ELFTES KAPITEL
EIN MESSER IM DUNKELN

Als sie sich im Gasthaus in Bree zum Schlafen fertigmachten, war Bock-
land in Dunkelheit gebettet; Dunst lagerte über den Tälern und dem Fluß-
ufer. Das Haus in Krickloch lag still da. Dick Böiger öffnete vorsichtig die
Tür und spähte hinaus. Den ganzen Tag war ein Angstgefühl in ihm
immer mächtiger geworden, und er konnte einfach nicht ruhig sitzen blei-
ben oder ins Bett gehen. Eine schwerlastende Drohung war in der wind-
stillen Nacht. Als er in die Finsternis hinausstarrte, bewegte sich ein
schwarzer Schatten unter den Bäumen; das Tor schien sich ganz von selbst
zu öffnen und schloß sich wieder lautlos. Dick wurde von Grauen gepackt.
Er wich zurück und stand einen Augenblick zitternd in der Halle. Dann
schloß er die Tür und verriegelte sie.
Die Nacht wurde schwärzer. Nun war ein leises Geräusch von Pferden
zu vernehmen, die in aller Heimlichkeit den Fußweg entlang geführt wur-
den. Vor dem Tor hielten sie an, und drei schwarze Gestalten kamen her-
ein, wie Schatten der Nacht, die über den Boden krochen. Eine ging zur
Tür, je eine stellte sich zu beiden Seiten an die Ecken des Hauses; und
dort standen sie, still wie Schatten aus Stein, während die Nacht langsam
voranschritt. Das Haus und die unbewegten Bäume schienen atemlos zu
warten.
Dann regte sich ein schwaches Lüftchen in den Blättern, und ein Hahn
krähte in der Ferne. Die kalte Stunde vor dem Morgengrauen verging. Die
Gestalt an der Tür regte sich. In der Finsternis ohne Mond oder Sterne
glänzte ein gezogenes Schwert, als ob ein kaltes Licht aus der Scheide
gezogen worden wäre. Es gab einen Schlag, leise, aber kräftig, und die
Tür erzitterte.
»Öffne, im Namen von Mordor!« sagte eine dünne, aber drohende
Stimme.
Bei einem zweiten Schlag gab die Tür nach und stürzte ein, das Holz
zersplitterte und das Schloß zerbrach. Die schwarzen Gestalten glitten
rasch hinein.
In diesem Augenblick erklang zwischen den Bäumen nahebei ein Horn.
Es zerriß die Nacht wie Feuer auf einem Berggipfel.

ERWACHT! GEFAHR! FEUER! FEINDE! ERWACHT!

Dick Bolger war nicht müßig gewesen. Kaum hatte er die dunklen
Schatten vom Garten herankriechen sehen, da wußte er, daß er rennen
mußte, wenn ihm sein Leben lieb war. Und er rannte zur Hintertür hin-
aus, durch den Garten und über die Wiesen. Als er das nächste Haus er-
reicht hatte, mehr als eine Meile entfernt, brach er auf der Schwelle zu-
sammen. »Nein, nein, nein!« schrie er. »Nein, nicht ich! Ich habe ihn
nicht!« Es dauerte einige Zeit, bis irgend jemand begriff, was er eigentlich
stammelte. Schließlich kamen sie auf den Gedanken, es könnten Feinde in
Bockland sein, irgendein fremder Überfall aus dem Alten Wald. Und
dann verloren sie keine Zeit mehr.

GEFAHR! PEUER! FEINDE!

Die Brandybocks bliesen das Hornsignal von Bockland, das seit hundert
Jahren nicht mehr vernommen worden war, nicht seit die weißen Wölfe
in dem Grausamen Winter gekommen waren, als der Brandywein zuge-
froren war.

ERWACHT! ERWACHT!

Weit in der Ferne hörte man antwortende Hörner. Der Alarm wurde
weitergegeben.
Die schwarzen Gestalten flohen aus dem Haus. Eine von ihnen ließ, als
sie davonstürzte, einen Hobbitmantel auf der Schwelle fallen. Auf dem
Fußweg hörte man Hufgetrappel, das sich zu einem Galopp steigerte und
in der Dunkelheit dahinhämmerte. Rings um Krickloch hallte alles wider
von Hörnerblasen und schreienden Stimmen und rennenden Füßen. Aber
die Schwarzen Reiter ritten wie der Sturmwind zum Nordtor. Das kleine
Volk soll nur blasen! Sauron wird später schon mit ihnen fertig wer-
den. Sie hatten derweil eine andere Aufgabe: jetzt wußten sie, daß das
Haus leer war und der Ring fort. Sie überritten die Wachen am Tor und
verschwanden aus dem Auenland.
Früh in der Nacht erwachte Frodo plötzlich aus tiefem Schlaf, als habe
irgendein Laut oder die Gegenwart von irgend jemandem ihn aufge-
schreckt. Er sah, daß Streicher hellwach auf seinem Sessel saß: seine
Augen glänzten im Schein des Feuers, das er in Gang gehalten hatte und
das hell brannte; aber er gab kein Zeichen und bewegte sich nicht.
Frodo schlief bald wieder ein; doch abermals wurden seine Träume ge-
stört durch das Geräusch von Wind und galoppierenden Hufen. Der Wind
schien um das Haus herumzuwirbeln und es zu schütteln, und in der
Ferne hörte er ein Hörn wild blasen. Er öffnete die Augen und hörte
einen Hahn lustig im Hof krähen. Streicher hatte die Vorhänge aufgezo-
gen und krachend die Läden aufgestoßen. Das erste graue Licht des Tages
war im Raum, und kalte Luft drang durch das offene Fenster herein.
Sobald Streicher sie alle geweckt hatte, ging er voran in ihre Schlafzim-
mer. Als sie sie sahen, waren sie froh, daß sie seinem Rat gefolgt waren:
die Fenster waren aufgebrochen und schlugen hin und her, und die Gardi-
nen flatterten; die Betten waren durchwühlt und die Schlummerrollen
aufgeschlitzt und auf den Boden geworfen; die braune Decke war in Fet-
zen gerissen.
Streicher ging gleich, um den Wirt zu holen. Der arme Herr Butter-
blume sah verschlafen und verängstigt aus. Er hatte die ganze Nacht
kaum ein Auge zugetan (sagte er), aber gehört hatte er nichts.
»Nie in meinem Leben ist so etwas passiert!« rief er und hob voll Ent-
setzen die Hände. »Daß Gäste nicht in ihren Betten schlafen können und
gute Schlummerrollen ruiniert werden und was nicht alles! Was kommt
denn nun noch?«
»Dunkle Zeiten«, sagte Streicher. »Aber im Augenblick werdet Ihr
vielleicht in Ruhe gelassen werden, sobald Ihr uns los seid. Wir wollen
sofort aufbrechen. Macht Euch keine Mühe mit dem Frühstück: ein
Schluck zu trinken und ein Bissen im Stehen wird uns reichen müssen. In
ein paar Minuten haben wir gepackt.«
Herr Butterblume eilte davon, um dafür zu sorgen, daß ihre Ponies ge-
sattelt würden, und um ihnen einen »Bissen« zu holen. Aber sehr bald
kam er bestürzt zurück. Die Ponies waren verschwunden! Die Stalltüren
waren in der Nacht aufgebrochen worden, und sie waren fort: nicht nur
Merrys Ponies, sondern alle anderen Pferde und Tiere auch.
Frodo war ganz niedergeschmettert von dieser Nachricht. Wie konnte
er hoffen. Bruchtal zu Fuß zu erreichen, wenn er von berittenen Feinden
verfolgt wurde? Genauso gut könnten sie sich nach dem Mond aufma-
chen. Streicher saß eine Weile schweigend da und sah die Hobbits an, als
ob er ihre Kraft und ihren Mut abwäge.
»Ponies würden uns auch nicht helfen, auf Pferden reitenden Verfol-
gern zu entkommen«, sagte er schließlich nachdenklich, als ob er Frodos
Gedanken erraten hätte. »Zu Fuß werden wir auch nicht viel langsamer
sein, jedenfalls nicht auf den Wegen, die ich einzuschlagen gedenke. Ich
wollte sowieso laufen. Nur die Lebensmittel und Vorräte machen mir Sor-
gen. Wir können nicht darauf rechnen, zwischen hier und Bruchtal etwas
zu essen zu bekommen, abgesehen von dem, was wir mitnehmen; und wir
sollten einen großen Vorrat dabeihaben; denn wir könnten aufgehalten
werden oder zu Umwegen gezwungen sein, die uns weit vom direkten
Weg wegführen. Wieviel seid ihr bereit auf dem Rücken zu tragen?«
»Soviel wie nötig«, sagte Pippin etwas beklommen, denn er wollte zei-
gen, daß er zäher war, als er aussah (oder sich fühlte).
»Ich kann gut und gern für zwei tragen«, sagte Sam kühn.
»Ist denn gar nichts zu machen, Herr Butterblume?« fragte Frodo.
»Können wir nicht im Dorf ein paar Ponies bekommen, oder wenigstens
eins für das Gepäck? Ich nehme nicht an, daß wir sie leihen können, aber
vielleicht könnten wir sie kaufen«, fügte er hinzu und fragte sich, ob er es
sich eigentlich leisten könne.
»Das bezweifle ich«, meinte der Wirt unglücklich. »Die zwei oder drei
Reitponies, die es in Bree gab, waren in meinem Stall untergebracht, und
sie sind auch weg. Und was andere Lasttiere betrifft, Pferde oder Ponies,
so werden sie nicht verkäuflich sein. Aber ich werde sehen, was ich tun
kann. Ich werde Hinz aus dem Bett jagen und ihn sobald als möglich los-
schicken.«
»Ja«, meinte Streicher widerstrebend, »es wäre gut, wenn Ihr das tätet.
Ich fürchte, wir müssen versuchen, wenigstens ein Pony zu bekommen.
Aber damit wird unsere Hoffnung zunichte, früh aufzubrechen und uns
heimlich davonzustehlen! Genauso gut hätten wir ein Hörn blasen kön-
nen, um unseren Abmarsch anzukündigen. Das war zweifellos ein Teil
ihres Plans.«
»Ein kleiner Trost ist dabei«, sagte Merry, »und mehr als ein kleiner,
hoffe ich: wir können frühstücken, während wir warten - und uns sogar
dazu hinsetzen. Laßt uns Kunz gleich Bescheid sagen!«
Am Ende gab es einen Zeitverlust von mehr als drei Stunden. Hinz
kam zurück und berichtete, daß in der Nachbarschaft weder für Geld noch
gute Worte ein Pferd oder ein Pony zu haben sei — mit Ausnahme von
einem: Lutz Farning hatte eins, das er vielleicht verkaufen würde. »Ein
jämmerliches, altes, halb verhungertes Vieh ist es«, sagte Hinz. »Aber
wie ich Lutz Farning kenne, wird er es in Anbetracht Eurer Lage nicht
hergeben, wenn er nicht mindestens das Dreifache dessen bekommt, was
es wert ist.«

