DRITTES KAPITEL
DREI MANN HOCH
»Du solltest in aller Stille gehen, und du solltest bald gehen«, sagte
Gandalf. Zwei oder drei Wochen waren verstrichen, und Frodo traf immer
noch keine Anstalten, aufzubrechen.
»Ich weiß. Aber beides ist schwierig«, wandte er ein. »Wenn ich ein-
fach verschwinde wie Bilbo, dann wird darüber im Nu im ganzen Auen-
land geredet.«
»Natürlich darfst du nicht einfach verschwinden!« sagte Gandalf. »Das
wäre grundverkehrt! Ich sagte bald und nicht sofort. Wenn du dir
eine
Möglichkeit ausdenken kannst, wie du dich aus dem Auenland davon-
stehlen kannst, ohne daß es allgemein bekannt wird, dann ist das eine
kleine Verzögerung wert. Aber du darfst nicht zu lange zögern.«
»Wie wäre es im Herbst, an oder nach Unserem Geburtstag?« schlug
Frodo vor. »Bis dahin könnte ich wahrscheinlich ein paar Vorkehrungen
treffen.«
Ehrlich gesagt, jetzt, da es so weit war, widerstrebte es ihm sehr, weg-
zugehen. Beutelsend erschien ihm mit einem Mal ein so wünschenswerter
Wohnsitz wie seit Jahren nicht, und er wollte seinen letzten Sommer im
Auenland nach Möglichkeit auskosten. Im Herbst, das wußte er, würde
zumindest ein Teil seines Herzens freundlicher über das Wandern denken,
denn so war es um diese Jahreszeit immer gewesen. Eigentlich war er fest
entschlossen, an seinem fünfzigsten Geburtstag aufzubrechen: an Bilbos
hundertachtundzwanzigstem. Es schien irgendwie der passende Tag zu
sein, um sich aufzumachen und ihm zu folgen. Bilbo zu folgen lag ihm
am meisten im Sinn, und es war das einzige, was den Gedanken, wegzu-
gehen, erträglich machte. An den Ring dachte er so wenig wie möglich
und auch daran nicht, wo er ihn letztlich hinführen würde. Aber er sagte
Gandalf nicht alles, was ihn bewegte. Was der Zauberer erriet, war immer
schwer zu sagen.
Er sah Frodo an und lächelte. »Sehr schön«, sagte er. »Das wird gehen,
glaube ich — aber es darf nicht später werden. Ich mache mir allmählich
große Sorgen. Inzwischen sei vorsichtig und laß ja nichts darüber ver-
lauten, wo du hingehst! Und sorge dafür, daß Sam Gamdschie nicht
schwätzt. Wenn er das tut, werde ich ihn wirklich in eine Kröte ver-
wandeln.«
»Auszuplaudern, wohin ich gehe«, sagte Frodo, »wäre wirklich schwie-
rig, denn ich habe selbst noch keine klare Vorstellung.»
»Sei nicht albern!« sagte Gandalf. »Ich warne dich doch nicht davor,
deine Anschrift beim Postamt zu hinterlassen! Aber du willst das
Auenland verlassen — und das sollte nicht bekanntwerden, ehe du weit
fort bist. Schließlich mußt du entweder nach Norden, Süden, Westen oder
Osten gehen, oder zumindest dorthin aufbrechen — und die Richtung
sollte unter keinen Umständen bekanntwerden.«
»Ich war so von dem Gedanken erfüllt. Beutelsend zu verlassen und
Lebewohl zu sagen, daß ich mir die Richtung noch gar nicht überlegt
habe«, sagte Frodo. »Denn wo soll ich überhaupt hingehen? Welches Ziel
soll ich ansteuern? Was soll mein Leitstern sein? Bilbo ging, um einen
Schatz zu finden, dorthin und wieder zurück; aber ich gehe, um einen zu
verlieren und nicht zurückzukehren, soweit ich sehen kann.«
»Aber du kannst nicht sehr weit sehen«, sagte Gandalf. »Und ich auch
nicht. Es mag deine Aufgabe sein, die Schicksalsklüfte zu finden; doch
kann es auch sein, daß diese Fahrt anderen übertragen wird: ich weiß es
nicht. Jedenfalls bist du jetzt noch nicht bereit für diesen langen Weg.«
»Nein, wirklich nicht«, erwiderte Frodo. »Aber welche Richtung soll
ich einstweilen einschlagen?«
»Der Gefahr entgegen, aber nicht zu rasch und nicht zu geradenwegs«,
antwortete der Zauberer. »Wenn du meinen Rat hören willst, dann mach
dich nach Bruchtal auf. Dieser Weg sollte nicht allzu gefahrvoll sein,
obwohl die Straße nicht mehr so bequem ist, wie sie war, und schlechter
werden wird, je weiter das Jahr fortschreitet.«
»Bruchtal!« sagte Frodo. »Sehr gut: ich werde nach Osten gehen und
mich nach Bruchtal aufmachen. Ich werde Sam mitnehmen, und er kann
die Elben besuchen; er wird sich freuen.« Er sagte das so leichthin; aber
im Grunde seines Herzens verspürte er plötzlich den Wunsch, das Haus
des Halbelben Elrond zu sehen und die Luft jenes tiefen Tales zu atmen,
wo noch viele des Schönen Volkes in Frieden lebten.
