ZEHNTES KAPITEL
STREICHER

Frodo, Pippin und Sam gingen zurück in die kleine Gaststube. Es
brannte kein Licht. Merry war nicht da, und das Feuer war herunterge-
brannt. Erst als sie die Glut wieder zum Aufflammen gebracht und ein
paar Scheite nachgelegt hatten, merkten sie, daß Streicher mitgekommen
war. Da saß er ganz still auf einem Stuhl an der Tür.
»Hallo!« sagte Pippin. »Wer seid Ihr und was wollt Ihr?«
»Ich werde Streicher genannt«, antwortete er. »Und obwohl er es ver-
gessen haben mag, hat Euer Freund versprochen, sich in Ruhe mit mir zu
unterhalten.«
»Ihr sagtet, glaube ich, ich würde etwas hören, das von Nutzen für
mich sei«, sagte Frodo. »Was habt Ihr zu sagen?«
»Verschiedenes«, antwortete Streicher. »Aber natürlich kostet es
etwas.«
»Was meint Ihr damit?« fragte Frodo scharf.
»Beruhigt Euch! Ich meine nur folgendes: »Ich werde Euch sagen, was
ich weiß, und Euch einige gute Ratschläge geben — aber ich erwarte eine
Belohnung.«
»Und worin soll die bestehen, bitte schön?« sagte Frodo. Er fürchtete
jetzt, einem Erpresser in die Hände gefallen zu sein, und er dachte voll
Unbehagen daran, daß er nur wenig Geld bei sich hatte. Die Gesamt-
summe würde einen Gauner kaum zufriedenstellen, und eigentlich konnte
er gar nichts davon entbehren.
»Nicht mehr, als Ihr Euch leisten könnt«, antwortete Streicher mit
einem schwachen Lächeln, als habe er Frodos Gedanken erraten. »Nur fol-
gendes: Ihr müßt mich so lange mitnehmen, bis ich Euch verlassen will.«
»Ach wirklich!« erwiderte Frodo, überrascht, aber nicht sehr erleich-
tert. »Selbst wenn ich einen weiteren Gefährten wünschte, würde ich mit
derlei nicht einverstanden sein, solange ich nicht erheblich mehr über
Euch und Eure Angelegenheiten wüßte.«
»Ausgezeichnet!« rief Streicher, schlug die Beine über und setzte sie
bequem hin. »Ihr scheint Euren Verstand wieder beisammen zu haben
und das ist auch gut. Bisher seid Ihr viel zu leichtsinnnig gewesen. Nun
gut. Ich werde Euch sagen, was ich weiß, und Euch die Belohnung über-
lassen. Ihr werdet sie vielleicht gern gewähren, wenn Ihr mich angehört
habt.«
»Also fangt an«, sagte Frodo. »Was wißt Ihr?«
»Zu viel; zu viele dunkle Dinge«, antwortete Streicher grimmig. »Aber
was Eure Angelegenheit betrifft ...« Er stand auf und ging zur Tür, öff-
nete sie rasch und schaute hinaus. Dann schloß er sie leise und setzte sich
wieder hin. »Ich habe scharfe Ohren«, fuhr er fort und senkte die
Stimme, »und wenngleich ich nicht verschwinden kann, so habe ich doch
viele wilde und wachsame Geschöpfe gejagt und kann es, wenn ich will,
gewöhnlich vermeiden, gesehen zu werden. Ja, ich war heute abend hinter
der Hecke an der Straße westlich von Bree, als vier Hobbits aus der Ge-
gend der Höhen kamen. Ich brauche nicht alles zu wiederholen, was sie
zum alten Bombadil oder untereinander sagten, aber etwas interessierte
mich. Bitte denkt daran, daß der Name Beutlin nicht erwähnt werden
darf. Ich bin Herr Unterberg, wenn ein Name genannt werden muß.
Das
interessierte mich so sehr, daß ich ihnen bis hierher folgte. Ich kletterte
gleich nach ihnen über das Tor. Vielleicht hat Herr Beutlin einen ehren-
haften Grund, seinen Namen abzulegen; aber selbst dann würde ich ihm
und seinen Freunden raten, vorsichtiger zu sein.«
»Ich begreife nicht, welches Interesse irgend jemand in Bree an meinem
Namen haben könnte«, erwiderte Frodo ärgerlich, »und es ist mir auch
nicht bekannt, warum er Euch interessiert. Herr Streicher mag einen
ehrenhaften Grund haben, zu spionieren und zu lauschen, aber selbst
dann würde ich ihm raten, den Grund zu erklären.«
»Gut geantwortet«, sagte Streicher lachend. »Aber die Erklärung ist
einfach: Ich hielt Ausschau nach einem Hobbit mit Namen Frodo Beut-
lin. Ich wollte ihn schnell finden. Ich hatte erfahren, daß er aus dem
Auenland ein — nun ja, ein Geheimnis mitbringt, das mich und meine
Freunde angeht.«
»Nein, mißversteht mich nicht!« rief er, als sich Frodo erhob und Sam
mit einem finsteren Ausdruck aufsprang. »Ich werde das Geheimnis vor-
sichtiger bewahren als Ihr. Und Vorsicht ist vonnöten!« Er beugte sich
vor und schaute sie an. »Beobachtet jeden Schatten!« sagte er leise.
»Schwarze Reiter sind durch Bree geritten. Einer kam, wie es heißt, am
Montag den Grünweg herunter; und ein zweiter traf später ein, er kam
den Grünweg von Süden herauf.«
Es trat ein Schweigen ein. Schließlich sagte Frodo zu Pippin und Sam:
»Ich hätte es mir denken können nach der Art und Weise, wie der Tor-
