ZWEITES BUCH

ERSTES KAPITEL
VIELE BEGEGNUNGEN

Frodo wachte auf und entdeckte, daß er im Bett lag. Zuerst glaubte er,
daß er lange geschlafen und etwas Unerfreuliches geträumt habe, das
immer noch am Rande seiner Erinnerung lauerte. Oder war er vielleicht
krank gewesen? Aber die Zimmerdecke sah fremd aus; sie war flach und
hatte dunkle, reich geschnitzte Balken. Er blieb noch eine Weile liegen,
betrachtete die Sonnenlichtflecke auf der Wand und lauschte dem Rau-
schen eines Wasserfalls.
»Wo bin ich, und wie spät ist es?« fragte er dann laut.
»In Elronds Haus, und es ist zehn Uhr morgens«, antwortete eine
Stimme. »Es ist der Morgen des vierundzwanzigsten Oktobers, wenn du
es wissen willst.«
»Gandalf!« rief Frodo und richtete sich auf. Da war der alte Zauberer,
er saß auf einem Stuhl am offenen Fenster.
»Ja«, sagte er. »Ich bin hier. Und du hast Glück, daß du auch hier bist,
nach all den törichten Dingen, die du getan hast, seit du von zu Hause
aufgebrochen bist.«
Frodo legte sich wieder hin. Er fühlte sich zu behaglich und friedlich,
um sich zu verteidigen, und außerdem glaubte er, daß er dabei sowieso den
kürzeren ziehen würde. Er war jetzt ganz wach, und die Erinnerung an
seine Fahrt kam ihm wieder: der verhängnisvolle »gerade Weg« durch
den Alten Wald; das »Mißgeschick« im Tänzelnden Pony; und daß er
so verrückt gewesen war, in der Mulde unterhalb der Wetterspitze den
Ring aufzusetzen. Während er noch an all das dachte und vergeblich ver-
suchte, in der Erinnerung bis zu seiner Ankunft in Bruchtal weiterzuge-
hen, herrschte ein langes Schweigen, das nur durch das leise Paffen von
Gandalf, der weiße Rauchringe zum Fenster hinausblies, unterbrochen
wurde.
»Wo ist Sam?« fragte Frodo endlich. »Und geht es den anderen gut?«
»Ja, sie sind alle gesund und munter«, antwortete Gandalf. »Sam war
hier, bis ich ihn vor etwa einer halben Stunde wegschickte, damit er sich
etwas ausruht.«
»Was hat sich an der Furt ereignet?« fragte Frodo. »Es schien mir alles
irgendwie so unklar; und das ist es mir noch.«
»Ja, das glaube ich. Du begannst zu schwinden«, sagte Gandalf. »Die
Wunde hat dich schließlich übermannt. Noch ein paar Stunden, und wir
hätten dir nicht mehr helfen können. Aber du hast einige Kraft in dir,
mein lieber Hobbit! Wie du in dem Hügelgrab bewiesen hast. Da stand es
auf Messers Schneide: vielleicht der gefährlichste Augenblick von allen.
Ich wünschte, du hättest an der Wetterspitze durchhalten können.«
»Du scheinst schon eine ganze Menge w. wissen«, sagte Frodo. »Ich
habe mit den anderen gar nicht über das Hügelgrab gesprochen. Zuerst
war es zu grauenvoll, und nachher gab es andere Dinge zu bedenken.
Woher weißt du davon?«
»Du hast viel im Schlaf geredet, Frodo«, sagte Gandalf freundlich.
»Und es war nicht schwer für mich, deine Gedanken und Erinnerungen zu
deuten. Mach dir keine Sorgen! Wenn ich eben >töricht< sagte, so meinte
ich das nicht ernst. Ich halte viel von dir — und den anderen. Es ist keine
kleine Leistung, daß ihr so weit gekommen seid und trotz solcher Gefah-
ren den Ring immer noch habt.«
»Ohne Streicher hätten wir es niemals geschafft«, meinte Frodo. »Aber
dich hätten wir gebraucht. Ich wußte nicht, was ich ohne dich tun sollte.«
»Ich bin aufgehalten worden«, sagte Gandalf, »und das hätte fast unse-
ren Untergang bedeutet. Und dennoch bin ich nicht sicher: vielleicht war
es besser so.«
»Ich wünschte, du würdest mir erzählen, was geschehen ist.«
»Alles zu seiner Zeit! Auf Elronds Befehl darfst du heute weder reden
noch dir über irgend etwas Sorgen machen.«
»Das Reden würde aber bewirken, daß ich nicht mehr nachdenke und
grübele, was ebenso anstrengend ist«, sagte Frodo. »Ich bin jetzt hellwach
und erinnere mich an vielerlei, das eine Erklärung verlangt. Warum wur-
dest du aufgehalten? Das zumindest solltest du mir sagen.«
»Du wirst bald alles hören, was du wissen willst«, antwortete Gandalf.
»Wir werden einen Rat abhalten, sobald es dir gut genug geht. Im
Augenblick will ich nur sagen, daß ich gefangen gehalten wurde.«
»Du?« rief Frodo.
»Ja, ich, Gandalf der Graue«, sagte der Zauberer ernst. »Es gibt viele
Mächte in der Welt, gute und böse. Manche sind größer als ich. Und mit
manchen habe ich mich noch nicht gemessen. Aber meine Zeit naht. Der
Morgul-Fürst und seine Schwarzen Reiter sind wieder in Erscheinung ge-
treten. Der Krieg bereitet sich vor!«
»Dann wußtest du schon von den Reitern — ehe ich sie traf?«
»Ja, ich wußte von ihnen. Ich habe sie sogar einmal dir gegenüber er-
wähnt; denn die Schwarzen Reiter sind die Ringgeister, die Neun Diener
des Herrn der Ringe. Aber ich wußte nicht, daß sie sich wieder erhoben
hatten, denn sonst wäre ich sofort mit dir geflohen. Nachrichten über sie
erhielt ich erst, nachdem ich dich im Juni verlassen hatte; aber diese Ge-
schichte muß warten. Für den Augenblick sind wir durch Aragorn vor
dem Verhängnis bewahrt worden.«
»Ja«, bestätigte Frodo. »Streicher hat uns gerettet. Dabei hatte ich zu-
erst Angst vor ihm. Sam hat ihm nie ganz getraut, glaube ich, jedenfalls
nicht, ehe wir Glorfindel trafen.«
Gandalf lächelte. »Ich habe alles über Sam gehört«, sagte er. »Jetzt
hat er keine Zweifel mehr.«
»Das freut mich«, erwiderte Frodo. »Denn ich habe Streicher wirklich
sehr gern. Allerdings ist gern nicht das richtige Wort. Ich meine, er ist
mir teuer; obwohl er fremdartig ist und zuzeiten grimmig. Eigentlich er-
innert er mich oft an dich. Ich wußte gar nicht, daß manche von den Gro-
ßen Leuten so sind. Ich dachte, nun ja, daß sie bloß groß sind und ziem-
lich dumm: freundlich und dumm wie Butterblume; oder dumm und böse
wie Lutz Farning. Aber schließlich wissen wir im Auenland nicht viel
über die Menschen, höchstens über die Breeländer.«
»Nicht einmal über sie wißt ihr viel, wenn du den alten Gerstenmann
für dumm hältst«, sagte Gandalf. »Auf seinem eigenen Gebiet ist er weise
genug. Er denkt weniger, als er redet, und langsamer; und doch kann er
rechtzeitig durch eine Steinmauer gucken (wie sie in Bree sagen). Aber
nur noch wenige sind in Mittelerde wie Aragorn, Arathoms Sohn. Das