Eines Abends im Sommer erreichte eine erstaunliche Neuigkeit den
Efeubusch und den Grünen Drachen. Riesen und andere bedrohliche
An-
zeichen an den Grenzen des Auenlands waren wegen wichtigerer Dinge ver-
gessen: Herr Frodo verkauft Beutelsend, er hat es sogar schon verkauft —
und zwar an die Sackheim-Beutlins!
»Für ein schönes Stück Geld«, sagten manche. »Zu einem Spottpreis«,
sagten andere, »und das ist auch wahrscheinlicher, wenn Frau Lobelia die
Käuferin ist.« (Otho war vor ein paar Jahren gestorben, im reifen, aber
unerfüllten Alter von 102.)
Warum Herr Frodo eigentlich seine schöne Höhle verkaufte, war sogar
noch umstrittener als der Preis. Ein paar vertraten die Ansicht — gestützt
auf Winke und Andeutungen von Herrn Beutlin selbst —, daß Frodo das
Geld ausgegangen sei: er wolle Hobbingen verlassen und unten in Bock-
land bei seinen Verwandten, den Brandybocks, bescheiden von dem Erlös
des Verkaufs leben. »So weit weg von den Sackheim-Beutlins wie nur
möglich«, fügten manche hinzu. Aber die Vorstellung von dem unermeß-
lichen Reichtum der Beutlins auf Beutelsend hatte sich so in den Köpfen
festgesetzt, daß die meisten es kaum glauben konnten, weniger als jeden
anderen vernünftigen oder unvernünftigen Grund, den ihre Phantasie
ihnen eingeben konnte: die meisten vermuteten einen dunklen und noch
unenthüllten Plan von Gandalf. Obwohl er sich sehr ruhig verhielt und
bei Tage nicht ausging, war es wohlbekannt, daß er sich »oben in Beutels-
end versteckte«. Aber welche Rolle ein Umzug bei seiner Zauberei auch
immer spielen mochte, an der Tatsache bestand kein Zweifel: Frodo Beut-
lin kehrte nach Bockland zurück.
»Ja, im Herbst werde ich umziehen«, sagte er. »Merry Brandybock
sucht für mich eine kleine hübsche Höhle oder vielleicht ein Häuschen.«
In Wirklichkeit hatte er sich mit Merrys Hilfe schon ein kleines Haus
auf dem- Lande in Krickloch jenseits von Bockenburg ausgesucht und
es gekauft. Allen außer Sam gegenüber tat er so, als wollte er sich dort
für ständig niederlassen. Der Entschluß, zuerst nach Osten zu gehen,
hatte ihm den Gedanken eingegeben; denn Bockland lag an der Ostgrenze
des Auenlandes, und da er dort in seiner Kindheit gelebt hatte, würde es
zumindest glaubhaft klingen, daß er dorthin zurückkehren wolle.
Gandalf blieb über zwei Monate im Auenland. Dann kündigte er eines
Abends Ende Juni, kurz nachdem Frodos Plan endgültig festgelegt war,
plötzlich an, daß er am nächsten Morgen aufbrechen wolle. »Nur für kurz,
hoffe ich«, sagte er. »Aber ich will über die Südgrenze, um Neues zu er-
fahren, wenn ich kann. Ich bin länger müßig gewesen, als ich sollte.«
Er sprach leichthin, aber Frodo schien es, als sähe er recht besorgt aus.
»Ist irgend etwas geschehen?« fragte er.
»Ach nein; aber ich habe etwas gehört, das mich beunruhigt und um
das ich mich kümmern muß. Wenn ich es für notwendig halte, daß du
doch sofort aufbrichst, dann komme ich gleich zurück oder gebe zumin-
dest Nachricht. Halte du inzwischen an deinem Plan fest; aber sei vor-
sichtiger denn je, besonders mit dem Ring. Laß es dir noch einmal ein-
schärfen: gebrauche ihn nicht!«
Im Morgengrauen ging er. »Mag sein, daß ich bald zurückkomme«,
sagte er. »Allerspätestens bin ich zum Abschiedsfest wieder hier. Du
könntest, glaube ich, unterwegs meine Gesellschaft brauchen.«
Zuerst war Frodo ziemlich verstört und fragte sich oft, was Gandalf
wohl gehört haben mochte; aber seine Unruhe legte sich schließlich, und
das schöne Wetter ließ ihn eine Weile seine Sorgen vergessen. Selten hatte
das Auenland einen so herrlichen Sommer oder einen so köstlichen Herbst
erlebt: die Bäume bogen sich unter der Last der Äpfel, Honig tropfte in
die Waben und das Korn stand hoch und voll.
Erst als der Herbst wirklich vor der Tür stand, begann Frodo sich wie-
der Sorgen um Gandalf zu machen. Der September verging, und es war
immer noch keine Nachricht von ihm gekommen. Der Geburtstag und der
Umzug rückten näher, und weder war er gekommen, noch hatte er ein
Wort von sich hören lassen. Beutelsend wurde lebendig. Einige von Fro-
dos Freunden kamen, um ihm beim Packen zu helfen, und wohnten
solange bei ihm: da waren Fredegar Böiger und Folko Boffin und natür-
lich seine besonderen Freunde Pippin Tuk und Merry Brandybock. Ge-
meinsam stellten sie die ganze Höhle auf den Kopf.
