ZEHNTES KAPITEL
DIE ENTSCHEIDUNGEN VON MEISTER SAMWEIS
Frodo lag, mit dem Gesicht nach oben, auf dem Boden, und das Unge-
tüm beugte sich über ihn, so versessen auf sein Opfer, daß es auf Sam
und sein Rufen nicht achtete, bis er ganz nahe war. Als er herbeistürzte,
sah er, daß Frodo schon gefesselt war, die gewaltigen Spinnfäden umwan-
den ihn von den Knöcheln bis zur Schulter, und das Ungetüm begann, ihn
mit seinen großen Vorderpfoten halb hochzuheben und halb wegzuschlei-
fen.
Zwischen Sam und Frodo lag, auf dem Boden schimmernd, Frodos
Elbenklinge, wo sie ihm nutzlos aus der Hand gefallen war. Sam nahm
sich nicht die Zeit, um zu überlegen, was zu tun sei, oder ob er tapfer
oder treu oder zornerfüllt sei. Mit einem Schrei sprang er vor und packte
das Schwert seines Herrn mit der Linken. Dann griff er an. Kein wüten-
derer Ansturm war je in der wilden Welt der Tiere gesehen worden, wo
irgendein verzweifeltes kleines Geschöpf, mit winzigen Zähnen bewaffnet,
einen Turm aus Horn und Fell anspringt, der über seinem gefallenen Ge-
fährten aufragt.
Als ob Kankra durch seinen schwachen Schrei aus irgendeinem hämi-
schen Traum aufgescheucht worden sei, wandte sie langsam die entsetz-
liche Bosheit ihres Blicks auf ihn. Aber fast ehe sie gewahr wurde, daß
ein größerer Zorn, als sie ihn in unzähligen Jahren je erlebt hatte, sie an-
griff, schnitt ihr das schimmernde Schwert in den Fuß und hieb die Klaue
ab. Sam sprang hinein in die Wölbungen ihrer Beine, und mit einem
raschen Stoß mit der anderen Hand stach er nach den Trauben von
Augen auf ihrem gesenkten Kopf. Ein großes Auge wurde dunkel.
Jetzt war das elende Geschöpf genau unter ihr und im Augenblick
außer Reichweite ihres Stachels und ihrer Klauen. Ihr gewaltiger Leib mit
seinem fauligen Leuchten war über ihm, und der Gestank warf ihn fast
um. Seine Wut reichte indes noch für einen zweiten Hieb, und ehe sie sich
auf ihn fallen lassen konnte, um ihn und seinen ganzen kleinen unver-
schämten Mut zu zermalen, zog er ihr mit verzweifelter Kraft die schim-
mernde Elbenklinge über.
Aber Kankra war nicht wie Drachen, keine weichere Stelle hatte sie
außer ihren Augen. Knotig und narbig war ihre uralte Haut, aber von in-
nen heraus immer dicker geworden durch eine böse wuchernde Schicht
nach der anderen. Die Klinge riß ihr eine furchtbar klaffende Wunde,
aber diese abscheulichen Falten konnten von keiner Menschenkraft durch-
bohrt werden, nicht einmal, wenn Elb oder Zwerg die Waffe geschmiedet
oder die Hand von Beren oder Túrin sie geführt hätte. Sie wich zurück
vor dem Streich und hob dann den großen Sack ihres Bauches hoch über
Sams Kopf. Gift schäumte und sprudelte aus der Wunde. Jetzt spreizte sie
ihre Beine und drückte ihren gewaltigen Körper wieder auf ihn hinunter.
Zu früh. Denn Sam stand noch auf den Beinen; er ließ sein eigenes
Schwert fallen und hielt mit beiden Händen die Elbenklinge mit der
Spitze nach oben hoch, um das grausige Dach abzuwehren; und so stieß
Kankra sich selbst mit der treibenden Kraft ihres eigenen grausamen Wil-
lens, mit einer Kraft, die größer war als die irgendeines Recken, auf einen
schneidenden Dorn. Tief, tief stach er, während Sam langsam zu Boden
gedrückt wurde.
Niemals in ihrer ganzen alten Welt der Bosheit hatte Kankra einen sol-
chen Schmerz erfahren oder sich träumen lassen, daß sie ihn erfahren
würde. Nicht der beherzteste Krieger des alten Gondor noch der wildeste
Ork, der ihr in die Fänge geraten war, hatten ihr jemals solchen Wider-
stand geleistet oder die Waffe gegen ihr geliebtes Fleisch gerichtet. Ein
Schauer überlief sie. Sie hob sich wieder hoch, entwand sich dem
Schmerz, zog ihre gekrümmten Glieder unter sich und machte einen
krampfhaften Satz rückwärts.
Sam war neben Frodos Kopf auf die Knie gefallen, ihm schwanden die
Sinne in dem üblen Gestank, mit beiden Händen hatte er noch den
Schwertgriff gepackt. Durch den Nebel vor seinen Augen gewahrte er
undeutlich Frodos Gesicht, und hartnäckig mühte er sich, sich wieder in
die Gewalt zu bekommen und sich der Ohnmacht zu entziehen, die ihn
umfing. Langsam hob er den Kopf und sah sie, nur ein paar Schritte ent-
fernt, wie sie ihn beäugte. Aus ihrem Rüssel rann giftiger Speichel, und
eine grüne Flüssigkeit tröpfelte unter ihrem verwundeten Auge heraus.
Da kauerte sie, ihr bebender Bauch flach auf dem Boden, die großen
Bögen ihrer Beine zitternd, während sie sich zu einem neuen Sprung sam-
melte — diesmal, um zu zermalmen und totzustechen: nicht bloß ein klein
wenig Gift, um ihr zappelndes Opfer zur Ruhe zu bringen; diesmal um es
zu töten und dann in Stücke zu reißen.
Während auch Sam sich hinkauerte und, als er sie anschaute, seinen
Tod in ihren Augen sah, kam ihm ein Gedanke, als ob eine ferne Stimme
gesprochen habe, und er stöberte mit der linken Hand in seiner Brustta-
sche und fand, was er suchte: kalt und hart und fest kam sie ihm bei der
Berührung in einer gespenstischen Welt des Schreckens vor: Galadriels
Phiole.
»Galadriel!« sagte er schwach, und dann hörte er fern, aber deutlich
Stimmen: die Rufe der Elben, die unter den Sternen in den geliebten
Schatten des Auenlandes wanderten, und die Musik der Elben, die er im
Schlaf in der Halle des Feuers in Elronds Haus vernommen hatte.
Gilthoniel A Elbereth!
Und dann löste sich seine Zunge, und seine Stimme rief in einer Sprache,
die er nicht kannte:
A Elbereth Gilthoniel
o menel palan-diriel,
le nailon si di 'nguruthos!