Geschlecht der Könige von jenseits des Meeres ist fast ausgestorben. Es
mag sein, daß dieser Ringkrieg ihr letztes Abenteuer wird.«
»Meinst du wirklich, daß Streicher zum Volk der alten Könige gehört?«
fragte Frodo erstaunt. »Ich dachte, sie seien alle schon lange verschwun-
den. Ich dachte, er sei nur ein Waldläufer.«
»Nur ein Waldläufer!« rief Gandalf. »Mein lieber Frodo, das ist es ge-
rade, was die Waldläufer sind: die letzten Überlebenden im Norden jenes
großen Volkes, der Menschen des Westens. Sie haben mir schon früher
geholfen; und ich werde ihre Hilfe auch in den kommenden Tagen brau-
chen; denn wir haben zwar Bruchtal erreicht, aber der Ring ist noch nicht
zur Ruhe gekommen.
»Das glaube ich auch«, sagte Frodo. »Doch bisher war mein einziger
Gedanke, hierher zu gelangen; und ich hoffe, daß ich nicht weiterzugehen
brauche. Es ist sehr angenehm, bloß zu ruhen. Ich habe einen Monat Ver-
bannung und Abenteuer hinter mir, und das reicht mir eigentlich.«
Er schwieg und schloß die Augen. Nach einer Weile fuhr er fort. »Ich
habe nachgerechnet, und ich komme nicht auf den vierundzwanzigsten
Oktober. Es müßte der einundzwanzigste sein. Wir müssen die Furt am
zwanzigsten erreicht haben.«
»Du hast mehr geredet und gerechnet, als dir gut tut«, sagte Gandalf.
»Was macht deine Seite und die Schulter?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Frodo. »Ich fühle sie gar nicht. Was ein
Fortschritt ist. Aber —« er machte einen Versuch — »ich kann meinen
Arm ein wenig bewegen. Ja, es ist wieder Leben in ihm. Er ist nicht
mehr kalt«, fügte er hinzu, als er mit der rechten nach seiner linken Hand
faßte.
»Gut«, sagte Gandalf. »Es bessert sich rasch. Bald wirst du wieder ge-
sund sein. Elrond hat dich geheilt: tagelang hat er dich gepflegt, seit du
hergebracht wurdest.«
»Tagelang?« fragte Frodo.
»Ja, vier Nächte und drei Tage, um genau zu sein. Die Elben haben
dich am Abend des zwanzigsten von der Furt hergebracht, und da bist
du aus der Zeitrechnung gekommen. Wir haben entsetzlich Sorgen ge-
habt, und Sam ist bei Tag und bei Nacht kaum von deiner Seite gewichen,
außer wenn er Botengänge zu erledigen hatte. Elrond ist ein Meister der
Heilkunst, aber die Waffen unseres Feindes sind tödlich. Um dir die
Wahrheit zu sagen, ich hatte sehr wenig Hoffnung; denn ich vermutete,
daß ein Bruchstück der Klinge noch in der geschlossenen Wunde sei.
Erst gestern abend konnte es gefunden werden. Dann hat Elrond den
Splitter entfernt. Er saß sehr tief und wirkte nach innen.«
Frodo schauderte, denn er erinnerte sich des grausamen Dolchs mit der
gezackten Klinge, die sich in Streichers Hand aufgelöst hatte. »Ängstige
dich nicht!« sagte Gandalf. »Er ist nicht mehr da. Er ist eingeschmolzen
worden. Und es scheint, daß Hobbits nur sehr widerstrebend dahin-
schwinden. Ich habe starke Krieger der Großen Leute gekannt, die diesem
Splitter rasch erlegen wären, den du siebzehn Tage im Leib gehabt hast.«
»Was hätten sie mir angetan?« fragte Frodo. »Was versuchten die Rei-
ter zu tun?«
»Sie versuchten, dein Herz mit einem Morgul-Messer zu durchbohren,
das in der Wunde bleibt. Wenn es ihnen geglückt wäre, wärst du wie sie
geworden, nur schwächer und unter ihrem Befehl. Du wärst ein Geist
geworden unter dem Bann des Dunklen Herrschers; und er hätte dich ge-
foltert zur Strafe dafür, daß du versucht hast, seinen Ring zu behalten,
wenn eine größere Folter möglich wäre, als seiner beraubt zu sein und ihn
an seiner Hand zu sehen.«
»Ein Glück, daß ich mir über die fürchterliche Gefahr nicht klar war!«
sagte Frodo matt. »Natürlich hatte ich entsetzliche Angst; aber wenn ich
mehr gewußt hätte, hätte ich mich nicht mehr zu rühren gewagt. Es ist
ein Wunder, daß ich entkam!«
»Ja, Glück oder Schicksal haben dir geholfen«, sagte Gandalf. »Ganz zu
schweigen vom Mut. Denn nicht dein Herz, sondern nur deine Schulter
ist durchbohrt worden; und das lag daran, daß du bis zuletzt Widerstand
geleistet hast. Aber es war ein ganz knappes Entrinnen, sozusagen. Du
warst in höchster Gefahr, solange du den Ring trugst, denn dann warst
du selbst halb in der Geisterwelt, und sie hätten dich ergreifen können.
Du konntest sie sehen, und sie konnten dich sehen.«
»Ich weiß«, sagte Frodo. »Sie waren grauenhaft anzuschauen! Aber
warum konnten wir alle ihre Pferde sehen?«
»Weil es wirkliche Pferde sind; ebenso wie die schwarzen Gewänder
wirkliche Gewänder sind, die sie tragen, um ihr Nichtsein zu verhüllen,
wenn sie mit den Lebenden zu tun haben.«
»Warum dulden dann aber diese schwarzen Pferde solche Reiter? Alle
anderen Tiere sind voll Schrecken, wenn ihnen die Reiter nahe kommen,
sogar Glorfindels Elbenpferd. Die Hunde jaulen, und die Gänse zischen
sie an.«
»Weil diese Pferde für den Dienst des Dunklen Herrschers in Mordor
geboren und gezüchtet werden. Nicht alle seine Sklaven und Leibeigenen
sind Geister! Es gibt Orks und Trolle und Warge und Werwölfe; und es
hat viele Menschen gegeben und gibt sie noch, Krieger und Könige, die
lebendig unter der Sonne wandeln und doch unter seinem Banne stehen.
Und ihre Zahl wächst täglich.«
»Was ist mit Bruchtal und den Elben? Ist Bruchtal sicher?«
»Ja, zur Zeit, bis alles andere unterworfen ist. Die Elben mögen den
Dunklen Herrscher fürchten, und sie mögen vor ihm fliehen, aber sie
werden nie wieder auf ihn hören oder ihm dienen. Und hier in Bruchtal
leben noch einige seiner Hauptfeinde: die Elbenweisen, die Herren von
Eldar jenseits der weitesten Meere. Sie fürchten die Ringgeister nicht,
denn jene, die im Glückseligen Land geweilt haben, leben in beiden Wel-
ten zugleich, und sowohl den Sichtbaren wie den Unsichtbaren gegenüber
haben sie große Macht.«
»Ich glaubte eine weiße Gestalt gesehen zu haben, die schimmerte und
nicht undeutlich wurde wie die anderen. War das Glorfindel?«
»Ja, du hast ihn einen Augenblick so gesehen, wie ihn die andere Seite
sieht: als einen der Mächtigen unter den Erstgeborenen. Es ist ein Herr der
Elben aus einem Fürstenhaus. Tatsächlich gibt es in Bruchtal eine Macht, die
der Gewalt von Mordor eine Zeitlang widerstehen kann; und auch an-
derswo gibt es noch Macht. Sogar im Auenland gibt es Macht, wenngleich
