NEUNTES KAPITEL
IM GASTHAUS ZUM TÄNZELNDEN PONY

Bree war der Hauptort des Breelandes, eines kleinen bewohnten Ge-
biets, gleichsam einer Insel inmitten der entvölkerten Lande. Außer Bree
selbst gab es an der anderen Seite des Berges noch Stadel, in einem tiefen
Tal ein wenig weiter östlich Schlucht und am Rande des Chetwaldes
Archet. Um den Breeberg und die Dörfer erstreckte sich ein Landstrich
mit Ackerland und durchforsteten Waldungen, der aber nur einige Mei-
len breit war.
Die Menschen in Bree waren braunhaarig, plump und ziemlich unter-
setzt, fröhlich und unabhängig: sie waren niemandem Untertan als sich
selbst; aber mit Hobbits, Zwergen, Elben und anderen Bewohnern der sie
umgebenden Welt standen sie freundschaftlicher und vertrauter, als es für
Große Leute üblich war (oder ist). Nach ihren eigenen Überlieferungen
waren sie die Ureinwohner und Nachkommen der allerersten Menschen,
die von Mittelerde nach dem Westen gewandert waren. Wenige hatten die
Wirren der Altvorderenzeit überlebt; aber als die Könige wieder über die
Großen Meere zurückkehrten, fanden sie die Bree-Menschen immer noch
vor, und auch jetzt, da über die Erinnerung an die alten Könige schon
Gras gewachsen war, waren sie noch hier.
In jenen Tagen hatten keine anderen Menschen feste Wohnsitze so weit
westlich, nämlich im Umkreis von hundert Wegstunden vom Auenland.
Doch waren in den Wilden Landen jenseits von Bree geheimnisvolle Wan-
derer unterwegs. Die Leute in Bree nannten sie Waldläufer und wußten
nichts über ihre Herkunft. Sie waren größer und dunkler als die Men-
schen in Bree, und man glaubte von ihnen, daß sie ein besonderes Sehver-
mögen und einen ungewöhnlichen Gehörsinn besäßen und die Sprachen
der Tiere und Vögel verstünden. Sie wanderten, wie es ihnen gefiel, nach
Süden und Osten und sogar bis zum Nebelgebirge; aber es gab ihrer nur
noch wenige, und man bekam sie selten zu Gesicht. Wenn sie kamen,
brachten sie Neuigkeiten von weither mit und erzählten merkwürdige,
vergessene Geschichten, denen gespannt gelauscht wurde; doch waren die
Leute in Bree nicht gut Freund mit ihnen.
Auch lebten viele Hobbitfamilien in Breeland; und sie behaupteten, sie
seien die älteste Hobbitsiedlung der Welt, die schon lange gegründet wor-
den sei, ehe der Brandywein überschritten und das Auenland besiedelt
wurde. Die Mehrzahl von ihnen wohnte in Stadel, obwohl es auch in Bree
selbst Hobbits gab, besonders auf den höheren Hängen des Berges ober-
halb der Häuser der Menschen. Das Große Volk und das Kleine Volk (wie
sie einander nannten) standen auf freundschaftlichem Fuße, die einen
mischten sich nicht in die Angelegenheiten der anderen, aber beide Grup-
pen betrachteten sich mit Recht als unentbehrliche Bestandteile des Bree-
volkes. Nirgends sonst auf der Welt fand man dieses eigenartige (und
ausgezeichnete) Einvernehmen.
Das Breevolk, groß und klein, wanderte selbst nicht viel und kümmerte
sich hauptsächlich um das, was in den vier Dörfern geschah. Gelegent-
lich machten die Hobbits von Bree einen Besuch in Bockland oder im Ost-
viertel; aber obwohl ihr kleines Land nicht viel weiter als einen Tagesritt
östlich der Brandyweinbrücke lag, kamen die Hobbits aus dem Auenland
jetzt selten nach Bree. Dann und wann kam ein Bockländer oder ein aben-
teuerlustiger Tuk für ein oder zwei Nächte in das Gasthaus, doch selbst
das geschah immer seltener. Die Hobbits im Auenland bezeichneten die-
jenigen in Bree und alle anderen, die außerhalb ihrer Grenzen lebten, als
Außenseiter und nahmen sehr wenig Anteil an ihrem Ergehen, fanden
sie langweilig und ungehobelt. Wahrscheinlich gab es in jenen Tagen ver-
streut im Westen der Welt viel mehr Außenseiter, als die Leute im
Auenland ahnten. Gewiß, manche waren nicht viel mehr als Landstrei-
cher, bereit, sich in irgendeiner Böschung eine Höhle zu graben und nur
so lange zu bleiben, wie es ihnen paßte. Aber im Breeland jedenfalls
waren die Hobbits wohlanständig und wohlhabend und auch nicht bäuri-
scher als die meisten ihrer entfernten Verwandten im Inland. Es war noch
nicht vergessen, daß es eine Zeit gegeben hatte, da ein ständiges Kommen
und Gehen zwischen dem Auenland und Bree gang und gäbe war. Und
die Brandybocks hatten nach allem, was man hörte, Breeblut in den
Adern.
Im Dorf Bree gab es einige hundert Steinhäuser des Großen Volkes, die
zumeist oberhalb der Straße lagen, an den Berghang geschmiegt und mit
Fenstern nach Westen. Auf jener Seite erstreckte sich in mehr als einem
Halbkreis vom Berg und wieder zurück ein tiefer Graben mit einer dich-
ten Hecke auf der inneren Seite. Diesen Graben überquerte die Straße auf
einem Damm; aber wo sie durch die Hecke stieß, war sie mit einem gro-
ßen Tor versperrt. Die Tore wurden bei Einbruch der Nacht geschlossen;
doch unmittelbar innerhalb standen kleine Pförtnerhäuser für die Tor-
wächter.
Weiter unten an der Straße, wo sie sich nach rechts um den Fuß des
Berges herumzog, befand sich ein großes Gasthaus. Es war schon vor lan-
ger Zeit gebaut worden, als der Verkehr auf den Straßen weit lebhafter
gewesen war. Denn Bree lag an einer alten Wegscheide; eine zweite alte
Straße kreuzte die Oststraße gerade außerhalb des Grabens am westlichen
Dorfausgang, und in den alten Tagen war sie von Menschen und anderen
Leuten aller Art viel benutzt worden. Seltsam wie Neuigkeiten aus Bree
war immer noch eine Redensart im Ostviertel, die aus jener Zeit