A tiro nin, Fanuilos!
Und damit stand er taumelnd auf und war wieder Samweis, der Hobbit,
Hamfasts Sohn.
»Nun komm, du Scheusal!« rief er. »Du hast meinen Herrn verletzt, du
Untier, und dafür wirst du bezahlen. Wir gehen weiter, aber erst rechnen
wir mit dir ab. Komm und versuch es nochmal!«
Als ob sein unbezwingbarer Mut die Wirkungskraft des Glases in
Gang gesetzt hätte, leuchtete es plötzlich in seiner Hand wie eine weiße
Fackel. Es flammte auf wie eine Sternschnuppe, die das dunkle Himmels-
zelt mit unerträglicher Helligkeit durchschneidet. Kein solcher Schrecken
aus dem Himmel hatte je zuvor in Kankras Gesicht gebrannt. Seine Strah-
len drangen in ihren verwundeten Kopf ein und durchschnitten ihn mit
unerträglichem Schmerz, und die entsetzliche Seuche des Lichts griff von
Auge zu Auge über. Sie fiel zurück, ihre Vorderfüße zuckten in der Luft,
ihr Augenlicht versengt von inneren Blitzen, ihr Geist gepeinigt. Dann
wandte sie ihren verletzten Kopf ab, rollte sich zur Seite und begann,
Klaue um Klaue, zur Öffnung in der dunklen Felswand hinten zu krie-
chen.
Sam griff an. Er schwankte wie ein Betrunkener, aber er griff an. Und
Kankra war endlich entmutigt, zusammengeschrumpft in der Niederlage,
und sie zuckte und zitterte, als sie versuchte, vor ihm davonzueilen. Sie
erreichte die Höhle, preßte sich an den Boden, hinterließ eine grün-gelbe
Schleimspur und schlüpfte hinein, als Sam gerade einen letzten Hieb ge-
gen ihre nachschleppenden Beine führte. Dann fiel er zu Boden.
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Kankra war fort; und ob sie lange in ihrer Höhle liegen blieb, ihre Bos-
heit und ihren Schmerz nährte und in langsam vergehenden Jahren der
Dunkelheit von innen heraus genas und ihre traubenförmigen Augen
heilten, bis sie wiederum mit todbringender Gier ihre entsetzlichen Fall-
stricke in den Schluchten des Schattengebirges spann, berichtet diese Er-
zählung nicht.
Sam war allein. Als sich der Abend des Namenlosen Landes auf das
Kampffeld senkte, kroch er müde zu seinem Herrn zurück. »Herr, lieber
Herr«, sagte Sam und wartete während einer langen Stille und lauschte
vergeblich.
So schnell er konnte, schnitt er dann die fesselnden Stricke auf und
legte Frodo den Kopf auf die Brust und an seinen Mund, aber keine
Lebensregung konnte er feststellen und auch nicht das schwächste Flat-
tern des Herzens spüren. Oft rieb er seines Herrn Hände und Füße und
berührte seine Stirn, aber alles war kalt.
»Frodo, Herr Frodo!« rief er. »Laß mich hier nicht allein! Dein Sam
ruft. Geh nicht dorthin, wohin ich dir nicht folgen kann! Wach auf, Herr
Frodo! Oh, wach doch auf, Frodo, mein lieber, lieber Frodo. Wach auf!«
Dann wallte Zorn in ihm auf, und in einem Anfall von Raserei rannte
er um den Körper seines Herrn herum, stach in die Luft, schlug auf Steine
und schrie Herausforderungen. Mit einemmal kam er zurück, beugte sich
nieder und betrachtete Frodos Gesicht, bleich unter ihm in der Dunkel-
heit. Und plötzlich sah er, daß er in dem Bild war, das ihm in Galadriels
Spiegel in Lórien gezeigt worden war: Frodo lag fest schlafend mit blei-
chem Gesicht unter einer großen, dunklen Felswand. Oder fest schlafend,
wie er damals glaubte. »Er ist tot«, sagte er, »Er schläft nicht, er ist
tot!«
Und als ob seine Worte das Gift wieder wirksam gemacht hätten, schien
es ihm, daß die Farbe des Gesichts grünlich fahl wurde.
Und dann überkam ihn schwarze Verzweiflung, und Sam beugte sich
zum Boden und zog seine graue Kapuze über den Kopf, und es wurde
Nacht in seinem Herzen, und er wußte nichts mehr.
Als endlich die Schwärze vorüberzog, schaute Sam auf, und Schatten
waren rings um ihn; aber wie viele Minuten oder Stunden sich die Welt
dahingeschleppt hatte, wußte er nicht. Er war noch an derselben Stelle,
und sein Herr lag immer noch tot neben ihm. Die Berge waren nicht ein-
gestürzt und die Erde nicht untergegangen.
»Was soll ich nur tun? Was soll ich nur tun?« sagte er. »Bin ich den
ganzen Weg mit ihm hierher gekommen für nichts und wieder nichts?«
Und dann erinnerte er sich seiner eigenen Stimme; sie hatte zu Beginn
ihrer Wanderung Worte gesprochen, die er damals selbst nicht verstand:
Ich habe noch etwas zu tun, ehe alles vorbei ist. Ich muß es durch-
schauen, Herr, wenn du mich verstehst.
»Aber was kann ich tun? Doch nicht Herrn Frodo tot und unbegraben
hoch oben auf dem Gebirge verlassen und nach Hause gehen? Oder wei-
tergehen? Weitergehen?« wiederholte er, und einen Augenblick packten
ihn Zweifel und Angst. »Weitergehen? Muß ich das tun? Und ihn verlas-
sen?«
Dann endlich begann er zu weinen; und er ging zu Frodo, legte ihn
ordentlich hin, faltete ihm die kalten Hände auf der Brust und hüllte ihn
in seinen Mantel; und er legte sein eigenes Schwert auf eine Seite und den
Stock, das Geschenk von Faramir, auf die andere.
»Wenn ich weitergehen soll«, sagte er, »dann muß ich dein Schwert
nehmen, wenn du erlaubst, Herr Frodo, aber ich lege dieses neben dich,
wie es neben dem alten König in dem Hügelgrab gelegen hatte; und du
hast dein schönes Mithril-Panzerhemd vom alten Herrn Bilbo. Und dein
Sternenglas, Herr Frodo, das hast du mir geliehen, und ich werde es brau-
chen, denn ich werde jetzt immer im Dunkeln sein. Es ist zu gut für mich,
und die Herrin hat es dir geschenkt, aber vielleicht wird sie es verstehen.