wächter uns begrüßte. Und der Wirt scheint auch etwas gehört zu haben.
Warum hat er uns nur gedrängt, uns der Gesellschaft anzuschließen? Und
warum in aller Welt haben wir uns so töricht benommen: wir hätten
ruhig hierbleiben sollen.« »Das wäre besser gewesen«, sagte Streicher.
»Ich hätte Euch davon abgehalten, in die große Gaststube zu gehen, wenn
ich gekonnte hätte. Aber der Wirt wollte mich nicht hereinlassen und
auch keine Botschaft überbringen.«
»Glaubt Ihr, daß er ...« begann Frodo.
»Nein, ich glaube nichts Böses vom alten Butterblume. Nur mag er sol-
che geheimnisvollen Vagabunden wie mich nicht allzu gem.« Frodo sah
ihn verwundert an. »Ja, ich sehe ein bißchen verkommen aus, nicht
wahr?« sagte Streicher mit verächtlich gekräuselten Lippen und einem
sonderbaren Glanz in den Augen. »Aber ich hoffe, wir werden einander
noch besser kennenlernen. Wenn ja, dann werdet Ihr mir hoffentlich
erklären, was am Ende Eures Liedes geschah. Denn dieser Scherz ...«
»Das war nichts als ein Mißgeschick!« unterbrach ihn Frodo.
»Na, ich weiß nicht recht«, meinte Streicher. »Also schön, Mißge-
schick. Dieses Mißgeschick hat Eure Lage gefährlich gemacht.«
»Kaum mehr, als sie schon war«, antwortete Frodo. »Ich wußte, daß
mich diese Reiter verfolgen; aber jetzt scheinen sie mich jedenfalls ver-
fehlt zu haben und sind weggegangen.«
»Darauf dürft Ihr nicht rechnen!« sagte Streicher scharf. »Sie werden
wiederkommen. Und mehr werden kommen. Es gibt noch andere. Ich
kenne ihre Zahl. Ich kenne diese Reiter.« Er hielt inne, und seine Augen
waren kalt und hart. »Und es gibt einige Leute in Bree, denen nicht zu
trauen ist«, fuhr er fort. »Lutz Farning zum Beispiel. Er hat einen schlech-
ten Ruf in Breeland, und sonderbares Volk sucht ihn in seinem Haus auf.
Ihr müßt ihn bemerkt haben in der Gesellschaft: ein schwärzlicher, höh-
nischer Bursche. Er saß ständig bei einem Fremden aus dem Süden, und
gleich nach Eurem >Mißgeschick< gingen sie zusammen hinaus. Nicht alle
jene Südländer meinen es gut; und was Farning betrifft, so würde er jedem
alles verraten; oder Unheil anrichten bloß zum Spaß.«
»Was soll Farning verraten und was hat mein Mißgeschick mit ihm zu
tun?« fragte Frodo, der immer noch entschlossen war, Streichers Andeu-
tungen nicht zu verstehen.
»Nachrichten über Euch natürlich«, antwortete Streicher. »Ein Bericht
über Eure Darbietung wäre für gewisse Leute sehr interessant. Danach
wäre es kaum noch nötig, ihnen Euren wirklichen Namen zu verraten. Ich
halte es für nur allzu wahrscheinlich, daß sie davon hören werden, ehe die
Nacht vorbei ist. Ist das genug? Ihr könnt es mit meiner Belohnung nach
Belieben halten: mich als Führer nehmen oder nicht. Aber ich darf sagen,
daß ich alle Länder zwischen dem Auenland und dem Nebelgebirge
kenne, denn ich habe sie seit vielen Jahren durchwandert. Ich bin älter,
als ich aussehe. Ich könnte mich als nützlich erweisen. Nach dem heuti-
gen Abend werdet Ihr die offene Straße vermeiden müssen; denn die Rei-
ter werden sie Tag und Nacht beobachten. Es mag sein, daß Ihr aus Bree
entkommt und man Euch gehen läßt, solange die Sonne scheint; aber Ihr
werdet nicht weit kommen. Sie werden Euch in der Wildnis überfallen, an
irgendeinem dunklen Ort, wo es keine Hilfe gibt. Wollt Ihr, daß sie Euch
finden? Sie sind entsetzlich!«
Die Hobbits schauten ihn an und sahen zu ihrer Überraschung, daß
sein Gesicht gleichsam schmerzverzerrt war und seine Hände die Sessel-
lehnen umklammerten. Das Zimmer war ganz ruhig und still, und das
Licht schien dämmrig geworden zu sein. Eine Weile saß er mit leerem
Blick da, als erginge er sich in fernen Erinnerungen oder lauschte Geräu-
schen in der Nacht weit fort.
»Ja!« rief er nach einem Augenblick und fuhr sich mit der Hand über
die Stirn. »Vielleicht weiß ich mehr über diese Verfolger als Ihr. Ihr
fürchtet sie, aber Ihr fürchtet sie noch nicht genug. Morgen werdet Ihr
entkommen müssen, wenn Ihr könnt. Streicher kann Euch auf Pfaden
führen, die selten begangen werden. Wollt Ihr ihn haben?«
Es herrschte ein bedrücktes Schweigen. Frodo antwortete nicht, sein
Sinn war verwirrt von Zweifel und Furcht. Sam runzelte die Stirn,
schaute seinen Herrn an und platzte schließlich heraus:
»Wenn du erlaubst, Herr Frodo: ich würde nein sagen! Dieser Streicher
warnt uns und sagt, wir sollten vorsichtig sein; und dazu sage ich ja,
und zwar zuerst einmal ihm gegenüber. Er kommt aus der Wildnis, und
über solche Leute habe ich nie was Gutes gehört. Er weiß etwas, das ist