»Lutz Farning?« sagte Frodo. »Steckt da nicht ein Trick dahinter? Wird
das Tier nicht mit all unserem Zeug zu ihm zurückrennen oder helfen,
unsere Spur zu verfolgen oder sonst was?«

»Ich weiß nicht«, sagte Streicher. »Ich kann mir kein Tier vorstellen,
das wieder zu ihm läuft, wenn es einmal weg ist. Ich vermute, der lie-
benswürdige Herr Farning hat einfach den Hintergedanken dabei, seinen
Gewinn bei dieser ganzen Geschichte zu erhöhen. Die Hauptgefahr ist,
daß das arme Vieh wahrscheinlich an der Schwelle des Todes steht. Aber
es bleibt uns keine Wahl. Was will er dafür haben?«
Lutz Farnings Preis war zwölf Silberpfennige; und das war tatsächlich
mindestens das Dreifache dessen, was ein Pony in jenen Gegenden wert
war. Es stellte sich heraus, daß es ein knochiges, unterernährtes und abge-
stumpftes Tier war; aber es sah nicht so aus, als sei es schon am Sterben.
Herr Butterblume bezahlte es selbst und bot Merry weitere achtzehn Pfen-
nige als Entschädigung für die verlorenen Ponies. Er war ein Ehrenmann
und galt in Bree als wohlhabend; aber dreißig Silberpfennige waren ein
schwerer Schlag für ihn, und von Lutz Farning betrogen worden zu sein,
machte es noch schwerer erträglich.
Tatsächlich ging am Ende jedoch alles gut für ihn aus. Es erwies sich
später, daß nur ein Pferd wirklich gestohlen worden war. Die anderen
waren weggetrieben worden oder waren vor Schreck davongestürzt;
sie wurden in verschiedenen Winkeln des Breelandes wiedergefunden.
Merrys Ponies waren allesamt entkommen und hatten schließlich (da sie
eine ganze Menge Verstand besaßen) den Weg nach den Höhen einge-
schlagen, auf der Suche nach Plumpel. So kamen sie für eine Weile in
Tom Bombadils Obhut und waren gut dran. Als Tom aber von den Ereig-
nissen in Bree hörte, schickte er sie Herrn Butterblume, der auf diese
Weise fünf gute Tiere zu einem sehr günstigen Preis erhielt. Sie mußten
schwerer arbeiten in Bree, aber Hinz behandelte sie gut; so hatten sie im
großen und ganzen Glück: ihnen blieb eine dunkle und gefährliche Fahrt
erspart. Aber sie kamen nie nach Bruchtal.
Einstweilen wußte Herr Butterblume indes nur, daß er sein Geld los
war. Und er hatte noch mehr Verdruß. Denn es gab eine große Aufre-
gung, nachdem die übrigen Gäste aufgestanden waren und von dem Über-
fall auf das Gasthaus gehört hatten. Die Reisenden aus dem Süden hatten
mehrere Pferde eingebüßt und gaben lauthals dem Wirt die Schuld, bis
sich herausstellte, daß einer aus ihrer eigenen Gruppe ebenfalls im Laufe
der Nacht verschwunden war, und zwar niemand anderes als Lutz Far-
nings schielender Gefährte. Der Verdacht fiel sofort auf ihn.
»Wenn Ihr Euch mit einem Pferdedieb einlaßt und ihn in mein Haus
bringt«, sagte Butterblume wütend, »dann solltet Ihr selbst für alle Schä-
den bezahlen und mich nicht anschreien. Geht doch und fragt Farning,
wo Euer feiner Freund ist!« Aber es schien, als sei er niemandes Freund,
und niemand konnte sich erinnern, wann er sich der Reisegesellschaft
angeschlossen hatte.
Nach dem Frühstück mußten die Hobbits neu packen und weitere Vor-
räte auftreiben, denn jetzt war damit zu rechnen, daß ihre Fahrt länger
dauern würde. Es war fast zehn Uhr, als sie schließlich wegkamen. Zu
dieser Zeit summte ganz Bree vor Aufregung. Frodos Verschwindekunst-
stück; das Auftauchen der schwarzen Reiter; der Einbruch in die Ställe;
und nicht zuletzt die Nachricht, daß Streicher, der Waldläufer, sich den
geheimnisvollen Hobbits angeschlossen hatte; all das ergab eine Ge-
schichte, die für viele ereignislose Jahre reichen würde. Die Mehrzahl der
Bewohner von Bree und Stadel und sogar viele aus Schlucht und Archet
drängten sich auf der Straße, um den Aufbruch mitzuerleben. Die anderen
Gäste des Wirtshauses standen an der Tür oder schauten aus den Fenstern.
Streicher hatte seinen Plan geändert und beschlossen, Bree über die
Hauptstraße zu verlassen. Jeder Versuch, sofort querfeldein zu gehen,
würde die Sache nur schlimmer machen: die Hälfte der Bewohner würden
ihnen folgen, um zu sehen, was sie vorhätten, und um zu verhindern,
daß sie über ihre Felder und Wiesen gingen.
Sie verabschiedeten sich von Kunz und Hinz, sagten Herrn Butter-
blume Lebewohl und bedankten sich sehr. »Ich hoffe, wir werden uns eines
Tages wiedersehen, wenn die Lage erfreulicher ist«, sagte Frodo. »Mir wäre
nichts lieber, als eine Weile friedlich in Eurem Haus zu bleiben.«
Sie zogen los, verängstigt und niedergeschlagen, unter den Blicken der
Menge. Nicht alle Gesichter waren freundlich, und auch nicht alle Worte,
die gerufen wurden. Aber Streicher schien den meisten Breeländern
Furcht einzuflößen, und diejenigen, die er anschaute, hielten ihren Mund
und zogen sich zurück. Er ging voran mit Frodo; dann kamen Merry und
Pippin und als letzter Sam, der das Pony führte. Sie hatten ihm so viel
von ihrem Gepäck aufgeladen, wie sie nur über das Herz brachten; aber
das Tier sah schon nicht mehr so mutlos aus, sondern schien mit seinem
neuen Schicksal ganz einverstanden. Sam kaute nachdenklich einen
Apfel. Er hatte die ganze Tasche voll Äpfel: ein Abschiedsgeschenk von
Kunz und Hinz. »Äpfel fürs Laufen und eine Pfeife fürs Sitzen«, sagte er.
»Aber ich schätze, es wird nicht lange dauern, bis ich auf beides verzich-
ten muß.«
Die Hobbits beachteten nicht die neugierigen Köpfe, die aus den Türen
herausschauten und über Mauern und Zäunen auftauchten, als sie vorbei-
gingen. Aber als sie sich dem zweiten Tor näherten, sah Frodo ein dunk-
les, verwahrlostes Haus hinter einer dichten Hecke; es war das letzte
Haus des Dorfes. In einem der Fenster tauchte flüchtig ein fahles Gesicht
mit verschlagenen, schrägstehenden Augen auf; aber es verschwand
sofort.
»So, da versteckt sich also der Südländer!« dachte er. »Er sieht wirklich
wie ein halber Unhold aus.«
Über die Hecke starrte frech ein anderer Mensch. Er hatte dicke
schwarze Augenbrauen und dunkle, hämische Augen; sein großer Mund
kräuselte sich zu einem Hohnlächeln. Er rauchte eine kurze, schwarze
Pfeife. Als sie näherkamen, nahm er sie aus dem Mund und spuckte.
»Morgen, Langbein«, sagte er. »So früh schon fort? Endlich ein paar
Freunde gefunden?« Streicher nickte, gab aber keine Antwort.
»Morgen, meine kleinen Freunde«, sagte er zu den anderen. »Ich nehme
an, ihr wißt, mit wem ihr euch da eingelassen habt? Der schreckt nämlich
vor nichts zurück, dieser Streicher. Obwohl ich noch andere Namen ge-
hört habe, die nicht so hübsch sind. Paßt nur auf heute nacht! Und Sam,
du Knirps, behandle mein armes altes Pony gut! Pah!« Er spuckte wieder.
Sam drehte sich rasch um. »Und du, Farning«, sagte er, »geh mir mit
deinem häßlichen Gesicht aus den Augen, sonst nimmt es Schaden.« Mit
einer blitzschnellen Bewegung schleuderte er einen Apfel und traf Lutz
genau auf der Nase. Er duckte sich zu spät, und Flüche kamen hinter der
Hecke hervor. »Schade um den guten Apfel«, sagte Sam bedauernd und
ging weiter.
Schließlich ließen sie das Dorf hinter sich. Die Kinder und Schaulusti-
gen, die ihnen nachgelaufen waren, wurden es leid und drehten am Süd-
tor um. Sie gingen durch das Tor und noch einige Meilen auf der Straße
weiter. Sie beschrieb einen Bogen nach links und nahm, während sie sich
um den Fuß des Breeberges herumzog, wieder ihre östliche Richtung auf
und führte dann rasch hinunter in waldiges Gelände. Zu ihrer Linken
konnten sie einige Häuser und Hobbithöhlen von Stadel an den flacheren
südöstlichen Hängen des Berges sehen; unten in einer tiefen Mulde weit
nördlich der Straße zeigten Rauchwölkchen, daß dort Schlucht lag; Archet
dahinter war durch Bäume verborgen.
Nachdem die Straße ein Stück bergab verlaufen war und der Breeberg
hoch und braun hinter ihnen geblieben war, kamen sie zu einem schmalen
Pfad, der nach Norden führte. »Hier verlassen wir das offene Gelände
und gehen in Deckung«, sagte Streicher.
»Hoffentlich kein >gerader Weg<«, sagte Pippin. »Unser letzter gerader
Weg durch den Wald endete fast im Unglück.«
»Ach, da hattet ihr ja auch mich nicht dabei«, lachte Streicher. »Meine
Wege, ob gerad oder krumm, gehen nicht fehl.« Er schaute die Straße
hinauf und hinunter. Niemand war zu sehen; und dann führte er sie rasch
hinab in das bewaldete Tal.
Sein Plan, soweit sie ihn verstehen konnten, ohne die Gegend zu
kennen, bestand darin, zuerst in Richtung Archet zu gehen, aber rechts
davon zu bleiben und östlich daran vorbeizugehen, und dann so gerade-
aus, wie in dem unwegsamen Gelände nur möglich, auf die Wetterspitze
zuzuhalten. Auf diese Weise würden sie, wenn alles gut ging, eine große
Schleife der Straße abschneiden, denn die Straße zog sich weiter nach
Süden, um die Mückenwassermoore zu umgehen. Sie würden natürlich
die Moore überqueren müssen, und Streichers Beschreibung davon war
nicht ermutigend.
Einstweilen war das Laufen indes nicht unangenehm. Ohne die beunru-
higenden Ereignisse der letzten Nacht hätten sie sogar diesen Teil ihrer
Wanderung mehr genossen als alle bisherigen. Die Sonne schien klar,
aber nicht zu heiß. Die Wälder im Tal waren noch belaubt und farben-
prächtig und schienen friedlich und ungefährlich zu sein. Streicher führte
sie sicher zwischen vielen Kreuzpfaden hindurch, und wenn sie allein
gewesen wären, hätten sie sich bestimmt bald verirrt. Er schlug immer
wieder Haken auf seinem Weg, um etwaige Verfolger abzuschütteln.
»Lutz Farning wird beobachtet haben, wo wir die Straße verlassen
haben, das ist sicher«, sagte er. »Obwohl ich nicht glaube, daß er uns
selbst folgt. Er kennt die Gegend hier gut genug, aber er weiß, daß er es
im Wald nicht mit mir aufnehmen kann. Ich befürchte nur, daß er ande-
ren Bescheid sagt. Vermutlich sind sie nicht fern. Wenn sie glauben, daß
wir nach Archet gehen, dann um so besser.«
Ob es an Streichers Geschicklichkeit lag oder einen anderen Grund
hatte, jedenfalls sahen und hörten sie den ganzen Tag kein anderes Lebe-
wesen: weder zweibeinige außer Vögeln noch vierfüßige außer einem
Fuchs und ein paar Eichhörnchen. Am nächsten Tag begannen sie sich
stetig nach Osten zu halten. Am dritten Tag seit Bree ließen sie den
Chetwald hinter sich. Das Gelände war die ganze Zeit abschüssig gewe-
sen, seit sie die Straße verlassen hatten, und jetzt kamen sie in eine weite
Ebene, die viel schwieriger zu durchqueren war. Sie waren weit jenseits
der Grenzen des Breelandes in der pfadlosen Wildnis und näherten sich
den Mückenwassermooren.