Am 20. September machten sich zwei Planwagen, vollgeladen mit den
Möbeln und Sachen, die Frodo nicht verkauft hatte, auf den Weg nach
Bockland über die Brandyweinbrücke. Am nächsten Tag wurde Frodo
wirklich besorgt und hielt ständig nach Gandalf Ausschau. Am Donners-
tag, seinem Geburtstag, war der Morgen ebenso strahlend und klar wie
vor langer Zeit bei Bilbos großer Feier. Gandalf kam immer noch nicht.
Am Abend gab Frodo sein Abschiedsfest: keine große Gesellschaft, nur
ein Abendessen für ihn und seine vier Helfer; aber er war bekümmert
und gar nicht richtig in Stimmung. Der Gedanke, daß er sich so bald von
seinen jungen Freunden würde trennen müssen, bedrückte ihn. Er fragte
sich, wie er es ihnen wohl beibringen sollte.
Die vier jungen Hobbits waren allerdings in bester Laune, und trotz
Gandalfs Abwesenheit wurde das Fest bald sehr fröhlich. Das Eßzimmer
war ausgeräumt bis auf einen Tisch und Stühle, aber das Essen war gut,
und es gab guten Wein: Frodos Wein war nicht an die Sackheim-Beutlins
mitverkauft worden.
»Was immer mit dem Rest meiner Sachen geschieht, wenn die S.-Bs. sie
in die Klauen bekommen, für das hier habe ich einen guten Aufbewah-
rungsort gefunden«, sagte Frodo, als er sein Glas leertrank. Es war der
letzte Tropfen »Alter Wingert«.
Nachdem sie viele Lieder gesungen und über viele Dinge geredet hat-
ten, die sie gemeinsam getan hatten, stießen sie nach Frodos Gewohnheit
auf Bilbos Geburtstag an und tranken auf sein und Frodos Wohl. Dann
gingen sie hinaus, um frische Luft zu schnappen und nach den Sternen zu
schauen, und dann ins Bett. Frodos Fest war vorüber, und Gandalf war
nicht gekommen.
Am nächsten Morgen luden sie das restliche Gepäck auf einen weiteren
Karren. Den übernahm Merry und fuhr mit Dick (das heißt Fredegar Böi-
ger) davon. »Irgend jemand muß da sein und das Haus ein wenig wohn-
lich machen, ehe du kommst«, sagte er. »Gut, bis dann also — übermorgen,
wenn du unterwegs nicht einschläfst.«
Folko ging nach dem Mittagessen nach Hause, aber Pippin blieb da.
Frodo war unruhig und besorgt und lauerte vergeblich auf eine Nachricht
von Gandalf. Er beschloß, bis zum Einbruch der Nacht zu warten. Wenn
Gandalf noch später käme und ihn dringend sprechen wollte, würde er
sicher nach Krickloch kommen und vielleicht sogar schon vor ihm dort
eintreffen. Denn Frodo wollte zu Fuß gehen. Er hatte sich vorgenommen,
von Hobbingen aus ganz gemütlich zur Bockenburger Fähre zu wandern
— eigentlich nur um des Vergnügens willen und weil er einen letzten
Blick auf das Auenland werfen wollte.
»Ich werde mich auch ein bißchen in Form bringen müssen«, sagte er,
als er sich in einem staubigen Spiegel in der halbleeren Halle betrachtete.
Er hatte schon lange keine anstrengenden Wanderungen mehr gemacht,
und sein Spiegelbild, fand er, sah ziemlich schlapp aus.
Nach dem Mittagessen erschienen, sehr zu Frodos Mißvergnügen, die
Sackheim-Beutlins, Lobelia und ihr rotblonder Sohn Lotho. »Endlich un-
sers«, sagte Lobelia, als sie eintrat. Es war nicht eben höflich; und ge-
naugenommen auch nicht wahr, denn der Verkauf von Beutelsend wurde
erst um Mitternacht rechtsgültig. Aber Lobelia kann vielleicht verziehen
werden; sie hatte ungefähr siebenundsiebzig Jahre länger auf Beutelsend
warten müssen, als sie einst gehofft hatte, und sie war nun hundert Jahre
alt. Wie dem auch sei, jetzt war sie gekommen, um sich zu überzeu-
gen, daß nichts, wofür sie bezahlt hatte, beiseitegeschafft würde; und
sie wollte die Schlüssel haben. Es kostete viel Zeit, sie zufriedenzustel-
len, denn sie hatte eine vollständige Inventarliste mitgebracht und ging
sie von A bis Z durch. Schließlich verschwand sie mit Lotho und dem
Ersatzschlüssel, nachdem ihr versichert worden war, daß der andere
Schlüssel bei den Gamdschies im Beutelhaldenweg abgegeben würde. Sie
schnaufte verächtlich und zeigte deutlich, daß sie die Gamdschies für
fähig hielt, während der Nacht die Höhle zu plündern. Frodo bot ihr kei-
nen Tee an.