klar, und mehr, als mir lieb ist; aber das ist kein Grund, warum wir zu-
lassen sollten, daß er uns an irgendeinen dunklen Ort führt, wo es keine
Hilfe gibt, wie er sich ausdrückt.«
Pippin rutschte unruhig hin und her und sah verlegen aus. Streicher
gab Sam keine Antwort, sondern richtete seine scharfen Augen auf
Frodo. Frodo spürte seinen Blick und schaute weg. »Nein«, sagte er be-
dächtig. »Der Meinung bin ich nicht. Ich glaube. Ihr seid nicht wirklich,
was zu sein Ihr vorgebt. Zuerst habt Ihr mit mir geredet wie die Bree-
Leute, aber Eure Stimme hat sich verändert. Immerhin hat Sam insoweit
recht: ich sehe nicht ein, warum Ihr uns warnen solltet, vorsichtig zu
sein, und uns dennoch auffordert, Euch zu vertrauen. Warum die Verstel-
lung? Wer seid Ihr? Was wißt Ihr wirklich über — über meine Angele-
genheit; und woher wißt Ihr es?«
»Die Lektion in Vorsicht ist gut gelernt worden«, sagte Streicher mit
einem grimmigen Lächeln. »Aber Vorsicht und Zaudern sind zweierlei.
Allein werdet Ihr niemals nach Bruchtal kommen, und Ihr habt keine
andere Wahl, als mir zu vertrauen. Ihr müßt Euch entscheiden. Einige
Eurer Fragen will ich beantworten, wenn das Eure Entscheidung erleich-
tert. Aber warum solltet Ihr meiner Geschichte Glauben schenken, wenn
Ihr mir nicht schon vertraut? Immerhin, hier ist sie ...«
In diesem Augenblick wurde an die Tür geklopft. Herr Butterblume
erschien mit Kerzen, und hinter ihm kam Kunz mit Heißwasserkannen.
Streicher zog sich in eine dunkle Ecke zurück.
»Ich bin gekommen, um Euch gute Nacht zu wünschen«, sagte der
Wirt und stellte die Kerzen auf den Tisch. »Kunz! Bring das Wasser in
die Zimmer!« Er trat ein und schloß die Tür.
»Es ist folgendes«, begann er zögernd und sah richtig bekümmert aus.
»Wenn ich irgendwelchen Schaden angerichtet habe, dann tut es mir
wirklich leid. Aber eins verdrängt das andere, wie Ihr zugeben werdet;
und ich bin ein vielbeschäftigter Mann. Aber erst eine Sache und dann
noch eine in dieser Woche haben mein Gedächtnis aufgefrischt, wie man
so sagt; und nicht zu spät, hoffe ich. Ich war nämlich gebeten worden, ;
nach Hobbits aus dem Auenland Ausschau zu halten, und besonders
nach einem mit Namen Beutlin.«
»Und was hat das mit mir zu tun?« fragte Frodo.
»Ach, das werdet Ihr wohl am besten wissen«, meinte der Wirt vielsa-
gend. »Ich werde Euch nicht verraten; aber mir wurde gesagt, daß dieser
Beutlin unter dem Namen Unterberg reist, und mir wurde eine Beschrei-
bung gegeben, die genau auf Euch paßt, wenn ich so sagen darf.«
»Ach, wirklich? Dann gebt sie mal zum besten«, unterbrach ihn Frodo
töricht.
»Ein dicker kleiner Kerl mit roten Wangen«, sagte Herr Butterblume
feierlich. Pippin kicherte, aber Sam sah entrüstet aus. »Das wird nicht viel
nützen, denn es trifft auf die meisten Hobbits zu, Gerstenmann,
sagt er
zu mir«, fuhr Herr Butterblume mit einem Seitenblick auf Pippin fort.
»Aber dieser eine ist größer als manche und hat hellere Haare als die
meisten, und er hat ein gespaltenes Kinn: ein kecker Bursche mit klugen
Augen.
Ich bitte um Entschuldigung, aber er hat das gesagt, nicht ich.«
»Er hat das gesagt? Und wer war das?« fragte Frodo gespannt.
»Ach, das war Gandalf, wenn Ihr wißt, wen ich meine. Ein Zauberer
soll er sein, aber er ist ein guter Freund von mir, wie dem auch sei. Aber
ich weiß jetzt nicht, was er mir antun wird, wenn ich ihn wiedersehe: all
mein Bier sauer werden lassen oder mich in einen Holzklotz verwandeln,
es würde mich nicht wundern; Er ist ein wenig ungestüm. Immerhin, was
geschehen ist, läßt sich nicht ungeschehen machen.«
»Aber was ist denn geschehen?« fragte Frodo, der allmählich ungedul-
dig wurde bei der langsamen Entwirrung von Butterblumes Gedanken.
»Wo war ich?« sagte der Wirt, hielt inne und schnalzte mit den Fin-
gern. »Ach ja, beim alten Gandalf. Vor drei Monaten kam er schlankweg
in mein Zimmer, ohne anzuklopfen. Gersten, sagt er, in der Früh muß
ich weg. Willst du etwas für mich tun? Du brauchst es bloß zu nen-
nen,
sagte ich. Ich bin in Eile, sagte er, und ich habe selbst keine Zeit,
aber ich möchte, daß eine Botschaft ins Auenland gebracht wird. Hast du
jemanden, den du schicken kannst und auf den Verlaß ist, daß er geht?
Ich kann einen finden,
sagte ich, morgen vielleicht oder übermorgen.
Mach es. morgen,
sagt er, und dann gab er mir einen Brief.
Er ist deutlich genug adressiert«, sagte Herr Butterblume, zog einen
Brief aus der Tasche und las die Adresse langsam und stolz vor (denn er
legte Wert auf seinen Ruf als gebildeter Mann):