stammte, als Neuigkeiten aus Norden, Süden und Osten im Gasthaus aus-
getauscht wurden und die Auenland-Hobbits häufig dort hinzugehen
pflegten, um sie zu hören. Aber die Nördlichen Lande waren schon lange
verödet, und die Nordstraße wurde jetzt selten begangen; sie war von
Gras überwuchert, und die Leute in Bree nannten sie Grünweg.
Das Gasthaus von Bree war indes immer noch da, und der Wirt war
eine wichtige Persönlichkeit. Sein Haus war der Treffpunkt der Arbeits-
scheuen, Geschwätzigen und Neugierigen unter den großen und kleinen
Bewohnern der vier Dörfer; und das Stammlokal der Waldläufer und an-
derer Wanderer und derjenigen, die noch immer über die Oststraße zum
und vom Gebirge zogen (hauptsächlich Zwerge).
Es war dunkel, und weiße Sterne leuchteten, als Frodo und seine Ge-
fährten schließlich die Grünwegkreuzung erreichten und sich dem Dorf
näherten. Sie kamen zum Westtor und fanden es geschlossen, aber dahin-
ter saß an der Tür des Pförtnerhauses ein Mann. Er sprang auf, holte eine
Laterne und sah die Hobbits über das Tor hinweg überrascht an.
»Was wollt Ihr und woher kommt Ihr?« fragte er barsch.
»Wir wollen ins Gasthaus«, antwortete Frodo. »Wir reisen nach dem
Osten und können heute abend nicht weiter.«
»Hobbits! Vier Hobbits! Und noch dazu aus dem Auenland nach ihrer
Redeweise«, sagte der Torhüter leise, als spräche er zu sich selbst. Er
starrte sie einen Augenblick finster an, dann öffnete er langsam das Tor
und ließ sie durchreiten.
»Wir sehen nicht oft Leute aus dem Auenland nachts auf der Straße
reiten«, fuhr er fort, als sie einen Augenblick an seiner Tür anhielten.
»Ihr werdet entschuldigen, wenn ich gern wissen möchte, welche An-
gelegenheiten Euch weit östlich von Bree führen. Darf ich fragen, wie Ihr
heißt?«
»Unsere Namen und unsere Angelegenheiten sind unsere Sache, und
dies scheint mir nicht der richtige Ort zu sein, um uns darüber zu unter-
halten«, sagte Frodo, dem weder der Mann noch sein Ton gefielen.
»Eure Angelegenheiten sind Eure Sache, zweifellos«, erwiderte der
Mann; »aber meine Angelegenheit ist es, nach Einbruch der Nacht Fra-
gen zu stellen.«
»Wir sind Hobbits aus Bockland, und es beliebt uns, zu reisen und hier
im Gasthaus zu übernachten«, mischte sich Merry ein. »Ich bin Herr
Brandybock. Genügt Euch das? Die Leute in Bree pflegten zu Reisenden
höflich zu sein, oder wenigstens habe ich das gehört.«
»Schon gut, schon gut!« sagte der Mann. »Ich habe es nicht böse ge-
meint. Aber Ihr werdet vielleicht sehen, daß Euch noch andere als nur
der alte Heinrich am Tor Fragen stellen. Es sind sonderbare Leute unter-
wegs. Wenn Ihr zum Pony geht, werdet Ihr sehen, daß Ihr nicht die einzi-
gen Gäste seid.«
Er wünschte ihnen Gute Nacht, und sie sagten nichts mehr; aber Frodo
konnte im Schein der Laterne sehen, daß der Mann sie immer noch neu-
gierig anstarrte. Er war froh, als er hörte, wie das Tor hinter ihnen zu-
schlug, während sie weiterritten. Er fragte sich, warum der Mann so arg-
wöhnisch gewesen war, und ob sich wohl irgend jemand nach einer
Gruppe von Hobbits erkundigt habe. Konnte es Gandalf gewesen sein? Er
mochte inzwischen angekommen sein, während sie im Wald und auf den
Höhen aufgehalten wurden. Aber irgend etwas im Ausdruck und in der
Stimme des Torwächters machte ihn unruhig.
Der Mann starrte den Hobbits einen Augenblick nach, dann ging er
wieder in sein Häuschen. Kaum hatte er den Rücken gekehrt, da kletterte
eine dunkle Gestalt rasch über das Tor und verschwand im Schatten der
Dorfstraße.
Die Hobbits ritten eine sanfte Steigung hinauf, kamen an ein paar ein-
zelstehenden Häusern vorbei und hielten dann vor dem Gasthaus an. Die
Häuser erschienen ihnen groß und fremdartig. Sam starrte zum Gasthof
hinauf mit seinen drei Stockwerken und vielen Fenstern, und der Mut
sank ihm. Er hatte sich vorgestellt, daß er irgendwann im Laufe dieser
Fahrt Riesen begegnen würde, größer als Bäume, und anderen Geschöp-
fen, die womöglich noch furchterregender wären; aber in diesem Augen-
blick reichte ihm der erste Anblick von Menschen und ihren hohen Häu-
sern vollkommen, ja für das dunkle Ende eines anstrengenden Tages war
eigentlich das schon zuviel. Er malte sich schwarze Pferde aus, die fertig
gesattelt im Schatten des Wirtshaushofes stünden, und Schwarze Reiter,
die oben aus den dunklen Fenstern starrten.
»Wir werden doch nicht etwa hier übernachten, Herr?« rief er aus.
»Wenn es Hobbits in dieser Gegend gibt, warum suchen wir uns dann
nicht welche, die uns aufnehmen wollen? Es wäre mehr wie zu Hause.«
»Was hast du gegen das Gasthaus?« fragte Frodo. »Tom Bombadil hat
es empfohlen. Drinnen wird es vermutlich ziemlich wie zu Hause sein.«
Selbst von außen sah das Gasthaus für Augen, die mit ihm vertraut
waren, sehr einladend aus. Es hatte eine Front zur Straße und zwei Flügel
nach hinten, die in die niedrigen Hänge des Berges hineingebaut waren,
so daß die rückwärtigen Fenster im zweiten Stock zu ebener Erde lagen.
Ein breiter Torbogen führte zu einem Hof, der zwischen den beiden Flü-
geln lag, und links unter dem Torbogen war der Hauseingang, den man
über ein paar Stufen erreichte. Die Tür stand offen, und Licht strömte
heraus. Über dem Torbogen hing eine Lampe und darunter ein großes
Wirtshausschild: ein fettes, weißes Pony, das sich auf die Hinterbeine
aufbäumt. Über der Tür stand in weißen Buchstaben:

