein
eigener Herr. Doch kann er den Ring nicht verändern und auch seine
Macht über andere nicht brechen. Und jetzt hat er sich in ein kleines Land
zurückgezogen, dessen Grenzen er selbst festgelegt hat, obwohl niemand
sie sehen kann, und wartet vielleicht auf einen Wandel der Zeiten, und er
wird diese Grenzen nicht überschreiten.«
»Aber innerhalb dieser Grenzen scheint ihn nichts zu schrecken«,
sagte Erestor. »Ob er nicht den Ring nehmen und dort aufbewahren
würde, so daß er immerdar unschädlich wäre?«
»Nein«, antwortete Gandalf. »Nicht gern. Er täte es vielleicht, wenn
alle freien Völker der Welt ihn darum bäten, aber er würde die Notwen-
digkeit nicht einsehen. Und wenn er den Ring erhielte, würde er ihn bald
vergessen oder höchstwahrscheinlich wegwerfen. Derartige Dinge prägen
sich seinem Sinn nicht ein. Er wäre ein sehr unsicherer Hüter; und das
allein ist Antwort genug.«
»Und sowieso«, sagte Glorfindel, »würde es nur bedeuten, den Tag des
Unheils hinauszuschieben, wenn man ihm den Ring schickte. Er ist weit
von hier. Wir können den Ring jetzt nicht zu ihm zurückbringen, ohne
daß es von irgendeinem Späher erraten oder bemerkt wird. Und selbst
wenn wir es könnten, würde der Herr der Ringe früher oder später von
dem Versteck erfahren und seine ganze Macht darauf richten. Könnte
Bombadil allein dieser Macht Trotz bieten? Ich glaube es nicht. Ich
glaube, wenn alles andere erobert ist, wird auch Bombadil erliegen, als
Letzter, wie er der Erste gewesen ist; und dann wird die Nacht kommen.«
»Ich weiß von Iarwain wenig außer dem Namen«, sagte Galdor. »Aber
Glorfindel hat, glaube ich, recht. Die Macht, unserem Feind zu trotzen, ist
nicht in ihm, es sei denn, solche Macht wäre in der Erde selbst. Und den-
noch sehen wir, daß Sauron sogar die Berge martern und zerstören kann.
Was an Macht noch bleibt, beruht auf uns hier in Imladris oder auf Cir-
dan an den Anfurten, oder auf Lórien. Aber haben sie die Kraft, haben
wir hier die Kraft, dem Feind zu widerstehen, Saurons letztem Ansturm,
wenn alles andere niedergeworfen ist?«
»Ich habe die Kraft nicht«, sagte Elrond. »Und die anderen auch
nicht.«
»Wenn der Ring also durch Stärke nicht auf immerdar vor ihm be-
wahrt bleiben kann«, sagte Glorfindel, »dann gibt es nur zwei Möglich-
keiten: zu versuchen, ihn über das Meer zu senden oder ihn zu vernich-
ten.«
»Aber Gandalf hat uns doch schon erklärt, daß wir es nicht vermögen,
 ihn zu vernichten«, sagte Elrond. »Und jene, die jenseits des Meeres woh-
nen, würden ihn nicht annehmen: denn zum Guten oder Bösen gehört er
nach Mittelerde; uns, die wir hier noch weilen, liegt es ob, uns mit ihm
auseinanderzusetzen.«
»Dann wollen wir ihn ins Meer werfen«, sagte Glorfindel, »und
damit Sarumans Lügen wahr werden lassen. Denn jetzt ist es klar, daß
seine Füße schon im Rat auf krummen Pfaden wandelten. Er wußte, daß
der Ring nicht auf immer verloren war, aber er wollte, daß wir es glaub-
ten; denn er begann selbst nach ihm zu gieren. Und doch ist in Lüge oft
Wahrheit verborgen: im Meer würde er sicher sein.«
»Nicht sicher für immer«, sagte Gandalf. »Es gibt viele Dinge in tiefen
Wassern; und Meere und Länder können sich ändern. Und es ist nicht
unsere Aufgabe hier, nur Überlegungen für ein Jahr oder ein paar Men-
schenleben oder für ein vorübergehendes Zeitalter der Welt anzustellen.
Wir sollten nach einer Möglichkeit suchen, wie dieser Bedrohung ein für
allemal ein Ende gesetzt werden kann, selbst wenn wir nicht hoffen kön-
nen, es zu vollbringen.»