HERRN FRODO BEUTLIN, BEUTELSEND, HOBBINGEN IM AUEN-
LAND.

»Ein Brief für mich von Gandalf!« rief Frodo.
»Aha!« sagte Herr Butterblume. »Dann ist Euer richtiger Name also
Beutiin?«
»Ja«, antwortete Frodo, »und Ihr gebt mir den Brief besser sofort und
erklärt mir, warum Ihr ihn nicht geschickt habt. Um mir das zu sagen,
seid Ihr wohl hergekommen, obwohl Ihr lange gebraucht habt, um zur
Sache zu kommen.«
Der arme Herr Butterblume sah bekümmert aus. »Ihr habt recht, Herr«,
sagte er, »und ich bitte um Entschuldigung. Und ich habe fürchterliche
Angst, was Gandalf sagen wird, wenn ein Unheil daraus entsteht. Aber
ich habe den Brief nicht absichtlich zurückgehalten. Ich habe ihn sicher
aufgehoben. Dann konnte ich keinen finden, der bereit war, am nächsten
oder übernächsten Tag ins Auenland zu gehen, und von meinen Leuten
konnte ich keinen entbehren; und dann verdrängte eine Sache nach der
anderen den Brief aus meinem Gedächtnis. Ich bin ein vielbeschäftigter
Mann. Ich will mein Möglichstes tun, um die Sache in Ordnung zu brin-
gen, und wenn ich irgendwie behilflich sein kann, braucht Ihr es nur zu
sagen. Ganz abgesehen von dem Brief, hatte ich das auch Gandalf ver-
sprochen. Gersten, sagte er zu mir, dieser Freund von mir aus dem Auen-
land mag vielleicht bald hier vorbeikommen, er und ein anderer. Er wird

sich Unterberg nennen. Denke daran! Aber du brauchst keine Fragen zu
stellen. Und wenn ich nicht bei ihm bin, wird er vielleicht in Schwierigkeiten
sein und Hilfe brauchen. Tu für ihn, was immer du kannst, und ich werde
dir dankbar sein.
Und nun seid Ihr hier und die Schwierigkeiten sind
offenbar nicht fern.«
»Was meint Ihr damit?« fragt Frodo.
»Diese schwarzen Männer«, sagte der Wirt und senkte die Stimme.
»Sie suchen Beutlin, und wenn sie was Gutes im Schilde führen, dann bin
ich ein Hobbit. Es war am Montag, und alle Hunde jaulten und die Gänse
fauchten. Unheimlich, habe ich es genannt. Kunz kam und sagte mir, daß
zwei schwarze Männer an der Tür seien und nach einem Hobbit mit
Namen Beutlin fragten. Kunz standen die Haare zu Berge. Ich schickte die
schwarzen Gesellen fort und schlug ihnen die Tür vor der Nase zu; aber
dieselbe Frage haben sie den ganzen Weg bis nach Archet gestellt, wie
ich höre. Und dieser Waldläufer Streicher hat auch Fragen gestellt. Ver-
suchte, hier hereinzukommen und Euch zu sehen, ehe Ihr einen Happen
gegessen hattet, jawohl.«
»Jawohl«, sagte Streicher plötzlich und trat ins Licht. »Und viel Unge-
mach wäre uns erspart geblieben, wenn Ihr ihn hereingelassen hättet,
Gerstenmann.«
Der Wirt fuhr erschrocken zusammen. »Ihr!« rief er. »Immer taucht Ihr
plötzlich auf. Was wollt Ihr denn jetzt?«
»Er ist mit meiner Erlaubnis hier«, sagt Frodo. »Er kam, mir seine Hilfe
anzubieten.«
»Ihr wißt über Eure Angelegenheit vielleicht selbst Bescheid«, sagte
Herr Butterblume, »aber wenn ich in Eurer Lage wäre, würde ich mich
nicht an einen Waldläufer wenden.«
»An wen würdet Ihr Euch denn wenden?« fragte Streicher. »An einen
fetten Gastwirt, der seinen eigenen Namen nur deshalb behält, weil ihn
die Leute den ganzen Tag brüllen? Sie können nicht ewig im Pony bleiben
und nach Hause können sie auch nicht. Sie haben einen langen Weg vor
sich. Wollt Ihr mit ihnen gehen und ihnen die schwarzen Männer vom
Halse halten?«
»Ich? Bree verlassen? Nicht um alle Schätze der Welt würde ich daß
tun«, sagte Herr Butterblume und sah jetzt ganz erschrocken aus. »Aber
warum könnt Ihr nicht ruhig eine Weile hierbleiben, Herr Unterberg?
Was bedeuten all diese seltsamen Vorgänge? Worauf haben es die
schwarzen Männer abgesehen, und wo kommen sie her, das würde ich
gern mal wissen.«
»Es tut mir leid, ich kann das alles nicht erklären«, antwortete Frodo.
»Ich bin müde und sehr besorgt, und es ist eine lange Geschichte. Aber
wenn Ihr wirklich vorhabt, mir zu helfen, muß ich Euch warnen, denn Ihr
seid in Gefahr, solange ich in Eurem Hause bin. Diese Schwarzen Reiter —
ich bin nicht sicher, aber ich glaube, ich fürchte, sie kommen aus ...«
»Sie kommen aus Mordor«, sagte Streicher leise. »Aus Mordor, Ger-
stenmann, wenn Euch das etwas sagt.«
»Bewahr uns!« rief Herr Butterblume und wurde blaß; der Name war
ihm offensichtlich bekannt. »Das ist die schlimmste Nachricht, die zu
meinen Lebzeiten Bree erreicht hat.«
»Ja«, sagte Frodo. »Seid Ihr immer noch gewillt, mir zu helfen?«
»Bin ich«, antwortete Herr Butterblume. »Mehr denn je. Obwohl ich
nicht weiß, was meinesgleichen tun kann gegen, gegen ...« Ihm versagte
die Stimme.
»Gegen den Schatten im Osten«, sagte Streicher ruhig. »Nicht viel,
Gerstenmann, aber jedes bißchen hilft. Ihr könnt Herrn Unterberg heute
nacht als Herrn Unterberg hier bleiben lassen und könnt den Namen
Beutlin vergessen, bis er weit fort ist.«
»Das will ich tun«, sagte Butterblume. »Aber ich fürchte, sie werden
auch ohne meine Hilfe herausfinden, daß er hier ist. Zu schade, daß Herr
Beutlin heute abend die Aufmerksamkeit auf sich lenkte, um nicht mehr
zu sagen. Die Geschichte, wie dieser Herr Bilbo weggegangen ist, ist
schon vor heute abend in Bree gehört worden. Selbst unser Kunz mit sei-
nem schwerfälligen Schädel hat ein paar Vermutungen angestellt; und es
gibt andere in Bree, die schneller begreifen als er.«
»Ja, wir können nur hoffen, daß die Reiter noch nicht zurückkommen«,
sagte Frodo.
»Das hoffe ich auch«, sagte Butterblume. »Aber Spuk oder kein Spuk,
jedenfalls werden sie nicht so leicht in das Pony gelangen. Macht Euch
bis zum Morgen keine Sorgen. Kunz wird kein Wort sagen. Kein schwarzer
Mann soll meine Schwelle überschreiten, solange ich auf meinen Beinen
stehen kann. Ich und meine Leute werden heute nacht Wache halten; aber
Ihr solltet ein wenig schlafen, wenn Ihr könnt.«
»Jedenfalls müssen wir bei Morgengrauen geweckt werden«, sagte
Frodo. »Wir müssen so früh wie möglich aufbrechen. Frühstück bitte um
halb sieben.«
»Gut! Ich werde die Anweisung geben«, sagte der Wirt. »Gute Nacht,
Herr Beutlin — Unterberg, sollte ich sagen! Gute Nacht — du lieber Him-
mel? Wo ist denn Euer Herr Brandybock?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Frodo, plötzlich sehr besorgt. Sie hatten Merry
ganz vergessen, und es wurde spät. »Ich fürchte, er ist ausgegangen. Er
hatte etwas gesagt, daß er Luft schnappen wollte.«
»Na, um Euch muß man sich ja gewißlich kümmern: man sollte den-
ken, Ihr seid auf einer Ferienreise!« sagte Butterblume. »Ich muß gehen
und rasch die Türen versperren, aber ich werde dafür sorgen, daß Euer
Freund hereingelassen wird, wenn er kommt. Besser noch, ich schicke
Kunz, ihn zu suchen. Gute Nacht allerseits!«
Endlich ging Herr Butterblume, mit einem letzten zweifelnden Blick
auf Streicher und einem Kopfschütteln. Seine Schritte verhallten auf dem
Gang.
»Nun?« fragte Streicher. »Wann wollt Ihr den Brief öffnen?« Frodo
betrachtete das Siegel genau, ehe er es erbrach. Es schien gewiß Gandalfs
zu sein. Darin fand sich in des Zauberers kräftiger, aber anmutiger Hand-
schrift die folgende Botschaft:

ZUM TÄNZELNDEN PONY, BREE, MITTJAHRSTAG, AUENLAND-
JAHR 1418

Lieber Frodo,
Schlechte Nachrichten haben mich hier erreicht. Ich muß sofort aufbre-
chen. Du gehst besser bald aus Beutelsend fort und verläßt das Auenland
spätestens vor Ende Juli. Ich werde zurückkommen, sobald, ich kann; und.
ich werde Dir folgen, falls Du schon fort bist. Hinterlasse hier eine Nach-
richt für mich, wenn Du durch Bree kommst. Du kannst dem Wirt (But-
terblume) vertrauen. Es mag sein, daß Du unterwegs einen Freund von
mir triffst: einen Menschen, schlank, dunkel, groß, von manchen Strei-
cher genannt. Er weiß über unsere Angelegenheit Bescheid und wird Dir
helfen. Mache Dich nach Bruchtal auf. Dort werden wir uns, hoffe ich,
wiedertreffen. Wenn ich nicht komme, wird Elrond Dir Rat geben.
In Eile Dein
GANDALF

PS. Benütze Ihn NICHT wieder, aus welchem Grunde auch immer!
Wandere nicht des Nachts!

PPS. Vergewissere Dich, daß es der richtige Streicher ist. Es gibt viele
merkwürdige Menschen auf den Straßen. Sein wirklicher Name ist Ara-

gorn.

Nicht alles, was Gold ist, funkelt,
Nicht jeder, der wandert, verlorn,

Das Alte wird nicht verdunkelt
Noch Wurzeln der Tiefe erfrorn.
Aus Asche wird Feuer geschlagen,
Aus Schatten geht Licht hervor;
Heil wird geborstnes Schwert,
Und König, der die Krone verlor.

PPPS. Ich hoffe, Butterblume sendet dies sofort. Ein ehrenwerter Mann,
aber sein Gedächtnis ist wie eine Rumpelkammer: was man
braucht, ist immer vergraben.
Wenn er es vergißt, werde
ich ihn rösten. Lebe wohl!