ZUM TÄNZELNDEN PONY, BESITZER
GERSTENMANN BUTTERBLUME.

Aus vielen der unteren
Fenster schimmerte Licht durch dicke Vorhänge.
Als sie noch zögernd draußen in der Dämmerung standen, stimmte
drinnen jemand ein fröhliches Lied an, und viele vergnügte Stimmen
fielen laut im Chor ein. Die Hobbits lauschten diesem ermutigenden Lärm
einen Augenblick und saßen dann von ihren Ponies ab. Das Lied war zu
Ende, und lautes Lachen und Klatschen erscholl.
Sie rührten ihre Ponies unter dem Torbogen durch, ließen sie im Hof
stehen und gingen dann die Stufen hinauf. Frodo ging voran und wäre
fast mit einem untersetzten, dicken Mann mit einer Glatze und einem
roten Gesicht zusammengestoßen. Er trug eine weiße Schürze und stürzte
mit einem Tablett voller Bierkrüge aus einer Tür heraus und durch eine
andere wieder hinein.
»Können wir ...«, begann Frodo.
»Eine, Sekunde, bitte schön«, rief der Mann über die Schulter und ver-
schwand in einem Gewirr von Stimmen und einer Wolke von Rauch.
Einen Augenblick später war er wieder draußen und wischte sich die
Hand an der Schürze ab.
»Guten Abend, kleiner Herr!« sagte er, indem er sich bückte. »Was
habt Ihr für Wünsche?«
»Betten für vier und Unterkunft für fünf Ponies, wenn es sich machen
läßt. Seid Ihr Herr Butterblume?«
»Jawohl, mein Name ist Gerstenmann. Gerstenmann Butterblume zu
Euren Diensten! Ihr seid aus dem Auenland, nicht wahr?« sagte er, und
dann schlug er sich plötzlich auf die Stirn, als ob er versuchte, sich an
etwas zu erinnern. »Hobbits!« rief er. »Was fällt mir denn dabei ein?
Darf ich nach Euren Namen fragen, Herr?«
»Herr Tuk und Herr Brandybock«, stellte Frodo vor. »Und das ist Sam
Gamdschie. Mein Name ist Unterberg.«
»Na, so was«, sagte Herr Butterblume und schnalzte mit den Fingern.
»Nun ist es wieder rutsch! Aber es wird mir wieder einfallen, wenn ich
Zeit zum Nachdenken habe. Ich laufe mir gewiß schon die Hacken ab,
aber ich werde sehen, was ich für Euch tun kann. Wir haben heutzutage
nicht oft Gäste aus dem Auenland, und es würde mir leid tun, wenn ich
Euch nicht aufnehmen könnte. Aber heute abend ist ein derartiger Be-
trieb im Haus, wie wir ihn lange nicht hatten. Wenn es einmal regnet,
dann gießt es gleich, wie wir in Bree sagen.«
»He, Kunz!« schrie er. »Wo steckst du denn, du wollfüßiges Faultier!
Kunz!«
»Komme schon, Herr, komme schon!« Ein vergnügt aussehender Hob-
bit schoß aus einer Tür heraus, und als er die neuen Gäste sah, blieb er
wie angewurzelt stehen und starrte sie höchst neugierig an.
»Wo ist Hinz?« fragte der Wirt. »Das weißt du nicht? Dann such ihn.
Schneller, schneller! Ich habe keine sechs Beine, und sechs Augen auch
nicht! Sage Hinz, da sind fünf Ponies im Stall unterzubringen. Er muß
irgendwie Platz schaffen.« Kunz trottete grinsend und mit den Augen zwin-
kernd davon.
»Ja, was wollte ich denn sagen?« fragte Herr Butterblume und schlug
sich an die Stirn. »Eins verdrängt das andere, sozusagen. Ich habe so viel
um die Ohren heute abend, daß mir der Kopf schwirrt. Da ist eine
Gruppe, die kam gestern nacht den Grünweg von Süden herauf — und
das war schon mal merkwürdig. Dann ist heute abend eine Reisegesell-
schaft von Zwergen gekommen, die nach dem Westen unterwegs ist. Und
jetzt Ihr. Wenn Ihr nicht Hobbits wäret, würde ich Euch wohl nicht un-
terbringen können. Aber wir haben ein paar Zimmer im Nordflügel, die
eigens für Hobbits vorgesehen wurden, als dieses Haus gebaut wurde. Zu
ebener Erde, was sie gewöhnlich schätzen; mit runden Fenstern und
allem, wie sie es gern haben. Ich hoffe. Ihr werdet Euch dort wohlfühlen.
Sicher wollt Ihr Abendessen haben. Sobald es irgend geht. Jetzt hier
lang.«
Er führte sie ein kurzes Stück über einen Gang und öffnete eine Tür.
»Hier ist eine nette kleine Gaststube«, sagte er. »Ich hoffe, es wird recht
sein. Entschuldigt mich jetzt. Ich habe so viel zu tun. Keine Zeit zum
Plaudern. Immer im Trab. Schwere Arbeit für zwei Beine, aber ich werde
nicht dünner. Ich gucke später nochmal herein. Wenn Ihr irgend etwas
wollt, läutet die Handglocke, Kunz wird dann kommen. Wenn er nicht
kommt, läutet und ruft!«
Endlich ging er, und sie fühlten sich ziemlich atemlos. Er schien endlos
reden zu können, wieviel er auch zu tun haben mochte. Sie befanden sich
in einem kleinen, gemütlichen Raum. Im Kamin brannte ein Feuer, und
davor standen ein paar niedrige, bequeme Sessel. Ein runder Tisch war