von anderer Art. Doch alle diese Orte werden bald belagerte Inseln sein,
wenn die Dinge so weitergehen wie bisher. Der Dunkle Herrscher spielt
seine ganze Stärke aus.
»Indes«, sagte er, stand plötzlich auf und steckte das Kinn vor, so daß
sich sein Bart sträubte wie Drahtborsten, »indes dürfen wir den Mut nicht
sinken lassen. Du wirst bald wieder wohlauf sein, wenn ich dich nicht zu
Tode rede. Du bist in Bruchtal, und im Augenblick brauchst du dir keine
Sorgen zu machen.«
»Ich habe gar keinen Mut mehr, den ich sinken lassen könnte«, sagte
Frodo, »aber Sorgen mache ich mir zur Zeit nicht. Sag mir nur, wie es
meinen Freunden geht, und erzähle mir, wie die Geschichte an der Furt
ausging, wonach ich immerzu frage, und dann werde ich einstweilen zu-
frieden sein. Ich glaube, ich werde noch etwas schlafen; aber bestimmt
kann ich die Augen nicht zumachen, ehe du nicht mit der Geschichte
fertig bist.«
Gandalf rückte seinen Stuhl neben das Bett und betrachtete Frodo ein-
gehend. Sein Gesicht hatte wieder Farbe, und seine Augen waren klar
und hellwach. Er lächelte, und es schien ihm kaum etwas zu fehlen. Doch
des Zauberers scharfe Augen bemerkten eine leichte Veränderung bei
ihm, sozusagen eine Andeutung von Durchsichtigkeit, und besonders bei
der linken Hand, die auf der Decke lag.
»Das war immerhin zu erwarten«, sagte Gandalf zu sich. »Er hat es
noch nicht halb hinter sich, und was letztlich daraus wird, kann nicht ein-
mal Elrond voraussagen. Nichts Böses, glaube ich. Vielleicht wird er wie
ein Glas, das für Augen, die sehen können, mit einem klaren Licht gefüllt
ist.«
»Du siehst großartig aus«, sagte er laut. »Ich will einen kurzen Bericht
wagen, ohne Elrond zu befragen. Aber ganz kurz, hörst du, und dann
mußt du wieder schlafen. Folgendes ist geschehen, soweit ich es mir zu-
sammenreimen kann. Die Reiter hielten stracks auf dich zu, sobald du die
Flucht ergriffen hattest. Sie brauchten sich nicht mehr von ihren Pferden
leiten lassen: du warst für sie sichtbar geworden, denn du befandest dich
schon auf der Schwelle zu ihrer Welt. Und auch der Ring zog sie an.
Deine Freunde sprangen beiseite, von der Straße fort, denn sonst wären
sie niedergeritten worden. Sie wußten, daß nichts dich retten konnte,
wenn nicht das weiße Pferd. Die Reiter waren zu schnell, um überholt
werden, und zu zahlreich, um sich ihnen entgegenstellen zu können. Zu
Fuß hätten selbst Glorfindel und Aragorn zusammen nicht allen Neun auf
einmal widerstehen können.
Als die Ringgeister an ihnen vorübergefegt waren, rannten deine
Freunde hinter ihnen her. Dicht bei der Furt ist eine kleine Mulde neben
der Straße, verborgen hinter ein paar verkrüppelten Bäumen. Dort zünde-
ten sie rasch Feuer an; denn Glorfindel wußte, daß eine Flut kommen
würde, wenn die Reiter die Furt zu durchqueren versuchten, und dann
würde er mit denjenigen zu tun haben, die auf seiner Seite des Flusses
geblieben waren. In dem Augenblick, als die Flut kam, stürzte er, gefolgt
von Aragorn und den anderen, mit brennenden Holzscheiten aus der
Mulde heraus. Als die Reiter zwischen Feuer und Wasser gefangen waren
und einen Herrn der Elben in seinem Zorn sahen, entsetzten sie sich, und
ihre Pferde wurden von Raserei gepackt. Drei waren von der ersten Flut-
welle davongetragen worden; jetzt wurden die anderen von ihren Pferden
ins Wasser geschleudert und fortgerissen.«
»Und ist das das Ende der Schwarzen Reiter?« fragte Frodo.
»Nein«, sagte Gandalf. »Ihre Pferde müssen zugrunde gegangen sein,
und ohne sie sind sie kampfunfähig. Aber die Ringgeister selbst können
nicht so leicht vernichtet werden. Indes ist im Augenblick nichts von
ihnen zu befürchten. Deine Freunde durchquerten die Furt, als die Flut
vorüber war; und sie fanden dich oben auf der Böschung auf dem Gesicht
liegend, und ein zerbrochenes Schwert unter dir. Das Pferd hielt neben dir
Wache. Du warst bleich und kalt, und sie fürchteten, du seiest tot oder
noch etwas Schlimmeres. Elronds Leute kamen ihnen entgegen und trugen
dich langsam nach Bruchtal.«
»Wer hatte die Flut bewirkt?« fragte Frodo.
»Elrond hatte sie befohlen«, antwortete Gandalf. »Der Fluß dieses Tals
untersteht seiner Macht, und er schwillt zornig an, wenn die dringende
Notwendigkeit besteht, die Furt zu sperren. Sobald der Anführer der
Ringgeister in das Wasser hineinritt, wurde die Flut ausgelöst. Wenn ich
das sagen darf, habe ich auch meinerseits etwas dazu beigetragen: viel-
leicht hast du es nicht bemerkt, aber einige der Wellen nahmen die Form
von großen weißen Pferden mit schimmernden weißen Reitern an; und da
waren viele rollende und mahlende Felsblöcke. Einen Augenblick fürch-
tete ich, wir hätten allzu große Naturgewalten entfesselt und würden die
Herrschaft über die Flut verlieren, und sie würde euch alle hinwegreißen.
Es ist eine große Kraft in den Wassern, die herabkommen von den Schnee-
gefilden des Nebelgebirges.«
»Ja, jetzt kommt mir alles wieder«, sagte Frodo. »Das entsetzliche
Tosen. Ich glaubte, ich würde ertrinken mit meinen Freunden und Feinden
und allem. Aber jetzt sind wir in Sicherheit.«
Gandalf blickte Frodo rasch an, der aber die Augen geschlossen hatte.
»Ja, im Augenblick seid ihr alle in Sicherheit. Bald gibt es ein Festmahl
und fröhliches Treiben, um den Sieg an der Bruinenfurt zu feiern, und ihr
alle werdet Ehrenplätze erhalten.«
»Großartig!« sagte Frodo. »Es ist wunderbar, daß Elrond und Glorfin-
del und derart große Herren, ganz zu schweigen von Streicher, solche
Mühen auf sich nehmen und mir so viel Freundlichkeit erweisen.«
»Nun, dafür gibt es mancherlei Gründe«, sagte Gandalf lächelnd. »Ein
guter Grund bin ich. Der Ring ist ein weiterer: du bist der Ringträger.
Und du bist der Erbe von Bilbo, dem Ringfinder.«
»Lieber Bilbo«, sagte Frodo schläfrig. »Ich möchte gern wissen, wo er
ist. Ich wünschte, er wäre hier und könnte alles darüber hören. Er würde
was zu lachen haben. Die Kuh sprang übern Mond. Und der arme alte
Troll!« Und damit schlief er fest ein.
Frodo war nun in Sicherheit im Letzten Heimeligen Haus östlich der
See. Dieses Haus war, wie Bilbo schon vor langer Zeit berichtet hatte,