»Und diese Möglichkeit werden wir nicht auf den Wegen zum Meer
finden«, sagte Galdor. »Wenn wir die Rückkehr des Ringes zu larwain
schon für zu gefährlich halten, dann ist die Flucht zum Meer voll der
schwersten Gefahren. Mein Herz sagt mir, daß, sobald Sauron erfährt, was
geschehen ist, und das wird er bald erfahren, er annehmen wird, daß wir den
Weg nach Westen einschlagen. Die Neun haben ihre Pferde eingebüßt,
doch das ist nur ein Aufschub, bis sie neue und schnellere Rosse finden.
Allein die schwindende Macht von Gondor verhindert jetzt noch seinen
mächtigen Marsch nach Norden entlang den Küsten; und wenn er wirk-
lich die Weißen Türme und die Anfurten angreift, mag es sein, daß die
Elben danach keine Möglichkeit mehr haben, dem längerwerdenden Schat-
ten von Mittelerde zu entfliehen.«
»Doch lange wird dieser Marsch noch auf sich warten lassen«, sagte
Boromir. »Gondors Macht schwindet, sagt Ihr. Aber Gondor steht noch,
und selbst das Ende seiner Kraft ist noch sehr stark.«
»Und dennoch kann Gondors Wachsamkeit die Neun nicht länger zu-
rückhalten«, sagte Galdor. »Und andere Straßen mag der Feind finden,
die Gondor nicht bewacht.«
»Dann«, sagte Erestor, »gibt es nur zwei Möglichkeiten, wie Glorfindel
schon erklärt hat: den Ring für immer zu verbergen; oder ihn zu zerstö-
ren. Aber beides übersteigt unsere Macht. Wer kann dieses Rätsel für uns
lösen?«
»Niemand hier«, sagte Elrond ernst. »Zumindest kann niemand voraus-
sagen, was geschehen wird, wenn wir diesen oder jenen Weg gehen. Doch
mir scheint es jetzt klar zu sein, welchen Weg wir einschlagen müssen.
Der Westen scheint der einfachste zu sein. Daher müssen wir ihn vermei-
den. Er wird beobachtet werden. Zu oft sind Elben auf diesem Wege ge-
flohen. Jetzt endlich müssen wir einen harten Weg nehmen, einen unvor-
hergesehenen. Darin liegt unsere Hoffnung, wenn es überhaupt Hoffnung
gibt. Den gefahrvollen Weg gehen — nach Mörder. Wir müssen den Ring
dem Feuer überantworten.«
Wieder trat Schweigen ein. Als Frodo hinausschaute in das sonnen-
helle Tal, erfüllt von dem Plätschern klaren Wassers, verspürt er sogar in
diesem schönen Haus eine dumpfe Finsternis in seinem Herzen. Boromir
machte eine Bewegung, und Frodo sah ihn an. Er spielte mit seinem gro-
ßen Horn und runzelte die Stirn. Schließlich sprach er.
»Ich verstehe das alles nicht«, sagte er. »Saruman ist ein Verräter, aber
hat er nicht doch eine Spur Weisheit erkennen lassen? Warum sprecht Ihr
immer von Verbergen und Vernichten? Warum sollten wir nicht glauben,
daß der Große Ring uns in die Hände gefallen ist, um uns in der Stunde
der Not zu dienen? Wenn die freien Gebieter der Freien ihn besitzen, kön-
nen sie den Feind gewiß besiegen. Das ist es, nehme ich an, was er am
meisten fürchtet.
Die Menschen von Gondor sind tapfer, und sie werden sich niemals
unterwerfen; aber es mag sein, daß sie geschlagen werden. Mut braucht
erstens Stärke und dann eine Waffe. Laßt den Ring Eure Waffe sein,
wenn er solche Macht besitzt, wie Ihr sagt. Nehmt ihn und geht dem Sieg
entgegen!«
»Leider ist das nicht möglich«, sagte Elrond. »Wir können den Beherr-
schenden Ring nicht verwenden. Das wissen wir allzu genau. Er gehört
Sauron und ist von ihm allein gemacht worden, und er ist durch und
durch böse. Seine Stärke, Boromir, ist zu groß, als daß irgend jemand ihn
nach Belieben gebrauchen könnte, ausgenommen jene, die schon selber
eine große Macht besitzen. Aber für sie birgt der Ring eine noch töd-
lichere Gefahr. Schon der Wunsch nach ihm verdirbt das Herz. Denket an
Saruman. Wenn einer der Weisen den Herrscher von Mordor mit diesem
Ring stürzen würde und dabei seine eigenen Listen anwendet, dann würde
er sich selbst auf Saurons Thron setzen, und damit hätten wir nur einen
weiteren Dunklen Herrscher. Und es gibt noch einen Grund, warum der
Ring zerstört werden sollte: solange er auf der Welt ist, wird selbst für
die Weisen eine Gefahr bestehen. Denn nichts ist von Anfang an böse.