bereits weiß gedeckt, und auf ihm stand eine große Handglocke. Aber
Kunz, der Hobbit-Hausdiener, kam schon, ehe sie überhaupt daran ge-
dacht hatten, zu läuten. Er brachte Kerzen und ein Tablett mit Tellern.
»Wünschen die Herren etwas zu trinken?« fragte er. »Und soll ich
Euch die Schlafzimmer zeigen, bis das Essen fertig ist?«
Sie hatten sich gewaschen und schon einen kräftigen Zug aus den
hohen Bierkrügen getan, als Herr Butterblume und Kunz wieder erschie-
nen. Im Handumdrehen war der Tisch gedeckt. Es gab heiße Suppe, kaltes
Fleisch, eine Brombeertorte, frisches Brot und Butter und einen halben rei-
fen Käse: gute handfeste Kost, wie sie im Auenland nicht hätte besser
sein können und genügend »wie zu Hause«, um Sams letzte Zweifel zu
zerstreuen (die bereits durch das vortreffliche Bier erheblich besänftigt
waren).
Der Wirt hielt sich eine Weile bei ihnen auf und schickte sich dann
zum Gehen an. »Ich weiß nicht, ob Ihr Euch gern der Gesellschaft an-
schließen würdet, wenn Ihr gegessen habt«, sagte er, als er an der Tür
stand. »Vielleicht würdet Ihr lieber zu Bett gehen. Jedenfalls würde die
Gesellschaft Euch sehr gern begrüßen, wenn Euch der Sinn danach steht.
Wir haben nicht oft Außenseiter hier — Reisende aus dem Auenland
sollte ich wohl sagen, ich bitte um Vergebung; und wir hören gern ein
paar Neuigkeiten oder irgendeine Geschichte oder ein Lied, die Ihr viel-
leicht wißt. Aber wie Ihr wünscht! Läutet die Glocke, wenn irgend etwas
fehlt!«
Am Ende ihrer Mahlzeit (die etwa eine Dreiviertelstunde dauerte und
nicht von unnötigem Gerede unterbrochen wurde) fühlten sich Frodo,
Pippin und Sam so erfrischt und ermutigt, daß sie beschlossen, sich
der Gesellschaft anzuschließen. Merry meinte, es würde langweilig sein.
»Ich werde hier noch eine Weile still und friedlich am Feuer sitzen
bleiben und dann vielleicht noch mal hinausgehen, um ein bißchen Luft
zu schnappen. Hütet eure Zungen und vergeßt nicht, daß eure Flucht ge-
heimbleiben soll und ihr noch auf der großen Straße und nicht weit vom
Auenland seid!«
»Sehr richtig!« sagte Pippin. »Denke selbst daran! Verlauf dich nicht
und vergiß nicht, daß es drinnen sicherer ist.«
Sie gingen hinüber in die große Wirtsstube. Die Gesellschaft war Zahl-
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reich und buntgemischt, wie Frodo feststellte, als seine Augen sich an
das Licht gewöhnt hatten. Es kam hauptsächlich von einem lodernden
Holzfeuer, denn die drei Lampen, die an den Deckenbalken hingen, waren
trübe und halb verschleiert vom Rauch. Gerstenmann Butterblume stand
in der Nähe des Feuers und unterhielt sich mit ein paar Zwergen und
einigen seltsam aussehenden Menschen. Auf den Bänken saß allerlei
Volk: Menschen aus Bree, eine Gruppe ortsansässiger Hobbits (die mit-
einander schwätzten), noch ein paar Zwerge und andere undeutliche Ge-
stalten, die im Schatten und in den Winkeln schlecht zu erkennen waren.
Als die Auenland-Hobbits hereinkamen, wurden sie von den Breelän-
dern im Chor begrüßt. Die Fremden, besonders jene, die den Grünweg
heraufgekommen waren, starrten sie neugierig an. Der Wirt machte sie
mit den Leuten aus Bree bekannt, aber so rasch, daß sie zwar viele Namen
verstanden, aber selten sicher waren, zu wem welcher Name gehörte. Die
Menschen in Bree schienen alle ziemlich botanische (und für Leute aus
dem Auenland merkwürdig klingende) Namen zu haben, etwa Binsen-
licht, Geißblatt, Heidezehen, Affalter, Distelwolle und Farning (ganz zu
schweigen von Butterblume). Einige der Hobbits hatten ähnliche Namen.
Die Labkrauts zum Beispiel schienen zahlreich zu sein. Aber die meisten
Hobbits hätten natürliche Namen wie Hang, Dachsbau, Langhöhlen,
Sandheber und Stollen, von denen viele auch im Auenland gebräuchlich
waren. Es gab mehrere Unterbergs aus Stadel, und da sie sich nicht vor-
stellen konnten, daß jemand denselben Namen hat, ohne verwandt zu
sein, drückten sie Frodo als einen lange verlorenen Vetter ans Herz.
Die Bree-Hobbits waren wirklich sehr freundlich und neugierig, und
Frodo merkte bald, daß er irgendeine Erklärung über sein Tun und Lassen
würde abgeben müssen. Er gab an, er interessiere sich für Geschichte und
Geographie (was viel Kopfschütteln hervorrief, obwohl keins dieser Wör-
ter im Bree-Dialekt oft gebraucht wurde). Er sagte, er denke daran, ein Buch
