ZWÖLFTES KAPITEL
FLUCHT ZUR FURT

Als Frodo wieder zu sich kam, umklammerte er noch verzweifelt den
Ring. Er lag am Feuer, das jetzt hoch aufgeschichtet war und hell brannte.
Seine drei Gefährten beugten sich über ihn.
»Was ist geschehen? Wo ist der bleiche König?« fragte er verstört.
Sie waren so von Freude überwältigt, daß er gesprochen hatte, daß sie
eine Weile nicht antworteten; auch hatten sie seine Frage nicht verstan-
den. Schließlich erfuhr er von Sam, daß sie nichts gesehen hatten als die
undeutlichen, schattenhaften Gestalten, die auf sie zugekommen waren.
Plötzlich hatte Sam zu seinem Entsetzen gemerkt, daß sein Herr verschwun-
den war; und in eben diesem Augenblick stürzte ein schwarzer Schatten an
ihm vorbei, und er fiel hin. Er hörte Frodos Stimme, aber es war, als ob
sie aus großer Ferne oder von unter der Erde käme, und sie rief fremdar-
tige Wörter. Sie sahen nichts mehr, bis sie über Frodo stolperten, der wie
tot mit dem Gesicht nach unten auf dem Gras lag, sein Schwert unter
sich. Streicher befahl ihnen, ihn aufzuheben und in die Nähe des Feuers
zu legen, und dann verschwand er. Das war jetzt schon ziemlich lange
her.
Offenbar stiegen Sam wieder Zweifel über Streicher auf; aber während
sie noch redeten, kam er zurück und tauchte plötzlich aus den Schatten
auf. Sie fuhren zusammen, und Sam zog sein Schwert und stellte sich vor
Frodo; aber Streicher kniete sich rasch neben ihn.
»Ich bin kein Schwarzer Reiter, Sam», sagte er freundlich, »und auch
nicht mit ihnen im Bunde. Ich habe versucht herauszufinden, wohin sie
gegangen sind, aber ich habe nichts feststellen können. Ich verstehe nicht,
warum sie sich zurückgezogen haben und nicht wieder angreifen. Aber
nirgends in der Nähe ist ihre Anwesenheit zu spüren.«
Als er hörte, was Frodo zu sagen hatte, wurde er sehr besorgt, schüt-
telte den Kopf und seufzte. Dann befahl er Pippin und Merry, so viel
Wasser heiß zu machen, als sie in ihren kleinen Kesseln nur konnten, und
die Wunde damit zu baden.
»Haltet das Feuer gut in Gang und haltet Frodo warm!« sagte er. Dann
stand er auf und ging fort und rief Sam zu sich. »Ich glaube, ich begreife
jetzt alles besser«, sagte er leise. »Es scheinen nur fünf Feinde gewesen zu
sein. Warum sie nicht alle hier waren, weiß ich nicht; aber ich glaube, sie
erwarteten keinen Widerstand. Vorläufig haben sie sich zurückgezogen.
Aber nicht weit, fürchte ich. Sie werden in einer anderen Nacht wieder-
kommen, wenn wir ihnen nicht entfliehen können. Sie warten nur, weil
sie glauben, ihr Ziel sei fast erreicht und der Ring könne ihnen nicht
mehr entgehen. Ich fürchte, Sam, daß sie glauben, dein Herr habe eine
tödliche Wunde, die ihn ihrem Willen unterwerfen wird. Wir werden
sehen!«
Sam kamen die Tränen. »Verzweifle nicht!« sagte Streicher. »Du mußt
mir jetzt vertrauen. Dein Frodo ist aus härterem Holz geschnitzt, als ich
vermutet hatte, obwohl Gandalf angedeutet hatte, daß es so sein könnte.
Er ist nicht tot und wird, glaube ich, der bösen Macht der Wunde länger
widerstehen, als seine Feinde erwarten. Ich will alles tun, was ich vermag,
um ihn zu heilen. Bewache ihn gut, während ich fort bin!« Er eilte davon
und verschwand in der Dunkelheit.
Frodo lag in leichtem Schlummer, obwohl seine Wunde immer stärker
schmerzte und eine tödliche Kälte sich von seiner Schulter in den Arm
und die ganze Seite ausbreitete. Seine Freunde wachten über ihm, wärm-
ten ihn und badeten seine Wunde. Die Nacht verging langsam und eintö-
nig. Der Morgen graute am Himmel und ein fahles Licht erfüllte die
Mulde, als Streicher endlich zurückkehrte. »Schaut!« rief er; und er
bückte sich und hob vom Boden einen schwarzen Mantel auf, der dort,
durch die Dunkelheit verborgen, gelegen hatte. Einen Fuß hoch über dem
unteren Saum war ein Riß. »Das war der Streich von Frodos Schwert«,
sagte er. »Und die einzige Wunde, die es dem Feind beibrachte, fürchte
ich. Denn es war unbeschädigt, und alle Klingen, die diesen entsetzlichen
König durchbohren, vergehen. Tödlicher für ihn war der Name Elbereth.«
»Und tödlicher für Frodo war dies!« er bückte sich noch einmal und
hob ein langes, dünnes Messer auf. Es lag ein kalter Glanz auf ihm. Als
Streicher es hochhob, sahen sie, daß die Schneide an ihrem Ende gezackt
und die Spitze abgebrochen war. Aber während er es noch in dem zuneh-
menden Licht hochhielt, starrten sie voll Verwunderung, denn die Klinge
schien zu schmelzen und verschwand wie Rauch in der Luft, und nur das
Heft blieb in Streichers Hand. »Ach!« rief er. »Es war dieses verfluchte
Messer, das die Wunde gemacht hat. Wenige sind heute so heilkundig,
daß sie es mit derart schlimmen Waffen aufnehmen können. Aber ich
will tun, was ich vermag.«
Er setzte sich auf den Boden, nahm den Dolchgriff, legte ihn auf seine
Knie und sang darüber eine getragene Melodie in einer fremden Sprache.
Dann legte er den Dolchgriff beiseite, wandte sich zu Frodo und sprach in
sanftem Ton Wörter, die die anderen nicht verstehen konnten. Aus dem
Beutel an seinem Gürtel zog er lange Blätter einer Pflanze heraus.
»Um diese Blätter zu finden«, sagte er, »bin ich weit gewandert; denn
diese Pflanze wächst nicht in den kahlen Bergen; in den Dickichten weit
südlich der Straße habe ich sie nach dem Geruch ihrer Blätter im Dunkeln
gefunden.« Er zerrieb ein Blatt zwischen den Fingern, und ein süßer und
prickelnder Duft stieg auf. »Es ist ein Glück, daß ich sie finden konnte,
denn es ist eine Heilpflanze, die die Menschen des Westens nach Mittel-
erde gebracht haben. Athelas nannten sie sie, und sie wächst jetzt spär-
lich und nur in der Nähe von Orten, wo die Menschen einst gewohnt oder
gelagert haben; und im Norden ist sie nicht bekannt, außer bei einigen,
die in der Wildnis wandern. Sie ist sehr wirksam, aber bei einer solchen
Wunde wie dieser mögen ihre Heilkräfte klein sein.«
Er warf die Blätter in kochendes Wasser und badete Frodos Schulter.
Der Duft des Dampfes war erfrischend, und diejenigen, die unverletzt
waren, spürten, wie ihr Geist ruhiger und klarer wurde. Das Kraut hatte
aber auch Macht über die Wunde, denn Frodo merkte, wie der Schmerz
und auch das Kältegefühl in seiner Seite nachließen. Doch das Leben
kehrte in seinen Arm nicht zurück, und er konnte die Hand weder heben
noch gebrauchen. Er bereute bitterlich seine Torheit und machte sich Vor-
würfe wegen seiner Willensschwäche; denn er erkannte jetzt, daß er, als
er den Ring aufsetzte, nicht seinem eigenen Verlangen gehorcht hatte,
sondern dem Befehl seiner Feinde. Er fragte sich, ob er sein Leben lang
verkrüppelt bleiben würde, und wie es ihnen gelingen sollte, ihre Wande-
rung fortzusetzen. Er war so schwach, daß er nicht stehen konnte.
Die anderen erörterten eben diese Frage. Sie kamen rasch zu dem Ent-
schluß, die Wetterspitze sobald als möglich zu verlassen. »Ich glaube
jetzt«, sagte Streicher, »daß der Feind diesen Ort schon seit einigen Tagen
beobachtet hat. Wenn Gandalf überhaupt hierher kam, dann wird er ge-
zwungen worden sein, fortzureiten, und er wird nicht zurückkehren.
Jedenfalls sind wir hier nach dem Angriff der letzten Nacht nach Ein-
bruch der Dunkelheit in großer Gefahr, und wo immer wir auch hinge-
hen, kann die Gefahr kaum größer sein.«
Sobald es richtig hell war, nahmen sie eine eilige Mahlzeit zu sich und
packten. Frodo konnte unmöglich laufen, deshalb teilten die vier anderen
den größeren Teil des Gepäcks unter sich auf und ließen Frodo auf dem
Pony reiten. In den letzten Tagen hatte sich das arme Tier prächtig her-
ausgemacht; es schien bereits fetter und kräftiger zu sein und Zuneigung
zu seinen neuen Herren zu zeigen, besonders zu Sam. Lutz Farnings Be-
Handlung mußte wirklich recht schlecht gewesen sein, daß dem Pony eine
Wanderung in der Wildnis besser erschien als sein früheres Leben.
Sie brachen in südlicher Richtung auf. Das bedeutete zwar, daß sie die
Straße überqueren mußten, aber es war der schnellste Weg in waldreiche-
res Gelände. Und sie brauchten Brennholz; denn Streicher sagte, daß Frodo
warm gehalten werden müsse, besonders des Nachts, und Feuer würde
überdies für sie alle ein Schutz sein. Außerdem wollte er ein Stück Wegs
abkürzen, denn die Straße machte hinter der Wetterspitze eine große
Schleife nach Norden.
Sie umgingen langsam und vorsichtig die südwestlichen Hänge des
Berges und kamen nach einer kleinen Weile zur Straße. Von den Reitern
war keine Spur zu sehen. Aber gerade, als sie sie eiligst überquerten, hör-
ten sie in der Ferne zwei Schreie: eine kalte Stimme rief, und eine zweite