Frodo las den Brief, dann reichte er ihn Pippin und Sam hinüber. »Der
alte Butterblume hat wirklich was Schönes angerichtet!« sagte er. »Er
verdient geröstet zu werden. Hätte ich das sofort bekommen, könnten wir
alle jetzt in Bruchtal in Sicherheit sein. Aber was mag mit Gandalf ge-
schehen sein? Er schreibt, als ginge er großen Gefahren entgegen.«
»Das hat er seit vielen Jahren getan«, sagte Streicher.
Frodo wandte sich um und sah ihn nachdenklich an; er war unsicher
über Gandalfs zweite Nachschrift. »Warum habt Ihr mir nicht gleich ge-
sagt, daß Ihr Gandalfs Freund seid?« fragte er. »Es hätte Zeit gespart.«
»Wirklich? Würde einer von Euch mir geglaubt haben?« gab Streicher
zurück. »Ich wußte nichts von diesem Brief. Ich wußte nur, daß ich Euch
überreden mußte, mir ohne Beweise zu vertrauen, wenn ich Euch helfen
sollte. Jedenfalls hatte ich nicht vor. Euch sofort alles über mich zu erzäh-
len. Ich mußte Euch erst prüfen und mich vergewissern. Der Feind hat mir
schon früher Fallen gestellt. Sobald ich mich entschieden hätte, war ich
bereit, jede Eurer Fragen zu beantworten. Aber ich muß zugeben«, fügte
er mit einem seltsamen Lachen hinzu, »daß ich gehofft hatte. Ihr würdet
mich um meiner selbst willen nehmen. Ein gejagter Mann ist manchmal
das Mißtrauen leid und sehnt sich nach Freundschaft. Doch spricht,
glaube ich, mein Äußeres gegen mich.«
»Allerdings — jedenfalls auf den ersten Blick«, lachte Pippin, plötzlich
erleichtert, nachdem er Gandalfs Brief gelesen hatte. »Aber hübsch ist,
wer hübsch tut, wie wir im Auenland sagen; und ich vermute, wir wer-
den alle ziemlich genauso aussehen, wenn wir tagelang in Hecken und
Gräben gelegen haben.«
»Es würde mehr brauchen, als ein paar Tage oder Wochen oder Jahre in
der Wildnis zu wandern, um wie Streicher auszusehen«, antwortete er.
»Und Ihr würdet vorher sterben, sofern Ihr nicht aus härterem Holz ge-
schnitzt seid, als es den Anschein hat.«
Pippin schwieg still, aber Sam war nicht so leicht einzuschüchtern, und
er hatte immer noch seine Zweifel über Streicher. »Woher wissen wir,
daß Ihr der Streicher seid, von dem Gandalf gesprochen hat?« fragte er.
»Ihr habt Gandalf überhaupt nicht erwähnt, ehe dieser Brief kam. Ihr
könntet ein schauspielernder Späher sein, soweit ich sehen kann, um uns
zum Mitgehen zu bewegen. Ihr könntet den richtigen Streicher umge-
bracht und die Kleider genommen haben. Was habt Ihr dazu zu sagen?«
»Daß du ein wackerer Bursch bist«, antwortete Streicher. »Aber ich
fürchte, meine einzige Antwort an dich, Sam Gamdschie, ist folgende.
Wenn ich den richtigen Streicher getötet hätte, könnte ich auch dich
töten. Und ich hätte dich ohne so viel Gerede getötet. Wenn ich hinter
dem Ring her wäre, könnte ich ihn haben — JETZT!«
Er stand auf und schien plötzlich größer zu werden. In seinen Augen
blitzte es auf, stark und gebieterisch. Er warf seinen Mantel zurück und
legte die Hand auf das Heft des Schwertes, das verborgen an seiner Seite
gehangen hatte. Sie wagten sich nicht zu rühren. Sam saß mit offenem
Munde da und starrte ihn stumm an.
»Aber ich bin zum Glück der richtige Streicher«, sagte er, schaute zu
ihnen herab, und sein Gesicht wurde sanft durch ein plötzliches Lächeln.
»Ich bin Aragorn, Arathorns Sohn, und wenn ich durch Leben oder Tod
euch retten kann, dann will ich es tun.«
Es trat ein langes Schweigen ein. Zögernd sprach Frodo schließlich.
»Schon ehe der Brief kam, glaubte ich, daß Ihr ein Freund seid«, sagte er.
»Oder zumindest wünschte ich es. Ihr habt mich heute abend mehrmals
erschreckt, aber niemals so, wie es die Diener des Feindes tun würden,
oder so stelle ich es mir jedenfalls vor. Ich glaube, einer seiner Späher
würde — nun ja, anständiger aussehen und gemeiner denken, wenn Ihr
das versteht.«
»Ja, das verstehe ich«, lachte Streicher. »Ich sehe gemein aus und
denke anständig. Ist es so? Nicht alles, was Gold ist, funkelt, nicht jeder,
der wandert, verlorn.«