Der Boden wurde jetzt feucht und stellenweise sumpfig, und dann und
wann stießen sie auf Tümpel und große Flächen mit Schilf und Binsen, in
denen verborgen kleine Vögel zwitscherten. Sie mußten sich vorsichtig
ihren Weg bahnen, damit ihre Füße trocken blieben und sie ihren richti-
gen Kurs einhielten. Zuerst kamen sie recht gut voran, aber mit der Zeit
ging es immer langsamer, und ihr Weg war gefährlicher. Die Moore
waren verwirrend und tückisch, und nicht einmal Waldläufer vermochten
in den sich ständig verlagernden Morasten einen durchgehenden Pfad zu
finden. Die Fliegen begannen sie zu quälen, und sie waren eingehüllt in
ganze Schwärme winziger Mücken, die ihnen in die Ärmel und Hosen
krochen und sich in die Haare setzten.
»Ich werde bei lebendigem Leibe aufgefressen!« rief Pippin. »Mücken-
wasser! Es gibt mehr Mücken als Wasser!«
»Wovon leben sie, wenn sie keinen Hobbit bekommen können?« fragte
Sam und kratzte sich den Hals.
Sie verbrachten einen abscheulichen Tag in dieser einsamen und uner-
freulichen Gegend. Ihr Lagerplatz war feucht, kalt und unbehaglich, und
die stechenden Insekten ließen sie nicht schlafen. Außerdem gab es in
den Binsen und Gräsern widerwärtige Geschöpfe, die, nach dem Geräusch
zu urteilen, das sie von sich gaben, bösartige Verwandte der Grillen
waren. Es waren Tausende, und die ganze Nacht hindurch war überall ihr
Zirp-kirp, Kirp-zirp zu hören, bis die Hobbits fast verrückt wurden.
Der nächste Tag, der vierte, war kaum besser, und die Nacht fast
ebenso unbehaglich. Obwohl die Zirperkirper (wie Sam sie genannt hatte)
zurückgeblieben waren, verfolgten die Mücken sie immer noch.
Als Frodo müde, aber unfähig, die Augen zu schließen, dalag, schien
es ihm, als sähe er ein Licht fern am östlichen Himmel: es leuchtete viele
Male auf und verging wieder. Es war nicht die Morgendämmerung, denn
dafür war es noch um Stunden zu früh.
»Was ist das für ein Licht?« fragte er Streicher, der aufgestanden war
und in die Nacht hinausschaute.
»Ich weiß es nicht«, antwortete Streicher. »Es ist zu fern, um es zu er-
kennen. Es sieht aus wie Wetterleuchten, das von den Bergspitzen auflo-
dert.«
Frodo legte sich wieder hin, aber noch lange sah er die weißen Blitze
und davor Streichers hohe, dunkle Gestalt, der schweigend und wachsam
dastand. Schließlich sank er in einen unruhigen Schlaf.
Am fünften Tag waren sie noch nicht weit gegangen, als sie endlich
die verstreut liegenden Tümpel und Röhrichte der Moore hinter sich lie-
ßen. Das Land vor ihnen begann wieder zu steigen. Fern im Osten konn-
ten sie jetzt eine Bergkette sehen. Der höchste Gipfel lag am rechten Ende
der Kette und war etwas getrennt von den anderen. Er war kegelförmig
und oben etwas abgeflacht.
»Das ist die Wetterspitze«, sagte Streicher. »Die alte Straße, die wir
weit rechts haben liegen lassen, läuft südlich an ihr vorbei, dicht an
ihrem Fuße. Wir könnten bis morgen mittag dort sein, wenn wir gerade
darauf zuhalten. Und das sollten wir, glaube ich, besser tun.«
»Was meinst du damit?« fragte Frodo.
»Ich meine: wenn wir dort hinkommen, kann man nicht wissen, was
wir vorfinden. Es ist nahe der Straße.«
»Aber sicherlich hoffen wir doch, Gandalf dort zu finden?«
»Ja. Aber die Hoffnung ist schwach. Wenn er überhaupt diesen Weg
nimmt, könnte es sein, daß er nicht durch Bree kommt, und so wird er
vielleicht nicht erfahren, was wir vorhaben. Und sofern wir nicht durch
schieres Glück fast gleichzeitig auf der Wetterspitze eintreffen, werden
wir uns sowieso verpassen; denn weder er noch wir werden uns unge-
fährdet lange dort aufhalten können. Wenn die Reiter uns in der Wildnis
nicht finden, werden auch sie sich wahrscheinlich zur Wetterspitze auf-
machen. Von dort hat man einen weiten Blick nach allen Seiten. Ja, es
gibt viele Vögel und Tiere in diesem Land, die uns sehen könnten, wenn
wir dort auf der Bergspitze stehen. Nicht allen Vögeln kann man ver-
trauen, und es gibt noch andere Späher, die sogar noch böser sind.«
Die Hobbits blickten ängstlich auf die fernen Berge. Sam schaute
empor zum blassen Himmel und fürchtete, Falken oder Adler zu sehen,
die mit hellen, unfreundlichen Augen über ihnen schwebten. »Du bringst
es fertig, Streicher, daß ich mich ganz unbehaglich und einsam fühle!«
sagte er.
»Was rätst du uns zu tun?« fragte Frodo.
»Ich glaube«, sagte Streicher langsam, als sei er selbst nicht ganz
sicher, »ich glaube, es ist das beste, wenn wir von hier möglichst nach
Osten gehen, um die Bergkette zu erreichen, und nicht direkt zur Wetter-
spitze. Dort kenne ich einen Pfad, der am Fuß der Berge entlangläuft; er
wird uns von Norden her und nicht so ungeschützt zur Wetterspitze brin-
gen. Dann werden wir weiter sehen.«
Den ganzen Tag schleppten sie sich dahin, bis der kalte und frühe
Abend hereinbrach. Das Land wurde trockner und unfruchtbarer; doch
hinter ihnen über den Mooren lag Nebel und Dunst. Ein paar melancho-
lische Vögel piepsten und klagten, bis die runde rote Sonne langsam hin-
ter den westlichen Schatten versank; dann hüllte eine unheimliche Stille
sie ein. Die Hobbits dachten an den sanften Schein des Sonnenunter-
gangs, der durch die freundlichen Fenster des fernen Beutelsend schim-
merte.
Als der Tag endete, kamen sie zu einem Bach, der von den Bergen her-
abrann, um sich in den sumpfigen Mooren zu verlieren, und an seinen
Ufern gingen sie entlang, solange es hell blieb. Es war schon Nacht, als
sie endlich haltmachten und ihr Lager unter ein paar verkrüppelten Erlen
am Bachufer aufschlugen. Vor ihnen erhoben sich jetzt gegen den dämm-
rigen Himmel die kahlen und baumlosen Bergrücken. In jener Nacht stell-
ten sie eine Wache auf, und Streicher schien überhaupt nicht zu schlafen.
Es war zunehmender Mond, und in den frühen Nachtstunden lag ein kal-
tes, graues Licht über dem Land.
Am nächsten Morgen brachen sie gleich nach Sonnenaufgang auf. Die
Luft war kühl und der Himmel von blasser, klarer Bläue. Die Hobbits
fühlten sich erfrischt, als wenn sie die ganze Nacht durchgeschlafen hät-
ten. Sie gewöhnten sich schon daran, viel zu laufen bei schmaler Kost —
schmaler jedenfalls als das, was sie im Auenland kaum als ausreichend
erachtet hätten, um sich auf den Beinen zu halten. Pippin erklärte, daß
Frodo doppelt so kräftig sei wie zuvor.
»Sehr merkwürdig«, sagte Frodo, indem er seinen Gürtel enger
schnallte, »wenn man bedenkt, daß ich in Wirklichkeit erheblich weniger
geworden bin. Ich hoffe, die Abmagerungskur wird sich nicht ins Unend-
liche fortsetzen, sonst werde ich ein Geist.«
»Sprecht nicht von solchen Dingen!« sagte Streicher schnell und mit
überraschendem Ernst.
Die Berge kamen näher. Sie bildeten einen wellenförmigen Kamm, oft
erhoben sie sich fast bis zu tausend Fuß Höhe, und hier und da fielen sie
wieder ab zu niedrigen Schluchten oder Pässen, die in das östliche Land
dahinter führten. Auf dem Grat der Bergkette konnten die Hobbits etwas
erkennen, das wie Reste von grünbewachsenen Wällen und Gräben aus-
sah, und in den Schluchten standen noch die Ruinen alter Steinbauten.
Als es Nacht wurde, hatten sie den Fuß der westlichen Hänge erreicht,
und dort lagerten sie. Es war die Nacht des fünften Oktober, und seit Bree
waren sie jetzt sechs Tage unterwegs.
Am Morgen fanden sie zum ersten Mal, nachdem sie den Chetwald
verlassen hatten, einen deutlich sichtbaren Pfad. Er bog rechts ab, und sie
folgten ihm nach Süden. Er war sehr listig angelegt und verlief so, daß er
nach Möglichkeit dem Blick entzogen war, sowohl von den Berggipfeln
aus als auch von der Ebene im Westen. Er tauchte in schmale Täler und
schmiegte sich an steile Hänge; und wo er flacheres und mehr offenes
Gelände überquerte, lagen auf beiden Seiten Reihen großer Findlinge und
behauener Steine, die die Wanderer fast wie eine Hecke abschirmten.
»Ich möchte gern wissen, wer diesen Pfad angelegt hat, und wofür«,
sagte Merry, als sie an einer dieser Stellen vorbeikamen, wo die Steine
besonders groß waren und dicht beieinander standen. »Er gefällt mir
eigentlich nicht so recht: er sieht so nach — nun ja, nach Grabunholden
aus. Gibt es irgendwelche Hügelgräber auf der Wetterspitze?«
»Nein. Es gibt kein Hügelgrab auf der Wetterspitze, und auch auf kei-
nem anderen dieser Berge«, antwortete Streicher. »Die Menschen des
Westens lebten hier nicht; obwohl sie in späterer Zeit die Berge eine
Weile gegen das Böse verteidigten, das aus Angmar kam. Dieser Pfad
wurde zur Versorgung der Festen entlang der Schutzwälle gebraucht.
Aber viel früher, in den Tagen des Nördlichen Königreiches, bauten sie
einen großen Wachtturm auf der Wetterspitze, Amon Sül nannten sie
ihn. Er wurde niedergebrannt und geschleift, und nichts blieb von ihm als
ein zusammengestürztes Rund wie eine rauhe Krone auf dem Kopf des
alten Berges. Doch war er einst hoch und schön. Es heißt, daß Elendil dort
stand, als er Ausschau hielt nach Gil-galad, der aus dem Westen kom-
men sollte in den Tagen des Letzten Bündnisses.«
Die Hobbits starrten Streicher an. Er schien ebenso beschlagen zu sein
in alten Sagen wie im Leben in der Wildnis.
»Wer war Gil-galad?« fragte Merry. Aber Streicher antwortete nicht,
er schien in Gedanken versunken. Plötzlich murmelte eine leise Stimme:

Gil-galad war ein Elbenfürst.
Die Harfe klagt im Liede noch:

Von Berg und Meer umfriedet lag
Sein Reich im Glanz und ohne ]och.

Sein Schwert war lang, sein Speer war kühn,
Weithin sein Helm aus Silber schien;

Und silbern spiegelte sein Schild
Der Sterne tausendfaches Bild.

Doch lange schon ritt er davon,
Weiß keiner, wo der Reiter blieb;

Sein Stern versank in Düsternis
In Mordors finsterem Verließ.

Die anderen wandten sich erstaunt um, denn die Stimme gehörte Sam.
»Mach doch weiter!« sagte Merry.
»Mehr weiß ich nicht«, stammelte Sam errötend. »Ich habe es von
Herrn Bilbo gelernt, als ich ein Junge war. Er pflegte mir solche Sagen zu
erzählen, denn er wußte, daß ich immer gern von den Elben hörte. Herr
Bilbo war's auch, der mir Lesen und Schreiben beibrachte. Er war mächtig
gelehrt, der liebe alte Herr Bilbo. Und er schrieb Gedichte. Was ich eben
aufgesagt habe, hat er auch geschrieben.«
»Er hat es nicht verfaßt«, sagte Streicher. »Es gehört zu einem Lied in
einer alten Sprache, das Gil-galads Untergang heißt. Bilbo muß es über-
setzt haben. Ich wußte das gar nicht.«
»Und es war noch viel länger«, sagte Sam. »Alles über Mordor. Den
Teil habe ich nicht gelernt, dabei fuhr es mir immer kalt über den Rük-
ken. Ich hätte nie gedacht, daß ich selbst einmal den Weg gehen würde.«
»Nach Mordor gehen!« rief Pippin. »Ich hoffe doch, daß es dazu nicht
kommt!«
»Sprecht den Namen nicht so laut aus!« sagte Streicher.
Es war schon Mittag, als sie zum südlichen Ende des Pfades kamen und
vor sich im blassen, klaren Licht der Oktobersonne eine graugrüne
Böschung sahen, die wie eine Brücke zum Nordhang des Berges hinauf-
führte. Sie beschlossen, sich gleich zum Gipfel aufzumachen, solange der
Tag noch hell war. Sich zu verbergen war nicht länger möglich, und sie
konnten nur hoffen, daß kein Feind oder Späher sie beobachtete. Auf
dem Berg sahen sie keine Bewegung. Wenn Gandalf in der Nähe war, so
war jedenfalls keine Spur von ihm zu sehen.
Auf der Westseite der Wetterspitze fanden sie eine geschützte Senke,
an deren tiefster Stelle eine schalenförmige Mulde mit grasbewachsenen
Wänden war. Dort ließen sie Sam und Pippin mit dem Pony und ihren
Rucksäcken und dem sonstigen Gepäck. Die drei anderen gingen weiter.
Nach einer halbstündigen mühseligen Kletterei erreichte Streicher den
Berggipfel; Frodo und Merry folgten ihm, müde und atemlos. Der letzte
Hang war steil und felsig gewesen.
Auf dem Gipfel fanden sie, wie Streicher gesagt hatte, ein weites Rund
von altem Mauerwerk, das jetzt verfallen und mit hohem Gras überwu-
chert war. Doch in der Mitte war ein Hügel aus Schottersteinen aufge-
schichtet. Sie waren geschwärzt wie von Feuer. Um sie herum war der
Rasen bis auf die Wurzeln niedergebrannt, und überall innerhalb des
Kreises war das Gras versengt und verdorrt, als ob die Flammen über den
ganzen Berggipfel geschlagen wären; aber es war keine Spur von irgend-
einem Lebewesen.
Als sie am Rande der kreisrunden Ruine standen, hatten sie einen wei-
ten Blick nach allen Seiten; zum größten Teil war das Land kahl und ein-
tönig, mit Ausnahme von einigen bewaldeten Streifen im Süden, hinter
denen sie hier und dort Wasser schimmern sahen. Unter ihnen an dieser
südlichen Seite zog sich wie ein Band die Alte Straße hin, die vom
Westen kam und bergauf und bergab lief, bis sie im Osten hinter einem
dunklen Landrücken verschwand. Nichts bewegte sich auf ihr. Als sie ihr
mit den Augen nach Osten folgten, sahen sie das Gebirge: die näher ge-
legenen Vorberge waren braun und düster; hinter ihnen erhoben sich
höhere, graue Berge, und hinter ihnen wiederum sah man hohe weiße
Gipfel durch die Wolken schimmern.
»So, da sind wir«, sagte Merry. »Und es sieht sehr trostlos und wenig
einladend aus! Es gibt kein Wasser und keinen Schutz. Und keine Spur
von Gandalf. Ich mache ihm keinen Vorwurf, daß er nicht gewartet hat —
wenn er überhaupt hier war.«
»Ich weiß nicht recht«, sagte Streicher und schaute nachdenklich um
sich. »Selbst wenn er ein oder zwei Tage nach uns in Bree war, hätte er vor
uns hier gewesen sein können. Er vermag sehr schnell zu reiten, wenn es
nötig ist.« Plötzlich bückte er sich und betrachtete den zuoberst auf dem
Steinhaufen liegenden Stein; er war flacher als die anderen und weißer,
als sei er dem Feuer entgangen. Er nahm ihn auf und betrachtete ihn
genau, indem er ihn hin- und herwendete. »Den hat kürzlich jemand in der
Hand gehabt«, sagte er. »Was haltet ihr von diesen Zeichen?«
Auf der flachen Unterseite sah Frodo etwas Eingeritztes |'' .|||. »Das
scheint ein Strich zu sein, ein Punkt und noch drei Striche«, sagte er.
»Der Strich links könnte eine G-Rune mit dünnen Verästelungen sein«,
sagte Streicher. »Es könnte ein Zeichen sein, das Gandalf hinterlassen hat,
obwohl man nicht sicher sein kann. Das Eingeritzte ist fein und offen-
sichtlich frisch. Aber die Zeichen können ganz etwas anderes bedeuten
und nichts mit uns zu tun haben. Waldläufer benutzen Runen, und sie
kommen manchmal hierher.«
»Was könnten die Zeichen bedeuten, wenn wirklich Gandalf sie ge-
macht hätte?«
»Ich würde denken«, antwortete Streicher, »daß sie G 3 bedeuten und
besagen sollen, daß Gandalf am 3. Oktober hier war; das wäre vor drei
Tagen gewesen. Es würde auch ein Zeichen dafür sein, daß er in Eile war
und Gefahr drohte, so daß er entweder keine Zeit hatte oder nicht wagte,
ausführlicher oder deutlicher zu schreiben. Wenn dem so ist, müssen wir
vorsichtig sein.«
»Ich wollte, wir könnten sicher sein, daß er die Zeichen machte, was
immer sie bedeuten«, sagte Frodo. »Es wäre ein großer Trost, wenn wir
wüßten, daß er unterwegs ist, vor uns oder hinter uns.«
»Vielleicht«, sagte Streicher. »Was mich betrifft, so glaube ich, daß er
hier war und in Gefahr. Hier ist ein sengendes Feuer gewesen; und jetzt
fällt mir der Lichtschein wieder ein, den wir vor drei Nächten am öst-