Er selbst trank Tee mit Pippin und Sam Gamdschie in der Küche. Es
war offiziell bekanntgegeben worden, daß Sam mit nach Bockland gehen
würde, »um für Herrn Frodo zu arbeiten und sein Stückchen Garten zu
versorgen«: eine Abmachung, die vom Ohm gebilligt wurde, obwohl er
untröstlich war über die Aussicht, Lobelia zur Nachbarin zu haben.
»Unsere letzte Mahlzeit auf Beutelsend!« sagte Frodo und schob seinen
Stuhl zurück. Den Abwasch überließen sie Lobelia. Pippin und Sam
schnürten ihre drei Rucksäcke und stellten sie in die Vorhalle. Pippin ging
hinaus, um ein letztes Mal durch den Garten zu schlendern. Sam ver-
schwand.
Die Sonne ging unter. Beutelsend sah traurig und düster und unordent-
lich aus. Frodo wanderte durch die vertrauten Räume und sah den Schein
des Sonnenuntergangs auf den Wänden verblassen und Schatten aus den
Ecken hervorkriechen. Drinnen wurde es langsam dunkel. Er ging hinaus
und hinunter zum Tor am Ende des Wegs und dann auf einer Abkürzung
zur Bühlstraße. Halb und halb erwartete er, Gandalf durch die Dämme-
rung heraufkommen zu sehen.
Der Himmel war klar, und die Sterne leuchteten hell. »Es wird eine
schöne Nacht geben«, sagte er laut. »Das ist ein guter Anfang. Ich habe
richtig Lust zum Wandern. Noch länger herumtrödeln kann ich einfach
nicht ertragen. Ich gehe los, und Gandalf muß nachkommen.« Er wandte
sich zum Gehen um und hielt dann inne, denn er hörte Stimmen, ganz
dicht am Ende vom Beutelhaldenweg. Eine Stimme war bestimmt die vom
alten Ohm; die andere war fremd und irgendwie unangenehm. Er konnte
nicht verstehen, was sie sagte, aber er hörte Ohms Antworten, die ziemlich
schrill klangen. Der alte Mann schien erregt zu sein.
»Nein, Herr Beutlin ist fort. Seit heute morgen, und mein Sohn Sam ist
mitgegangen: jedenfalls sind alle seine Sachen weg. Ja, verkauft und fort,
ich sag's Euch doch. Warum? Warum geht mich nichts an und Euch auch
nicht. Wohin? Das ist kein Geheimnis. Er ist nach Bockenburg gezogen
oder an irgendeinen Ort weit da drüben. Jawohl, eine ganz schöne
Strecke. Ich selbst bin nie so weit gekommen; sind komische Leute in
Bockland. Nein, ich kann nichts bestellen. Gute Nacht!«
Er hörte Schritte den Bühl hinunter. Frodo wunderte sich ein wenig,
warum die Tatsache, daß sie nicht den Bühl heraufkamen, ihn so erleich-
terte. »Wahrscheinlich habe ich die Fragerei und die Neugier über alles,
was ich tue, satt«, dachte er. »Was für eine Schnüffelbande sie doch alle
sind!« Flüchtig dachte er daran, zum Ohm zu gehen und ihn zu fragen,
wer der Fremde gewesen war; aber dann besann er sich eines Besseren
(oder Schlechteren), kehrte um und ging rasch nach Beutelsend zurück.
Pippin saß in der Vorhalle auf seinem Rucksack. Sam war nicht da.
Frodo trat durch die dunkle Tür. »Sam!« rief er. »Sam! Es ist Zeit!«
»Ich komme, Herr!« ertönte es von weit drinnen, und dann kam Sam,
der sich den Mund abwischte. Er hatte sich vom Bierfaß im Keller verab-
schiedet.
»Alles verstaut?« fragte Frodo.
»Ja, Herr. Jetzt kann ich's 'ne Weile aushallen, Herr.«
Frodo machte die runde Tür zu und schloß sie ab. Dann gab er Sam den
Schlüssel. »Lauf und bring den zu euch nach Hause, Sam«, sagte er.
»Dann geh den Beutelhaldenweg weiter und komm so schnell wie möglich
zum Tor auf dem Weg hinter den Wiesen. Wir gehen heute abend nicht
durchs Dorf. Zu viele gespitzte Ohren und neugierige Augen.« Sam
rannte in großer Eile los.
»So, nun sind wir endlich weg«, sagte Frodo. Sie schulterten ihre
Rucksäcke, nahmen ihre Stöcke und gingen um die Ecke zur Westseite
von Beutelsend. »Auf Wiedersehen!« sagte Frodo, als er auf die dunklen,
blanken Fenster schaute. Er winkte ihnen einen Gruß zu, dann wandte er
sich um und eilte (auf Bilbos Spuren, wenn er es gewußt hätte) hinter
Peregrin her den Gartenweg hinunter. Sie sprangen an der niedrigen
Stelle über die Hecke, schlugen sich in die Wiesen und verschwanden in
der Dunkelheit wie ein Rascheln des Windes im Grase.