»ein vollkommenes Haus, ob du nun essen und schlafen möchtest. Ge-
schichtenerzählen und Gesang gern hast oder am liebsten nur dasitzen
und nachdenken willst, oder eine schöne Mischung von allem vorziehst«.
Das bloße Dortsein genügte, um Müdigkeit, Furcht und Traurigkeit zu
heilen.
Gegen Abend wachte Frodo wieder auf und merkte, daß er kein Be-
dürfnis mehr nach Ruhe und Schlaf hatte, sondern ihm der Sinn nach Essen
und Trinken stand, und später dann wahrscheinlich nach Singen und Ge-
schichtenerzählen. Er stieg aus dem Bett und entdeckte, daß er seinen
Arm fast so gut wie früher gebrauchen konnte. Er fand saubere Kleider
aus grünem Stoff, die für ihn bereitgelegt waren und ihm ausgezeichnet
paßten. Als er in den Spiegel schaute, war er erstaunt, daß er viel dünner
war, als er sich in Erinnerung hatte: sein Spiegelbild sah Bilbos jungem
Neffen, der mit seinem Onkel im Auenland zu wandern pflegte, erstaun-
lich ähnlich; doch die Augen blickten ihn nachdenklich an.
»Ja, du hast einiges erlebt, seit du das letzte Mal aus einem Spiegel her-
ausgeschaut hast«, sagte er zu seinem Spiegelbild. »Aber nun auf zum
fröhlichen Feiern!« Er reckte die Arme und pfiff ein Lied.
In diesem Augenblick klopfte es an der Tür, und Sam kam herein. Er
rannte auf Frodo zu und nahm seine linke Hand, verlegen und schüch-
tern. Er streichelte sie liebevoll, dann errötete er und wandte sich hastig
ab.
»Hallo, Sam!« sagte Frodo.
»Sie ist warm«, sagte Sam. »Ich meine deine Hand, Herr Frodo. Sie hat
sich so kalt angefühlt in den langen Nächten. Aber getrommelt und ge-
pfiffen!« rief er, drehte sich mit strahlenden Augen um und tanzte um-
her. »Es ist schön, daß du auf bist und wieder ganz in Ordnung! Gandalf
bat mich, nachzusehen, ob du bereit seist, herunterzukommen, und ich
dachte, er macht Spaß!«
»Ich bin bereit«, sagte Frodo. »Laß uns gehen und nach den anderen
schauen!«
»Ich kann dich zu ihnen hinbringen«, sagte Sam. »Das ist ein großes
Haus hier, und sehr eigenartig. Es gibt immer noch etwas zu entdecken,
und nie weiß man, was man hinter der nächsten Ecke findet. Und Elben,
Herr! Überall sind Elben. Manche sind wie Könige, ehrfurchtgebietend
und prächtig; und manche sind fröhlich wie Kinder. Und die Musik und
das Singen — nicht, daß ich Zeit oder Lust gehabt hätte, viel zuzuhören,
seit wir hierher gekommen sind. Aber ich kenne die Art des Hauses all-
mählich.«
»Ich weiß, was du getan hast, Sam«, sagte Frodo und faßte ihn am
Arm. »Aber heute abend sollst du fröhlich sein und nach Herzenslust
zuhören. Komm, zeige mir den Weg.«
Sam führte ihn über mehrere Gänge und viele Stufen hinab in einen
Garten, der hoch über den steilen Ufern des Flusses lag. Er fand seine
Freunde, die auf einem Söller an der Ostseite des Hauses saßen. Schat-
ten waren unten auf das Tal gefallen, aber auf den Berghängen hoch
oben war immer noch Licht. Die Luft war warm. Laut klang das Geräusch
von fließendem und fallendem Wasser, und der Abend war erfüllt von
einem schwachen Duft von Bäumen und Blumen, als ob noch der Sommer
in Elronds Garten verweilte.
»Hurra!« rief Pippin und sprang auf. »Hier ist unser edler Vetter!
Macht Platz für Frodo, den Herrn des Rings!«
»Pst!« sagte Gandalf aus den Schatten im Hintergrund des Söllers.
»Nichts Böses dringt in dieses Tal; trotzdem sollten wir es nicht mit
Namen nennen. Der Herr des Rings ist nicht Frodo, sondern der
Gebieter des Dunklen Turms von Mordor, dessen Macht sich wieder auf
der Welt ausbreitet! Wir sitzen in einer Festung. Draußen wird es dun-
kel.«
»Gandalf hat viele so aufmunternde Reden wie diese geführt«, sagte
Pippin. »Er glaubt, ich müsse zur Ordnung gerufen werden. Aber irgend-
wie ist es unmöglich, an diesem Ort betrübt oder niedergeschlagen zu
sein. Mir ist, als ob ich singen könnte, wenn ich das richtige Lied für
diese Gelegenheit wüßte.«
»Mir ist auch nach Singen zumute«, lachte Frodo. »Obwohl mir im
Augenblick mehr zumute ist nach Essen und Trinken!«
»Das wird dir bald zuteil werden«, sagte Pippin. »Du hast deine üb-
liche Schläue bewiesen, indem du gerade rechtzeitig zu einer Mahlzeit
aufgestanden bist.«
»Mehr als eine Mahlzeit! Ein Festmahl«, sagte Merry. »Sobald Gandalf
berichtet hatte, daß es dir besser ging, begannen die Vorbereitungen.«
Kaum hatte er das ausgesprochen, da wurden sie durch das Läuten vieler
Glocken in die Halle gerufen.
Die Halle in Elronds Haus war voller Leute: zum größten Teil Elben,
aber es waren auch ein paar andere Gäste da. Elrond hatte, wie es seine
Gewohnheit war, auf einem erhöhten Sitz am Ende der langen Tafel Platz
genommen; neben ihm saßen auf der einen Seite Glorfindel, auf der ande-
ren Gandalf.
Frodo betrachtete sie voll Staunen; denn er hatte Elrond, von dem so
viel erzählt wurde, noch niemals gesehen; und wie sie da zu seiner Rech-
ten und seiner Linken saßen, wurde offenbar, daß Glorfindel und selbst
Gandalf, den er so gut zu kennen glaubte, Herren von Rang und Macht
waren.
Gandalf war von untersetzterer Statur als die beiden anderen; aber sein
langes weißes Haar, sein wallender Silberbart und seine breiten Schultern
ließen ihn wie einen weisen König aus einer alten Sage erscheinen. Unter
dichten, schneeweißen Brauen waren seine dunklen Augen wie Kohlen, die
plötzlich Feuer sprühen konnten.
Glorfindel war von hohem Wuchs und schlank; sein Haar war schim-
merndes Gold, sein Gesicht schön und jung und furchtlos und voller
Frohsinn; seine Augen waren klar und scharf, und seine Stimme wie
Musik; seine Stirn verhieß Weisheit und seine Hand Kraft.
Elronds Gesicht war zeitlos — weder alt noch jung, obwohl die Erinne-
rung an viele Dinge, freudige und gramvolle, ihm auf der Stirn geschrie-
ben stand. Sein Haar war dunkel wie die Schatten der Dämmerung, und
er trug darauf ein silbernes Diadem; seine Augen waren grau wie ein
klarer Abend, und ein Licht leuchtete in ihnen wie Sternenlicht. Vereh-
rungswürdig erschien er wie ein König, der viele Winter erlebt hat, und
doch rüstig wie ein kampferfahrener Krieger in der Fülle seiner Kraft. Er
war der Herr von Bruchtal und mächtig unter Elben und Menschen.