liehen Himmel sahen. Ich vermute, er ist auf dem Berggipfel angegriffen
worden, aber mit welchem Ergebnis, das kann ich nicht sagen. Er ist nicht
mehr da, und wir müssen uns jetzt selbst um uns kümmern und unseren
Weg nach Bruchtal finden, so gut wir können.«
»Wie weit ist es nach Bruchtal?« fragte Merry und schaute sich nieder-
geschlagen um. Die Welt sah wüst und groß aus von der Wetterspitze.
»Ich weiß nicht, ob die Straße jenseits der Verlassenen Herberge eine
Tagesreise östlich von Bree jemals in Meilen gemessen wurde«, antwor-
tete Streicher. »Manche sagen, es sei so und so weit, und manche sagen
wieder etwas anderes. Es ist eine seltsame Straße, und die Leute sind froh,
wenn sie ihr Ziel erreicht haben, ob die Zeit nun lang oder kurz war.
Aber ich weiß, wie lange ich auf meinen eigenen Beinen brauchen würde,
bei gutem Wetter ohne Mißgeschick: zwölf Tage von hier zur Bruinen-
furt, wo die Straße die Lautwasser überquert, die von Bruchtal kommt.
Wir haben einen Weg von mindestens vierzehn Tagen vor uns, denn ich
glaube nicht, daß wir auf der Straße gehen können.«
»Vierzehn Tage!« sagte Frodo. »Eine Menge kann in dieser Zeit gesche-
hen.«
»Kann es auch«, sagte Streicher.
Sie standen eine Weile schweigend am südlichen Rand des Berggipfels.
An diesem einsamen Ort wurde sich Frodo zum erstenmal seiner Heimat-
losigkeit und Gefahr voll bewußt. Er wünschte bitterlich, das Schicksal
hätte ihn in dem ruhigen und geliebten Auenland gelassen. Er starrte
hinunter auf die verhaßte Straße, die nach Westen führte — nach Hause.
Plötzlich bemerkte er zwei schwarze Pünktchen, die sich langsam in west-
licher Richtung bewegten, und als er noch einmal hinschaute, sah er drei
weitere, die nach Osten krochen, ihnen entgegen. Er stieß einen Schrei
aus und packte Streicher am Arm.
»Schau!« sagte er und zeigte nach unten.
Sofort warf sich Streicher hinter dem Steinwall auf den Boden und
zog Frodo mit herunter. Merry warf sich daneben hin.
»Was ist das?« flüsterte er.
»Ich weiß es nicht, aber ich fürchte das Schlimmste«, antwortete
Streicher.
Langsam krochen sie wieder zum Rand und spähten durch einen Spalt
zwischen zwei gezackten Steinen. Es war nicht mehr sehr hell, denn der
klare Morgenhimmel hatte sich bezogen, und Wolken hatten sich vom
Osten her vor die Sonne geschoben, die jetzt zu sinken begann. Sie alle
sahen die schwarzen Pünktchen, aber weder Frodo noch Merry konnten
die Gestalten ganz genau erkennen; doch irgend etwas sagte ihnen, daß
sich dort, weit unten. Schwarze Reiter auf der Straße jenseits des Fußes
des Berges sammelten.
»Ja«, sagte Streicher, dessen schärferes Sehvermögen ihn nicht im
Zweifel ließ. »Der Feind ist da.«
Hastig krochen sie wieder zurück und eilten den Nordhang des Berges
hinunter zu ihren Gefährten.
Sam und Peregrin waren nicht müßig gewesen. Sie hatten das kleine Tal
und die umgebenden Hänge erforscht. Nicht weit weg hatten sie eine
klare Quelle gefunden und nahebei Fußabdrücke, die nicht älter als ein
oder zwei Tage waren. In der Mulde selbst fanden sie frische Spuren eines
Feuers und andere Anzeichen eines hastigen Lagers. Ein paar herabge-
stürzte Felsbrocken lagen am Rand der Mulde auf der Seite zum Berg.
Dahinter stieß Sam auf einen kleinen Vorrat von säuberlich aufgestapel-
tem Feuerholz.
»Ich möchte mal wissen, ob der alte Gandalf hier gewesen ist«, sagte er
zu Pippin. »Wer immer das Zeug hierher gelegt hat, er wollte offenbar
wiederkommen.«
Streicher fand diese Entdeckungen sehr bemerkenswert. »Ich wollte,
ich hätte gewartet und das Gelände hier unten selbst erkundet«, sagte er
und eilte zur Quelle, um die Fußabdrücke zu untersuchen.
»Genau das habe ich befürchtet«, sagte er, als er zurückkam. »Sam und
Pippin haben den weichen Boden zertrampelt, und die Spuren sind zer-
stört oder undeutlich geworden. Waldläufer sind kürzlich hier gewesen.
Aber es sind auch verschiedene neuere Spuren da, die nicht von Waldläu-
fern stammen. Zumindest ein Paar ist erst vor ein oder zwei Tagen von
schweren Stiefeln gemacht worden. Zumindest ein Paar. Ich weiß es jetzt
nicht sicher, aber ich glaube, es waren viele Füße in Stiefeln.« Er hielt
inne und dachte angestrengt nach.
Jeder der Hobbits sah im Geist die in Mäntel gehüllten und gestiefelten
Reiter vor sich. Wenn sie die Mulde schon gefunden hatten, dann wäre es
um so besser, je schneller Streicher sie woanders hinrührte. Sam betrach-
tete die Senke jetzt mit Widerwillen, nachdem er gehört hatte, daß ihre
Feinde nur ein paar Meilen entfernt auf der Straße seien.
»Sollten wir uns nicht lieber schnell davonmachen, Herr Streicher?«
fragte er ungeduldig. »Es wird immer später, und ich mag dieses Loch
nicht: es macht mich irgendwie mutlos.«
»Ja, wir müssen gewiß sofort entscheiden, was wir tun wollen«, ant-
wortete Streicher, schaute auf und zog Zeit und Wetter in Betracht.
»Nun, Sam«, sagte er schließlich, »mir gefällt der Ort auch nicht; aber
ich kann mir nicht vorstellen, daß wir irgendeinen besseren erreichen
könnten, ehe die Nacht hereinbricht. Wenigstens sind wir im Augenblick
außer Sicht, und wenn wir weitergehen, ist es viel wahrscheinlicher, daß
wir von Spähern gesehen werden. Höchstens könnten wir einen Umweg
nach Norden machen auf dieser Seite der Bergkette, wo das Gelände ziem-
lich ähnlich ist wie hier. Die Straße wird beobachtet, und wir müßten sie
überqueren, wenn wir versuchen wollten, in den Dickichten weiter südlich
Deckung zu suchen. Nördlich der Straße ist jenseits der Berge das Land
auf Meilen kahl und flach.«
»Können die Reiter sehen?* fragte Merry. »Ich meine, gewöhnlich
scheinen sie, zumindest bei Tage, mehr ihre Nasen als ihre Augen ge-
braucht und nach uns geschnüffelt zu haben, wenn Schnüffeln das rich-
tige Wort ist. Aber wir mußten uns flach hinlegen, als du sie unten gese-
hen hast, und jetzt redest du davon, daß wir gesehen werden könnten,
wenn wir weitergehen.«