kalte Stimme antwortete. Zitternd sprangen sie vorwärts und eilten sich,
in das Dickicht zu kommen, das vor ihnen lag. Das Land fiel nach Süden
ab, aber es war wild und weglos; Büsche und verkrüppelte Bäume standen
in Gruppen dicht beieinander, und dazwischen lagen öde Strecken. Das
Gras war spärlich, rauh und grau; und die Blätter in den Gebüschen
waren verwelkt und fielen ab. Es war ein trostloses Land, und sie wander-
ten langsam und bedrückt dahin. Sie sprachen wenig. Frodo war beküm-
mert, als er sah, wie sie mit gesenkten Köpfen neben ihm hergingen und
ihre Rücken gebeugt waren unter ihren Lasten. Selbst Streicher schien
müde und niedergeschlagen zu sein.
Ehe der erste Tagesmarsch vorüber war, wurden Frodos Schmerzen
wieder stärker, aber er erwähnte es lange Zeit nicht. Vier Tage verstri-
chen, ohne daß sich das Gelände oder die Gegend viel änderten, abgese-
hen davon, daß die Wetterspitze langsam hinter ihnen versank und die
fernen Berge vor ihnen etwas näherrückten. Doch hatten sie seit jenem
fernen Schrei kein Anzeichen dafür gehört oder gesehen, daß der Feind
ihre Flucht bemerkt hätte oder ihnen folgte. Sie fürchteten die dunklen
Stunden und hielten nachts zu zweit Wache, denn sie erwarteten jeden
Augenblick, schwarze Gestalten in der grauen Nacht umgehen zu sehen,
die durch den wölken verhangenen Mond nur schwach erhellt war; aber
sie sahen nichts und hörten keinen Laut außer dem Seufzen von verwelk-
ten Blättern und Gras. Kein einziges Mal empfanden sie die Gegenwart
von etwas Bösem, wie sie es vor dem Angriff in der Mulde gespürt hat-
ten. Sie wagten kaum zu hoffen, daß die Reiter ihre Spur schon wieder
verloren hätten. Vielleicht warteten sie, um irgendwo an einer engen
Stelle einen Hinterhalt zu legen?
Am Ende des fünften Tages begann das Gelände wieder langsam anzu-
steigen aus dem weiten flachen Tal, in das sie hinabgewandert waren.
Streicher lenkte nun seine Schritte wieder nach Nordosten, und am sech-
sten Tag erreichten sie den Gipfel eines langen, gemächlich ansteigenden
Rückens und sahen weit voraus eine Gruppe bewaldeter Berge. Tief unten
konnten sie die Straße sehen, die sich um den Fuß der Berge herumwand;
und zu ihrer Rechten schimmerte ein grauer Fluß bleich im dünnen Son-
nenschein. In der Ferne erkannten sie in einem steinigen und halb von
Nebel verschleierten Tal einen zweiten Fluß.
»Ich fürchte, wir müssen hier wieder eine Zeitlang auf die Straße zu-
rück«, sagte Streicher. »Wir sind jetzt zum Fluß Weißquell gekommen,
den die Elben Mitheithel nennen. Er entspringt in den Ettenöden, den
Troll-Höhen nördlich von Bruchtal, und vereinigt sich weit im Süden mit
der Lautwasser. Von da an nennen ihn manche die Grauflut. Er ist ein
gewaltiger Strom geworden, wenn er schließlich ins Meer mündet. Es gibt
keinen anderen Weg hinüber unterhalb seiner Quellen in den Ettenöden
als die Letzte Brücke, auf der ihn die Straße überquert.«
»Welcher Fluß ist denn das, den man dort weit hinten sieht?« fragte
Merry.
»Das ist die Lautwasser, der Bruinen von Bruchtal«, antwortete Strei-
cher. »Von der Brücke bis zur Bruinenfurt verläuft die Straße auf viele
Meilen hart an den Bergen. Aber wie wir über jenen Fluß kommen sollen,
darüber habe ich noch nicht nachgedacht. Immer ein Fluß nach dem ande-
ren! Wir werden von Glück sagen können, wenn wir die Brücke unbesetzt
finden.«
Früh am nächsten Morgen kamen sie wieder hinunter zur Straße. Sam
und Streicher gingen voraus, aber sie sahen keinerlei Fußgänger oder Rei-
ter. Hier im Schatten der Berge hatte es etwas geregnet. Streicher
schätzte, daß es zwei Tage her war, und der Regen hatte alle Fußspuren
weggewaschen. Kein Reiter war seither vorbeigekommen, soweit sie sehen
konnten.
Sie eilten weiter, so rasch sie vermochten, und nach ein oder zwei Mei-
len sahen sie die Letzte Brücke vor sich, am Fuße eines kurzen, steilen
Hanges. Sie fürchteten, daß dort schwarze Gestalten warten könnten, aber
sie sahen keine. Streicher ließ sie Deckung nehmen in einem Gebüsch am
Straßenrand, während er selbst zur Erkundung vorausging.
Es dauerte nicht lange, da kam er eilig zurück. »Ich kann keine Spur
des Feindes entdecken«, sagte er, »und ich frage mich wirklich, was das
bedeutet. Aber ich habe etwas sehr Merkwürdiges gefunden.«
Er streckte die Hand aus und zeigte einen einzelnen blaßgrünen Edel-
stein. »Ich fand ihn im Straßenschmutz mitten auf der Brücke«, sagte er.
»Es ist ein Beryll, ein Elbenstein. Ob er absichtlich dort hingelegt oder
zufällig verloren wurde, kann ich nicht sagen. Aber er gibt mir Hoff-
nung. Ich will ihn als ein Zeichen dafür ansehen, daß wir die Brücke pas-
sieren dürfen; doch auf dem jenseitigen Ufer wage ich nicht auf der
Straße zu bleiben ohne ein deutlicheres Zeichen.«
Sie gingen sofort weiter. Sie überquerten die Brücke ungefährdet und
hörten nichts als die Strudel des Wassers an den drei großen Brückenbö-
gen. Nach einer Meile kamen sie in eine enge Schlucht, die nach Norden
durch das steile Gelände links der Straße führte. Hier bog Streicher ein,
und bald waren sie inmitten einer düsteren Landschaft von dunklen Bäu-
men, die sich um den Fuß der finsteren Berge herumzog.
Die Hobbits waren froh, die eintönige Ebene und die gefährliche Straße
hinter sich zu lassen; aber diese neue Landschaft schien bedrohlich und
feindselig zu sein. Als sie weitergingen, wurden die Berge immer höher.
Hier und dort erblickten sie auf den Anhöhen und Graten alte Steinwälle
und verfallene Türme: sie sahen unheimlich aus. Frodo, der nicht ging,
hatte Zeit, vorauszuschauen und nachzudenken. Er erinnerte sich an Bilbos
Bericht über seine Wanderung und die bedrohlichen Türme auf den Ber-
gen nördlich der Straße in der Nähe des Trollwaldes, wo er sein erstes
ernstliches Abenteuer erlebt hatte. Frodo vermutete, daß sie sich jetzt in
derselben Gegend befanden, und fragte sich, ob sie wohl zufällig an eben
der Stelle vorbeikommen würden.
»Wer lebt in diesem Land?« fragte er. »Und wer hat diese Türme ge-
baut. Ist dies das Troll-Land?«
»Nein«, sagte Streicher. »Trolle bauen nicht. Niemand lebt in diesem
Land. Früher wohnten Menschen hier, vor langen Zeiten; aber jetzt sind
keine mehr hier. Sie sind ein böses Volk geworden, wie die Sagen berich-
ten, denn sie verfielen dem Schatten von Angmar. Aber alle gingen zu-
grunde in dem Krieg, der das Ende des Nördlichen Königsreichs brachte.
Doch das ist jetzt schon so lange her, daß die Berge die Menschen verges-
sen haben, obwohl noch immer Schatten auf dem Land liegt.«
»Wo hast du diese Geschichten gelernt, wenn das ganze Land leer und
vergessen ist?« fragte Peregrin. »Vögel und Tiere erzählen doch keine
Geschichten dieser Art.«
»Elendils Erben vergessen nicht alle vergangenen Dinge«, sagte Strei-
cher. »Und in Bruchtal weiß man noch viel mehr, als ich erzählen kann.<
»Bist du oft in Bruchtal gewesen?« fragte Frodo.
»Ja«, sagte Streicher. »Früher wohnte ich dort, und ich kehre dorthin
zurück, wann immer ich kann. Dort ist mein Herz; aber es ist nicht mein
Schicksal, irgendwo friedlich zu verweilen, nicht einmal in Elronds schö-
nem Haus.«
Die Berge begannen jetzt, sie einzuschließen. Die Straße hinter ihnen
hielt die Richtung zum Fluß Bruinen ein, aber Fluß und Straße waren
nun ihrem Blick entzogen. Die Wanderer kamen in ein langes Tal; schmal,
tief eingeschnitten, dunkel und still. Bäume mit alten und verschlungenen
Wurzeln hingen über Felsen und türmten sich dahinter zu hohen Kiefern-
wäldern auf.
Die Hobbits wurden sehr müde. Sie kamen langsam voran, denn sie
mußten sich ihren Weg durch pfadloses Gelände bahnen und waren be-
hindert durch umgestürzte Bäume und herabgefallene Felsen. Solange es
möglich war, vermieden sie das Klettern um Frodos willen, und außerdem
war es auch sehr schwierig, einen Weg aus den schmalen Tälern zu fin-
den. Sie waren zwei Tage in dieser Landschaft, als das Wetter umschlug.
Der Wind begann stetig von Westen zu blasen, und das Wasser aus den
fernen Meeren ergoß sich über die dunklen Kuppen der Berge in einem
feinen, anhaltenden Regen. Als die Nacht hereinbrach, waren sie bis auf
die Haut durchnäßt, und ihr Lager war trostlos, denn sie konnten kein
Feuer in Gang bringen. Am nächsten Tag türmten sich die Berge noch
höher und steiler vor ihnen, und sie mußten ihre Richtung aufgeben und
nach Norden gehen. Streicher schien besorgt zu sein: sie waren jetzt fast
zehn Tage unterwegs, seit sie von der Wetterspitze aufgebrochen waren,
und ihre Vorräte wurden knapp. Es regnete immer noch.
In jener Nacht lagerten sie auf einem steinigen Vorsprung, und hinter