Selbst Sauron war es nicht. Ich fürchte mich davor, den Ring zu nehmen,
um ihn zu verbergen. Ich will den Ring auch nicht nehmen, um ihn zu
gebrauchen.«
»Ich auch nicht«, sagte Gandalf.
Boromir sah sie zweifelnd an, doch senkte er den Kopf. »So sei es«,
sagte er. »Dann müssen wir in Gondor uns auf die Waffen verlassen, die
wir haben. Und zumindest werden wir, solange die Weisen diesen Ring
bewachen, weiterkämpfen. Vielleicht vermag das Geborstne Schwert die
Flut noch aufzuhalten — wenn die Hand, die es führt, nicht nur das Erbstück
allein, sondern auch die Kraft der Könige der Menschen geerbt hat.«
»Wer weiß?« sagte Aragorn. »Aber eines Tages werden wir es auf die
Probe stellen.«
»Möge der Tag nicht zu fern sein«, antwortete Boromir. »Denn obwohl
ich nicht um Hilfe bitte, brauchen wir sie. Es wäre für uns tröstlich zu
wissen, daß auch andere mit allen Mitteln kämpfen, die sie besitzen.«
»Dann seid getröstet«, sagte Elrond. »Denn es gibt noch andere Mächte
und andere Reiche, von denen Ihr nichts wißt und die Euch verborgen
sind. Anduin der Große bespült viele Ufer, bis er nach Argonath kommt
und zu den Toren von Gondor.«
»Indes könnte es für alle gut sein«, sagt Glóin, der Zwerg, »wenn alle
diese Kräfte vereinigt würden und die Macht jedes einzelnen im Bunde
mit den anderen gebraucht würde. Es mag noch andere Ringe geben,
weniger tückische, die in unserer Not vielleicht benutzt werden könnten.
Die Sieben sind für uns verloren — wenn Balin nicht den Ring von Thrór
gefunden hat, der der letzte war; nichts hat man über ihn gehört, seit
Thrór in Moria umgekommen ist. Jetzt kann ich es ja offenbaren, daß es
teilweise die Hoffnung war, diesen Ring zu finden, die Balin veranlaßte,
wegzugehen.«
»Balin wird keinen Ring in Moria finden«, sagte Gandalf. »Thrór gab
ihn Thráin, seinem Sohn, aber Thráin gab ihn nicht Thorin. Er wurde
Thráin unter Foltern in den Verliesen von Dol Guldur abgenommen. Ich
kam zu spät.«
»O wehe, wehe!« rief Glóin. »Wann wird der Tag unserer Rache kom-
men? Doch gibt es noch die Drei. Wie steht es mit den Drei Ringen der
Elben? Sehr mächtige Ringe, heißt es. Haben die Elbenfürsten sie nicht?
Auch sie wurden vor langer Zeit von dem Dunklen Herrscher gemacht.
Sind sie wertlos? Ich sehe Herren der Elben. Wollen sie nicht sprechen?«
Die Elben gaben keine Antwort. »Habt Ihr mich nicht verstanden,
Glóin?« sagte Elrond. »Die Drei sind nicht von Sauron gemacht worden,
und er hat sie auch nie berührt. Doch über sie zu sprechen ist nicht er-
laubt. Nur so viel kann ich in dieser Stunde des Zweifels sagen. Sie sind
nicht wertlos. Aber sie wurden nicht als Waffen des Krieges oder der
Eroberung gemacht: darin liegt ihre Macht nicht. Diejenigen, die sie her-
stellten, gelüstete es nicht nach Macht oder Herrschaft oder angehäuftem
Reichtum, sondern danach, zu verstehen, zu wirken und zu heilen, um alle
Dinge rein zu erhalten. Das haben die Elben von Mittelerde in einem ge-
wissen Ausmaß erreicht, wenn auch mit Leid. Aber alles, was diejenigen
geschaffen haben, die die Drei gebrauchen, wird sich in Verderben ver-
wandeln, und ihr Geist und ihre Herzen werden Sauron enthüllt werden,
wenn er den Einen wiedergewinnt. Es wäre dann besser, daß es die Drei
nie gegeben hätte. Das ist sein Ziel.«
»Aber was würde geschehen, wenn der Beherrschende Ring zerstört
wird, wie Ihr ratet?» fragte Glóin.