Am Fuße des Bühls gelangten sie auf seiner westlichen Seite zu dem
Tor, das auf einen schmalen Feldweg hinausführte. Dort hielten sie an
und stellten die Riemen an ihren Rucksäcken richtig ein. Gleich darauf kam
Sam keuchend angestapft; sein schwerer Rucksack ragte ihm hoch über die
Schultern, und auf den Kopf hatte er sich einen formlosen Filz gestülpt,
den er einen Hut nannte. In der Dämmerung sah er einem Zwergen ziemlich
ähnlich.
»Gewiß habt ihr mir das allerschwerste Zeug gegeben«, sagte Frodo. »Ich
bedaure Schnecken und alle, die ihr Haus auf dem Rücken tragen.«
»Ich könnte noch 'ne Menge mehr nehmen, Herr. Mein Rucksack ist
ganz leicht«, sagte Sam mannhaft und nicht wahrheitsgemäß.
»Nein, laß das, Sam«, sagte Pippin. »Es tut ihm gut. Er hat nur das,
was er uns aufgetragen hat einzupacken. Er war faul in letzter Zeit und
wird das Gewicht weniger spüren, wenn er erst etwas von seinem eigenen
abgelaufen hat.«
»Seid freundlich zu einem armen alten Hobbit!« lachte Frodo. »Be-
stimmt werde ich schlank wie eine Weidengerte sein, ehe ich nach Bock-
land komme. Aber es war Unsinn, was ich gesagt habe. Ich vermute, du
hast mehr als deinen Teil genommen, Sam, und beim nächsten Packen
werde ich das mal untersuchen.« Er nahm seinen Stock wieder zu Hand.
»So, wir alle laufen gern im Dunkeln«, sagte er, »also laßt uns vorm
Schlafengehen ein paar Meilen hinter uns bringen.«
Ein kurzes Stück folgten sie dem Fußweg nach Westen. Dann bogen sie
nach links ab und schlugen sich wieder in die Wiesen. Sie gingen im Gänse-
marsch an Hecken und kleinen Gehölzen entlang, und die Nacht hüllte
sie ein. In ihren dunklen Mänteln waren sie so unsichtbar, als ob sie alle
Zauberringe trügen. Da sie Hobbits waren und sich bemühten, leise zu
sein, machten sie kein Geräusch, und nicht einmal Hobbits hätten sie
hören können. Selbst die Tiere in den Feldern und Wäldern bemerkten sie
kaum.
Nach einer Weile überquerten sie westlich von Hobbingen auf einer
schmalen Bohlenbrücke die Wässer. Der Fluß war dort nicht mehr als ein
gewundenes schwarzes Band, gesäumt von krummen Erlen. Ein oder zwei
Meilen weiter südlich kreuzten sie eilig die große Straße, die von der
Brandyweinbrücke herkam; jetzt waren sie in Tukland, und nach Süd-
osten abbiegend, machten sie sich auf den Weg zum Grünbergland. Als
sie die ersten Hänge erklommen, schauten sie zurück und sahen in weiter
Ferne die Lichter von Hobbingen im lieblichen Tal der Wässer glitzern.
Bald verschwanden sie in den Falten des dunkelnden Landes, und nun
folgte Wasserau neben seinem grauen Teich. Als das Licht des letzten Ge-
höfts weit hinter ihnen lag und nur noch durch die Bäume schimmerte,
drehte sich Frodo um und winkte einen Abschiedsgruß.
»Ob ich wohl jemals wieder in dieses Tal hinunterblicken werde«, sagte
er leise.
Als sie etwa drei Stunden gelaufen waren, machten sie Rast. Die Nacht
war klar, kühl und sternklar, aber wie Rauchwölkchen zogen Nebel-
schwaden von den Bächen und Wiesenniederungen die Berghänge hinauf.
Dünnbelaubte Birken, die sich über ihren Köpfen leicht im Winde neigten,
spannten ein schwarzes Netz vor den fahlen Himmel. Sie aßen ein (für
Hobbits) sehr karges Abendbrot und gingen dann weiter. Bald stießen sie
auf eine schmale Straße, die sich hinauf und wieder hinunter durch das
hügelige Gelände zog und vor ihnen grau in der Dunkelheit untertauchte:
die Straße nach Waldhof, Stock und zur Bockenburger Fähre. Sie zweigte
im Wässer-Tal von der Hauptstraße ab und wand sich durch die Ausläufer
der Grünberge zum Waldende, einer wilden Gegend im Ostviertel.
Nach einer Weile kamen sie zu einem tiefen Hohlweg zwischen hohen
Bäumen, deren dürre Blätter in der Nacht raschelten. Es war sehr dunkel.
Zuerst redeten sie oder summten zusammen leise eine Melodie, denn sie
waren jetzt weit fort von neugierigen Ohren. Dann marschierten sie
schweigend weiter, und Pippin begann zurückzubleiben. Schließlich, als
sie einen steilen Hang hinaufklommen, blieb er stehen und gähnte.
»Ich bin so schläfrig«, sagte er, »daß ich bald auf der Straße umfalle.