Versteht du es, Herr Frodo? Ich muß weitergehen.«
Aber er konnte nicht gehen, noch nicht. Er kniete nieder und nahm
Frodos Hand und konnte sie nicht loslassen. Und die Zeit verging, und er
kniete immer noch, hielt die Hand seines Herrn und führte in seinem In-
neren eine Auseinandersetzung.
Jetzt versuchte er, Kraft zu finden, um sich loszureißen und auf eine
einsame Wanderung zu gehen — um Rache zu nehmen. Wenn er erst ein-
mal gehen konnte, dann würde seine Wut ihn über alle Straßen der Welt
bringen, ihn verfolgend, bis er ihn endlich hatte: Gollum. Dann würde
Gollum in irgendeinem heimlichen Winkel sterben. Aber das war es
nicht, was zu tun er ausgezogen war. Es würde sich nicht lohnen, deswe-
gen seinen Herrn zu verlassen. Es würde ihn nicht zurückbringen. Nichts
würde ihn zurückbringen. Es wäre besser, sie wären beide tot. Und auch
das würde eine einsame Wanderung sein.
Er schaute auf die glänzende Spitze des Schwerts. Er dachte an die Orte
hinten, wo es einen schwarzen Grat gab und einen leeren Sturz ins
Nichts. Auf diesem Weg gab es kein Entkommen. Das bedeutete nichts
tun, nicht einmal Rache üben. Das war es nicht, was zu tun er ausgezogen
war. »Was soll ich denn tun?« rief er wieder, und jetzt schien er die bit-
tere Antwort genau zu wissen: es zu durchschauen. Auch eine einsame
Wanderung, und die schlimmste.
»Was? Ich allein soll zu den Schicksalsklüften gehen und das alles?« Er
zagte noch, aber die Entschlossenheit wuchs. »Was? Ich soll ihm
den Ring
abnehmen? Der Rat hat ihn ihm gegeben.«
Doch die Antwort kam sofort: »Und der Rat hat ihm Gefährten mit-
gegeben, damit der Auftrag nicht scheitern sollte. Und du bist der Letzte
der ganzen Gemeinschaft. Der Auftrag darf nicht scheitern.«
»Ich wünschte, ich wäre nicht der Letzte«, stöhnte er. »Ich wünschte,
der alte Gandalf wäre hier, oder sonst jemand. Warum bin ich ganz allein
übriggeblieben, um einen Entschluß zu fassen? Ich mache es bestimmt
verkehrt. Und es ist nicht meine Sache, den Ring zu nehmen und mich
vorzudrängeln.«
»Aber du hast dich nicht vorgedrängelt; du bist vorgeschoben worden.
Und was das betrifft, daß du nicht der richtige oder passende Träger bist,
nun, Herr Frodo war es nicht, könnte man sagen, und Herr Bilbo auch
nicht. Sie hatten sich nicht selbst ausgewählt.«
»Nun ja, ich muß selbst einen Entschluß fassen. Und ich werde ihn fas-
sen. Aber ich werde es bestimmt verkehrt machen: das würde Sam
Gamdschie ähnlich sehen.
Nun will ich mal überlegen: wenn wir hier gefunden werden oder Herr
Frodo gefunden wird und er hat das Ding bei sich, dann wird der Feind es
bekommen. Und das ist das Ende von uns allen, von Lórien und Bruchtal
und vom Auenland und von allem. Und es ist keine Zeit zu verlieren,
sonst ist es sowieso das Ende. Der Krieg hat begonnen, und es ist mehr
als wahrscheinlich, daß die Dinge für den Feind schon gut stehen. Keine
Möglichkeit, mit Ihm zurückzugehen und Rat oder Erlaubnis einzuholen.
Nein, entweder hier sitzen, bis sie kommen und mich auf der Leiche des
Herrn töten und Ihn bekommen; oder Ihn nehmen und gehen.« Er holte
tief Luft. »Dann heißt es: Ihn nehmen!«
Er bückte sich. Sehr sanft machte er die Spange am Hals auf und fuhr
mit der Hand in Frodos Rock; mit der anderen Hand hob er dann seinen
Kopf, küßte die kalte Stirn und zog leicht die Kette über ihn. Und dann
legte er den Kopf still wieder hin. Keine Veränderung zeigte sich auf dem
ruhigen Gesicht, und dadurch war Sam mehr als durch alle anderen Zei-
chen endlich überzeugt, daß Frodo gestorben war und die Aufgabe abge-
geben hatte.
»Leb wohl, Herr, mein Lieber«, murmelte er. »Verzeih deinem Sam. Er
wird an diese Stelle zurückkommen, wenn die Aufgabe erledigt ist —
wenn er es schafft. Und dann wird er dich nicht wieder verlassen. Ruhe
hier, bis ich komme; und möge kein böses Geschöpf dir nahekommen!
Wenn die Herrin mich hören könnte und mir einen Wunsch erfüllte, dann
würde ich mir wünschen, daß ich zurückkomme und dich hier wieder
finde. Leb wohl!«
Und dann beugte er selbst den Hals und streifte die Kette über, und
sofort wurde sein Kopf durch das Gewicht des Ringes zum Boden gezo-
gen, als ob ihm ein großer Stein umgebunden worden wäre. Aber lang-
sam, als ob das Gewicht geringer werde oder eine neue Kraft in ihm er-
wachse, hob er den Kopf, und mit einer großen Anstrengung stand er
dann auf und merkte, daß er gehen und seine Last tragen konnte. Und
einen Augenblick hob er die Phiole hoch und blickte hinab auf seinen
Herrn, und das Licht brannte jetzt sanft mit dem milden Strahlen des
Abendsterns im Sommer, und in diesem Licht hatte Frodos Gesicht wie-
der eine schöne Farbe, bleich, aber von einer elbischen Schönheit wie bei
einem, der schon lange die Schatten durchwandert hatte. Und mit dem
schmerzlichen Trost dieses letzten Anblicks wandte sich Sam ab, verbarg
das Licht und schwankte in die zunehmende Dunkelheit.
Er brauchte nicht weit zu gehen. Der Gang lag ein Stück hinter ihm, die
Schlucht ein paar hundert Ellen oder weniger vor ihm. Der Pfad war in der
Düsternis sichtbar, eine tiefe Spur, ein in unendlichen Zeiten ausgetretener
Weg, der nun in einer langgestreckten Mulde mit Felswänden auf beiden
Seiten sanft hinaufführte. Die Mulde verengte sich rasch. Bald kam Sam zu
einer langen Treppe mit flachen Stufen. Der Orkturm war jetzt rechts über
ihm, und das rote Licht in ihm glühte noch. Sam war in dem dunklen
Schatten darunter verborgen. Er erreichte das obere Ende der Treppe und
war nun endlich in der Schlucht.
»Ich habe meinen Entschluß gefaßt«, sagte er dauernd zu sich selbst.