»Wir wissen es nicht genau«, antwortete Elrond traurig. »Manche hof-
fen, daß die Drei Ringe, die Sauron niemals berührt hat, dann frei würden
und ihre Beherrscher die Wunden der Welt heilen könnten, die er geschla-
gen hat. Doch mag es auch sein, daß die Drei, wenn der Eine nicht mehr
ist, dahinschwinden, und viele schöne Dinge verblassen und vergessen
sein werden. Das ist es, was ich glaube.«
»Dennoch sind alle Elben bereit, dieses Wagnis auf sich zu nehmen«,
sagte Glorfindel, »wenn dadurch Saurons Macht gebrochen und die
Furcht vor seiner Herrschaft auf immer gebannt werden kann.«
»So kommen wir also wiederum auf die Vernichtung des Rings zu-
rück«, sagte Erestor, »und doch gelangen wir nicht weiter. Welche Macht
haben wir, das Feuer zu finden, in dem er gemacht wurde? Das ist der
Weg der Verzweiflung. Oder Torheit, würde ich sagen, wenn Elronds
große Weisheit es mir nicht verbieten würde.«
»Verzweiflung oder Torheit?« sagte Gandalf. »Es ist nicht Verzweif-
lung, denn Verzweiflung ist nur für jene, die das Ende unzweifelhaft er-
blicken. Das tun wir nicht. Es ist Weisheit, die Notwendigkeit zu erken-
nen, wenn alle anderen Möglichkeiten erwogen sind, obwohl es denjeni-
gen wie Torheit vorkommen mag, die sich an falsche Hoffnungen klam-
mem. Nun gut, laßt Torheit unseren Deckmantel sein, ein Schleier vor
den Augen des Feindes! Denn er ist klug und wägt auf den Waagschalen
seiner Bosheit alles genauestens ab. Doch der einzige Maßstab, den er
kennt, ist Begehren, das Streben nach Macht, und danach beurteilt er alle
Herzen. Ihm wird der Gedanke nicht kommen, daß jemand keinen Ge-
brauch davon machen will, daß wir den Ring haben und dennoch trachten
könnten, ihn zu zerstören. Wenn wir das versuchen, werden wir seine
ganze Berechnung durcheinander bringen.«
»Zumindest eine Zeitlang«, sagte Elrond. »Der Weg muß beschritten
werden, aber er wird sehr schwer sein. Und weder Stärke noch Weisheit
werden uns weit bringen. Diese Aufgabe mögen die Schwachen mit
ebensoviel Hoffnung versuchen wie die Starken. So ist es oft mit Taten,
die die Räder der Welt in Bewegung setzen: kleine Hände vollbringen sie,
weil sie müssen, während die Augen der Großen anderswo sind.«
»Schon gut, schon gut, Herr Elrond!« sagte Bilbo plötzlich. »Ihr
braucht nichts mehr zu sagen! Es ist deutlich genug, worauf Ihr anspielt.
Bilbo, der dumme Hobbit, hat die Sache angefangen und sollte sie besser
zu Ende bringen, ehe es mit ihm zu Ende ist. Es war sehr behaglich hier
für mich, und ich kam mit meinem Buch voran. Wenn Ihr es wissen
wollt, ich schreibe gerade einen Schluß dafür. Ich hatte vor, es so auszu-
drücken: und er lebte danach glücklich bis ans Ende seiner Tage. Es ist
ein guter Schluß, auch wenn er nicht ganz neu ist. Jetzt werde ich das
ändern müssen: es sieht nicht so aus, als ob es so käme; und es werden
sowieso noch verschiedene Kapitel folgen müssen, falls ich lange genug
lebe, um sie noch zu schreiben. Es ist schon wirklich sehr ärgerlich. Wann
soll ich aufbrechen?«
Boromir sah Bilbo verwundert an, aber das Lachen erstarb auf seinen
Lippen, als er sah, daß alle anderen den alten Hobbit mit ernster Hochach-
tung betrachteten. Nur Glóin lächelte, aber sein Lächeln ging auf alte Er-
innerungen zurück.
»Natürlich, mein lieber Bilbo«, sagte Gandalf. »Wenn du diese
Sache wirklich angefangen hättest, dann könnte man von dir erwarten,
daß du sie auch zu Ende führst. Aber du weißt sehr wohl, daß anfangen
für jeden ein zu großes Wort ist und daß bei großen Taten von jedem
Helden nur eine kleine Rolle gespielt wird. Du brauchst dich nicht zu ver-
beugen! Obwohl das Wort ernst gemeint war und wir nicht zweifeln, daß
sich hinter deinem Scherz ein tapferes Angebot verbirgt. Aber es über-
steigt deine Kraft, Bilbo. Du kannst dieses Ding nicht zurücknehmen. Es
ist weitergegangen. Wenn du noch meines Rates bedarfst, dann würde ich
sagen, deine Rolle ist ausgespielt, es sei denn als Chronist. Beende dein
Buch und ändere den Schluß nicht! Es besteht immer noch Hoffnung.