ihnen erhob sich eine Felswand, in der eine flache Höhle war, eine bloße
Mulde im Fels. Frodo war unruhig. Durch die Kälte und Nässe quälte ihn
seine Wunde mehr denn je, und der anhaltende Schmerz und das Gefühl
von tödlicher Kälte ließen ihn nicht schlafen. Er warf sich unruhig herum
und lauschte ängstlich den heimlichen Nachtgeräuschen: dem Wind in
Felsspalten, tropfendem Wasser, einem Knacken, dem plötzlichen pol-
ternden Fallen eines Steins, der sich gelöst hatte. Er hatte das Gefühl, daß
schwarze Gestalten auf ihn zukämen, um ihn zu ersticken; aber als er sich
aufrichtete, sah er nichts als Streichers Rücken, der sitzend seine Pfeife
rauchte und wachte. Er legte sich wieder hin und sank in einen unruhigen
Traum, in dem er über den Rasen in seinem Garten im Auenland ging,
aber er erschien ihm blaß und undeutlich, weniger klar als die hohen
schwarzen Schatten, die an der Hecke standen und herüberschauten.
Als er am Morgen erwachte, hatte der Regen aufgehört. Es waren noch
dicke Wolken am Himmel, aber sie rissen auf, und blasse Streifen von
Blau erschienen zwischen ihnen. Der Wind drehte sich wieder. Sie bra-
chen nicht früh auf. Gleich nach ihrem kalten und unbehaglichen Früh-
stück ging Streicher allein weg und sagte den anderen, sie sollten im
Schutz der Felswand bleiben, bis er zurückkäme. Er wollte, wenn er
könnte, auf den Berg steigen und sich die Lage der Dinge betrachten.
Als er zurückkam, klang sein Bericht nicht sehr ermutigend. »Wir sind
zu weit nach Norden gekommen«, sagte er. »Wir müssen einen Weg fin-
den, der uns wieder mehr nach Süden führt. Wenn wir so weitergehen
wie bisher, kommen wir in die Ettentäler weit nördlich von Bruchtal. Das
ist ein Troll-Land, und ich kenne es kaum. Wir könnten uns vielleicht
zurechtfinden und Bruchtal von Norden her erreichen; aber es würde zu
lange dauern, weil ich den Weg nicht weiß, und unsere Lebensmittel wür-
den nicht reichen. So müssen wir uns also irgendwie zur Bruinenfurt
durchschlagen.«
Den Rest des Tages verbrachten sie damit, über felsiges Gelände zu klet-
tern. Sie fanden einen Durchgang zwischen zwei Bergen und gelangten in
ein Tal, das sich nach Südosten erstreckte, also in der Richtung, die sie
einschlagen wollten; aber als sich der Tag seinem Ende zuneigte, war
ihnen der Weg wieder durch einen hohen Bergrücken versperrt; sein dunk-
ler Kamm, der sich vom Himmel abhob, war grob gezackt wie eine stumpfe
Säge. Sie hatten die Wahl, entweder umzukehren oder den Bergrücken zu
erklimmen.
Sie beschlossen, die Kletterei zu versuchen, aber sie erwies sich als sehr
schwierig. Es dauerte nicht lange, da mußte Frodo absteigen und sich zu
Fuß weiterquälen. Selbst so zweifelten sie oft daran, wie sie das Pony hin-
aufbringen oder auch für sich selbst, beladen wie sie waren, einen Pfad
finden sollten. Es war schon fast dunkel und sie waren alle erschöpft, als
sie schließlich den Kamm erreichten. Sie befanden sich auf einem schma- ¦
len Sattel zwischen zwei höheren Gipfeln, und vor ihnen fiel das Land
nach einer kurzen Strecke wieder steil ab. Frodo warf sich hin und lag
fröstelnd auf dem Boden. Sein linker Arm war abgestorben, und seine
Seite und Schulter fühlten sich an, als lägen eisige Klauen auf ihnen. Die
Bäume und Felsen um ihn herum erschienen ihm schattenhaft und düster.
»Wir können nicht weitergehen«, sagte Merry zu Streicher. »Ich
fürchte, daß es für Frodo zu viel gewesen ist. Ich mache mir schreckliche
Sorgen um ihn. Was sollen wir nur tun? Glaubst du, sie werden ihn in
Bruchtal heilen können, wenn wir je dorthin kommen?<
»Wir werden sehen«, antwortete Streicher. »Ich kann jedenfalls hier in
der Wildnis nichts weiter tun; und hauptsächlich wegen seiner Wunde
liegt mir daran, schnell weiterzukommen. Aber ich bin auch der Mei-
nung, daß wir heute abend hierbleiben müssen.«
»Was ist mit meinem Herrn los?« fragte Sam leise und sah Streicher
flehentlich an. »Seine Wunde war klein und hat sich jetzt schon geschlos-
sen. Es ist nichts mehr zu sehen als eine kalte weiße Stelle auf seiner
Schulter.«
»Frodo ist von den Waffen des Feindes verletzt worden«, sagte Strei-
cher, »und da ist irgendein Gift oder etwas Böses am Werk, das ich nicht
auszutreiben vermag. Aber gib die Hoffnung nicht auf, Sam!«
Die Nacht war kalt auf dem hohen Grat. Sie zündeten ein kleines Feuer
unter den knorrigen Wurzeln einer alten Kiefer an, die über eine flache
Grube hing: sie sah aus, als seien einst dort Steine gebrochen worden. Sie
saßen eng aneinandergekauert da. Der Wind pfiff kalt über den Paß, und
sie hörten die Baumwipfel weiter unten stöhnen und seufzen. Frodo lag
halb im Traum und bildete sich ein, daß unaufhörlich schwarze Flügel
über ihn hinwegfegten und daß auf den Flügeln Verfolger ritten, die in
allen Bergtälern nach ihm suchten.
Der Morgen dämmerte hell und schön; die Luft war rein und das Licht
blaß und klar in einem vom Regen reingewaschenen Himmel. Ihnen war
leichter ums Herz, aber sie sehnten sich nach der Sonne, damit sie ihre
kalten, steifen Glieder wärme. Sobald es hell war, ging Streicher mit
Merry auf die Höhe hinauf, um einen Blick auf das Land östlich des Pas-
ses zu werfen. Die Sonne war aufgegangen und schien hell, als er mit
tröstlicheren Nachrichten zurückkam. Sie waren jetzt mehr oder weniger
in der richtigen Richtung. Wenn sie jenseits des Grats weitergingen, wür-
den sie das Gebirge zur Linken haben. Ein Stück Wegs voraus hatte Strei-
cher die Lautwasser erblickt, und obwohl die Straße zur Furt dem Blick ent-
zogen war, wußte er, daß sie nicht weit vom Fluß verlief, und zwar auf
der ihnen zunächst liegenden Seite.
»Wir müssen uns wieder zur Straße aufmachen«, sagte er. »Wir kön-
nen nicht darauf hoffen, einen Pfad durch diese Berge zu finden. Welche
Gefahr dort auch lauem mag, die Straße ist dennoch der einzige mögliche
Weg zur Furt.«
Sobald sie gegessen hatten, brachen sie auf. Langsam kletterten sie den
Südhang des Grats hinunter; doch war der Weg viel einfacher, als sie ver-
mutet hatten, denn der Hang war auf dieser Seite weit weniger steil, und
es dauerte nicht lange, da konnte Frodo wieder reiten. Lutz Farnings
armes altes Pony entwickelte ein unerwartetes Gespür, einen Pfad zu fin-
den und seinem Reiter möglichst viele Stöße zu ersparen. Die Stimmung
der Wanderer stieg wieder. Selbst Frodo fühlte sich besser am hellichten
Morgen, aber dann und wann schien ihm ein Nebel den Blick zu trüben,
und er fuhr sich mit der Hand über die Augen.
Pippin war den anderen ein wenig voraus. Plötzlich wandte er sich zu
ihnen um. »Dort ist ein Pfad!« rief er.
Als sie ihn eingeholt hatten, sahen sie, daß er sich nicht getäuscht
hatte: dort begann deutlich ein Pfad, der sich in vielen Windungen durch
den tiefer liegenden Wald zog und auf dem Berggipfel dahinter verschwand.
Stellenweise war er jetzt nur schwach erkennbar und zugewachsen oder
durch herabgefallene Steine und Bäume versperrt; aber es schien, als sei
er früher viel benutzt worden. Es war ein Pfad, den starke Arme und klo-
bige Füße gebahnt hatten. Hier und dort waren alte Bäume gefällt oder
abgebrochen und große Felsen gespalten oder weggewälzt worden, um
einen Weg zu schaffen.
Sie folgten der Spur eine Zeitlang, denn es war das Bequemste für den
Abstieg, aber sie gingen vorsichtig, und ihre Ängstlichkeit wuchs, als sie
in den dunklen Wald kamen und der Pfad deutlicher und breiter wurde.
Plötzlich ließ er eine Reihe Kiefern hinter sich und zog sich einen steilen
Hang hinunter, dann wandte er sich scharf nach links und verschwand
hinter einem Felsvorsprung. Als sie zu der Ecke kamen, schauten sie sich
um und sahen, daß der Pfad nun eben verlief unter einer niedrigen Fels-
wand, die von Bäumen überhangen war. In der Felswand war eine Tür,
die halboffen und schief an einer großen Angel hing.
Vor der Tür hielten sie an. Es war eine Höhle oder eine Felskammer
dahinter, aber in der Dämmerung drinnen war nichts zu sehen. Streicher,
Sam und Merry gelang es mit aller Kraft, die Tür etwas weiter aufzusto-
ßen, und dann gingen Streicher und Merry hinein. Sie gingen nicht weit,
denn auf dem Boden lagen viele alte Knochen, und in der Nähe des Ein-
gangs war nichts zu sehen als einige leere Krüge und zerbrochene Töpfe.
»Gewiß ist das eine Trollhöhle, wenn es je eine gab!« sagte Pippin.,
»Kommt heraus, ihr beiden, und laßt uns weitergehen. Jetzt wissen wir,
wer den Pfad gemacht hat — da ist es am besten, wir verdrücken uns
rasch.«
»Das ist nicht nötig, glaube ich«, sagte Streicher, als er herauskam.