Aber das hatte er nicht. Obwohl er sein Möglichstes getan hatte, es sich
gut zu überlegen, so ging ihm das, was er tat, doch durchaus gegen den
Strich. »Habe ich es falsch gemacht?« murmelte er. »Was hätte ich tun
sollen?«
Als die Steilwände der Schlucht ihn einschlössen, ehe er den eigent-
lichen Gipfel erreichte, ehe er endlich den Pfad erblickte, der in das
Namenlose Land hinunterführte, wandte er sich um. Einen Augenblick
schaute er zurück, in unerträglichem Zweifel befangen. Wie einen kleinen
Fleck in der zunehmenden Düsternis konnte er noch die Öffnung des
Ganges sehen; und er glaubte zu sehen oder zu erraten, wo Frodo lag. Er
bildete sich ein, dort unten sei ein schwacher Schimmer auf dem Boden,
oder vielleicht täuschten ihn seine Tränen, als er hinunterschaute auf die-
sen hohen, steinigen Ort, wo sein ganzes Leben in Trümmer gegangen
war.
»Wenn mir nur mein Wunsch erfüllt werden könnte, mein einziger
Wunsch«, seufzte er, »zurückzugehen und ihn wiederzufinden!« Dann
endlich wandte er sich um zu dem Weg vor ihm und machte ein paar
Schritte: die schwersten und widerstrebendsten, die er je getan hatte.
Nur ein paar Schritte; und jetzt nur noch ein paar weitere, und dann
würde er hinuntergehen und diese Höhe nie wiedersehen. Und dann
plötzlich hörte er Schreien und Stimmen. Er stand mucksmäuschenstill.
Orkstimmen. Sie waren vor ihm und hinter ihm. Ein Geräusch von
stampfenden Füßen und mißtönenden Rufen: Orks kamen zur Schlucht
herauf von der anderen Seite, vielleicht von irgendeinem Eingang zum
Turm. Stampfende Füße und Rufe hinter ihm. Er fuhr herum. Er sah
kleine rote Lichter, Fackeln, die dort unten blinkten, als sie aus dem Gang
kamen. Endlich war die Jagd im Gange. Das rote Auge des Turms war
nicht blind gewesen. Er war gefangen.
Jetzt war das Flackern der sich nähernden Fackeln und das Klirren von
Waffen vor ihm sehr nah. In einer Minute würden sie den Gipfel errei-
chen und ihn erwischen. Er hatte zu lange gebraucht, seinen Entschluß zu
fassen, und jetzt nützte er nichts mehr. Wie konnte er entkommen oder
sich retten oder den Ring retten? Der Ring. Er war sich keines Gedankens
und keiner Entscheidung bewußt. Er merkte nur, daß er die Kette heraus-
zog und den Ring in die Hand nahm. Die Spitze der Orkgruppe tauchte in
der Schlucht vor ihm auf. Da streifte er ihn über.
Die Welt veränderte sich, und ein einziger Augenblick war angefüllt
mit einer Stunde des Denkens. Sofort wurde er gewahr, daß das Gehör
sich schärfte, während das Sehvermögen abnahm, aber anders als in Kan-
kras Höhle. Alle Dinge um ihn waren jetzt nicht dunkel, sondern ver-
schwommen; dabei war er selbst in einer grauen, dunstigen Welt, allein,
wie ein kleiner, schwarzer, fester Felsen, und der Ring, der seine linke
Hand hinunterdrückte, war wie ein Kreis aus heißem Gold. Er hatte ganz
und gar nicht das Gefühl, unsichtbar, sondern in entsetzlicher und einzig-
artiger Weise sichtbar zu sein; und er wußte, daß irgendwo ein Auge
nach ihm forschte.
Er hörte das Krachen von Stein und das Murmeln von Wasser fern im
Morgul-Tal; und weiter unten unter dem Fels den gurgelnden Jammer
von Kankra, die umhertappte, in irgendeinem verborgenen Gang verlo-
ren; und Stimmen in den Verliesen des Turms; und die Schreie der Orks,
als sie aus dem Gang herauskamen; und betäubend, in seinen Ohren
dröhnend, der Krach der Füße und das durchdringende Geschrei der Orks
vor ihm. Er wich zur Felswand zurück. Aber sie marschierten heran wie
ein Geisterheer, graue, verzerrte Gestalten in einem Nebel, nur Angst-
träume, mit bleichen Flammen in den Händen. Und sie gingen an ihm
vorbei. Er duckte sich und versuchte, in irgendeine Spalte zu kriechen, um
sich zu verstecken.
Er lauschte. Die Orks aus dem unterirdischen Gang und die anderen,
die hinuntermarschierten, hatten einander gesehen, und beide Gruppen
eilten sich jetzt und schrien. Er hörte sie beide ganz deutlich und ver-
stand, was sie sagten. Vielleicht bewirkte der Ring, daß man Sprachen
verstand, oder überhaupt verstand, insbesondere die Diener von Sauron,
seinem Schöpfer, so daß Sam, wenn er aufpaßte, die Gedanken verstand
und sich selbst übersetzte. Gewiß hatte der Ring beträchtlich an Macht
zugenommen, aber eins vermittelte er nicht, und das war Mut. Im
Augenblick dachte Sam nur daran, sich zu verstecken und liegenzublei-
ben, bis alles wieder ruhiger war; und er lauschte ängstlich. Er wußte
nicht, wie nahe die Stimmen waren, die Worte schienen fast in seinen
Ohren zu sein.
»Heda, Gorbag! Was machst du hier oben? Hast schon genug vom
Krieg?«
»Befehl, du Tölpel. Und was tust du, Schagrat? Hast es satt, hier oben
zu lauern? Denkst daran, zum Kämpfen herunterzukommen?«
»Befehle für dich. Ich befehlige diesen Paß. Also sei höflich. Was hast
du zu berichten?«
»Nichts.«
»He! He! Hussa!« Ein Schrei unterbrach die Unterhaltung der Führer.
Die Orks weiter unten hatten plötzlich etwas gesehen. Sie begannen zu
rennen. Die anderen auch.
»He! Heda! Da ist etwas! Liegt genau auf dem Weg. Ein Späher, ein
Späher!« Es gab ein Tuten heiserer Hörner und ein Gewirr bellender
Stimmen.
Mit einem entsetzlichen Schlag erwachte Sam aus seiner ängstlichen
Stimmung. Sie hatten seinen Herrn gesehen. Was würden sie tun? Er
hatte Geschichten von Orks gehört, die einem das Blut erstarren ließen.
Es war nicht zu ertragen. Er sprang auf. Er ließ die Aufgabe und alle
Entschlüsse fahren und Furcht und Zweifel mit ihnen. Er wußte jetzt, wo
sein Platz war und gewesen war: an der Seite seines Herrn, obwohl ihm
nicht klar war, was er dort tun könnte. Zurück rannte er, die Stufen hin-
unter, den Pfad hinunter zu Frodo.