zu schreiben (woraufhin ringsum verblüfftes Schweigen herrschte), und er
und seine Freunde wollten Unterlagen sammeln über Hobbits, die außer-
halb des Auenlands, besonders in den östlichen Ländern, wohnten.
Darauf erhob sich nun ein Stimmengewirr. Hätte Frodo wirklich ein
Buch schreiben wollen und viele Ohren gehabt, dann hätte er in we-
nigen Minuten genug für mehrere Kapitel erfahren. Und als ob das
noch nicht reichte, erhielt er eine ganze Liste von Leuten, angefangen mit
»der alte Gerstenmann hier«, bei denen er weitere Erkundigungen einzie-
hen könne. Aber nach einiger Zeit, als Frodo keine Anstalten traf, das
Buch auf der Stelle zu schreiben, kehrten die Hobbits zu ihren Fragen
über die Geschehnisse im Auenland zurück. Frodo erwies sich als nicht
sehr mitteilsam, und bald saß er allein in einer Ecke, hörte zu und schaute
sich um.
Die Menschen und Zwerge sprachen hauptsächlich von fernen Er-
eignissen und berichteten Neuigkeiten, die allmählich nur allzu vertraut
wurden. Im Süden gab es Unruhe, und die Menschen, die den Grün-
weg heraufgekommen waren, schienen unterwegs zu sein, um Länder zu
suchen, wo sie etwas Frieden finden würden. Die Leute in Bree waren vol-
ler Mitgefühl, aber offensichtlich nicht sehr darauf erpicht, in ihrem klei-
nen Land Fremde in großer Zahl aufzunehmen. Einer der Reisenden, ein
schielender, häßlicher Bursche, sagte voraus, daß demnächst immer mehr
Leute nach dem Norden kommen würden. »Wenn kein Platz für sie ge-
schaffen wird, werden sie sich selbst welchen schaffen. Sie haben ein
Recht zu leben, genausogut wie andere Leute«, sagte er laut. Die Ortsan-
sässigen zeigten sich nicht gerade erfreut über diese Aussicht.
Die Hobbits schenkten all dem nicht allzu viel Aufmerksamkeit, und
im Augenblick schien es die Hobbits auch nicht zu betreffen. Große
Leute konnten schwerlich um Unterkunft in Hobbithöhlen bitten. Sie fan-
den Sam und Pippin viel interessanter, die sich jetzt ganz wie zu Hause
fühlten und fröhlich über Ereignisse im Auenland plauderten. Pippin er-
regte viel Heiterkeit mit einem Bericht darüber, wie das Dach der Stadt-
höhle in Michelbinge einstürzte: Willi Weißfuß, der Bürgermeister und
fetteste Hobbit im Westviertel, war unter Kalk begraben worden und kam
heraus wie ein bemehlter Kloß. Aber es wurden verschiedene Fragen ge-
stellt, die Frodo etwas beunruhigten. Einer der Breeländer, der offenbar
mehrmals im Auenland gewesen war, wollte wissen, wo die Unterbergs
eigentlich lebten und mit wem sie verwandt seien.
Plötzlich merkte Frodo, daß ein ungewöhnlich aussehender, wetterge-
gerbter Mann, der im Dunkeln an der Wand saß, ebenfalls sehr aufmerk-
sam der Hobbit-Unterhaltung lauschte. Er hatte einen hohen Bierkrug vor
sich und rauchte aus einer seltsam geschnitzten langstieligen Pfeife. Seine
Beine hatte er ausgestreckt, sie steckten in hohen Stiefeln aus weichem
Leder, die ihm wie angegossen saßen, aber sehr abgetragen und jetzt
schmutzverkrustet waren. Er hatte einen fleckigen Mantel aus schwerem,
dunkelgrünem Tuch übergeworfen und trug trotz der Hitze im Raum eine
Kapuze, die sein Gesicht beschattete; aber seine Augen sah man funkeln,
als er die Hobbits beobachtete.
»Wer ist denn das?« fragte Frodo, als er Gelegenheit hatte, mit Herrn
Butterblume zu flüstern. »Den habt Ihr, glaube ich, nicht vorgestellt.«
»Der?« sagte der Wirt und schielte zu ihm hinüber, ohne den Kopf zu
drehen. »Das weiß ich selbst nicht genau. Er ist einer von dem wandem-
den Volk — Waldläufer nennen wir sie. Er redet selten, es sei denn, er er-
zählt, wenn ihm der Sinn danach steht, eine ungewöhnliche Geschichte.
Mal verschwindet er für einen Monat oder ein Jahr, und dann taucht er
plötzlich wieder auf. Im Frühjahr war er ziemlich oft hier; aber in letzter
Zeit hat er sich nicht mehr sehen lassen. Seinen richtigen Namen habe ich
nie gehört; aber hier in der Gegend ist er als Streicher bekannt. Er holt
gut aus mit seinen langen Beinen; obwohl er niemandem sagt, aus wel-
chem Grunde er sich so eilt. Aber es gibt keine Erklärung für Ost und
West, wie wir in Bree sagen, womit die Waldläufer und die Leute im
Auenland gemeint sind, bitte um Vergebung. Komisch, daß Ihr nach
ihm fragt.« Aber in eben diesem Augenblick wurde Herr Butterblume
abgerufen, weil mehr Bier verlangt wurde, und seine letzte Bemerkung
blieb ungeklärt.
Frodo bemerkte, daß Streicher ihn jetzt ansah, als ob er alles, was ge-