»Gewiß ist es eine Trollhöhle, aber sie scheint schon lange verlassen zu
sein. Ich glaube nicht, daß wir Angst haben müssen. Laßt uns vorsichtig
hinuntergehen, dann werden wir weitersehen.«
Der Pfad führte von der Tür aus weiter, wandte sich wieder nach rechts
über das ebene Stück, und dann ging es einen dicht bewaldeten Abhang
hinunter. Pippin, der Streicher nicht gern zeigen wollte, daß er Angst
hatte, ging mit Merry voran. Sam und Streicher kamen hinterher, und in
der Mitte zwischen ihnen trabte Frodos Pony. Denn der Pfad war jetzt so
breit, daß vier oder fünf Hobbits nebeneinander gehen konnten. Aber sie
waren noch nicht weit gekommen, als Pippin zurückgerannt kam, gefolgt
von Merry. Sie sahen beide ganz erschrocken aus.
»Da sind Trolle!« keuchte Pippin. »Unten auf einer Lichtung im Wald,
nicht weit hinab. Wir haben sie durch die Baumstämme gesehen. Sie sind
sehr groß.«
»Wir wollen sie uns gleich mal anschauen«, sagte Streicher und nahm
einen Stock auf. Frodo sagte nichts, aber Sam sah verstört aus.
Die Sonne stand jetzt hoch und schien durch die halb kahlen Zweige
der Bäume und warf Lichtflecken auf die Lichtung. Sie blieben am Rand
stehen und spähten mit angehaltenem Atem zwischen den Baumstämmen
hindurch. Da standen die Trolle: drei große Trolle. Einer bückte sich, und
die anderen starrten ihn an.
Streicher ging unbekümmert auf sie zu. »Steh auf, alter Stein!« sagte er
und zerbrach seinen Stock an dem gebückten Troll. Nichts geschah. Die
Hobbits waren starr vor Staunen, und dann mußte selbst Frodo lachen.
»Ja«, sagte er, »wir vergessen unsere Familiengeschichte! Das müssen
eben die drei sein, die von Gandalf geschnappt wurden, als sie sich über
die richtige Methode stritten, dreizehn Zwerge und einen Hobbit zu
kochen.«
»Ich hatte keine Ahnung, daß wir in dieser Gegend sind«, sagte Pip-
pin. Er kannte die Geschichte gut. Bilbo und Frodo hatten sie oft erzählt;
aber eigentlich hatte er sie immer nur halb geglaubt. Selbst jetzt betrach-
tete er die Steintrolle noch mißtrauisch und fragte sich, ob nicht irgendein
Zauber sie plötzlich wieder lebendig machen würde.
»Ihr vergeßt nicht nur eure Familiengeschichte, sondern alles, was ihr
je über Trolle gehört habt«, sagte Streicher. »Es ist hellichter Tag und
strahlender Sonnenschein, und trotzdem versucht ihr, mich mit einer Ge-
schichte von lebendigen Trollen zu erschrecken, die auf dieser Lichtung
auf uns warten! Jedenfalls hättet ihr bemerken können, daß einer von
ihnen ein altes Vogelnest hinter dem Ohr hat. Das wäre ein sehr unge-
wöhnlicher Schmuck für einen lebendigen Troll!«
Sie lachten alle. Frodos Lebensgeister erwachten wieder: die Erinnerung
an Bilbos erstes erfolgreiches Abenteuer war herzerfrischend. Auch war
die Sonne warm und tröstlich, und der Nebel vor seinen Augen schien
sich ein wenig zu verziehen. Sie rasteten eine Weile auf der Lichtung und
nahmen ihr Mittagsmahl direkt im Schatten der großen Trollbeine ein.
»Will uns nicht jemand etwas vorsingen, während die Sonne noch hoch
steht?« schlug Merry vor, als sie mit dem Essen fertig waren. »Wir haben
seit Tagen kein Lied und keine Geschichte gehört.«
»Nicht seit der Wetterspitze«, sagte Frodo. Die anderen sahen ihn an.
»Macht euch keine Sorgen um mich«, fügte er hinzu. »Ich fühle mich viel
besser, aber ich glaube nicht, daß ich singen könnte. Vielleicht kann Sam
etwas aus seinem Gedächtnis ausgraben.«
»Los, Sam«, sagte Merry. »In deinem Kopf ist mehr auf Lager, als du
zugeben willst.«
»Das weiß ich nicht«, sagte Sam. »Aber wie wäre es damit? Es ist
nicht gerade das, was ich Poesie nenne, wenn ihr mich versteht: nur ein
bißchen Unsinn. Aber diese alten Bildsäulen haben es mir wieder in Erin-
nerung gerufen.« Er stand auf, die Hände auf dem Rücken, als ob er in
der Schule sei, und nach einer alten Melodie begann er zu singen.