»Beziehen sich die Verse denn auf Euch?« fragte Frodo. »Ich habe nicht
begriffen, worum es sich dabei handelte. Aber woher wußtet Ihr, daß sie
in Gandalfs Brief stehen, wenn Ihr ihn gar nicht gesehen habt?«
»Ich wußte es nicht«, antwortete er. »Aber ich bin Aragorn, und diese
Verse gehören zu dem Namen.« Er zog sein Schwert hervor, und sie
sahen, daß die Klinge tatsächlich einen Fuß unter dem Heft geborsten
war. »Nicht viel nütze ist es, nicht wahr, Sam?« fragte Streicher. »Aber
die Zeit ist nahe, da es neu geschmiedet werden wird.
Sam erwiderte nichts.
»So«, sagte Streicher, »mit Sams Erlaubnis werden wir das als erledigt
betrachten. Streicher wird euer Führer sein. Morgen werden wir ein hartes
Stück Wegs haben. Selbst wenn man uns ungehindert aus Bree hinaus-
läßt, können wir kaum hoffen, es unbemerkt zu verlassen. Aber ich
werde versuchen, sobald als möglich unterzutauchen. Ich kenne noch ein
paar andere Wege als nur die Hauptstraße, die aus dem Breeland hinaus-
führen. Sobald wir die Verfolger einmal abgeschüttelt haben, werde ich
auf die Wetterspitze zuhalten.«
»Die Wetterspitze?« fragte Sam. »Was ist denn das?«
»Ein Berg, genau nördlich der Straße, etwa auf halbem Wege zwischen
hier und Bruchtal. Von dort hat man eine weite Aussicht nach allen Sei-
ten, und dort werden wir Gelegenheit haben, uns umzuschauen. Gandalf
wird auch dorthin kommen, wenn er uns folgt. Hinter der Wetterspitze
wird unsere Fahrt schwieriger werden, und wir werden uns entscheiden
müssen zwischen verschiedenen Gefahren.«
»Wann habt Ihr Gandalf zuletzt gesehen?« fragte Frodo. »Wißt Ihr, wo
er ist oder was er tut?«
Streicher sah ernst aus. »Was er tut, weiß ich nicht«, sagte er. »Ich
kam im Frühjahr mit ihm nach dem Westen. In den letzten Jahren habe
ich oft an den Grenzen des Auenlands Wache gehalten, wenn er ander-
weitig beschäftigt war. Er ließ das Auenland selten unbewacht. Zuletzt
trafen wir uns am 1. Mai: bei Sarnfurt unten am Brandywein. Er sagte
mir, seine Angelegenheit mit Euch sei gut gegangen, und Ihr würdet Euch
in der letzten Septemberwoche auf den Weg nach Bruchtal machen. Da ich
wußte, daß er auf Eurer Seite war, begab ich mich meinerseits auf eine Fahrt.
Und das erwies sich als unheilvoll; denn es war klar, daß ihn irgendwelche
Nachrichten erreichten, und ich war nicht zur Hand, um zu helfen.
Ich bin beunruhigt, zum ersten Mal, seit ich ihn kenne. Wir hätten Bot-
schaften von ihm erhalten müssen, auch wenn er selbst nicht kommen
konnte. Als ich vor vielen Tagen zurückkehrte, hörte ich die schlechten
Nachrichten. Die Neuigkeit war weit und breit bekannt, daß Gandalf ver-
mißt wurde und die Reiter gesichtet worden waren. Das Elbenvolk von
Gildor hat mir das erzählt; und später berichteten sie mir, daß Ihr von zu
Hause aufgebrochen seid; aber es lag keine Nachricht darüber vor, daß
Ihr Bockland verlassen hattet. Ich habe die Oststraße ängstlich beobach-
tet.«
»Glaubt Ihr, daß die Schwarzen Reiter etwas damit zu tun haben — mit
Gandalfs Abwesenheit, meine ich?« fragte Frodo.
»Ich weiß nicht, was ihn sonst abgehalten haben könnte, wenn nicht
der Feind selbst«, sagte Streicher. »Aber gebt die Hoffnung nicht auf.
Gandalf ist größer, als Ihr im Auenland wißt — in der Regel seht Ihr nur
seine Scherze und Spielereien. Aber diese unsere Angelegenheit wird
seine größte Aufgabe sein.«
Pippin gähnte. »Entschuldigung«, sagte er, »aber ich bin todmüde.
Trotz aller Gefahr und Sorge muß ich ins Bett oder ich schlafe im Sitzen
ein. Wo ist dieser alberne Merry? Das fehlte gerade noch, daß wir im
Dunkeln hinausgehen müßten und nach ihm suchen.«
In diesem Augenblick hörten sie eine Tür schlagen; dann Schritte, die
den Gang entlangrannten. Merry kam hereingestürzt, gefolgt von Kunz.
Er schloß hastig die Tür und lehnte sich dagegen. Er war außer Atem. Sie
starrten ihn erschreckt einen Augenblick an, bis er hervorstieß: »Ich
habe sie gesehen, Frodo! Ich habe sie gesehen! Schwarze Reiter!«
»Schwarze Reiter!« rief Frodo. »Wo?«
»Hier. Im Dorf. Ich bin eine Stunde hier sitzen geblieben. Als ihr dann
immer noch nicht kamt, wollte ich einen kleinen Bummel machen. Ich
war schon wieder zurückgekommen und stand gerade außerhalb des
Lichtscheins der Laterne und betrachtete die Sterne. Plötzlich überlief
mich ein Schauer und ich spürte, daß etwas Entsetzliches näherkroch: da
war sozusagen ein tieferer Schatten zwischen den Schatten jenseits der
Straße, gleich hinter dem Lichtkreis der Lampe. Er verschwand sofort ge-
räuschlos im Dunkeln. Ein Pferd war nicht da.«
»In welcher Richtung ging er?« fragte Streicher plötzlich scharf.
Merry fuhr zusammen, denn er hatte den Fremden vorher nicht be-
merkt. »Rede nur weiter«, sagte Frodo. »Er ist ein Freund von Gandalf.
Ich erkläre es dir nachher.«
»Er schien die Straße nach Osten entlangzugehen«, fuhr Merry fort.
»Ich versuchte, ihm zu folgen. Natürlich verschwand er sofort; aber ich