»Wie viele sind dort?« dachte er. »Dreißig oder vierzig mindestens vom
Turm, und erheblich mehr als das von unten, schätze ich. Wie viele kann
ich töten, ehe sie mich kriegen? Sie werden die Flamme des Schwertes
sehen, sobald ich es ziehe, und früher oder später werden sie mich krie-
gen. Ich möchte mal wissen, ob ein Lied es je erwähnen wird: Wie Sam-
weis auf dem Hohen Paß fiel und einen Wall von Leichen um seinen
Herrn auftürmte. Nein, kein Lied. Natürlich nicht, denn der Ring wird ge-
funden werden, und es wird keine Lieder mehr geben. Ich kann's nicht
ändern. Mein Platz ist bei Herrn Frodo. Sie müssen das verstehen —
Elrond und der Rat und die großen Herren und Frauen mit all ihrer Weis-
heit. Ihre Pläne sind gescheitert. Ich kann nicht ihr Ringträger sein. Nicht
ohne Herrn Frodo.«
Aber die Orks waren für seinen getrübten Blick jetzt außer Sicht. Er
hatte keine Zeit gehabt, über sich selbst nachzudenken, doch jetzt merkte
er, daß er müde war, müde fast bis zur Erschöpfung: seine Beine würden
ihn nicht tragen, wie er wollte. Er war zu langsam. Der Pfad schien mei-
lenlang. Wohin waren sie alle gegangen in dem Nebel?
Da waren sie wieder! Noch ein gutes Stück vor ihm. Eine Menge Ge-
stalten um etwas, das auf dem Boden lag; ein paar schienen hierhin und
dorthin zu stürzen, gebückt wie Hunde auf einer Spur. Er versuchte, eine
letzte Anstrengung zu machen.
»Los, Sam«, sagte er. »Sonst kommst du wieder zu spät.« Er lockerte
das Schwert in der Scheide. In einer Minute würde er es ziehen, und dann
Es gab ein wildes Geschrei, Gejohle und Gelächter, als etwas vom
Boden aufgehoben wurde. »Hau-ruck! Hau-ruck! Auf! Auf!«
Dann rief eine Stimme: »Nun los! Den schnellen Weg. Zurück zum Un-
teren Tor! Sie wird uns heute nacht allem Anschein nach nicht belästigen.«
Die ganze Orkbande setzte sich in Bewegung. Vier in der Mitte trugen einen
Körper hoch auf ihren Schultern. »Hau-ruck!«
Sie hatten Frodo mitgenommen. Sie waren fort. Er konnte sie nicht ein-
holen. Immer noch quälte er sich voran. Die Orks erreichten den Gang
und gingen hinein. Die mit der Last zuerst, und hinter ihnen gab es eine
ganze Menge Gerangel und Geschubse. Sam kam hinterdrein. Er zog das
Schwert, ein blaues Flackern in seiner zitternden Hand, aber sie sahen es
nicht. Gerade als er keuchend herankam, verschwand der letzte von ihnen
in dem dunklen Loch.
Einen Augenblick stand er da, schnappte nach Luft und hielt sich die
Brust. Dann fuhr er sich mit dem Ärmel übers Gesicht, wischte Schmutz,
Schweiß und Tränen ab. »Verdammter Dreck!« sagte er und eilte ihnen
nach in die Dunkelheit.
Es kam ihm nicht mehr sehr dunkel vor im Gang, eher war es, als ob er
aus einem dünnen Dunstschleier in dichteren Nebel gekommen sei. Seine
Müdigkeit nahm zu, aber sein Wille wurde um so härter. Er glaubte, den
Schein der Fackeln ein Stückchen vor sich zu sehen, aber so sehr er es
auch versuchte, er konnte sie nicht einholen. Orks gehen rasch in unterir-
dischen Gängen, und diesen Gang kannten sie gut; denn trotz Kankra
mußten sie ihn oft benutzen, weil es der schnellste Weg von der Toten
Stadt über das Gebirge war. Wann in der weit zurückliegenden Vergan-
genheit der Hauptgang und die große runde Höhle, in der Kankra vor un-
endlich langer Zeit ihren Wohnsitz aufgeschlagen hatte, angelegt worden
waren, wußten sie nicht. Aber viele Nebenwege hatten sie selbst auf bei-
den Seiten gegraben, um bei ihrem Kommen und Gehen im Auftrag ihrer
Herren die Höhle zu vermeiden. Heute nacht hatten sie nicht vor, weit
hinunter zu gehen, sondern eilten zu einem seitlichen Durchgang, der zu-
rück zu ihrem Wachturm auf dem Felsen führte. Die meisten von ihnen
waren fröhlich, entzückt über das, was sie gefunden und gesehen hatten,
und während sie rannten, schwatzten und schrien sie, wie es ihre Art
war. Sam hörte das Geschrei ihrer rauhen Stimmen, eintönig und durch-
dringend in der bewegungslosen Luft, und zwei Stimmen konnte er von
allen übrigen unterscheiden: sie waren lauter und näher bei ihm. Die
Hauptleute der beiden Gruppen schienen als letzte zu gehen, und sie un-
terhielten sich dabei.
»Kannst du deinen Haufen nicht dazu bringen, weniger Radau zu
machen, Schagrat?« brummte der eine. »Wir wollen uns Kankra nicht auf
den Hals laden.«
»Ach, hör auf, Gorbag! Deine machen mehr als den halben Krach«,
sagte der andere. »Aber laß die Jungs doch spielen. Um Kankra brauchen
wir uns eine Zeitlang keine Sorgen zu machen, schätze ich. Sie hat auf
'nem Nagel gesessen, scheint's, und darüber werden wir nicht weinen.
Hast du es nicht gesehen: eine scheußliche Schweinerei den ganzen Weg
bis zu ihrer verfluchten Höhle? Wenn wir es einmal unterbunden haben,
dann haben wir's hundertmal unterbunden. Also laß sie lachen. Und wir
haben endlich ein bißchen Glück gehabt: haben etwas bekommen, was
Lugbúrz haben will.«
»Ach, Lugbúrz will es haben? Was, glaubst du, ist es? Eibisch sieht es
mir aus, aber zu klein. Was ist so gefährlich an einem solchen Wesen?«
»Weiß ich nicht, bis wir's angesehen haben.«
»Oho! Sie haben dir also nicht gesagt, was du zu erwarten hast? Sie
sagen uns nicht alles, was sie wissen, nicht wahr? Nicht mal die Hälfte.