Troll saß allein auf einem Stein
Und kaute und nagte an altem Gebein
Schon Jahr um Jahr, denn Fleisch ist rar
Und eine seltene Gabe.

Habe! Labe.
Und Troll lebt immerzu allein,
Und Fleisch ist kaum zu haben.

Da kam mit Meilenstiefeln an
Der Tom und rief: »He, Trollemann!

Mir scheint das schlimm, du nagst an Tim,
Meinem Onkel, der längst verschieden,

Er ruhe in Frieden!
Lang ist er tot, der würdige Mann,
Und ich dachte, er lag in Frieden.

»Ja, Jungchen, grinst Troll, »ich stahl den Schatz,
Was braucht ein Gerippe noch so viel Platz?
Dein Onkel war tot ohne Kummer und Not,
Schon eh ich an seinen Knochen

Ger- oh- gerochen!
Mir altem Troll gibt er gern was ab,
Denn er braucht nicht die alten Knochen.«

Sagt Tom: »Auch brauchen nicht solche wie du
An Knochen zu nagen! Hör auf! Hör zu!
Die gib uns zurück jedes einzige Stück,
Die gehören in die Familie!

Diebsbruder! Luder!
Ein Toter will schließlich auch seine Ruh
Im Schöße der Familie.*

»Gib nicht so an, sagt Troll, »lieber Mann,
Ich mach mich gleich an dich selber ran!
Solch frisches Gericht hatt ich lange nicht
Für meine Nagezähne,

Ahne! Dähne!
Ich hob die Gerippe weidlich satt,
Riech ich so junge Hähne!*

Schon schien ihm sicher das köstliche Mahl,
Da entwischte ihm Tom so glatt wie ein Aal
Und hob den Fuß zum Stiefelgruß,
Ihn eines bessern zu lehren,

In Ehren lehren!
Tom hob den Stiefel voller Genuß
Den Troll eines bessern zu lehren.

Aber härter als Stein ist Gesäß und Gebein
Eines Trolls, und fühllos noch obendrein.
Man könnt ebensogut in ohnmächtiger Wut
Den Felsen mit Tritten bedenken!

Verrenken! Ertränken!
Wie lachte Troll, als Tom wie toll
Tat seinen Stiefel schwenken.

Und seit er damals nach Hause kam
Blieb sein Fuß ohne Stiefel und dauerlahm.
Aber was geschah, geht Troll nicht nah,
Und den Knochen hat er behalten,

Den miesen alten!
Sein Rückenteil blieb leider ganz heil,
Und den Knochen hat er behalten.