Wollt ihr auf euren Beinen schlafen? Es ist fast Mitternacht.«
»Ich dachte, du läufst gern im Dunkeln«, sagte Frodo. »Aber wir
haben keine Eile. Merry erwartet uns erst übermorgen; wir haben also
noch fast zwei Tage. Wir werden haltmachen an der ersten geeigneten
Stelle.«
»Der Wind steht im Westen«, sagte Sam. »Wenn wir auf die andere
Seite dieses Bergs gehen, finden wir eine Stelle, die ganz geschützt und
versteckt ist, Herr. Da vom ist ein trockener Tannenwald, wenn ich mich
recht erinnere.« Sam kannte das Land auf zwanzig Meilen im Umkreis
von Hobbingen gut, aber das war die Grenze seiner Geographie.
Gleich hinter der Bergkuppe kamen sie zu dem Stück Tannenwald. Sie
gingen von der Straße aus hinein in die tiefe, harzduftende Dunkelheit
der Bäume und sammelten tote Zweige und Tannenzapfen, um Feuer zu
machen. Bald prasselte es lustig am Fuß einer großen Tanne, und sie blie-
ben eine Weile dabei sitzen, bis sie einnickten. Dann rollten sie sich, jeder
an einer Seite der großen Baumwurzel, in ihre Mäntel und Decken ein
und waren bald fest eingeschlafen. Sie stellten keine Wache auf; selbst
Frodo befürchtete keine Gefahr, denn noch immer waren sie im Herzen
vom Auenland. Ein paar Tiere kamen und schauten nach ihnen, als das
Feuer ausgegangen war. Ein Fuchs, der in eigener Sache durch den Wald
zog, blieb einige Minuten stehen und schnüffelte.
»Hobbits!« dachte er. »So, und was noch? Ich habe von merkwürdigen
Dingen in diesem Land gehört, aber selten habe ich gehört, daß ein Hob-
bit im Freien unter einem Baum schläft. Drei sogar! Da steckt etwas
höchst Sonderbares dahinter.« Er hatte ganz recht, aber niemals hat er
mehr darüber herausgefunden.
Der Morgen kam, fahl und feuchtkalt. Frodo wachte zuerst auf und
stellte fest, daß ihm die Baumwurzel ein Loch in den Rücken gedrückt
hatte und sein Hals steif war. »Wandern — ein Vergnügen! Warum bin
ich nicht gefahren?« dachte er, wie er es gewöhnlich zu Beginn einer Wan-
derung tat. »Und alle meine schönen Federbetten sind an die Sackheim-
Beutlins verkauft! Diese Baumwurzeln würden ihnen gut tun.« Er reckte
und streckte sich. »Wacht auf. Hobbits!« rief er. »Es ist ein schöner
Morgen.«
»Was ist daran schön?« fragte Pippin, als er mit einem Auge über den
Rand seiner Decke blinzelte. »Sam! Mach das Frühstück fertig für halb
zehn! Hast du heißes Badewasser bereit?«
Sam sprang auf und sah ziemlich verschlafen aus. »Nein, Herr, habe
ich nicht!« sagte er.
Frodo zog Pippin die Decken weg und rollte ihn auf die Seite, und dann
ging er zum Waldrand hinüber. Fern im Osten stieg die Sonne aus dem
Nebel empor, der dick über der Welt lag. Die gold- und rotgesprenkelten
Herbstbäume schienen wurzellos auf einem schattenhaften Meer zu
segeln. Etwas unterhalb links von ihm lief die Straße steil hinab in eine
Mulde und verschwand.
Als er zurückkam, hatten Sam und Pippin ein schönes Feuer in Gang
gebracht. »Wasser!« schrie Pippin. »Wo ist das Wasser?«
»Ich habe kein Wasser in meinen Taschen«, sagte Frodo.
»Wir dachten, du seist gegangen, um welches zu holen«, sagte Pippin,
der damit beschäftigt war, das Frühstück zu bereiten und Becher hinzu-
stellen. »Dann geh lieber jetzt.«
»Du kannst auch kommen«, meinte Frodo, »und alle Wasserflaschen
mitbringen.« Am Fuß des Berges floß ein Bach. Sie füllten ihre Flaschen
und den Wasserkessel an einem kleinen Wasserfall, wo das Wasser ein
paar Fuß tief über graues Gestein hinabsprang. Es war eisigkalt; und sie
prusteten und schnauften, als sie sich Gesicht und Hände wuschen.
Als sie mit dem Frühstück fertig waren und ihre Rucksäcke wieder
gepackt hatten, war es schon nach zehn Uhr, und der Tag begann schön
und heiß zu werden. Sie gingen den Abhang hinunter und über den Bach,
wo er unter der Straße durchtauchte und den nächsten Hang hinauf und
dann beim nächsten Höhenzug wieder hinauf und hinunter; und inzwi-
schen empfanden sie ihre Mäntel, Decken, Wasser, Lebensmittel und son-
stige Ausrüstung schon als eine schwere Last.
Der Tagesmarsch versprach warm und anstrengend zu werden. Nach
einigen Meilen hörte indes die Straße auf, ständig hinauf- und hinunterzu-
führen: sie kletterte in mühsamem Zickzack bis zum Gipfel eines Steil-
hanges und schickte sich dann an, endgültig bergab zu gehen. Vor sich
sahen sie das flache Land, übersät mit kleineren Baumgruppen, die in
der Ferne zu einem braunen Waldesdunst verschwammen. Sie blickten
über das Waldende zum Brandyweinfluß hinüber. Die Straße zog sich
dahin wie ein Stück Schnur.