In der Mitte der Tafel vor den Wandteppichen stand ein Sessel unter
einem Baldachin, und dort saß eine Frau, die lieblich anzuschauen war,
und so ähnlich war sie Elrond, ins Weibliche übertragen, daß Frodo ver-
mutete, sie müsse eine nahe Verwandte sein. Jung war sie, und doch wie-
der nicht. Die Flechten ihres dunklen Haares waren noch von keinem Reif
berührt, ihre weißen Arme und ihr klares Gesicht waren makellos und
glatt, und das Licht von Sternen war in ihren leuchtenden Augen, die
grau wie eine wolkenlose Nacht waren; doch sah sie königlich aus, und in
ihrem nachdenklichen Blick lag Weisheit wie bei jemandem, der viele
Dinge kennt, die die Jahre bringen. Über ihrer Stirn war ihr Kopf bedeckt
mit einer Kappe aus Silberspitze, besetzt mit kleinen, weiß glitzernden
Edelsteinen. Doch ihr zartgraues Gewand hatte keinen Schmuck außer
einem Gürtel aus silbergetriebenen Blättern.
So kam es, daß Frodo sie erblickte, die wenige Sterbliche je gesehen
hatten: Arwen, Elronds Tochter, mit der, wie es hieß, Lúthiens Ebenbild
wieder auf die Erde gekommen war; und sie wurde Undómiel genannt,
denn sie war der Abendstern ihres Volkes. Lange war sie im Land der
Verwandten ihrer Mutter gewesen, in Lórien jenseits des Gebirges, und
erst kürzlich war sie nach Bruchtal in ihres Vaters Haus zurückgekehrt.
Doch ihre Brüder, Elladan und Elrohir, waren noch auf der Ritterfahrt:
denn oft ritten sie mit den Waldläufern des Nordens weit über Land und
vergaßen niemals die Folter ihrer Mutter in den Höhlen der Orks.
Soviel Lieblichkeit hatte Frodo niemals zuvor an einem lebenden Wesen
gesehen oder sich vorstellen können; und er war überrascht und zugleich
verlegen, daß er inmitten dieses edlen und schönen Volkes an Elronds
Tafel saß. Obwohl er einen passenden Stuhl hatte und hoch auf mehrere
Kissen gesetzt worden war, kam er sich sehr klein und ziemlich fehl am
Platz vor; aber dieses Gefühl verging rasch. Das Festmahl war fröhlich
und das Essen so, wie es sich sein Hunger nur wünschen konnte. Es
dauerte einige Zeit, bis er wieder um sich blickte oder sich auch nur sei-
nem Nachbarn zuwandte.
Zuerst schaute er nach seinen Freunden. Sam hatte gebeten, seinem
Herrn aufwarten zu dürfen, doch war ihm gesagt worden, daß er heute
Ehrengast sei. Frodo sah ihn jetzt mit Pippin und Merry am oberen Ende
eines der Seitentische dicht an der Estrade sitzen. Von Streicher entdeckte
er keine Spur.
Zu Frodos Rechten saß ein Zwerg, eine eindrucksvolle Erscheinung und
reich gekleidet. Sein Bart, sehr lang und gegabelt, war weiß, fast so weiß
wie das schneeweiße Tuch seines Gewands. Er trug einen silbernen Gür-
tel und um den Hals eine Kette aus Silber und Diamanten. Frodo hörte
auf zu essen, um ihn zu betrachten.
»Willkommen und sehr erfreut!« sagte der Zwerg, indem er sich zu
ihm umwandte. Dann erhob er sich sogar von seinem Stuhl und ver-
beugte sich. »Glóin zu Euren Diensten«, sagte er und verbeugte sich noch
tiefer.
»Frodo Beutlin zu Euren und Eurer Familie Diensten«, sagte Frodo, wie
es sich gehörte, erhob sich überrascht und warf dabei alle Kissen herun-
ter. »Vermute ich richtig, daß Ihr der Glóin seid, einer der zwölf Gefähr-
ten des großen Thorin Eichenschild?«
»Ganz recht«, antwortete der Zwerg, sammelte die Kissen auf und half
Frodo höflich, wieder Platz zu nehmen. »Und ich frage nicht, denn mir ist
bereits gesagt worden, daß Ihr der Verwandte und Erbe unseres berühm-
ten Freundes Bilbo seid. Erlaubt mir. Euch zu Eurer Genesung zu beglück-
wünschen.«
»Danke vielmals«, sagte Frodo.
»Ihr habt einige sehr seltsame Abenteuer erlebt, höre ich«, sagte
Glóin. »Es verwundert mich sehr, was vier Hobbits wohl zu einer so lan-
gen Fahrt veranlaßt. Nichts dergleichen hat es gegeben, seit Bilbo uns be-
gleitete. Aber vielleicht sollte ich mich nicht allzu genau erkundigen, da
Elrond und Gandalf nicht geneigt zu sein scheinen, darüber zu reden?«
»Ich glaube, wir wollen nicht davon sprechen, zumindest jetzt noch
nicht«, sagte Frodo höflich. Er vermutete, daß selbst in Elronds Haus die
Angelegenheit des Ringes kein Thema zum Plaudern war; und außerdem
wollte er seine Mißlichkeiten gern eine Weile vergessen. »Doch bin ich
ebenso begierig zu erfahren«, fuhr er fort, »was einen so bedeutenden
Zwerg so weit vom Einsamen Berg fortführt.«
Glóin schaute ihn an. »Wenn Ihr es noch nicht gehört habt, dann wol-
len wir davon gleichfalls noch nicht sprechen. Meister Elrond wird uns,
glaube ich, binnen kurzem alle zusammenrufen, und dann werden wir
vieles hören. Aber es gibt noch manches, was erzählt werden kann.«
Während der weiteren Mahlzeit unterhielten sie sich miteinander, aber
Frodo hörte mehr zu, als daß er redete; denn abgesehen vom Ring schie-
nen die Neuigkeiten aus dem Auenland unbedeutend und entrückt und
unwichtig, während Glóin viel zu berichten hatte von Ereignissen in den
nördlichen Gebieten von Wilderland. Frodo erfuhr, daß Grimbeorn der
Alte, Beorns Sohn, jetzt der Herrscher über viele standhafte Menschen
war, und daß in ihr Land zwischen dem Gebirge und Düsterwald weder
Ork noch Wolf einzudringen wagten.
»Ja«, sagte Glóin, »wenn die Beorninger nicht wären, wäre es schon
lange unmöglich, von Thai nach Bruchtal zu gelangen. Es sind tapfere
Männer, und sie halten den Hohen Paß und die Furt von Carrock offen.
Aber ihr Zoll ist hoch«, fügte er hinzu und schüttelte den Kopf. »Und wie
Beorn früher schätzen sie Zwerge nicht übermäßig. Immerhin sind sie
vertrauenswürdig, und das ist viel heutzutage. Nirgends sind Menschen
so freundlich zu uns wie die Menschen von Thai. Das sind gute Leute, die
Bardinger. Der Enkel von Bard, dem Bogenschützen, herrscht über sie,
Brand, Bains Sohn, der Bards Sohn war. Er ist ein starker König, und sein
Reich erstreckt sich jetzt weit südlich und östlich von Esgaroth.«
»Und wie steht es mit Eurem eigenen Volk?« fragte Frodo.
»Da gibt es viel zu erzählen. Gutes und Schlechtes«, antwortete Glóin.
»Doch zumeist Gutes. Wir haben bisher Glück gehabt, obwohl wir dem
Schatten dieser Zeiten nicht entgehen. Wenn Ihr wirklich von uns hören
wollt, dann werde ich Euch gern die Neuigkeiten berichten. Doch unter-
brecht mich, wenn Ihr müde seid! Die Zungen der Zwerge stehen nicht
still, wenn sie von ihren eigenen Werken berichten, heißt es.«
Und damit begann er einen langen Bericht über das Geschehen im
Zwergen-Königreich. Er war entzückt, einen so höflichen Zuhörer gefun-
den zu haben; denn Frodo ließ keine Müdigkeit erkennen und machte kei-
nen Versuch, das Thema zu wechseln, obwohl er bald ziemlich verwirrt
war durch all die fremden Namen von Leuten und Orten, die er nie zuvor
gehört hatte. Indes interessierte es ihn zu hören, daß Dáin immer noch
König unter dem Berg war, daß er jetzt alt (sein zweihundertfünfzig-
stes Jahr hatte er überschritten), verehrungswürdig und märchenhaft
reich war. Von den zehn Gefährten, die die Schlacht der Fünf Heere über-
lebt hatten, waren sieben noch bei ihm: Dwalin, Glóin, Dori, Nori, Bifur,
Bofur und Bombur. Bombur war jetzt so dick, daß er nicht mehr allein
von seinem Bett zu seinem Stuhl bei Tisch gelangen konnte, und es waren
sechs junge Zwerge nötig, um ihn aufzuheben.
»Und was ist aus Balin und Ori und Óin geworden?« fragte Frodo.
Ein Schatten glitt über Glóins Gesicht. »Wir wissen es nicht«, sagte er.
»Es ist weitgehend Balins wegen, daß ich hergekommen bin, um den Rat
derer zu erbitten, die in Bruchtal wohnen. Aber heute abend wollen wir
von fröhlicheren Dingen sprechen!«
Glóin begann dann von den Werken seines Volkes zu reden und er-
zählte Frodo von ihren großen Arbeiten in Thai und unter dem Berg. »Wir
waren recht erfolgreich«, sagte er. »Doch in Metallarbeiten können wir es
mit unseren Vätern nicht aufnehmen, denn viele ihrer Geheimnisse sind
verlorengegangen. Wir machen gute Waffen und scharfe Schwerter, doch
vermögen wir noch nicht wieder Kettenpanzer oder Klingen herzustellen,
die denen gleichkämen, die vor der Ankunft des Drachens gemacht wur-
den. Nur im Bergbau und in der Baukunst haben wir die alten Zeiten
übertroffen. Ihr solltet die Wasserstraßen von Thai sehen, Frodo, und die
Berge und die Teiche! Ihr solltet die vielfarbigen Steinpflaster der Straßen
sehen! Und die Hallen und unterirdischen Straßen mit Bögen, die gemei-
ßelt sind wie Bäume; und die Terrassen und Türme auf den Hängen des
Berges! Dann würdet Ihr sehen, daß wir nicht müßig gewesen sind.«
»Ich will gern kommen und mir alles anschauen, sobald ich nur kann«,
sagte Frodo. »Wie würde Bilbo über all die Veränderungen in Smaugs
Einöde staunen!«
Glóin blickte Frodo an und lächelte. »Ihr habt Bilbo sehr gern gehabt,
nicht wahr?« fragte er.
»Ja«, antwortete Frodo. »Ihn würde ich lieber sehen als alle Türme und
Paläste der Welt.«
Schließlich fand das Festmahl ein Ende. Elrond und Arwen erhoben
sich und schritten durch die Halle, und die Gesellschaft folgte ihnen in
gebührender Gemessenheit. Die Türen wurden geöffnet, und sie gingen
über einen breiten Gang durch andere Türen und kamen dann in eine zweite
Halle. Hier standen keine Tische, doch ein helles Feuer brannte in einem
großen Kamin zwischen den geschnitzten Säulen auf beiden Seiten.
Frodo ging neben Gandalf. »Das ist die Halle des Feuers«, sagte der
Zauberer. »Hier wirst du viele Lieder und Erzählungen hören — wenn du
wachbleiben kannst. Doch außer an hohen Festtagen ist die Halle ge-
wöhnlich leer und still, und hierher kommen Leute, die Ruhe haben wol-
len zum Nachdenken. Es brennt immer ein Feuer hier, das ganze Jahr hin-
durch, aber sonst ist kaum Licht da.«
Als Elrond eintrat und auf den für ihn vorbereiteten Sessel zuging, be-
gannen Elben-Spielleute eine süße Musik. Langsam füllte sich die Halle,
und Frodo schaute voll Entzücken auf die vielen schönen Gesichter, die
sich hier zusammenfanden; das goldene Licht des Kaminfeuers spielte auf
ihnen und schimmerte in ihrem Haar. Plötzlich bemerkte er, nicht weit
von der anderen Seite des Feuers, eine kleine dunkle Gestalt, die auf
einem Schemel saß und den Rücken gegen eine Säule lehnte. Auf dem
Boden stand eine Trinkschale, und Brot lag daneben. Frodo fragte sich, ob
es ein Kranker sei (falls die Leute in Bruchtal überhaupt krank würden),
der nicht zum Festmahl hatte kommen können. Sein Kopf schien ihm im
Schlaf tief auf die Brust gesunken, und eine Falte seines dunklen Mantels
war über sein Gesicht gezogen.
Elrond ging auf die schweigende Gestalt zu. »Wacht auf, kleiner Herr!«
sagte er lächelnd. Dann drehte er sich zu Frodo um und winkte ihm.