»So, das ist eine Warnung für uns alle!« lachte Merry. »Gut, daß du
einen Stock genommen hast, Streicher, und nicht deine Hand!«
»Wo hast du das her, Sam?« fragte Pippin. »Ich habe diese Verse noch
nie gehört.«
Sam murmelte etwas Unverständliches. »Das hat er natürlich selbst er-
funden«, sagte Frodo. »Ich lerne auf dieser Fahrt eine Menge über Sam
Gamdschie. Erst war er Verschwörer, jetzt ist er Possenreißer. Zu guter
Letzt wird er noch Zauberer — oder Krieger!«
»Das hoffe ich nicht«, sagte Sam. »Keins von beiden will ich sein!«
Am Nachmittag gingen sie weiter hinab durch den Wald. Wahrschein-
lich war es genau derselbe Weg, den Gandalf, Bilbo und die Zwerge vor
vielen Jahren gegangen waren. Nach ein paar Meilen kamen sie oberhalb
einer hohen Böschung an der Straße heraus. An diesem Punkt hatte die
Straße den Weißquell in seinem engen Tal schon weit hinter sich gelas-
sen, schmiegte sich jetzt dicht an den Fuß der Berge und zog sich in vie-
len Windungen zwischen Wäldern und heidebewachsenen Hängen zur
Furt und zum Gebirge hin. Ein Stückchen weiter unten an der Böschung
zeigte Streicher auf einen Stein im Gras. Auf ihm konnte man noch roh
hineingehauene und jetzt stark verwitterte Zwergenrunen und geheime
Zeichen erkennen.
»Aha«, sagte Merry. »Das muß der Stein sein, der die Stelle kenn-
zeichnet, wo das Gold der Trolle versteckt war. Wieviel mag von Bilbos
Anteil wohl noch übrig sein, Frodo?«
Frodo betrachtete den Stein und wünschte, daß Bilbo keine gefährliche-
ren oder weniger leicht loszuwerdenden Schätze heimgebracht hätte.
»Überhaupt nichts«, sagte er. »Bilbo hat alles verschenkt. Er sagte mir, er
habe das Gefühl, es gehöre ihm eigentlich gar nicht, da es von Räubern
stammte.«
Die Straße lag still da unter den langen Schatten des frühen Abends.
Von irgendwelchen anderen Wanderern war keine Spur zu sehen. Da es
ihnen nicht möglich war, eine andere Richtung einzuschlagen, kletterten
sie die Böschung hinunter und bogen nach links auf die Straße ein und
gingen, so schnell sie konnten. Bald verschwand die im Westen unterge-
hende Sonne hinter einem Bergrücken. Ein kalter Wind blies vom Gebirge
vor ihnen herab.
Sie begannen schon, sich nach einem Platz abseits der Straße umzu-
schauen, wo sie ihr Lager für die Nacht aufschlagen könnten, als sie ein
Geräusch hörten, das ihr Herz wieder mit Furcht erfüllte: das Geräusch
von Hufen hinter ihnen. Sie schauten zurück, konnten aber wegen der
vielen Windungen und Biegungen der Straße nichts sehen. So rasch sie
konnten, gingen sie seitwärts über die mit niedrigem Heidekraut und
Blaubeersträuchern bewachsenen Hänge, bis sie zu einem dichten Hasel-
nußgebüsch kamen. Als sie durch die Büsche spähten, konnten sie die
Straße, undeutlich und grau in der Dämmerung, etwa dreißig Fuß unter
sich liegen sehen. Das Geräusch der Hufe kam näher. Sie schlugen
schnell, mit einem leichten Klippedi Klippedi Klipp. Dann hörten sie
schwach, als ob es der Wind von ihnen wegtrüge, ein leises Läuten wie
von kleinen Glöckchen.
»Das klingt nicht wie das Pferd eines Schwarzen Reiters!« sagte Frodo,
der angespannt lauschte. Die anderen Hobbits stimmten ihm hoffnungs-
voll bei, doch waren sie alle noch mißtrauisch. Sie hatten sich so lange
vor Verfolgung gefürchtet, daß jedes Geräusch von hinten ihnen unheil-
voll und feindselig erschien. Aber Streicher beugte sich jetzt vor und
legte den Kopf mit der Hand am Ohr auf den Boden, er hatte einen freu-
digen Gesichtsausdruck.
Das Tageslicht verblaßte, und die Blätter an den Büschen raschelten
leise. Klarer und näher läuteten jetzt die Glöckchen, und klippedi klipp
klang das Hufgetrappel. Plötzlich kam unten ein weißes Pferd in raschem
Lauf in Sicht, das durch die Schatten schimmerte und rasch dahineilte.
In der Dämmerung glänzte und blitzte sein Stirnriemen, als sei er mit
Edelsteinen wie mit leibhaftigen Sternen besetzt. Der Mantel des Reiters
flatterte hinter ihm, und seine Kapuze war zurückgeworfen; sein goldenes
Haar flutete schimmernd im Wind. Frodo kam es so vor, als schiene ein
weißes Licht durch die Gestalt und das Gewand des Reiters wie durch
einen dünnen Schleier.
Streicher sprang aus dem Versteck hervor und stürzte mit einem Ruf
über die Heide zur Straße; aber schon ehe er sich gerührt oder gerufen
hatte, hatte der Reiter die Zügel angezogen und gehalten; er blickte hin-
auf zu dem Gebüsch, wo sie standen. Als er Streicher sah, stieg er ab, lief
ihm entgegen und rief: Ai na vedui Dúnadan! Mae govannen! Seine
Sprache und seine hell klingende Stimme ließen keinen Zweifel in ihren
Herzen: der Reiter gehörte zum Volk der Elben. Keine anderen Bewohner
der weiten Welt hatten so schöne Stimmen. Aber Hast oder Furcht schien
in seinem Ruf mitzuschwingen, und sie sahen, daß er jetzt schnell und
drängend mit Streicher sprach.
Bald winkte Streicher ihnen, die Hobbits kamen aus den Büschen hervor
und eilten hinunter zur Straße. »Das ist Glorfindel, der in Elronds Haus
wohnt«, sagte Streicher.
»Heil! Gut, daß wir uns endlich treffen!« sagte der Elbenfürst zu Frodo.
»Ich bin von Bruchtal ausgesandt worden, um nach dir zu suchen. Wir
fürchteten, du könntest auf der Straße in Gefahr sein.«
»Dann ist Gandalf in Bruchtal eingetroffen?« rief Frodo voller Freude.
»Nein. Jedenfalls noch nicht, als ich losritt. Aber das war vor neun
Tagen«, antwortete Glorfindel. »Elrond erhielt Nachrichten, die ihn be-
kümmerten. Einige von meiner Sippe, die in eurem Land jenseits des
Baranduin* wanderten, erfuhren, daß die Dinge nicht gut stünden, und
schickten Botschaften, so schnell sie konnten. Sie sagten, daß die Neun
unterwegs seien und du eine schwere Bürde tragest ohne Führung, denn
Gandalf sei nicht zurückgekehrt. Selbst in Bruchtal gibt es nur wenige, die
offen gegen die Neun reiten können; aber jene, die da waren, schickte
Elrond nach Norden, Westen und Süden. Wir glaubten, daß du vielleicht
weit vom Wege abweichen würdest, um der Verfolgung zu entgehen, und
dich in der Wildnis verirren könntest.
Mir fiel es zu, die Straße zu überwachen, und ich kam zur Brücke über
den Mitheithel und ließ ein Zeichen dort, vor fast sieben Tagen. Drei von
Saurons Dienern waren auf der Brücke, doch zogen sie sich zurück, und
ich verfolgte sie nach Westen. Ich stieß noch auf zwei weitere, doch sie
wandten sich nach Süden. Seitdem habe ich nach eurer Spur gesucht. Vor
zwei Tagen fand ich sie und folgte ihr über die Brücke; und heute fand
ich die Stelle, an der ihr wieder von den Bergen herabgekommen seid.
Aber kommt! Es ist keine Zeit für den Austausch weiterer Neuigkeiten,
Da ihr nun hier seid, müssen wir die Gefahr der Straße auf uns nehmen
und gehen. Es sind fünf hinter uns, und wenn sie eure Spur auf der
Straße finden, werden sie wie der Wind hinter uns herreiten. Und das
sind nicht alle. Wo die anderen vier sein mögen, weiß ich nicht. Ich
fürchte, daß wir die Furt schon besetzt vorfinden.«
Während Glorfindel sprach, wurden die Abendschatten schwärzer.