»Die Straße geht immer weiter«, sagte Pippin, »aber ich brauche unbe-
dingt eine Rast. Es ist höchste Zeit zum Mittagessen.« Er setzte sich auf
die Böschung an der Straße und schaute nach Osten auf den Dunst, hinter
dem der Fluß lag und das Ende des Auenlands, in dem er sein ganzes
Leben verbracht hatte. Sam stand neben ihm. Seine runden Augen waren
weit aufgerissen — denn hinter den Landschaften, die er noch nie gesehen
hatte, erschloß sich ihm ein neuer Horizont.
»Leben Elben in diesen Wäldern?« fragte er.
»Nicht, daß ich wüßte«, sagte Pippin. Frodo schwieg. Auch er folgte
mit dem Blick der Straße nach Osten, als ob er sie noch nie gesehen hätte.
Plötzlich sprach er, laut, aber wie für sich selbst und langsam redend:
Die Straße gleitet fort und fort,
Weg von der Tür, wo sie begann,
Weit überland von Ort zu Ort,
Ich folge ihr, so gut ich kann.
Ihr lauf ich müden Fußes nach,
Bis sie sich groß und breit verflicht
Mit Weg und Wagnis tausendfach.
Und wohin dann? Ich weiß es nicht.
»Das klingt wie ein Reim vom alten Bilbo«, sagte Pippin. »Oder ist es
eine Nachahmung von dir? Es klingt nicht unbedingt ermutigend.«
»Ich Weiß es nicht«, antwortete Frodo. »Mir kam es eben so vor, als
hätte ich es selbst erfunden; aber es mag sein, daß ich es vor langer Zeit
gehört habe. Gewiß erinnert 'es mich sehr an Bilbo in den letzten Jahren,
ehe er fortging. Er sagte oft, es gebe nur einen Weg; er sei wie ein großer
Fluß: seine Quellen seien an jeder Türschwelle, und jeder Pfad sei sein
Nebenfluß. >Es ist eine gefährliche Sache, Frodo, aus deiner Tür hinauszu-
gehen< pflegte er zu sagen. >Du betrittst die Straße, und wenn du nicht
auf deine Füße aufpaßt, kann man nicht wissen, wohin sie dich tragen.
Bist du dir klar, daß eben dies der Pfad ist, der durch Düsterwald führt,
und daß er dich, wenn du es zuläßt, bis zum Einsamen Berg oder noch
weiter und zu schlimmeren Orten bringt?< Das pflegte er auf dem Pfad vor
der Tür von Beutelsend zu sagen, besonders dann, wenn er einen lan-
gen Spaziergang gemacht hatte.«
»Na, mich wird der Weg nirgends hinbringen, zumindest eine Stunde
lang nicht«, sagte Pippin und nahm seinen Rucksack ab. Die anderen
folgten seinem Beispiel, stellten die Rucksäcke gegen die Böschung und
streckten ihre Beine zur Straße aus. Nach einer Ruhepause verzehrten sie
ein gutes Mittagessen und legten dann eine weitere Ruhepause ein.
Die Sonne begann zu sinken, und Nachmittagslicht lag über dem Land,
als sie den Berg hinabschritten. Bisher hatten sie noch keine Seele auf der
Straße getroffen. Sie wurde nicht viel benutzt, da sie für Karren kaum
geeignet war, und es gab nicht viel Verkehr zum Waldende. Etwa eine
Stunde oder noch länger waren sie schon wieder unterwegs, als Sam einen
Augenblick stehen blieb, als ob er lausche. Sie waren nun in ebenem
Gelände, und nach vielen Windungen verlief die Straße jetzt ganz gerad-
linig durch Wiesen, auf denen einzelne hohe Bäume standen, Vorposten
der nahen Wälder.
»Ich höre ein Pony oder ein Pferd, das hinter uns die Straße entlang-
kommt«, sagte Sam.
Sie schauten zurück, aber wegen der Straßenbiegung konnten sie nicht
weit sehen. »Ich möchte mal wissen, ob das Gandalf ist, der uns nach-
kommt«, sagte Frodo; aber schon während er es sagte, hatte er das Ge-
fühl, daß dem nicht so sei, und er verspürte plötzlich den Wunsch, sich
vor den Blicken des Reiters zu verbergen.
»Vielleicht ist es nicht wichtig«, sagte er entschuldigend, »aber ich
möchte eigentlich nicht gern auf der Straße gesehen werden — von nie-
mandem. Ich habe es satt, daß alles, was ich tue, beobachtet und durchge-
hechelt wird. Und wenn es Gandalf ist«, fügte er noch hinzu, »dann kön-
nen wir ihm eine kleine Überraschung bereiten, zur Strafe dafür, daß er
so spät kommt. Laßt uns in Deckung gehen!«
Die beiden anderen liefen rasch nach links und hinunter in eine
kleine Mulde nicht weit von der Straße. Dort legten sie sich flach auf den
Boden. Frodo zögerte eine Sekunde: Neugier oder irgendeine andere
Anwandlung kämpfte gegen seinen Wunsch an, sich zu verbergen. Das
Geräusch der Hufe kam näher. Gerade noch rechtzeitig ließ er sich in das
hohe Gras hinter einem Baum fallen, der die Straße überschattete. Dann
hob er den Kopf und spähte vorsichtig über eine der großen Wurzeln hin-
weg.