»Jetzt endlich ist die Stunde gekommen, die du ersehnt hast, Frodo«,
sagte er. »Hier ist ein Freund, den du lange entbehrt hast.«
Die dunkle Gestalt hob den Kopf und zog den Mantel vom Gesicht.
»Bilbo!« rief Frodo, als er ihn erkannte, und sprang auf ihn zu.
»Hallo, Frodo, mein Junge«, sagte Bilbo. »So bist du also endlich her-
gekommen. Ich hatte gehofft, daß du es schaffen würdest. Gut, gut. All
dieses Feiern ist also dir zu Ehren, wie ich höre. Ich hoffe, du hast dich
gut unterhalten?«
»Warum bist du nicht dabei gewesen?« rief Frodo. »Und warum habe
ich dich nicht früher sehen dürfen?«
»Weil du geschlafen hast. Von dir habe ich eine ganze Menge gesehen.
Jeden Tag habe ich mit Sam an deinem Bett gesessen. Aber was das Fest-
mahl betrifft, so mache ich mir jetzt nicht mehr viel aus derlei Dingen.
Und ich hatte etwas anderes zu tun.«
»Was hast du denn getan?«
»Nun, dagesessen und gedacht. Das tue ich heutzutage viel, und für
gewöhnlich ist das hier der beste Ort dafür. Wacht auf! Wirklich!«, sagte
er und warf Elrond einen verschmitzten Blick zu, in dem Frodo keinerlei
Anzeichen von Schläfrigkeit erkennen konnte. »Wacht auf! Ich habe
nicht geschlafen, Herr Elrond. Wenn Ihr es wissen wollt, Ihr seid alle
zu früh von Eurem Festmahl gekommen und habt mich gestört — ich war
gerade dabei, ein Gedicht zu machen. Ein oder zwei Zeilen stimmten
nicht, und ich dachte eben über sie nach; aber jetzt werde ich sie wohl
nicht mehr fertigbekommen. Es wird hier so viel Gesang geben, daß mir
alle Gedanken aus dem Kopf getrieben werden. Ich werde meinen Freund,
den Dúnadan, brauchen, damit er mir hilft. Wo ist er?«
Elrond lachte. »Er soll gefunden werden«, sagte er. »Dann sollt ihr
beide in einen Winkel gehen und eure Aufgabe vollenden, und wir wer-
den sie hören und beurteilen, ehe unser Fest zu Ende ist.« Boten wurden
ausgesandt, um Bilbos Freund zu suchen, obwohl niemand wußte, wo er
war oder warum er nicht am Festmahl teilgenommen hatte.
Inzwischen saßen Frodo und Bilbo nebeneinander, und Sam kam rasch
und gesellte sich zu ihnen. Sie unterhielten sich leise und vergaßen die
Fröhlichkeit und Musik in der Halle. Bilbo hatte nicht viel von sich zu
erzählen. Nachdem er Hobbingen verlassen hatte, war er ziellos dahinge-
wandert, der Straße entlang oder durch das Land auf beiden Seiten; aber
irgendwie war die ganze Zeit Bruchtal sein Ziel gewesen.
»Ich bin ohne viel Abenteuer hierher gelangt«, sagte er, »und nach
einer Rast habe ich mich dann mit den Zwergen nach Thai aufgemacht:
meine letzte Fahrt. Ich will nicht mehr wandern. Der alte Balin war fort.
Dann kam ich hierher zurück, und hier bin ich geblieben. Ich habe dies
und das getan. Ich habe an meinem Buch weitergeschrieben, und, natür-
lich, ein paar Lieder gemacht. Sie singen sie gelegentlich: nur um mir
eine Freude zu machen, glaube ich; denn eigentlich sind sie nicht gut ge-
nug für Bruchtal. Und ich höre zu und denke nach. Die Zeit scheint hier
nicht zu vergehen: sie ist einfach da. Alles in allem ein bemerkenswerter
Ort.
Ich höre allerlei Neuigkeiten, von jenseits des Gebirges und aus dem
Süden, aber kaum vom Auenland. Natürlich habe ich über den Ring ge-
hört. Gandalf ist oft hier gewesen. Nicht, daß er mir viel erzählt hätte. Er
war in den letzten Jahren zugeknöpfter denn je. Der Dúnadan hat mir
mehr erzählt. Wenn man sich vorstellt, daß dieser Ring von mir eine sol-
che Verwirrung stiftet! Schade, daß Gandalf nicht früher mehr darüber
herausgefunden hat. Ich hätte den Ring schon längst selbst hierher brin-
gen können ohne so viel Verdruß. Manches Mal habe ich daran gedacht, wie-
der nach Hobbingen zurückzugehen und ihn zu holen; aber ich werde alt,
und sie ließen mich nicht: Gandalf und Elrond, meine ich. Sie schienen zu
glauben, daß der Feind überall nach mir suche und Hackfleisch aus mir
machen würde, wenn er mich, durch die Wildnis wankend, fände.
Und Gandalf sagte: >Der Ring ist in andere Hände übergegangen,
Bilbo. Es wäre weder für dich noch für andere gut, wenn du versuchen
würdest, dich wieder einzumischen<. Komische Bemerkung, sieht Gandalf
ähnlich. Aber er sagte, er würde sich um dich kümmern, also ließ ich die
Sache laufen. Ich freue mich schrecklich, dich wohl und munter zu
sehen.« Er hielt inne und sah Frodo zweifelnd an.
»Hast du ihn da?« fragte er flüsternd. »Ich kann's nicht ändern, aber
ich bin einfach neugierig nach allem, was ich gehört habe. Ich würde sehr
gern nur eben mal wieder einen Blick darauf werfen.«
»Ja, ich habe ihn«, antwortete Frodo, der ein seltsames Widerstreben
empfand. »Er sieht genauso aus wie immer.«
»Ach, laß ihn mich doch einen Augenblick anschauen«, sagte Bilbo.
Beim Anziehen hatte Frodo festgestellt, daß ihm der Ring, während er
schlief, an einer neuen Kette, die leicht, aber kräftig war, um den Hals
gehängt worden war. Langsam zog er ihn jetzt heraus. Bilbo streckte die
Hand aus. Aber Frodo zog den Ring rasch zurück. Bekümmert und ver-
blüfft stellte er fest, daß er Bilbo gar nicht mehr sah; ein Schatten schien
zwischen sie gefallen zu sein, und durch diesen Schatten sah er ein klei-
nes, runzliges Geschöpf mit einem gierigen Gesicht und knochigen,
grapschenden Händen. Er verspürte den Wunsch, ihn zu schlagen.
Die Musik und das Singen um sie her schienen leiser zu werden, und es
trat ein Schweigen ein. Bilbo warf einen raschen Blick auf Frodos Gesicht,
dann fuhr er sich mit der Hand über die Augen. »Jetzt verstehe ich«,
sagte er. »Steck ihn weg! Es tut mir leid; leid, daß du jetzt diese Bürde
trägst, alles tut mir leid. Nehmen Abenteuer denn nie ein Ende? Wahr-
scheinlich nicht. Irgend jemand anderes muß die Geschichte fortsetzen.
Nun, es läßt sich nicht ändern. Ich frage mich, ob es überhaupt lohnt,
mein Buch fertigzuschreiben? Aber darüber wollen wir uns jetzt keine
Sorgen machen — laß uns ein paar wirkliche Neuigkeiten hören! Erzähle mir
alles vom Auenland!«
Frodo steckte den Ring weg, der Schatten verging und hinterließ kaum
eine Erinnerung. Das Licht und die Musik von Bruchtal umfingen ihn
wieder. Bilbo lächelte und lachte glücklich. Jede kleinste Kleinigkeit, die
Frodo aus dem Auenland nur zu berichten wußte — hin und wieder von
Sam unterstützt und berichtigt —, interessierte ihn aufs höchste, angefan-
gen vom Fällen des geringsten Baums bis zu den Streichen des kleinsten
Kindes in Hobbingen. Sie waren so in die Geschehnisse der Vier Viertel
vertieft, daß sie das Kommen eines in dunkelgrünes Tuch gekleideten
Mannes gar nicht bemerkten. Mehrere Minuten stand er da und schaute
lächelnd auf sie herab.
Plötzlich blickte Bilbo auf. »Ah, da bist du ja endlich, Dúnadan!« rief er.
»Streicher!« sagte Frodo. »Du scheinst eine Menge Namen zu haben.«
»Nun, Streicher habe ich jedenfalls noch nie gehört«, sagte Bilbo.
»Warum nennst du ihn so?«
»So nennen sie mich in Bree«, sagte Streicher lachend, »und so bin ich
ihm vorgestellt worden!«
»Und warum nennst du ihn Dúnadan?« fragte Frodo.
»Den Dúnadan«, antwortete Bilbo. »So wird er hier oft genannt. Aber
ich dachte, du könntest genug Eibisch, um wenigstens dún-adan zu ver-
stehen: Mensch des Westens, Númenorer. Aber jetzt ist nicht die richtige
Zeit für Unterricht!« Er wandte sich an Streicher. »Wo bist du gewesen,
mein Freund? Warum warst du nicht bei dem Festmahl? Frau Arwen war
da.«
Streicher sah Bilbo ernst an. »Ich weiß«, sagte er. »Aber oft muß ich
auf die Freuden verzichten. Elladan und Elrohir sind unerwartet aus
der Wildnis zurückgekehrt und haben Nachrichten mitgebracht, die ich
sofort hören wollte.«
»Nun, mein lieber Freund«, sagte Bilbo, »hast du jetzt, nachdem du die
Neuigkeiten gehört hast, einen Augenblick für mich Zeit? Ich brauche
deine Hilfe bei etwas Dringendem. Elrond sagt, dieses Lied von mir müsse
fertig sein, ehe der Abend zu Ende ist, und ich sitze fest. Laß uns in eine
Ecke gehen und der Sache den letzten Schliff geben!«
Streicher lächelte. »Dann komm!« sagte er. »Laß es mich hören.«
Frodo blieb eine Weile sich selbst überlassen, denn Sam war fest einge-
schlafen. Er kam sich ziemlich einsam und verlassen vor, obwohl rings
um ihn die Leute von Bruchtal versammelt waren. Aber diejenigen, die in
seiner Nähe saßen, schwiegen und lauschten ganz versunken der Musik
der Stimmen und Instrumente und achteten auf nichts anderes. Frodo
fing an zuzuhören.
Zuerst bezauberten ihn die Schönheit der Melodien und die eingefloch-
tenen Wörter in der Elbensprache, obwohl er sie kaum verstand, sobald er
begonnen hatte, aufzumerken. Fast schien es, als nähmen die Wörter
Gestalt an, und Visionen von fernen Landen und hellen Dingen, die er
sich niemals hatte vorstellen können, erschlossen sich vor ihm; und die
vom Feuer erleuchtete Halle wurde zu einem goldenen Nebel über unermeß-
lichen Meeren, die an den Rändern der Welt seufzten. Dann wurde die Ver-
zauberung immer traumähnlicher, bis er das Gefühl hatte, über ihn fließe
ein endloser Strom von wallendem Gold und Silber hinweg, der zu viel-
fältig war, als daß er sein Muster hätte begreifen können; der Strom
wurde ein Teil der Luftschwingungen und durchtränkte und überflutete
ihn. Rasch sank er unter seinem schimmernden Gewicht in ein tiefes
Reich des Schlafes.
Dort wanderte er lange in einem Traum, in dem sich Musik in fließen-
des Wasser verwandelte und dann plötzlich in eine Stimme. Es schien Bil-
bos Stimme zu sein, der Verse sang. Undeutlich zuerst und dann klarer
wurden die Worte.