Frodo merkte, wie ihn eine große Schwäche überkam. Schon seit die
Sonne zu sinken begonnen hatte, war der Nebel vor seinen Augen dunk-
ler geworden, und er fühlte, daß ein Schatten zwischen ihn und die Ge-
sichter seiner Freunde trat. Jetzt wurde er von Schmerzen gepackt, und
ihm war kalt. Er schwankte und hielt sich an Sams Arm fest.
»Mein Herr ist krank und verwundet«, sagte Sam aufgebracht. »Er
kann nach Einbruch der Nacht nicht weiterreiten. Er braucht Ruhe.«
Glorfindel fing Frodo auf, als er zu Boden sank, nahm ihn sanft in die
Arme und schaute ihm mit ernster Sorge ins Gesicht.
* Der Brandyweinfluß

Streicher berichtete kurz von dem Angriff auf ihr Lager bei der Wet-
terspitze und von dem tödlichen Messer. Er zog das Heft heraus, das er
aufgehoben hatte, und gab es dem Elben. Glorfindel schauderte, als er es
nahm, aber er betrachtete es genau.
»Böse Dinge stehen auf diesem Heft geschrieben«, sagte er. »Wenn
eure Augen sie vielleicht auch nicht sehen können. Behalte es, Aragorn,
bis wir zu Elronds Haus kommen! Aber sei vorsichtig und berühre es so
wenig als möglich! Ach, die Wunden dieser Waffe vermag ich nicht zu
heilen. Ich will tun, was ich kann — aber um so mehr bitte ich euch drin-
gend, jetzt ohne Rast weiterzugehen.«
Er befühlte die Wunde auf Frodos Schulter mit dem Finger, und sein
Gesicht wurde ernster, als ob er etwas festgestellt habe, das ihn beunru-
higte. Aber Frodo fühlte, daß die Kälte in seiner Seite und seinem Arm
nachließ; ein wenig Wärme wanderte von seiner Schulter hinunter in
seine Hand, und der Schmerz ließ nach. Die Abenddämmerung schien
lichter zu werden, als ob eine Wolke fortgezogen sei. Er sah die Gesichter
seiner Freunde wieder deutlicher, und neue Hoffnung und Kraft erfüllte
ihn.
»Du sollst auf meinem Pferd reiten«, sagte Glorfindel. »Ich werde die
Steigbügel bis zu den Satteltaschen kürzen, und du mußt möglichst fest
im Sattel sitzen. Aber du brauchst keine Angst zu haben: mein Pferd
läßt keinen Reiter fallen, wenn ich ihm befehle, ihn zu tragen. Sein
Schritt ist leicht und ruhig; und wenn die Gefahr zu nahe herandrängt,
wird es dich in so raschem Lauf davontragen, daß nicht einmal die
schwarzen Rösser des Feindes es mit ihm aufnehmen können.«
»Nein«, sagte Frodo. »Ich will das Pferd nicht reiten, wenn es mich
nach Bruchtal oder sonstwohin bringt und meine Freunde in der Gefahr
zurückbleiben.«
Glorfindel lächelte. »Ich bezweifle sehr stark«, sagte er, »daß deine
Freunde in Gefahr sind, wenn du nicht bei ihnen wärst! Die Verfolger
würden dir nacheilen und uns in Frieden lassen, glaube ich. Du bist es,
Frodo, und das, was du bei dir hast, was uns alle in Gefahr bringt.«
Darauf wußte Frodo keine Antwort, und er ließ sich überreden, Glor-
findels weißes Pferd zu besteigen. Das Pony wurde statt dessen mit einem
großen Teil des Gepäcks der anderen beladen, so daß sie jetzt unbe-
schwerter laufen konnten und eine Zeitlang rasch vorankamen. Doch fiel
es den Hobbits allmählich schwer, mit den schnellen, unermüdlichen
Füßen des Elben Schritt zu halten. Immer weiter führte er sie in den
Rachen der Dunkelheit und immer noch weiter in die wolkenverhangene
Nacht. Weder Sterne noch Mond leuchteten. Erst als die Morgendämme-
rung graute, erlaubte er ihnen anzuhalten. Pippin, Merry und Sam schlie-
fen inzwischen fast auf ihren vorwärtsstolpernden Beinen; und nach
Streichers hängenden Schultern zu urteilen, war auch er müde. Frodo saß
in einem dunklen Traum auf dem Pferd.
Sie warfen sich in die Heide, nur ein paar Fuß vom Straßenrand ent-
fernt, und schliefen sofort ein. Es schien ihnen, als hätten sie kaum die
Augen geschlossen, als Glorfindel, der unterdessen Wache gehalten hatte,
sie wieder weckte. Die Sonne stand schon hoch im Osten, und Wolken und
Nebel hatten sich verzogen.
»Trinkt das!« sagte Glorfindel zu ihnen und schenkte jedem reih-
um aus seiner silberbeschlagenen Lederflasche einen Trunk ein. Er war
klar wie Quellwasser und hatte keinen Geschmack und war im Munde
weder kalt noch warm; doch schienen Kraft und Stärke in ihre Glieder zu
fließen, als sie ihn tranken. Nach diesem Trunk stillten das altbackene
Brot und die getrockneten Früchte (das einzige, was sie übrig hatten) ihren
Hunger besser als so manches reichliche Frühstück im Auenland.
Sie hatten weniger als fünf Stunden gerastet, als sie sich wieder auf den
Weg machten. Glorfindel trieb sie immer noch voran und ließ nur zwei
kurze Unterbrechungen während des Tagesmarschs zu. Auf diese Weise
legten sie vor Einbruch der Nacht fast zwanzig Meilen zurück und erreich-
ten den Punkt, an dem die Straße eine Kehre nach rechts macht und hin-
unterführt auf die Sohle des Tals und von dort schnurgerade auf den
Bruinen zu. Bisher hatten die Hobbits von den Verfolgern nichts gesehen
oder gehört; aber oft, wenn sie zurückgeblieben waren, hielt Glorfindel
einen Augenblick inne und lauschte, und sein Gesicht sah besorgt aus.
Ein- oder zweimal redete er mit Streicher in der Elbensprache.
Aber wie sehr ihre Führer auch in Sorge sein mochten, es war klar,
daß die Hobbits an diesem Abend nicht weitergehen konnten. Vor Ermü-
dung benommen torkelten sie weiter und konnten an nichts anderes als
ihre Beine und Füße denken. Frodos Schmerzen hatten sich wieder ver-
stärkt, und während des Tages verblaßten die Dinge um ihn herum zu
Schatten von gespenstigem Grau. Er wünscht fast, daß die Nacht käme,
da dann die Welt weniger fahl und leer erschien.
Die Hobbits waren noch müde, als sie früh am nächsten Morgen wieder
aufbrachen. Es lagen zwischen ihnen und der Furt noch mehrere Meilen,
und sie humpelten weiter, so rasch sie konnten.
»Die Gefahr wird für uns am größten sein, gerade ehe wir den Fluß
erreichen«, sagte Glorfindel; »denn mein Herz warnt mich, daß die Ver-
folger jetzt dicht hinter uns sind, und andere Gefahren warten vielleicht
an der Furt auf uns.«
Die Straße lief immer noch stetig bergab, und stellenweise war jetzt
dichtes Gras an beiden Seiten, auf dem die Hobbits nach Möglichkeit lie-
fen, um ihre müden Füße zu schonen. Am späten Nachmittag kamen sie
zu einer Stelle, wo die Straße plötzlich in den dunklen Schatten hoher
Kiefern eintauchte und dann in einem tiefen Durchsuch mit steilen,
feuchten Wänden aus rotem Stein verschwand. Ihre Schritte riefen ein
Echo hervor, als sie vorwärtseilten, und es klang, als ob sie verfolgt würden.
Dann trat die Straße mit einemmal gleichsam durch einen Torweg aus
Licht am Ende des Tunnels wieder ins Freie. Dort am Fuße eines steilen
Abhangs sahen sie flaches Land, etwa eine Meile lang, und dahinter die
Furt von Bruchtal vor sich liegen. Am jenseitigen Ufer war eine steile
braune Böschung, auf die sich ein gewundener Pfad hinaufzog; und
dahinter reckten sich die hohen Berge, Rücken über Rücken und Gipfel
über Gipfel, in den blassen Himmel.
Es war immer noch ein Echo zu hören wie von Füßen, die ihnen durch
den Tunnel folgten; ein raschelndes Geräusch, als ob sich ein Wind erho-