Aber sie können auch Fehler machen, selbst die Höchsten.«
»Pst, Gorbag!« Schagrat hatte die Stimme gesenkt, so daß Sam selbst
mit seinem seltsam geschärften Gehör mit knapper Not verstehen konnte,
was er sagte. »Das mag sein, aber sie haben überall Augen und Ohren;
einige höchstwahrscheinlich unter meinen Leuten. Aber es besteht kein
Zweifel, daß sie über irgend etwas beunruhigt sind. Die Nazgûl unten
sind beunruhigt nach deinem Bericht; und Lugbúrz auch. Etwas wäre fast
entwischt.«
»Fast, sagst du!« sagte Gorbag.
»Na schön«, sagte Schagrat, »aber wir werden später darüber reden.
Warte, bis wir zum Unteren Weg kommen. Da ist eine Stelle, wo wir ein
bißchen reden können, während die Jungs weitergehen.«
Kurz danach sah Sam die Fackeln verschwinden. Dann gab es ein rum-
pelndes Geräusch, und gerade, als er sich beeilte, einen Bums. Soweit er
vermuten konnte, hatten die Orks den Weg verlassen und waren zu eben
dem Durchgang gekommen, mit dem Frodo und er es versucht hatten und
der versperrt gewesen war.
Da schien ein großer Stein im Weg zu liegen, aber die Orks waren
irgendwie hindurchgelangt, denn er hörte ihre Stimmen auf der anderen
Seite. Sie rannten immer noch weiter, tiefer und tiefer in den Berg hinein,
zurück zum Turm. Sam war verzweifelt. Sie trugen die Leiche seines
Herrn fort für irgendeinen üblen Zweck, und er konnte nicht folgen. Er
schlug und schob an dem Block und warf sich dagegen, aber er gab nicht
nach. Dann hörte er nicht weit drinnen, wie er glaubte, die beiden Haupt-
leute wieder reden. Er stand still und lauschte ein wenig und hoffte, viel-
leicht etwas Nützliches zu erfahren. Vielleicht würde Gorbag, der zu
Minas Morgul zu gehören schien, herauskommen, und dann würde er
hineinschlüpfen können.
»Nein, ich weiß es nicht«, sagte Gorbag. »Die Nachrichten kommen in
der Regel schneller durch, als irgend etwas fliegen könnte. Aber ich for-
sche nicht nach, wie das geschieht. Am ungefährlichsten, wenn man es
nicht tut. Br! Wenn ich an diese Nazgûl denke, überläuft es mich eiskalt.
Sie ziehen dir die Haut vom Leibe, sobald sie dich ansehen, und lassen
dich ganz kalt im Dunkeln auf der anderen Seite. Aber Er mag sie; sie
sind Seine Lieblinge heutzutage, es hat also keinen Zweck zu murren. Ich
sage dir, es ist kein Spaß, unten in der Stadt zu dienen.«
»Du solltest es mal hier oben versuchen mit Kankra zur Gesellschaft«,
sagte Schagrat.
»Ich würde es gern irgendwo versuchen, wo keiner von ihnen ist. Aber
jetzt ist Krieg, und wenn der vorbei ist, mögen die Dinge leichter sein.«
»Es steht gut für uns, heißt es.«
»Das möchten sie gern«, brummte Gorbag. »Wir werden sehen. Aber
jedenfalls, wenn es mit dem Krieg wirklich gut geht, dann sollte es erheb-
lich mehr Platz geben. Was meinst du — wenn wir eine Möglichkeit
haben, du und ich, dann hauen wir ab und machen uns irgendwo mit ein
paar zuverlässigen Jungs selbständig, irgendwo, wo es gute und leicht er-
reichbare Beute gibt und keine großspurigen Vorgesetzten.«
»Ah«, sagte Schagrat. »Wie in alten Zeiten.«
»Ja«, sagte Gorbag. »Aber rechne nicht drauf. Ich mache mir ziemliche
Sorgen. Wie ich gesagt habe, die Hohen Herren freilich«, seine Stimme
senkte sich fast zu einem Flüstern, »freilich, selbst die Größten können
Fehler machen. Etwas wäre fast entwischt, sagst du. Ich sage: etwas ist
entwischt, und wir müssen danach Ausschau halten. Immer müssen die
armen Uruks die Karre aus dem Dreck ziehen und ernten wenig Dank.
Aber vergiß das nicht: die Feinde lieben uns ebensowenig wie Ihn, und
wenn sie Ihn unterkriegen, dann sind wir auch geliefert. Aber nun hör
mal: wann bist du ausgesandt worden?«
»Vor einer Stunde ungefähr, gerade, bevor du uns sahst. Eine Meldung
kam: Nazgûl besorgt. Späher auf Treppe befürchtet. Doppelte Wachsam-
keit. Streife zum oberen Ende der Treppe. Ich kam sofort.«
»Schlimme Geschichte«, sagte Gorbag. »Paß auf — unsere Stummen
Wächter waren vor mehr als zwei Tagen schon unruhig, das weiß ich.
Aber meine Streife bekam auch am nächsten Tag noch keinen Marschbe-
fehl, und es wurde auch keine Botschaft nach Lugbúrz gesandt: weil das
Große Signal aufstieg und der Hohe Nazgûl in den Krieg zog und all das.
Und dann konnten sie eine ganze Weile Lugbúrz nicht dazu bekommen,
der Sache Aufmerksamkeit zu zollen, wie mir gesagt wurde.«
»Das Auge war anderswo beschäftigt, nehme ich an«, sagte Schagrat.
»Große Dinge geschehen im Westen, heißt es.«
»Das will ich glauben«, knurrte Gorbag. »Aber inzwischen sind Feinde
die Treppe heraufgekommen. Und was hast du gemacht? Du sollst Wache
halten, nicht wahr. Sonderbefehle oder nicht? Wofür bist du eigentlich
da?«
»Jetzt reicht's aber. Du brauchst mich nicht über meine Pflichten zu
belehren. Wir haben aufgepaßt. Wir wußten, daß komische Dinge vor
sich gehen.«
»Sehr komische!«
»Ja, sehr komische: Lichter und Rufen und das alles. Aber Kankra
hatte sich geregt. Meine Jungs sahen sie und ihren Schnüffler.«
»Ihren Schnüffler? Was ist denn das?«
»Du mußt ihn gesehen haben: einen kleinen, dünnen, schwarzen Kerl;
sieht selbst wie' ne Spinne aus, oder vielleicht mehr wie'n verhungerter
Frosch. Er ist schon früher hier gewesen. Kam das erste Mal aus
Lugbúrz,
vor Jahren, und wir erhielten Befehl von Ganz Oben, ihn laufen zu las-
sen. Seitdem ist er ein- oder zweimal auf der Treppe gewesen, aber wir
haben ihn in Frieden gelassen. Ich nehme an, er schmeckt nicht gut: um
Befehle von Ganz Oben würde sie sich nicht kümmern. Aber eine feine
Wache haltet ihr im Tal: einen Tag vor diesem ganzen Radau war er hier
oben. Gestern bei Einbruch der Nacht sahen wir ihn. Jedenfalls berichte-
ten meine Jungs, daß die Hohe Frau ein bißchen Spaß hat, und das er-
schien mir ganz gut, bis die Meldung kam. Ich dachte, ihr Schnüffler hat
ihr ein Spielzeug gebracht oder du hast ihr vielleicht ein Geschenk ge-
schickt, einen Kriegsgefangenen oder sonst was. Ich mische mich nicht
ein, wenn sie spielt. Nichts kommt unbemerkt an Kankra vorbei, wenn sie
auf der Jagd ist.«
»Nichts, sagst du! Hast du deine Augen nicht aufgesperrt da hinten?