Eärendil hieß ein Schiffer kühn,
Der weilte in Avernien,
Schlug Holz und baute sich ein Schiff,
Von Nimbrethil auf Fahrt zu gehn.
Die Segel zog er silbern auf,
Laternen silbern hing er aus,
Den Bug schuf er dem Schwane gleich,
Die Wimpel flogen hell im Licht,
Dem alten Königsbrauch gemäß
Legte er Helm und Rüstung an,
Grub Runen in den Silberschild
Zum Schütze gegen Harm und Not;

Sein Bogen war aus Drachenhorn,
Aus Ebenholz ein jeder Pfeil,
Sein Köcher war aus Chalzedon,
Sein kräftiges Schwert aus blankem Stahl.
Sein Helm war adamanten hart
Und Adlerfedern krönten ihn,
Aus Silber war sein Panzerhemd,
Auf seiner Brust schien ein Smaragd.

Es trieb ihn unter Mond und Stern
Weitab vom Nördlichen Gestad,
Und irrend übers wilde Meer
Verlor er Sicht und Menschenspur.
Von Eisesgründen wandte er
Sich ab, wo ewig Schatten herrscht,
Die Wüstenhitze auch verließ
Er eilends, trieb noch weit umher
Auf dunklen Wassern ohne Stern
Bis in die Nacht des Nichts hinein.
Auch diese ließ er hinter sich,
Doch nie erblickt' er unterwegs
Der heißersehnten Küste Licht.
Der Winde Wüten jagte ihn
Geblendet durch den wilden Gischt
Von West nach Osten willenlos
Und nirgends freundlich angesagt.

Da nahte Elwing sich im Flug,
Und Licht durchflammte schwarze Nacht,
Von ihrer Kette glomm es weiß,
Viel heller noch als Diamant.
Sie heftete den Silmaril
Ans Haupt des Schiffers, krönte ihn
Mit Licht, das nie verlöschen kann.
Beherzt warf er das Ruder um;
Und in der Nacht erhob sich Sturm
Von jenseits aller Meere her.
Es wehte frei und voller Kraft
Ein Wind der Macht von Tarmenel:

Auf Wasserpfaden, unbekannt
Den Sterblichen, trieb er ihn nun
Mit Urgewalt durch graue Flut
Von Osten her gen Westen hin.

Durch Immernacht trug's ihn zurück
Auf tosend aufgetürmter See
Hin über lang versunknes Land,
Von schwarzen Fluten überrollt,
Bis endlich er Musik vernahm
Und an der Erde Grenzen kam,
Wo ewig sanfter Wellenschlag
Gold an die Perlenküste spült.
Er sah den Berg in Dämmergrau
Aufragend zwischen Valinor
Und Eldamar, im Lichte noch
Verblauen hinter ferner See.
Ein Wanderer, der Nacht entflohn,
Lief endlich in den Hafen ein
Im Elbenlande weiß und
grün/-
Die Luft war mild, durchsichtig-blaß,
Dem Hügel nah von Ilmarin,
Da spiegelte der Schattensee
Das Licht der Türme Tirions.
Hier ruhte er von Irrfahrt aus,
Hier lehrte man ihn Lied. und. Sang,
Und alte Märchen wurden laut
Bei Harfenklang und goldnem Schall.
Er trug ein Elbenweißes Kleid,
Ihm brannten sieben Leuchter vor,
Als er durch's Calacirian
In tief verborgne Lande zog.
In jene Hallen, wo man nicht
Vergangenheit noch Zukunft kennt,
Gelangte er, wo immerdar
Der König der Altvordernzeit
Herrscht auf dem Berg in Ilmarin.
Von Sterblichen und Elbenvolk
Geheime Dinge sprach man dort,
Gesichte wurden ihm zuteil,
Die nie ein Mensch erblicken darf.

Sie bauten ihm ein neues Schiff
Aus Mithril und aus Elbenglas
Mit stolzem Bug, doch ruderlos,

Mit Silbermast, doch ohne Tuch,
Und Elbereth kam selbst herab:

Sie schuf dem Schiff den Silmaril
Zum Banner, ein lebendiges Licht,
Ein heller Schein, der nie verblaßt.
Und Flügel gab sie ihm dazu
Und sprach das Urteil: Jenseits Mond
Und Sonne muß er ewig ziehn
Durch küstenlose Himmel hin.