sagt worden war, gehört oder erraten habe. Mit einemmal lud er Frodo
mit einer Handbewegung und einem Kopfnicken ein, sich zu ihm zu set-
zen. Als Frodo herüberkam, warf er seine Kapuze zurück und enthüllte
einen strubbeligen Kopf mit dunklem, graudurchzogenem Haar, und in
einem bleichen strengen Gesicht ein Paar scharfe, graue Augen.
»Ich werde Streicher genannt«, sagte er leise. »Ich freue mich. Euch
kennenzulernen, Herr — Unterberg, wenn der alte Butterblume Euren
Namen richtig verstanden hat.«
»Hat er«, sagte Frodo steif. Er fühlte sich keineswegs wohl unter dem
Blick dieser scharfen Augen.
»Nun, Herr Unterberg«, sagte Streicher, »an Eurer Stelle würde ich
verhindern, daß Eure jungen Freunde zu viel reden. Trinken, Feuer und
eine lustige Gesellschaft sind angenehm genug, aber schließlich sind wir
hier nicht im Auenland. Es sind sonderbare Leute unterwegs. Obwohl
vielleicht nicht gerade ich das sagen sollte, werdet Ihr wohl denken«,
fügte er mit einem verzerrten Lächeln hinzu, als er Frodos Blick bemerkte.
»Und in letzter Zeit sind sogar noch merkwürdigere Reisende durch Bree
gekommen«, fuhr er fort und beobachtete dabei Frodos Gesicht.
Frodo erwiderte seinen Blick, sagte aber nichts; und Streicher machte
keine weitere Andeutung. Seine Aufmerksamkeit schien sich plötzlich
Pippin zuzuwenden. Frodo war bestürzt, als er merkte, daß der alberne
junge Tuk, ermutigt durch seinen Erfolg mit dem dicken Bürgermeister
von Michelbinge, jetzt tatsächlich sehr drastisch von Bilbos Abschieds-
feier berichtete. Schon war er bei der Rede angelangt und näherte sich
dem erstaunlichen Verschwinden.
Frodo war ärgerlich. Für die meisten der ortsansässigen Hobbits war
das zweifellos eine ganz harmlose Geschichte: eben etwas Komisches
von den komischen Leuten jenseits des Flusses; aber manche (zum Bei-
spiel der alte Butterblume) wußten das eine oder andere und hatten wahr-
scheinlich schon längst Gerüchte über Bilbos Verschwinden gehört. Es
würde ihnen wieder den Namen Beutlin in Erinnerung rufen, besonders,
wenn in Bree nach diesem Namen geforscht worden war.
Frodo rutschte unruhig hin und her und fragte sich, was zu tun sei.
Pippin genoß offensichtlich das Aufsehen, das er erregte, und hatte ganz
vergessen, in welcher Gefahr sie waren. Frodo befürchtete plötzlich, daß
er in seiner augenblicklichen Stimmung sogar den Ring erwähnen könnte,
und das mochte verhängnisvoll werden.
»Ihr solltet lieber rasch etwas tun«, flüsterte Streicher ihm ins Ohr.
Frodo stand auf, sprang auf einen Tisch und begann zu reden, und
damit war die Aufmerksamkeit der Zuhörer von Pippin abgelenkt. Einige
Hobbits schauten Frodo an, lachten und klatschten und glaubten, Herr
Unterberg habe mehr Bier zu sich genommen, als ihm gut tat.
Frodo kam sich mit einemmal sehr töricht vor und merkte, daß er (wie
es seine Gewohnheit war, wenn er eine Rede hielt) mit den Dingen in sei-
ner Tasche spielte. Er fühlte den Ring an seiner Kette, und unerklärlicher
Weise überkam ihn der Wunsch, ihn aufzustreifen und aus dieser alber-
nen Situation zu verschwinden. Irgendwie hatte er das Gefühl, daß der
Anstoß von außen kam, von irgend jemandem oder irgend etwas im
Raum. Er widerstand der Versuchung entschlossen und umklammerte den
Ring mit der Hand, als wollte er ihn festhalten und verhindern, daß er
sich davonmache oder irgendein Unheil anrichte. Eine Anregung vermit-
telte er ihm jedenfalls nicht. Er sprach »ein paar passende Wort«, wie
man im Auenland gesagt hätte: Wir sind alle sehr dankbar für die
freundliche Aufnahme, und ich wage zu hoffen, daß mein kurzer Besuch
die alten Bande der Freundschaft zwischen Bree und dem Auenland wie-
der neu knüpfen wird;
und dann zögerte er und hustete.
Jeder im Raum sah ihn jetzt an. »Ein Lied!« rief einer der Hobbits.
»Ein Lied! Ein Lied!« riefen alle anderen. »Los nun, Herr, singt uns
etwas, was wir noch nicht gehört haben!«
Einen Augenblick stand Frodo mit offenem Mund da. Dann stimmte er
in seiner Verzweiflung ein lächerliches Lied an, das Bilbo recht gern ge-
habt hatte (und auf das er sogar ziemlich stolz gewesen war, denn den
Text hatte er selbst verfaßt). Es handelte von einem Gasthaus; und das
war vermutlich der Grund, warum es Frodo gerade einfiel. Hier ist der
volle Wortlaut. Heutzutage sind zumeist nur noch ein paar Worte davon
in Erinnerung.