Ich sage dir, ich bin besorgt. Was immer die Treppe heraufkam, ist durch-
gekommen. Es hat ihre Spinnenweben durchgeschnitten und ist glatt aus
der Höhle 'rausgekommen. Das ist etwas, worüber man nachdenken
sollte!«
»Nun ja, aber zuletzt hat sie ihn doch gekriegt, nicht wahr?«
»Ihn gekriegt? Wen gekriegt? Diesen kleinen Burschen? Wenn er der
einzige gewesen wäre, dann hätte sie ihn binnen kurzem in ihre Speise-
kammer gebracht, und da wäre er jetzt. Und wenn Lugbúrz ihn haben
will, dann würdest du hingehen müssen, um ihn zu holen. Hübsch für
dich. Aber da waren mehr als einer.«
An diesem Punkt begann Sam aufmerksamer zu lauschen und preßte
sein Ohr an den Stein.
»Wer hat die Stricke durchschnitten, mit denen sie ihn gefesselt hatte,
Schagrat? Derselbe, der die Spinnenweben durchschnitt. Hast du das nicht
gesehen? Und wer hat die Hohe Frau mit einer Nadel gestochen? Der-
selbe, schätze ich. Und wo ist er? Wo ist er, Schagrat?«
Schagrat antwortete nicht.
»Da mußt du mal ein bißchen nachdenken, wenn dein Grips reicht. Es
ist nicht zum Lachen. Niemand, nicht ein einziger hat je zuvor Kankra
mit einer Nadel gestochen, wie du genau wissen solltest. Das ist weiter
kein Unglück; aber denke doch — da ist hier einer auf freiem Fuß, der ge-
fährlicher ist als jeder andere verdammte Aufrührer, den es je gab seit
den schlechten alten Zeiten, seit der großen Belagerung. Etwas ist ent-
wischt.«
»Und was ist es dann?« brummte Schagrat.
»Nach allen Anzeichen, Hauptmann Schagrat, würde ich sagen, daß
ein gewaltiger Krieger hier frei herumläuft, ein Elb höchstwahrscheinlich,
mit einem Elbenschwert jedenfalls und vielleicht auch mit einer Axt; und
auch in deinem Bezirk läuft er frei herum, und du hast ihn nie ausfindig
gemacht. Wirklich sehr komisch!« Gorbag spuckte aus. Sam lächelte grim-
mig bei dieser Beschreibung von sich.
»Na ja, du hast schon immer schwarzgesehen«, sagte Schagrat. »Du
kannst die Zeichen deuten, wie du willst, aber es mag noch andere Wege
geben, sie zu erklären. Jedenfalls habe ich überall Wächter aufgestellt,
und ich gedenke mich jeweils nur mit einer Sache zu befassen. Wenn ich
mir den Burschen, den wir gefangen haben, angesehen habe, dann werde
ich anfangen, mir über etwas anderes Sorgen zu machen.«
»Ich vermute, du wirst bei dem kleinen Kerl nicht viel finden«, sagte
Gorbag. »Er hat mit dem wirklichen Unheil vielleicht gar nichts zu tun.
Der große Kerl mit dem scharfen Schwert scheint sowieso geglaubt zu
haben, daß er nicht viel wert ist — hat ihn da einfach liegen lassen: regel-
rechte Elben-List.«
»Wir werden sehen. Komm nun weiter. Wir haben genug geredet. Laß
uns jetzt einen Blick auf den Gefangenen werfen!«
»Was willst du mit ihm machen? Vergiß nicht, daß ich ihn zuerst ent-
deckt habe. Wenn's irgendeinen Spaß gibt, müssen ich und meine Jungs
dabeisein.«
»Nun, nun«, brummte Schagrat, »ich habe meine Befehle. Und es
würde mich und dich Kopf und Kragen kosten, ihnen zuwiderzuhandeln.
Jeder, der sich unbefugt hier aufhält und von der Wache gefunden wird,
soll im Turm festgesetzt werden. Der Gefangene soll ausgezogen werden.
Genaue Beschreibung von jedem Stück, Kleidung, Waffen, Brief, Ring
oder Schmuckstück, muß sofort nach Lugbúrz geschickt werden, und nur
nach Lugbúrz. Und der Gefangene soll sicher eingesperrt werden und un-
verletzt bleiben, bei Todesstrafe für jeden Angehörigen der Wache, bis Er
jemanden schickt oder Selbst kommt. Das ist klar und deutlich, und das
werde ich tun.«
»Ausgezogen?« fragte Gorbag. »Was, Zähne, Nägel, Haare und alles?«
»Nein, nichts dergleichen. Er ist für Lugbúrz, sage ich dir doch. Man
will ihn heil und unversehrt haben.«
»Das wird dir schwerfallen«, lachte Gorbag. »Er ist jetzt nichts als
Aas. Was Lugbúrz mit solchem Zeug will, kann ich nicht erraten. Er
könnte genausogut gleich vor die Hunde gehen.«
»Du Narr«, knurrte Schagrat. »Du hast sehr klug geredet, aber es gibt
eine Menge, was du nicht weißt, obwohl's die meisten anderen Leute wis-
sen. Du wirst vor die Hunde oder zu Kankra gehen, wenn du nicht auf-
paßt. Aas! Ist das alles, was du von der Hohen Frau weißt? Wenn sie mit
Stricken fesselt, dann ist sie auf Fleisch aus. Sie frißt kein totes Fleisch
und säuft kein kaltes Blut. Dieser Bursche ist nicht tot!«
Sam wurde schwindlig, und er hielt sich am Stein fest. Ihm war, als ob
die ganze dunkle Welt auf dem Kopf stünde. So groß war sein Schreck,
daß er fast ohnmächtig geworden wäre, aber während er noch darum
kämpfte, bei Sinnen zu bleiben, hörte er tief in seinem Inneren eine kriti-
sche Äußerung: »Du Narr, er ist nicht tot, und dein Herz wußte es. Ver-
laß dich nicht auf deinen Kopf, Samweis, er ist nicht dein edelster Teil.