ging um die Ecke und dann weiter bis zum letzten Haus an der Straße.«
Streicher sah Merry erstaunt an. »Ihr seid sehr beherzt«, sagte er.
»Aber es war töricht.«
»Ich weiß nicht«, sagte Merry. »Weder tapfer noch albern, glaube ich.
Ich konnte kaum anders. Irgendwie schien ich gezogen zu werden. Jeden-
falls ging ich, und plötzlich hörte ich Stimmen an der Hecke. Eine mur-
melte, und die andere flüsterte oder zischte. Ich konnte kein Wort verste-
hen, das gesprochen wurde. Ich kroch nicht näher, weil ich einfach zu zit-
tern begann. Dann bekam ich Angst und wandte mich um und wollte
gerade nach Hause stürzen, als etwas hinter mir herkam und ich ... ich
fiel hin.«
»Ich habe ihn gefunden, Herr«, schaltete sich Kunz ein. »Herr Butter-
blume hatte mich mit einer Laterne hinausgeschickt. Ich ging hinunter
zum Westtor und dann zurück in Richtung Südtor. Ganz nahe bei Lutz
Farnings Haus glaubte ich, etwas auf der Straße liegen zu sehen. Ich
könnte es nicht beschwören, aber mir war so, als ob sich zwei Männer
über etwas bückten und es aufhoben. Ich rief, aber als ich zu der Stelle
kam, war keine Spur mehr von ihnen, und nur Herr Brandybock lag am
Straßenrand. Er schien zu schlafen. >Ich glaubte, ich sei in tiefes Wasser
gefallene sagt er zu mir, als ich ihn schüttelte. Sehr komisch war er, und
kaum hatte ich ihn aufgeweckt, da stand er auf und rannte hierher zurück
wie ein Hase.«
»Das stimmt, fürchte ich«, sagte Merry. »Obwohl ich nicht weiß, was
ich gesagt habe. Ich hatte einen häßlichen Traum, an den ich mich nicht
erinnern kann. Ich war einfach fix und fertig. Ich weiß nicht, was über
mich gekommen ist.«
»Ich weiß es«, sagte Streicher. »Der Schwarze Atem. Die Reiter müs-
sen ihre Pferde draußen gelassen haben und heimlich durch das Südtor
wieder hereingekommen sein. Sie werden jetzt über alles Bescheid wissen,
denn sie haben Lutz Farning besucht; und wahrscheinlich war auch der
Südländer ein Späher. Es mag noch etwas geschehen in der Nacht, ehe wir
Bree verlassen.«
»Was wird geschehen?« fragte Merry. »Werden sie das Gasthaus an-
greifen?«
»Nein, das glaube ich nicht«, antwortete Streicher. »Sie sind noch nicht
alle hier. Und jedenfalls ist das nicht ihre Art. In Dunkelheit und Ein-
samkeit sind sie am stärksten; sie werden nicht offen ein Haus angreifen,
in dem Licht brennt und viele Leute sind — nicht, ehe sie ganz verzweifelt
sind, nicht, während noch all die Meilen von Eriador vor uns liegen.
Aber ihre Macht beruht auf Schrecken, und einige in Bree sind schon in
ihren Klauen. Sie werden diese Unglücklichen zu bösen Taten anstiften:
Farning und einige von den Fremden und vielleicht auch den Torwächter.
Sie sprachen am Montag mit Heinrich am Westtor. Ich habe sie beobach-
tet. Er war weiß und zitterte, als sie ihn verließen.«
»Wir scheinen Feinde ringsum zu haben«, sagte Frodo. »Was sollen wir
tun?«
»Hierbleiben und nicht in Eure Zimmer gehen! Sie haben bestimmt
herausgefunden, welche das sind. Die Hobbitzimmer haben Fenster nach
Norden und dicht am Boden. Wir werden alle zusammen hierbleiben und
Fenster und Tür versperren. Aber zuerst werden Kunz und ich Euer Ge-
päck holen.«
Während Streicher weg war, berichtete Frodo Merry rasch über alles,
was sich seit dem Abendessen ereignet hatte. Merry hatte gerade Gan-
dalfs Brief gelesen und dachte darüber nach, als Streicher und Kunz zu-
rückkamen.
»So, meine Herren«, sagte Kunz, »ich habe das Bettzeug aufgewühlt
und in jedes Bett der Länge nach eine Schlummerrolle gelegt. Und eine
hübsche Nachahmung Eures Kopfes habe ich mit einer braunen Wolldecke
gemacht, Herr Beut-Unterberg«, fügte er grinsend hinzu.
Pippin lachte. »Sehr naturgetreu!« sagte er. »Aber was wird gesche-
hen, wenn sie den Mummenschanz durchschaut haben?«
»Das werden wir sehen«, antwortete Streicher. »Wir hoffen, daß wir
bis morgen früh die Stellung halten können.«
»Gute Nacht«, sagte Kunz und ging, um seinen Wachposten an der Tür
zu beziehen.
Ihre Rucksäcke und Kleider stapelten sie auf dem Fußboden. Vor die
Tür schoben sie einen niedrigen Sessel und schlössen das Fenster. Als
Frodo hinausschaute, sah er, daß die Nacht noch klar war. Die Sichel*
stand hell über den Hängen des Breeberges. Dann schloß und verriegelte
er die schweren Innenläden und zog die Vorhänge zu. Streicher legte das
Feuer nach und blies die Kerzen aus.
Die Hobbits legten sich auf ihre Decken mit den Füßen zum Kamin;
aber Streicher setzte sich auf den Sessel vor der Tür. Sie unterhielten sich
noch eine Weile, denn Merry hatte noch verschiedene Fragen.
»Sprang übern Mond!« kicherte er, als er sich in seine Decke ein-
wickelte. »Sehr lächerlich von dir, Frodo! Aber ich wollte, ich wäre
dabeigewesen. Die würdigen Breeländer werden in hundert Jahren noch
davon reden.«
»Das hoffe ich«, sagte Streicher. Dann schwiegen sie, und einer nach
dem anderen schliefen die Hobbits ein.
* Der Hobbitname für den Wagen oder Großen Bären.

<= =>