Ein alter Krug, ein fröhlicher Krug
Lehnt grau am grauen Hang.
Dort brauen sie ein Bier so braun,
Daß selbst der Mann im Mond kam schaun

Und lag im Rausche lang.
Der Stallknecht hat einen Kater — miau! —
Der streicht im Suff die Fiedel.
Sein Bogen sägt die Saiten quer,
Mal quietscht es laut, mal brummt es sehr

Von seinem grausigen Liedel.
Der Schankwirt hält sich einen Hund,
Der hat viel Sinn für Spaß.
Geht's in der Stube lustig her,
Spitzt er das Ohr und freut sich sehr

Und. lacht und lacht sich was!
Auch haben sie eine Hörnerkuh,
Stolz wie ein Königskind,
Der steigt Musik wie Bier zu Kopf,
Sie schwenkt den Schwanz bis hin zum Schöpf

Und tanzt, das gute Rind.
Und erst das silberne Geschirr
Und Löffel haufenweis!
Am Sonntag kommt das Beste dran,
Das fangen sie schon am Samstag an

Zu putzen voller Fleiß.
Der Mann im Mond trank noch eine Maß
Der Kater jaulte laut,
Es tanzten Teller und Besteck,
Die Kuh schlug hinten aus vor Schreck,

Der Hund war nicht erbaut.
Der Mann im Mond trank noch eine Maß
Und rollte sanft vom Faß;
Dann schlief er und träumte von braunem Bier
Am Himmel standen nur noch vier,

Vier Sterne morgenblaß.
Da rief der Knecht seiner blauen Katz:
»Die Mondschimmel schäumen schon
Und beißen auf den Trensen herum,
Der Mondmann aber, der liegt krumm,

Und bald geht auf die Sonn'!

Da spielte der Kater hei-didel-dum-didel,
Als rief er die Toten herbei;
Er sägte ganz jämmerlich schneller und schneller,
Der Wirt rief: 'He, Mann!
Es wird heller und heller,
Schon längst schlug die Glocke drei!

Sie rollten ihn mühsam den Hang hinan
Und plumps! in den Mond hinein,
Die Mondschimmel — hui! — gingen durch vor Schreck,
Die Kuh wurde toll, und das Silberbesteck

Das tanzte Ringelreihn.
Beim Didel-dum-didel der Jammerfiedel
Jaulte das Hündlein sehr,
Da standen die Kuh und die Rösser köpf,
Die Gäste soffen aus Tasse und Topf

Und ließen die Betten leer.
Da riß die Saite und plötzlich sprang
Die Kuh übern Mond ins Gras,
Das Hündlein lachte und freute sich schon,
Doch das Samstagsgeschirr klirrte schamlos davon

Mit Sonntagslöffel und -glas.
Der Vollmond rollte hinter den Hang,
Die Sonne erhob ihr Haupt.
Da gingen die Leute am hellichten Tag
Zu Bett — welch verrückter Menschenschlag!

Das hätte sie nie geglaubt!