Aber halte dich bereit, eine Fortsetzung zu schreiben, wenn sie zurück-
kommen.«
Bilbo lachte. »Ich habe noch nie erlebt, daß du mir angenehme Rat-
schläge gibst«, sagte er. »Da alle deine unangenehmen Ratschläge gut
waren, frage ich mich, ob dieser Rat nicht schlecht ist. Immerhin glaube
ich nicht, daß mir genug Kraft oder Glück geblieben ist, um mit dem Ring
fertigzuwerden. Er ist gewachsen, und ich nicht. Aber sage mir: wen
meinst du mit sie?«
»Die Boten, die mit dem Ring fortgeschickt werden.«
»Genau! Und wer sollen sie sein? Das, scheint mir, hat dieser Rat zu
entscheiden, und es ist alles, was er zu entscheiden hat. Elben mögen vom
Reden allein leben können, und Zwerge ertragen große Müdigkeit; aber
ich bin bloß ein alter Hobbit und vermisse meine Mittagsmahlzeit. Könnt
ihr euch nicht jetzt ein paar Namen einfallen lassen? Oder es bis nach
dem Essen verschieben?«
Niemand antwortete. Die Mittagsglocke läutete. Noch immer sprach
niemand. Frodo warf einen Blick auf alle Gesichter, aber sie waren ihm
nicht zugewandt. Der ganze Rat saß mit niedergeschlagenen Augen da,
als ob er in Gedanken vertieft sei. Eine große Angst befiel ihn, als ob er
die Verkündung irgendeines Schicksalsspruchs erwartete, den er lange
vorausgesehen und von dem er dennoch vergebens gehofft hatte, daß er
nie ausgesprochen würde. Eine überwältigende Sehnsucht, sich auszuru-
hen und friedlich mit Bilbo in Bruchtal zu bleiben, erfüllte sein Herz.
Schließlich sprach er, mühsam, und er wunderte sich, seine eigenen Worte
zu hören, als ob irgendein anderer Wille sich seiner kleinen Stimme be-
diente.
»Ich werde den Ring nehmen«, sagte er, »obwohl ich den Weg nicht
weiß«.
Elrond hob die Augen und schaute ihn an, und Frodo spürte, wie die
plötzliche Schärfe dieses Blicks ihn durchbohrte. »Wenn ich alles richtig
verstanden habe, was ich gehört habe«, sagte Elrond, »dann glaube ich, daß
diese Aufgabe für dich, Frodo, bestimmt ist; und wenn du keinen Weg
findest, wird niemand ihn finden. Das ist die Stunde des Auenland-Vol-
kes, in der es sich von seinen friedlichen Äckern erhebt, um die Festungen
und Pläne der Großen zu erschüttern. Wer von allen Weisen hätte das
voraussehen können? Wenn sie wahrlich weise sind, warum sollten sie
dann erwarten, es zu wissen, ehe die Stunde geschlagen hat?
Aber es ist eine schwere Bürde. So schwer, daß niemand sie einem
anderen auferlegen kann. Ich erlege sie dir nicht auf. Wenn du sie aus
freien Stücken auf dich nimmst, werde ich sagen, daß deine Entscheidung
richtig ist; und selbst wenn alle mächtigen Elbenfreunde der alten Zeit,
Hador und Húrin und Túrin und Beren versammelt wären, wäre dein
Platz unter ihnen.«
»Aber Ihr werdet ihn doch gewiß nicht allein fortschicken, Herr?«
rief Sam, der sich nicht länger beherrschen konnte und aus der Ecke auf-
sprang, wo er still auf dem Fußboden gesessen hatte.
»Nein, fürwahr!« sagte Elrond und wandte sich lächelnd zu ihm. »Du
zumindest sollst mit ihm gehen. Es ist kaum möglich, dich von ihm zu
trennen, selbst wenn er zu einer geheimen Beratung eingeladen ist und du
nicht.«
Sam setzte sich, wurde rot und murmelte vor sich hin. »Eine schöne
Suppe, die wir uns da eingebrockt haben, Herr Frodo!« sagte er kopf-
schüttelnd.

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