Dein Fehler ist es, daß du niemals wirklich Hoffnung hattest. Was ist
jetzt zu tun?« Im Augenblick nichts, als sich gegen die reglosen Steine zu
lehnen und zu lauschen, den ekelhaften Orkstimmen zuzuhören.
»Klar!« sagte Schagrat. »Sie hat mehr als ein Gift. Wenn sie auf der
Jagd ist, dann gibt sie ihnen nur einen Klaps auf den Nacken, und sie
werden so schlapp wie entgräteter Fisch, und dann macht sie mit ihnen,
was sie will. Erinnerst du dich an den alten Ufthak? Wir hatten ihn seit
Tagen vermißt. Dann fanden wir ihn in einem Winkel; aufgehängt war
er, aber er war hellwach und starrte. Wie wir lachten! Vielleicht hatte sie
ihn vergessen, aber wir rührten ihn nicht an — es hat keinen Zweck, sich
mir Ihr einzulassen. Nee — dieser kleine Drecksack wird in ein paar Stun-
den aufwachen; und abgesehen von ein bißchen Übelkeit wird er ganz in
Ordnung sein. Oder würde es sein, wenn Lugbúrz ihn in Frieden ließe.
Und natürlich abgesehen davon, daß er sich fragen wird, wo er ist und
was mit ihm geschehen ist.«
»Und was mit ihm geschehen wird«, lachte Gorbag. »Wir können ihm
jedenfalls ein paar Geschichten erzählen, wenn wir nichts anderes tun
können. Ich nehme nicht an, daß er jemals im schönen Lugbúrz war, des-
halb wird er vielleicht gern wissen wollen, was er zu erwarten hat. Es
wird spaßiger sein, als ich geglaubt habe. Laß uns gehen!«
»Es wird keinen Spaß geben, das sage ich dir«, erwiderte Schagrat.
»Und er muß in sicherem Gewahrsam bleiben, sonst sind wir alle so gut
wie tot.«
»Na schön! Aber wenn ich du wäre, würde ich den Großen fangen, der
noch frei herumläuft, ehe du einen Bericht nach Lugbúrz schickst. Es
würde nicht allzu hübsch klingen, wenn du sagst, du hast das Kätzchen
gefangen und die Katze entwischen lassen.«
Die Stimmen wurden allmählich leiser. Sam hörte, daß sich Schritte
entfernten. Er erholte sich von seinem Schreck, und jetzt packte ihn eine
wilde Wut. »Alles habe ich verkehrt gemacht!« rief er. »Ich wußte, daß
ich das tun würde. Jetzt haben sie ihn, die Teufel, die Drecksäcke! Nie-
mals deinen Herrn verlassen, niemals, niemals: das war mein richtiger
Grundsatz. Und ich wußte es in meinem Herzen. Möge mir verziehen
werden! Jetzt muß ich zu ihm zurück. Irgendwie, irgendwie!«
Er zog sein Schwert wieder und schlug mit dem Heft an den Stein, aber
es gab nur einen dumpfen Klang. Das Schwert leuchtete indes so hell, daß
er in dem Schein ein wenig sehen konnte. Zu seiner Überraschung merkte
er, daß der große Block die Form einer schweren Tür hatte und nicht ein-
mal doppelt so hoch wie er groß war. Darüber war ein dunkler leerer
Raum zwischen der Oberkante und dem niedrigen Gewölbe des Durch-
gangs. Wahrscheinlich sollte das nur ein Hindernis sein, damit Kankra
hier nicht eindrang, und war auf der Innenseite mit einem Riegel oder
Bolzen außerhalb der Reichweite ihrer List gesichert. Mit aller Kraft, die
er noch hatte, sprang Sam hoch, packte die Oberkante, zog sich hinauf
und ließ sich fallen; und dann rannte er wie verrückt, das leuchtende
Schwert in der Hand, um eine Biegung und einen sich windenden Gang
hinauf.
Die Nachricht, daß sein Herr noch am Leben war, beflügelte ihn zu
einer letzten Anstrengung, und er dachte nicht mehr an seine Müdigkeit.
Vor sich konnte er nichts sehen, denn dieser neue Gang ging ununterbro-
chen um die Ecke; aber er glaubte, die beiden Orks einzuholen; ihre Stim-
men klangen wieder näher. Jetzt schienen sie ganz dicht zu sein.
»Das ist es, was ich tun werde«, sagte Schagrat in zornigem Ton. »Ihn
in die oberste Kammer stecken.«
»Wozu?« brummte Gorbag. »Hast du unten keine Gefängnisse?«
»Er kommt auf Nummer sicher, das sage ich dir«, antwortete Schagrat.
»Verstehst du? Er ist wertvoll. Ich traue nicht allen meinen Jungs, und
keinem von deinen; und dir auch nicht, wenn du auf Spaß versessen bist.
Er kommt dahin, wo ich ihn haben will, und wo du nicht hinkommst,
wenn du nicht höflich bleibst. Ganz nach oben, sage ich. Da wird er
sicher sein.«
»Wird er das?« sagte Sam. »Du vergißt den großen, mächtigen Elben-
krieger, der noch frei herumläuft!« und damit rannte er um die letzte
Ecke und mußte feststellen, daß er durch irgendeine Täuschung des Gan-
ges oder des Gehörs, das der Ring ihm verlieh, die Entfernung falsch ein-
geschätzt hatte.
Die beiden Orks waren immer noch ein Stück voraus. Er konnte sie
jetzt sehen, schwarz und gedrungen vor einem roten Feuerschein. Der
Gang verlief endlich gerade, eine Steigung hinauf; und an seinem Ende
waren große Doppeltüren, die weit offenstanden und wahrscheinlich in
die tiefen Kammern weit unter dem hohen Horn des Turms führten. Die
Orks mit der Last waren schon hindurchgegangen. Gorbag und Schagrat
näherten sich dem Tor.
Sam hörte plötzlich heiseres Singen, Hörnerblasen und das Dröhnen
von Gongs, ein abscheulicher Lärm. Gorbag und Schagrat waren schon
auf der Schwelle.
Sam schrie und schwang Stich, aber seine kleine Stimme ging in dem
Getöse unter. Niemand achtete auf ihn.
Die großen Türen schlugen zu. Bum. Die eisernen Riegel schnappten
ein. Klirr. Das Tor war geschlossen. Sam warf sich gegen die verriegelten,
ehernen Torflügel und fiel besinnungslos auf den Boden. Er war draußen
in der Dunkelheit. Frodo war am Leben, aber vom Feind gefangen.