Es gab langanhaltenden und lauten Beifall. Frodo hatte eine gute
Summe; und das Lied war ganz nach ihrem Geschmack gewesen. »Wo ist
der alte Gerstenmann?« schrien sie. »Das muß er hören. Hinz soll seiner
Katze das Fiedeln beibringen, und dann spielt sie uns zum Tanz auf.« Sie
riefen nach mehr Bier und begannen zu brüllen: »Singt es noch einmal,
Herr! Kommt schon! Noch einmal!«
Sie nötigten Frodo, noch etwas zu trinken und dann das Lied nochmal
zu beginnen, und viele von ihnen stimmten mit ein; denn die Melodie war
wohlbekannt, und Verse lernten sie rasch. Jetzt war Frodo an der Reihe, sich
geschmeichelt zu fühlen. Er kletterte auf einen Tisch, und als er das zweite
Mal bei Sprang die Kuh übern Mond angelangt war, machte er einen
Luftsprung. Viel zu schwungvoll, denn er landete, peng, auf einem Tablett
voller Bierkrüge, rutschte aus und rollte mit einem Krachen, Klirren und
einem Bums unter den Tisch. Die Zuhörer sperrten schon den Mund auf,
um herzhaft zu lachen, hielten plötzlich an und starrten ohne einen Laut;
denn der Sänger war verschwunden. Er war einfach weg, als sei er gera-
dewegs durch den Fußboden gegangen, ohne ein Loch zu hinterlassen!
Die ortsansässigen Hobbits saßen völlig verblüfft da, dann sprangen sie
auf und riefen nach Gerstenmann. Die ganze Gesellschaft zog sich von
Pippin und Sam zurück, die allein in einer Ecke sitzenblieben und aus
einigem Abstand finster und zweifelnd beäugt wurden. Es war klar, daß
viele Leute sie jetzt für die Gefährten eines wandernden Zauberers mit
unbekannten Fähigkeiten und Absichten hielten. Aber da war ein
schwärzlicher Breeländer, der sah sie mit einem so wissenden und halb
spöttischen Ausdruck an, daß ihnen ganz unbehaglich wurde. Plötzlich
schlüpfte er zur Tür hinaus, gefolgt von dem schielenden Südländer: die
beiden hatten den Abend über eine ganze Menge zusammen getuschelt.
Hinter ihnen ging auch Heinrich, der Torwächter, hinaus.
Frodo kam sich sehr töricht vor. Da er nicht wußte, was er sonst tun
sollte, krabbelte er unter den Tischen hindurch in die dunkle Ecke zu
Streicher, der ungerührt dasaß und nicht erkennen ließ, was er dachte.
Frodo lehnte sich an die Wand und zog den Ring ab. Wie er auf seinen
Finger geraten war, konnte er nicht sagen. Er konnte sich nur vorstellen,
daß er in der Tasche mit ihm gespielt hatte, während er sang, und daß er
irgendwie hinaufgerutscht war, als er die Hand ruckartig ausstreckte, um
sich beim Sturz abzustützen. Einen Augenblick fragte er sich, ob ihm
nicht der Ring selbst einen Streich gespielt habe; vielleicht hat er ver-
sucht, sich bemerkbar zu machen, um einem Wunsch oder Befehl zu ent-
sprechen, den er im Raum spürte. Ihm gefielen die Männer nicht, die hin-
ausgegangen waren.
»Nun?« sagte Streicher, als Frodo wieder sichtbar war. »Warum habt
Ihr das getan? Es war schlimmer als alles, was Eure Freunde hätten sagen
können. Jetzt seid Ihr mit Eurem Fuß ins Fettnäpfchen geraten, oder sollte
ich sagen: mit Eurem Finger?«
»Ich weiß nicht, was Ihr meint«, sagte Frodo, verärgert und beunru-
higt.
»O doch, das wißt Ihr«, antwortete Streicher. »Aber wir wollen lieber
warten, bis sich der Aufruhr gelegt hat. Dann, wenn's recht ist, Herr
Beutlin, würde ich gern in aller Ruhe ein Wort mit Euch reden.«
»Worüber?« fragte Frodo und hörte über die plötzliche Verwendung
seines richtigen Namens hinweg.
»Über eine Sache von einiger Bedeutung — für uns beide«, antwortete
Streicher und sah Frodo in die Augen. »Es mag sein, daß Ihr etwas hört,
was von Nutzen für Euch ist.«
»Sehr schön«, sagte Frodo; er versuchte, unbeteiligt zu erscheinen. »Ich
werde später mit Euch reden.«
Am Kamin fand derweil eine Auseinandersetzung statt. Herr Butter-
blume war hereingekommen und bemühte sich jetzt, verschiedenen wider-
sprechenden Berichten über das Ereignis gleichzeitig zu folgen.
»Ich sah ihn, Herr Butterblume«, sagte ein Hobbit. »Oder vielmehr, ich
sah ihn nicht, wenn Ihr versteht, was ich meine. Er hat sich einfach in
Luft aufgelöst, sozusagen.«
»Was Ihr nicht sagt, Herr Labkraut!« sagte der Wirt, der ganz verstört
aussah.
»Doch«, beteuerte Labkraut. »Und ich meine es wortwörtlich, was noch
mehr heißen will.«
»Da liegt irgendein Irrtum vor«, sagte Butterblume und schüttelte den
Kopf. »Dieser Herr Unterberg war viel zu leibhaftig, als daß er sich ein-
fach in Luft auflösen könnte.«
»Ja, wo ist er denn dann?« schrien verschiedene Stimmen.
»Woher soll ich das wissen? Er kann gehen, wohin er will, vorausge-
setzt, daß er am Morgen seine Rechnung bezahlt. Da ist Herr Tuk: der ist
nicht verschwunden.«
»Na, was ich gesehen habe, habe ich gesehen«, erklärte Labkraut hart-
näckig.
»Und ich sage, da liegt ein Irrtum vor«, wiederholte Butterblume,
nahm das Tablett und sammelte das zerbrochene Geschirr auf.
»Natürlich ist es ein Irrtum«, sagte Frodo. »Ich bin nicht verschwun-
den. Hier bin ich ja. Ich habe nur ein paar Worte mit Streicher da in der
Ecke gewechselt.«
Er trat nach vom in den Schein des Kaminfeuers; aber die Mehrzahl
der Anwesenden wich vor ihm zurück und war sogar noch befremdeter
als vorher. Seine Erklärung, daß er nach seinem Sturz rasch unter den
Tischen durchgekrochen sei, befriedigte sie nicht im geringsten. Die mei-
sten Hobbits und Menschen aus Bree waren verstimmt und gingen sofort
nach Hause, an diesem Abend stand ihnen der Sinn nicht mehr nach
Unterhaltung. Ein oder zwei warfen Frodo einen finsteren Blick zu und
murmelten etwas vor sich hin, als sie aufbrachen. Die Zwerge und die
zwei oder drei fremden Menschen, die noch geblieben waren, standen auf
und sagten dem Wirt gute Nacht, nicht aber Frodo und seinen Freunden.
Es dauerte nicht lange, da war nur noch Streicher da, der unbeachtet an
der Wand saß.
Herr Butterblume schien die Fassung nicht verloren zu haben. Er rech-
nete sich sehr wahrscheinlich aus, daß sein Haus an vielen zukünftigen
Abenden wieder voll sein würde, bis das jetzige Rätsel gründlich durch-
gesprochen wäre. »Na, was habt Ihr denn bloß gemacht, Herr Unter-
berg?« fragte er. »Mit Eurer Akrobatik habt Ihr meine Gäste erschreckt
und mein Geschirr zerbrochen!«
»Es tut mir sehr leid, daß ich Unruhe gestiftet habe«, sagte Frodo. »Es
war ganz unbeabsichtigt, das versichere ich Euch. Ein höchst bedauer-
liches Mißgeschick.«
»Schon gut, Herr Unterberg! Aber wenn Ihr Euch mal wieder als
Akrobat oder Zauberkünstler oder was immer es war betätigen wollt,
dann warnt die Leute vorher — und warnt mich. Wir sind hier ein biß-
chen mißtrauisch gegen alles, was ungewöhnlich ist — nicht ganz geheuer,
wenn Ihr versteht, was ich meine; und so plötzlich können wir uns nicht
dran gewöhnen.«
»Ich werde nichts dergleichen wieder tun, Herr Butterblume, das ver-
spreche ich. Und jetzt werde ich wohl ins Bett gehen. Wir wollen früh
aufbrechen. Würdet Ihr bitte dafür sorgen, daß unsere Ponies um acht
Uhr bereit sind?«
»Sehr gut! Aber ehe Ihr geht, hätte ich Euch gern noch unter vier
Augen gesprochen, Herr Unterberg. Mir ist gerade etwas wieder eingefal-
len, das ich Euch sagen sollte. Ich hoffe. Ihr werdet es nicht übelnehmen.
Ich habe noch ein paar Kleinigkeiten zu erledigen, dann komme ich in
Euer Zimmer, wenn's recht ist.«
»Gewiß!« sagte Frodo; aber ihm wurde schwer ums Herz. Er fragte
sich, wieviel Gespräche unter vier Augen ihm vor dem Schlafengehen
noch bevorstünden und was sich dabei herausstellen würde. Hatten sich
diese Leute alle gegen ihn verbündet? Ihm kam der Verdacht, ob sich
nicht selbst hinter dem fetten Gesicht des alten Butterblume finstere Ab-
sichten verbergen.

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