»Ich war zu leichtsinnig auf dem Berggipfel«, antwortete Streicher. »Es
lag mir viel daran, ein Zeichen von Gandalf zu finden; aber es war ein
Fehler, daß wir zu dritt hinaufgegangen sind und dort so lange gestanden
haben. Denn die schwarzen Pferde können sehen, und die Reiter bedienen
sich der Menschen und anderer Geschöpfe als Späher, wie wir in Bree
festgestellt haben. Sie selbst sehen die Welt des Lichts nicht so wie wir,
aber unsere Gestalten werfen in ihrem Geist Schatten, die nur die Mit-
tagssonne zerstört; und in der Dunkelheit nehmen sie viele Zeichen und
Formen wahr, die uns verborgen sind: dann sind sie am meisten zu fürch-
ten. Und zu jeder Zeit riechen sie das Blut von lebenden Wesen, begehren
und hassen es. Auch gibt es andere Sinneswahrnehmungen als Sehen
oder Riechen. Wir spüren ihre Gegenwart — wir waren unruhig, sobald
wir hierher gekommen waren und ehe wir sie überhaupt gesehen hatten;
und sie spüren unsere Gegenwart noch stärker. Außerdem«, fügte er hin-
zu und dämpfte die Stimme zu einem Flüstern, »zieht sie der Ring an.«
»Gibt es denn kein Entkommen?« fragte Frodo und blickte verstört um
sich. »Wenn ich gehe, werde ich gesehen und gejagt! Wenn ich mich still
verhalte, ziehe ich sie zu mir!«
Streicher legte ihm die Hand auf die Schulter. »Noch ist Hoffnung«,
sagte er. »Du bist nicht allein. Nehmen wir dieses Holz, das zum Feuer-
machen vorbereitet ist, als Zeichen. Hier gibt es wenig Schutz oder Ver-
teidigungsmöglichkeiten, aber Feuer wird uns beides gewähren. Sauron
kann sich des Feuers, wie aller Dinge, für seine bösen Zwecke bedienen,
aber diese Reiter lieben es nicht und fürchten diejenigen, die es gebrau-
chen. Feuer ist unser Freund in der Wildnis.«
»Vielleicht«, murmelte Sam. »Aber abgesehen vom Rufen ist es die
beste Weise, die ich mir denken kann, um zu sagen: >hier sind wir<.«
Unten in der tiefsten und geschütztesten Ecke der Mulde entfachten sie
ein Feuer und bereiteten eine Mahlzeit. Die Schatten des Abends begannen
zu fallen, und es wurde kalt. Sie merkten plötzlich, wie hungrig sie
waren, denn sie hatten seit dem Frühstück nichts gegessen; aber sie wag-
ten nicht, sich mehr zu gönnen als ein karges Abendessen. In den vor
ihnen liegenden Gegenden gab es nichts außer Vögeln und wilden Tieren,
unwirtliche Orte, die von allen Lebewesen der Welt verlassen worden
waren. Waldläufer gingen zuzeiten jenseits der Berge vorbei, aber es
waren wenige, und sie blieben nicht lange. Andere Wanderer waren sel-
ten und von übler Art: Trolle kamen manchmal herab aus den nördlichen
Tälern des Nebelgebirges. Nur auf der Straße traf man Reisende, meistens
Zwerge, die in eigenen Geschäften unterwegs waren und für Fremde keine
Hilfe und wenig Worte übrig hatten.
»Ich weiß nicht, wie wir mit unseren Lebensmitteln auskommen sol-
len«, sagte Frodo. »Wir waren sparsam genug in den letzten Tagen, und
dieses Abendbrot ist kein Festmahl; aber wir haben mehr verbraucht, als
wir dürften, wenn wir noch zwei Wochen und vielleicht mehr vor uns
haben.«
»Man findet immer etwas zu essen in der Wildnis«, sagte Streicher.
»Beeren und Wurzeln und Kräuter; notfalls besitze ich einige Erfah-
rung als Jäger. Ihr braucht nicht zu befürchten, daß ihr verhungert, ehe
der Winter kommt. Aber etwas Eßbares zu sammeln oder zu fangen ist
zeitraubend und mühselig, und wir müssen uns eilen. Also schnallt eure
Riemen enger und denkt voll Hoffnung an die Tafel in Elronds Haus!«
Die Kälte nahm zu mit der Dunkelheit. Als sie vom Rand der Mulde
hinausstarrten, konnten sie nichts sehen als graues Land, das rasch im
Schatten versank. Der Himmel über ihnen hatte sich wieder aufgeklärt
und war bald von blinkenden Sternen übersät. Frodo und seine Gefährten
hatten sich am Feuer zusammengekauert und sich in alle Kleidungsstücke
und Decken gehüllt, die sie besaßen; aber Streicher begnügte sich mit
einem einzigen Mantel, saß ein wenig abseits und zog nachdenklich an
seiner Pfeife.
Als es richtig Nacht wurde und der Schein des Feuers hell leuchtete,
begann er, ihnen Geschichten zu erzählen, um sie von ihrer Furcht abzu-
lenken. Er kannte viele Geschichten und Sagen aus alter Zeit, von Elben
und Menschen und von guten und bösen Taten in der Altvorderenzeit.
Sie fragten sich, wie alt er wohl sei und woher er dieses Wissen habe.
»Erzähl uns doch von Gil-galad«, sagte Merry plötzlich, als Streicher
am Ende einer Geschichte über die Königreiche der Elben angelangt war
und einen Augenblick innehielt. »Weißt du noch mehr von dem alten
Lied, von dem du sprachst?«
»Allerdings«, sagte Streicher, »und Frodo auch, denn es ist für uns
beide sehr wichtig.« Merry und Pippin blickten Frodo an, der ins Feuer
starrte.
»Ich weiß nur das wenige, das Gandalf mir erzählt hat«, sagte Frodo
zögernd. »Gil-galad war der letzte der großen Elbenkönige von Mittel-
erde. Gil-galad heißt Sternenlicht in ihrer Sprache. Mit Elendil, dem
Elbenfreund, ging er in das Land ...«
»Nein«, unterbrach ihn Streicher. »Ich glaube nicht, daß diese Ge-
schichte jetzt, da die Diener des Feindes in der Nähe sind, erzählt werden
sollte. Wenn wir uns zu Elronds Haus durchschlagen, könnt ihr sie dort
ganz hören.«
»Dann erzähl uns doch eine andere Geschichte aus den alten Tagen«,
bat Sam. »Eine Geschichte von den Elben vor der Zeit des Niedergangs.
Ich würde so gern mehr über die Elben hören. Die Dunkelheit scheint sich
so nahe heranzudrängen.«
»Ich werde euch die Geschichte von Tinúviel erzählen«, sagte Streicher.
»Mit kurzen Worten, denn es ist eine lange Geschichte, deren Ende noch
unbekannt ist; und außer Elrond gibt es heute niemanden, der sich ihrer
noch so erinnert, wie sie früher erzählt wurde. Es ist eine schöne Ge-
schichte, obwohl sie traurig ist, wie alle Geschichten von Mittelerde, und
doch mag sie euerem Herz Mut machen.« Er schwieg eine Weile, dann
begann er nicht zu sprechen, sondern leise zu singen:

Das Gras war grün, das Laub hing dicht,
Die Schierlingsdolden blühten breit,
Da huschte durch den Wald ein Licht,

Wie Sternenglanz zur Erde fällt.
Tinúviel tanzte, Elbenmaid,

Zur Flöte, hold von Angesicht,
Von Sternen funkelte ihr Kleid

Und war ihr dunkles Haar erhellt.
Da irrte Beren durch den Wald,
Vom Berge kam er her allein,
Den Strom der Elben fand er bald

Und ging ihm voller Trauer nach.
Doch plötzlich sah er einen Schein
Von Licht im dunklen Wald gemach,
Von wehenden Schleiern einen Schein

Und goldene funken tausendfach.
Da stürzt, beseelt von neuer Kraft,
Der Wanderer aus fernem Land
Tinúviel nach in Leidenschaft,

Er greift nach ihr mit Ungestüm.
Ein Mondstrahl bleibt ihm in der Hand,

Durchs Dickicht tanzt sie leicht dahin,
Läßt ungestillt die Leidenschaft,

Und er muß einsam weiterziehn.
Wie oft vernimmt er flüchtigen Schritt
Von Füßen, leicht wie Lindenlaub,
Und unterirdische Musik,

Verwehend wie ein sterbender Ton.
Mit Nebelrauch und Silberstaub

Des Rauhreifs naht des Winters Tritt,
Mit leisem Wispern Blatt um Blatt

fällt's aus der Buchen welker Krön.
Er sucht sie ewig, unverzagt,
Wo dicht der Blätterteppich liegt,
Bei Mond und Stern und wenn es tagt.

Ihr Schleier weht im Silberglanz,
So dreht sich schwerelos und fliegt

Tinúviel, die Elbenmagd,
Wie sich die Flocke wirbelnd wiegt

Dahin im Tanz, dahin im Tanz.
Als um der Winter, kehrte sie
Zurück und sang den Frühling wach
Mit Vogellied und Melodie

Des Regens auf vereistem Bach.
Die Sehnsucht trieb ihn wie noch nie

Zum Tanz, zu ihr, es lockte ihn,
Mit ihr so leicht dahinzuziehn,

So leicht im Tanz dahinzuziehn.

Sie floh — er rief den Namen schnell,
Mit Elbenlaut rief er sie an:
Tinúviel! Tinúviel!
Da hielt sie ein im raschen Lauf,
Die Stimme schlug sie in den Bann.

Schon eilt er zu Tinúviel,
Da sah sie ihn verzaubert an:

Er fing sie in den Armen auf.
Und unter ihrem Schattenhaar
Sah Beren hell der Sterne Licht
Gespiegelt in dem Augenpaar

Der Elbin, der unsterblichen.
Verfallen war sie dem Gericht.

Sie schlang die Arme wunderbar
Um ihn: Er sah ins Angesicht

Der elbisch unverderblichen.
Lang trieb sie dann das Schicksal um
Durch Felsgeklüft und kalte Nacht,
Durch finstre Wälder, fremd und stumm,

Dann trennte sie das weite Meer.
Und dennoch war zuletzt die Nacht,

Gericht und Zeit der Prüfung um,
Vereinte sie des Schicksals Macht —

Und lange, lange ist es her.