Vom hohen Immerabendland
Wo silbern die Fontänen sprühn,
Trug ihn die Schwinge licht hinan
Und über das Gebirg hinweg.
Schon sanken hinter ihm dahin
Der Erde Grenzen, wandte er,
Verzehrt von Sehnsucht, sich nach Haus,
Den Weg zu suchen durch die Nacht,
Und ganz allein, ein heller Stern,
Weit über allen Wolken flog
Im Morgengrauen sonnenwärts
Dies Licht, ein Wunder anzuschaun.
Schon sah er Mittelerde weit,
Weit unter sich, schon hörte er
Die Frauen der Altvordernzeit
Und Elbenmaiden klagen laut.
Ihm aber war es auferlegt,
Am Himmel seine Bahn zu ziehn,
Solange bis der Mond verblaßt,
Und nie am Ufer dieser Welt
Zu rasten bei den Sterblichen,
Ein Herold, seinem Auftrag treu,
Das Licht zu tragen durch die Zeit,
Der Flammifer der Westernis.

Der Gesang endete. Frodo öffnete die Augen und sah, daß Bilbo auf
seinem Schemel von einem Kreis von Zuhörern umgeben war, die lächel-
ten und Beifall klatschten.
»Nun sollten wir es aber noch einmal hören«, sagte ein Elb.
Bilbo stand auf und verbeugte sich. »Ich bin geschmeichelt, Lindir«,
sagte er. »Aber es wäre zu ermüdend, alles zu wiederholen.«
»Nicht zu ermüdend für dich«, antworteten die Elben lachend. »Du
wirst es doch nie müde, deine eigenen Verse vorzutragen. Aber wir kön-
nen wirklich deine Frage nicht beantworten, wenn wir es nur einmal ge-
hört haben!«
»Was!« rief Bilbo. »Ihr könnt nicht sagen, welche Teile von mir waren
und welche vom Dúnadan?«
»Es ist nicht leicht für uns, zwischen zwei Sterblichen zu unterschei-
den«, sagte der Elb.
»Unsinn, Lindir«, schnaubte Bilbo. »Wenn du nicht zwischen einem
Menschen und einem Hobbit unterscheiden kannst, dann ist dein Urteils-
vermögen armseliger, als ich dachte. Sie sind so verschieden wie Erbsen
und Äpfel.«
»Vielleicht. Schafen erscheinen andere Schafe zweifellos verschieden«,
lachte Lindir. »Oder Schäfern. Aber mit Sterblichen haben wir uns nicht
beschäftigt. Uns geht es um anderes.«
»Ich will nicht mir dir streiten«, sagte Bilbo. »Ich bin schläfrig nach so
viel Musik und Gesang. Ich überlaß es euch, es zu erraten, wenn ihr
wollt.«
Er stand auf und kam zu Frodo. »So, das ist geschafft«, sagte er leise.
»Es ging besser, als ich erwartet hatte. Ich werde nicht oft um eine zweite
Lesung gebeten. Was hältst du davon?«
»Ich will nicht versuchen, es zu raten«, sagte Frodo lächelnd.
»Brauchst du auch nicht«, antwortete Bilbo. »In Wirklichkeit war alles
von mir. Abgesehen davon, daß Aragorn unbedingt wollte, daß ich
einen grünen Stein erwähnte. Er schien das für wichtig zu halten.
Warum, weiß ich nicht. Ansonsten fand er offenbar, daß die ganze Sache
eigentlich zu hoch für mich sei, und er sagte, wenn ich schon die Stirn
besäße, in Elronds Haus Verse über Eärendil zu machen, dann sei das
meine Sache. Ich nehme an, er hatte recht.«
»Ich weiß nicht«, sagte Frodo. »Mir schien es irgendwie zu passen,
obwohl ich es nicht erklären kann. Ich war halb eingeschlafen, als du an-
fingst, und es kam mir vor wie die Fortsetzung von etwas, das ich
träumte. Daß du es warst, der sprach, habe ich erst kurz vor dem Ende
begriffen.«
»Es ist wirklich schwierig, hier wachzubleiben, bis man daran gewöhnt
ist«, sagte Bilbo. »Nicht, daß Hobbits jemals so viel Geschmack an Musik
und Poesie und Erzählungen finden werden wie Elben. Sie scheinen sich
ebenso viel daraus zu machen wie aus Essen und Trinken. Jetzt werden sie
noch lange dabeibleiben. Was meinst du, wollen wir uns zu einer etwas
ruhigeren Unterhaltung davonstehlen?«
»Kann man das?« fragte Frodo.
»Natürlich. Das hier ist Vergnügen und keine Pflichtübung. Du kannsi
kommen und gehen, wie es dir gefällt, solange du keinen Lärm machst. <
Sie standen auf, zogen sich still in den Schatten zurück und gingen zur
Tür. Sam ließen sie dort, denn er schlief fest mit einem Lächeln auf den
Lippen. So sehr sich Frodo über Bilbos Gesellschaft freute, empfand er
doch eine Spur Bedauern, als sie die Halle des Feuers verließen. Gerade als
sie auf der Schwelle waren, stimmte eine einzelne klare Stimme ein Lied
an.

A Elbereth Gilthoniel,
silivren penna miriel
o menel agiar elenath!
Na-chaered palan-diriel
o galadhremmin ennorath,
Fanuilos, le linnathon
nef aear, si nef aearon!

Frodo blieb einen Augenblick stehen und schaute zurück. Elrond saß
auf seinem Sessel, und der Feuerschein auf seinem Gesicht war wie Som-
merlicht auf den Bäumen. In seiner Nähe saß Frau Arwen. Zu seiner
Überraschung sah Frodo, daß Aragorn neben ihr stand; seinen dunklen
Mantel hatte er zurückgeworfen; darunter schien er ein Elben-Ketten-
hemd zu tragen, und ein Stern leuchtete auf seiner Brust. Sie sprachen
miteinander, und dann plötzlich war es Frodo, als ob Arwen sich zu ihm
wandte, und das Licht ihrer Augen fiel von fern auf ihn und durchbohrte
sein Herz.
Er stand verzaubert da, während die süßen Laute des Elbenliedes herab-
sanken wie klare Edelsteine, aus Wort und Melodie, die ineinander über-
gehen. »Es ist ein Lied an Elbereth«, sagte Bilbo. »Dieses und andere Lie-
der des Glückseligen Reichs werden sie heute abend noch viele Male sin-
gen. Komm weiter!«
Er führte Frodo in sein kleines Zimmer. Es ging auf den Garten hinaus
und schaute nach Süden über die Bruinen-Schlucht. Dort saßen sie eine
Weile, betrachteten durch das Fenster die leuchtenden Sterne über den
steil aufragenden Wäldern und unterhielten sich leise. Sie sprachen nicht
mehr von den kleinen Ereignissen im weit entfernten Auenland, und
auch nicht von den dunklen Schatten und Gefahren, die sie umringten,
sondern von den schönen Dingen, die sie gemeinsam in der Welt gesehen
hatten, von den Elben, den Sternen, von Bäumen und vom sanften Fallen
des lichten Jahrs in den Wäldern.
Schließlich klopfte es an der Tür. »Ich bitte um Entschuldigung«, sagte
Sam und streckte den Kopf herein, »aber ich frage mich, ob ihr irgend-
welche Wünsche habt.«
»Und ich bitte auch um Entschuldigung, Sam Gamdschie«, antwortete
Bilbo. »Du findest vermutlich, daß es für deinen Herrn Zeit ist, ins Bett
zu gehen?«
»Nun ja, Herr, morgen früh soll eine Beratung sein, wie ich höre, und
er ist heute zum erstenmal aufgestanden.«
»Ganz recht, Sam«, lachte Bilbo. »Du kannst umkehren und Gandalf
sagen, daß er ins Bett gegangen ist. Gute Nacht, Frodo! Meiner Treu, es
hat gut getan, dich wiederzusehen! Es geht doch nichts über Hobbits,
wenn man ein wirklich gutes Gespräch führen will. Ich werde sehr alt
und fragte mich schon, ob ich es noch erleben würde, deine Kapitel von
unserer Geschichte zu sehen. Gute Nacht! Ich werde wohl noch einen
Spaziergang machen und im Garten einen Blick auf Elbereths Sterne wer-
fen. Schlaf wohl!«

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