ben habe und durch die Äste der Kiefern fahre. Einen Augenblick wandte
sich Glorfindel um und lauschte, dann sprang er mit einem Schrei vor-
wärts.
»Fliehe!« rief er. »Fliehe! Der Feind ist über uns!«
Das weiße Pferd machte einen Satz. Die Hobbits rannten den Abhang
hinunter. Glorfindel und Streicher folgten als Nachhut. Sie hatten das fla-
che Land erst halb überquert, als sie plötzlich Pferde galoppieren hörten.
Aus dem Durchsuch zwischen den Bäumen, den sie gerade verlassen hatten,
ritt ein Schwarzer Reiter. Er zog die Zügel an und hielt, und er schwankte
im Sattel hin und her. Ein zweiter folgte ihm, und dann noch einer; und
dann noch zwei.
»Reite voraus! Reite!« rief Glorfindel Frodo zu.
Er gehorchte nicht sofort, denn ein seltsames Widerstreben ergriff ihn.
Er ließ sein Pferd im Schritt gehen und schaute sich um: Die Reiter schie-
nen auf ihren großen Rössern wie drohende Statuen auf einem Berg zu
sitzen, dunkel und starr, während der Wald und das Land ringsum wie in
Nebel zurückzuweichen schienen. Plötzlich wußte er in seinem Herzen,
daß sie ihm wortlos befahlen, zu warten. Da erwachten in ihm Furcht und
Haß zugleich. Seine Hand ließ den Zügel los und griff nach dem Heft sei-
nes Schwerts, und rot blitzte es auf, als er es aus der Scheide zog.
»Reite weiter! Reite weiter!« schrie Glorfindel, und dann rief er laut
und klar dem Pferd in der Elbensprache zu: noro lim, noro lim, Asfaloth!
Sofort sprengte das weiße Pferd davon und fegte wie der Wind über
das letzte Stück Straße. Im gleichen Augenblick stürzten die schwarzen
Pferde den Berg hinunter und nahmen die Verfolgung auf, und die Reiter
stießen einen furchtbaren Schrei aus, wie Frodo ihn voll Grauen weit weg
in den Wäldern des Ostviertels gehört hatte. Es kam eine Antwort; und
zu Frodos und seiner Freunde Entsetzen brachen zwischen den Bäumen
und Felsen zur Linken noch vier Reiter hervor. Zwei ritten auf Frodo zu;
zwei galoppierten wie wild zur Furt, um ihm den Fluchtweg abzuschnei-
den. Sie schienen ihm dahinzufliegen wie der Wind und rasch größer und
dunkler zu werden, als sie nun in derselben Richtung ritten wie er.
Frodo blickte sich einen Augenblick um. Er konnte seine Freunde nicht
mehr sehen. Die Reiter hinter ihm blieben zurück: selbst ihre großen Rös-
ser konnten es an Schnelligkeit mit Glorfindels weißem Elbenpferd nicht
aufnehmen. Er schaute wieder nach vom, und seine Hoffnung schwand.
Es schien keine Aussicht zu bestehen, die Furt zu erreichen, ehe er von
jenen abgeschnitten wurde, die im Hinterhalt gelegen hatten. Er
konnte sie jetzt deutlich sehen: offenbar hatten sie ihre Kapuzen und
schwarzen Mäntel abgeworfen und waren nun weiß und grau gekleidet.
Nackte Schwerter hielten sie in den bleichen Händen; Helme trugen sie
auf dem Kopf. Ihre kalten Augen glitzerten, und sie riefen ihn mit un-
heimlichen Stimmen.
Furcht erfüllte jetzt Frodo ganz. Er dachte nicht mehr an sein Schwert.
Kein Schrei entfuhr ihm. Er schloß die Augen und klammerte sich an die
Mähne des Pferdes. Der Wind pfiff ihm in den Ohren, und die Glöckchen
am Zaumzeug läuteten wild und schrill. Ein Hauch von tödlicher Kälte
durchbohrte ihn wie ein Speer, als das Elbenpferd mit einer letzten An-
strengung wie ein weißfeuriger Blitz und so schnell, als habe es Flügel,
unmittelbar an dem vordersten Reiter vorbeisprengte.
Frodo hörte Wasser klatschen. Es schäumte zu seinen Füßen. Er spürte
das rasche Wogen, als das Pferd den Fluß verließ und den steinigen Pfad
erklomm. Es kletterte die steile Böschung hinauf. Er war jenseits
der Furt.
Aber die Verfolger waren ihm dicht auf den Fersen. Oben auf der
Böschung hielt das Pferd an, wandte sich um und wieherte heftig. Neun
Reiter waren unten am Rande des Wassers, und Frodos Herz erzitterte
vor der Drohung ihrer emporgerichteten Gesichter. Er wußte nicht, was
sie hindern könnte, die Furt ebenso leicht zu durchqueren wie er; und er
hatte das Gefühl, daß der Versuch zwecklos sei, über den langen, unbe-
kannten Pfad von der Furt bis nach Bruchtal zu entkommen, sobald die
Reiter einmal am anderen Ufer waren. Jedenfalls spürte er, daß ihm drin-
gend befohlen wurde, anzuhalten. Haß regte sich wieder in ihm, aber er
hatte nicht mehr die Kraft, sich zu widersetzen.
Plötzlich gab der vorderste Reiter seinem Pferd die Sporen. Es scheute
am Wasser und bäumte sich auf. Unter großer Anstrengung setzte sich
Frodo auf und zückte sein Schwert.
»Geht zurück!« rief er. »Geht zurück in das Land Mordor und folgt mir
nicht mehr!« Seine Stimme klang ihm selbst dünn und schrill in den
Ohren. Die Reiter verhielten, aber Frodo hatte nicht Bombadils Macht.
Seine Feinde antworteten ihm mit einem mißtönenden und schauerlichen
Gelächter. »Komm zurück! Komm zurück!« riefen sie. »Nach Mordor
wollen wir dich bringen!«
»Geht zurück!« flüsterte er.
»Der Ring! Der Ring!« schrien sie mit tödlichen Stimmen; und gleich
darauf trieb ihr Anführer sein Pferd voran ins Wasser, dicht gefolgt von
zwei anderen.
»Bei Elbereth und Lúthien der Schönen!« sagte Frodo mit letzter Kraft
und hob sein Schwert. »Weder den Ring noch mich sollt ihr haben!«
Dann richtete sich der Anführer, der die Furt jetzt halb durchquert
hatte, drohend in den Steigbügeln auf und hob die Hand. Frodo wurde
mit Stummheit geschlagen. Er fühlte, wie ihm die Zunge am Gaumen
klebte und sein Herz schwer schlug. Sein Schwert zerbarst und fiel ihm
aus der Hand. Das Elbenpferd bäumte sich auf und schnaubte. Das vor-
derste der schwarzen Pferde hatte schon fast den Fuß auf das Ufer gesetzt.
In diesem Augenblick erhob sich ein Brausen und Tosen: ein Rauschen
von lauten Wassern, die viele Steine mit sich reißen. Undeutlich sah
Frodo, wie der Fluß unter ihm stieg und eine ganze Reiterschar von Wel-
len das Flußbett herunterkam. Weiße Flammen schienen auf ihren Käm-
men zu flackern, und halb bildete sich Frodo ein, inmitten des Wassers
weiße Reiter auf weißen Pferden mit schäumenden Mähnen zu erkennen.
Die drei Reiter, die noch mitten in der Furt waren, wurden umgerissen:
sie verschwanden, unter wütendem Gischt plötzlich begraben. Diejenigen,
die nach ihnen kamen, schreckten entsetzt zurück.
Während ihm schon die Sinne schwanden, hörte Frodo noch Schreie,
und er meinte, hinter den Reitern, die am Ufer zögerten, eine strahlende
Gestalt aus weißem Licht zu sehen; und hinter ihr liefen kleine, schatten-
hafte Gestalten und schwenkten Flammen, die rot flackerten in dem
grauen Nebel, der sich über die Welt senkte.
Die schwarzen Pferde wurden von Raserei gepackt; sie sprangen voll
Schrecken vorwärts und trugen ihre Reiter in die tosende Flut. Ihre gel-
lenden Schreie gingen unter im Tosen des Flusses, als er sie mitriß.
Dann fühlte Frodo, daß er selbst stürzte, und das Brausen und die Strudel
schienen emporzusteigen und ihn zusammen mit seinen Feinden zu ver-
schlingen. Er sah und hörte nichts mehr,

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