Streicher seufzte und hielt eine Weile inne, ehe er weitersprach. »Das
ist ein Lied«, sagte er, »in der Tonart, die von den Elben ann-thennath
genannt wird, aber es läßt sich schwer in unserer Gemeinsamen Sprache
wiedergeben, und das hier ist nur ein schwaches Echo. Es erzählt von der
Begegnung zwischen Beren, Barahirs Sohn, und Lúthien Tinúviel. Beren
war ein Sterblicher, doch Lúthien war die Tochter Thingols, eines Königs
der Elben in Mittelerde, als die Welt noch jung war; und sie war die
schönste Jungfrau, die es je unter den Kindern dieser Welt gab. Sie war
lieblich wie die Sterne über den Nebeln der nördlichen Lande, und ihr
Gesicht war wie ein schimmerndes Licht. In jenen Tagen weilte der Große
Feind, von dem Sauron von Mordor lediglich ein Diener war, in Ang-
band im Norden, und als die Elben aus dem Westen nach Mittelerde zu-
rückkehrten, führten sie Krieg gegen ihn, um die Silmarils wiederzuge-
winnen, die er gestohlen hatte; und die Väter der Menschen halfen den
Elben. Aber der Feind war siegreich, und Barahir wurde erschlagen, und
Beren, der großen Gefahren entgangen war, kam über das Gebirge des
Schreckens in Thingols heimliches Königreich, im Walde von Neldoreth.
Dort erblickte er Lúthien, die auf einer Waldwiese nahe dem verzauberten
Fluß Esgalduin sang und tanzte; und er nannte sie Tinúviel, das heißt
Nachtigall in der alten Sprache. Viel Leid widerfuhr ihnen später, und
lange waren sie getrennt. Tinúviel rettete Beren aus Saurons Verliesen,
und gemeinsam bestanden sie große Gefahren, stießen sogar den Großen
Feind von seinem Thron und nahmen aus seiner eisernen Krone einen der
drei Silmarils, den strahlendsten aller Edelsteine, der Lúthiens Brautgabe
an Thingol, ihren Vater, sein sollte. Doch schließlich wurde Beren von
dem Wolf getötet, der von Angbands Toren gekommen war, und er starb
in Tinúviels Armen. Sie aber wählte die Sterblichkeit und wollte die Welt
verlassen, damit sie ihm folgen könne; und so heißt es in dem Lied, daß
sie sich jenseits des Trennenden Meeres wiedertrafen, und nach einer
kurzen Zeit wandelten sie wieder lebendig in den grünen Wäldern, und
vereint überschritten sie vor langer Zeit die Grenzen dieser Welt. So kam
es, daß Lúthien Tinúviel als einzige des Elbengeschlechts gestorben ist
und die Welt verlassen hat, und sie haben jene verloren, die sie am mei-
sten geliebt haben. Aber von ihr stammte das Geschlecht der alten Elben-
fürsten unter den Menschen ab. Jene, deren Stammutter Lúthien war,
leben noch, und es heißt, daß ihr Geschlecht niemals aussterben wird.
Elrond von Bruchtal gehört zu dieser Familie. Denn der Sohn von Beren
und Lúthien war Dior, Thingols Erbe; und dessen Tochter war Elwing die
Weiße, die Eärendil ehelichte, Eärendil, der sein Schiff aus den Nebeln der
Welt in die Meere des Himmels segelte, den Silmaril auf der Stirn. Und
von Eärendil stammen ab die Könige von Númenor, das ist Westernis.«
Als Streicher sprach, beobachteten sie sein fremdartiges, lebhaftes Ge-
sicht, das von der roten Glut des Holzfeuers schwach beleuchtet war.
Seine Augen glänzten, und seine Stimme war volltönend und tief. Über
ihm war ein schwarzer, gestirnter Himmel. Plötzlich erschien ein bleiches
Licht über dem Gipfel der Wetterspitze hinter ihm. Der zunehmende
Mond stieg langsam über den Berg, in dessen Schatten sie saßen, und die
Sterne über dem Gipfel verblaßten.
Die Geschichte war zu Ende. Die Hobbits reckten und streckten sich.
»Schaut!« sagte Merry. »Der Mond geht auf; es muß spät sein.«
Die anderen blickten empor. Gerade als sie das taten, sahen sie auf der
Spitze des Berges vor dem Schein des aufgehenden Mondes etwas Kleines
und Dunkles. Vielleicht war es nur ein großer Stein oder ein vorspringen-
der Fels, der in dem bleichen Licht hervortrat.
Sam und Merry standen auf und gingen vom Feuer weg. Frodo und
Pippin blieben schweigend sitzen. Streicher beobachtete aufmerksam das
Mondlicht auf dem Berg. Alles schien ruhig und still, aber Frodo fühlte,
wie sich jetzt, da Streicher schwieg, eine kalte Furcht schwer auf sein
Herz legte. Er kauerte sich dichter ans Feuer. In diesem Augenblick kam
Sam rennend vom Rand der Mulde zurück.
»Ich weiß nicht, was es ist«, sagte er, »aber ich fürchte mich plötzlich.
Nicht für Geld und gute Worte würde ich jetzt wagen, aus der Mulde her-
auszugehen; ich hatte das Gefühl, daß etwas den Abhang herauf kriecht.«
»Hast du etwas gesehen!« fragte Frodo und sprang auf.
»Nein, Herr. Ich habe nichts gesehen, aber ich habe nicht angehalten,
um zu schauen.«
»Ich sah etwas«, sagte Merry. »Oder ich glaubte jedenfalls, etwas zu
sehen — dort drüben im Westen, wo das Mondlicht auf die Ebene fällt
hinter dem Schatten der Berggipfel, da glaubte ich, seien zwei oder drei
schwarze Gestalten. Sie schienen sich in dieser Richtung zu bewegen.«
»Bleibt dicht am Feuer, das Gesicht nach außen!« rief Streicher. »Nehmt
ein paar von den längeren Stöcken in die Hand.«
Eine Zeitlang saßen sie atemlos da, schweigend und wachsam, den Rük-
ken dem Feuer zugekehrt und in die Schatten starrend, die sie umgaben.
Nichts geschah. Kein Ton und keine Bewegung war in der Nacht. Frodo
rührte sich, er hatte das Gefühl, er müsse das Schweigen brechen: er
sehnte sich danach, laut zu rufen.
»Pst!« flüsterte Streicher. »Was ist das?« keuchte Pippin im selben
Augenblick.
Über den Rand der kleinen Mulde auf der dem Berg abgewandten Seite
spürten sie eher, als daß sie es sahen, wie sich ein Schatten erhob, ein
Schatten oder mehr als einer. Sie strengten ihre Augen an, und die Schat-
ten schienen zu wachsen. Bald konnte kein Zweifel mehr sein: drei oder
vier große schwarze Gestalten standen dort auf dem Hang und schauten
auf sie herab. So schwarz waren sie, daß sie schwarze Löcher in dem tie-
fen Schatten dahinter zu sein schienen. Frodo glaubte ein schwaches
Zischen wie von giftigem Atem zu hören und hatte ein Gefühl von
durchbohrender Kälte. Dann gingen die Gestalten langsam auf sie zu.
Entsetzen überkam Pippin und Merry, und sie warfen sich flach auf
den Boden. Sam wich zurück an Frodos Seite. Frodo war kaum weniger
verängstigt als seine Gefährten; er zitterte, als ob er bitterlich fröre, aber
seine Angst ging in der plötzlichen Versuchung unter, den Ring aufzu-
streifen. Das Verlangen, das zu tun, packte ihn so, daß er an nichts
anderes denken konnte. Er vergaß nicht das Hügelgrab und auch nicht
die Botschaft von Gandalf; aber irgend etwas schien ihn zu zwingen, alle
Warnungen zu mißachten, und es drängte ihn nachzugeben. Nicht in
der Hoffnung, zu entkommen oder etwas zu tun, ob es gut oder schlecht
war: er hatte einfach das Gefühl, er .müsse den Ring nehmen und ihn auf
den Finger stecken. Er konnte nicht sprechen. Er spürte, daß Sam ihn an-
schaute, als ob er wisse, daß sein Herr in arger Not sei, aber er konnte
sich nicht zu ihm umwenden. Er schloß die Augen und kämpfte eine
Weile mit sich; aber er vermochte nicht länger zu widerstehen, und
schließlich zog er langsam das Kettchen heraus und ließ den Ring auf den
Zeigefinger der linken Hand gleiten.
Obwohl alles wie vorher blieb, düster und dunkel, wurden die Gestal-
ten sofort erschreckend deutlich. Er vermochte unter ihre schwarzen Hül-
len zu schauen. Es waren fünf große Gestalten: zwei standen am Rand der
Mulde, drei gingen auf ihn zu. In ihren weißen Gesichtern brannten
scharfe und gnadenlose Augen; unter ihren Mänteln trugen sie lange
graue Gewänder, auf ihren grauen Haaren Helme aus Silber; in ihren
hageren Händen hielten sie Schwerter aus Stahl. Ihr Blick fiel auf ihn und
durchbohrte ihn, als sie auf ihn zustürzten. Verzweifelt zog auch er sein
Schwelt, und ihm schien, als flackere es rot wie ein brennendes Holz-
scheit. Zwei der Gestalten blieben stehen. Der dritte Reiter war größer als
die anderen: sein Haar war lang und schimmernd, und auf seinem Helm
war eine Krone. In der Hand hielt er ein langes Schwert, in der anderen
ein Messer; sowohl das Messer als auch die Hand, die es hielt, schimmer-
ten in einem bleichen Licht. Er machte einen Satz vorwärts und sprang
auf Frodo zu.
In diesem Augenblick warf sich Frodo nach vorn auf den Boden, und
er hörte sich selbst laut rufen: 0 Elbereth! Gilthoniel! Gleichzeitig führte
er einen Hieb gegen die Füße seines Feindes. Ein schriller Schrei durch-
drang die Nacht; und Frodo fühlte einen Schmerz, als ob ein Pfeil aus
vergiftetem Eis seine linke Schulter durchbohre. Gerade, als er in eine Ohn-
macht sank, sah er wie durch einen wirbelnden Nebel Streicher aus der
Dunkelheit springen mit einem flammenden Holzscheit in jeder Hand.
Mit letzter Kraft ließ Frodo sein Schwert sinken, zog den Ring vom Fin-
ger und umschloß ihn fest mit der rechten Hand.

<= =>