Um die Biegung kam ein schwarzes Pferd, kein Hobbitpony, sondern
ein ausgewachsenes Pferd; und darauf saß ein großer Mensch, der sich
auf dem Sattel niederzuducken schien, eingehüllt in einen großen schwar-
zen Mantel und eine Kapuze, so daß nur seine Stiefel in den hohen Steig-
bügeln unten herausschauten; sein Gesicht war beschattet" und unsichtbar.
Als das Pferd bis zu dem Baum gekommen und auf gleicher Höhe mit
Frodo war, blieb es stehen. Der Reiter saß ganz still mit gesenktem Kopf,
als ob er lausche. Unter der Kapuze hervor kam ein Geräusch, wie wenn
jemand schnüffelt, um einen schwachen Duft einzufangen; sein Kopf
drehte sich von einer Straßenseite zur anderen.
Eine plötzliche unbegreifliche Furcht, entdeckt zu werden, befiel Frodo,
und er dachte an seinen Ring. Er wagte kaum zu atmen, und doch wurde
der Wunsch, ihn aus der Tasche zu holen, so stark, daß er langsam die
Hand bewegte. Er hatte das Gefühl, daß er ihn bloß aufzustreifen
brauchte, dann würde er sicher sein. Gandalfs Rat schien lächerlich zu
sein. Schließlich hatte Bilbo den Ring ja auch benutzt. »Und ich bin
immer noch im Auenland«, dachte er, als seine Hand die Kette berührte,
an der der Ring hing. In diesem Augenblick richtete sich der Reiter auf
und zog die Zügel an. Das Pferd machte einen Schritt vorwärts, ging erst
langsam und setzte sich dann in raschen Trab.
Frodo kroch zum Straßenrand und beobachtete den Reiter, bis er in der
Ferne verschwand. Er war nicht ganz sicher, aber ihm kam es vor, als ob
das Pferd, ehe er es aus den Augen verlor, abschwenkte und nach rechts
zwischen die Bäume ging.
»Nun, das nenne ich sehr sonderbar und wirklich beunruhigend«, sagte
Frodo zu sich, als er zu seinen Gefährten hinüberging. Pippin und Sam
waren im Gras liegen geblieben und hatten nichts gesehen; deshalb be-
schrieb ihnen Frodo den Reiter und sein seltsames Verhalten.
»Ich kann nicht sagen, warum, aber ich hatte das bestimmte Gefühl,
daß er mich suchte und witterte; und ich hatte auch das bestimmte Ge-
fühl, daß ich nicht von ihm entdeckt werden wollte. So etwas habe ich nie
zuvor im Auenland gesehen oder gefühlt.«
»Aber was hat einer von den Großen Leuten mit uns zu tun?« fragte
Pippin. »Und was tut er überhaupt in diesem Teil der Welt?«
»Hier gibt es ein paar Menschen«, sagte Frodo. »Unten im Südviertel
haben die Hobbits Ärger mit Großen Leuten gehabt, glaube ich. Aber
von so etwas wie diesem Reiter habe ich nie gehört. Ich möchte wissen,
wo er herkommt.«
»Entschuldigung«, warf Sam plötzlich ein, »ich weiß, wo er herkommt.
Von Hobbingen kommt er, dieser schwarze Reiter hier, sofern es nicht
mehr als einen gibt. Und ich weiß auch, wohin er geht.«
»Was meinst du damit?« fragte Frodo scharf und sah ihn erstaunt an.
»Warum hast du denn vorher nichts davon gesagt?«
»Es ist mir gerade erst wieder eingefallen, Herr. Es war so: als ich ge-
stern abend mit dem Schlüssel zu unserer Höhle kam, sagt mein Vater zu
mir: Hallo, Sam!, sagt er, ich dachte, du wärst schon heute morgen
mit
Herrn Frodo weg. Da war ein seltsamer Kauz hier und hat nach Herrn
Beutlin von Beutelsend gefragt, und er ist gerade erst weg. Ich hob ihn
nach Bockenburg geschickt. Nicht, daß mir sein Ton gefallen hätte. Er
schien sich mächtig zu ärgern, als ich ihm sagte, Herr Beutlin habe sein
altes Heim für immer verlassen. Angezischt hat er mich. Ist mir richtig
kalt über den Rücken gelaufen. Was für ein Bursche war denn das? sage
ich zum Ohm. Ich weiß nicht, sagt er; aber er war kein Hobbit. Er war
groß und irgendwie schwarz, und er beugte sich über mich. Ich nehme an,
er war einer von den Großen Leuten aus fremden Gegenden. Er sprach so
komisch.
Ich konnte nicht länger bleiben, Herr, da ihr auf mich gewartet habt;
und ich hab's selbst gar nicht so wichtig genommen. Der Ohm wird all-
mählich alt und ist mehr als ein bißchen blind, und es muß schon fast
dunkel gewesen sein, als dieser Kerl den Bühl heraufkam und ihn traf,
als der Ohm am Ende von unserem Weg Luft schnappte. Ich hoffe, er hat
keinen Schaden angerichtet, Herr, und ich auch nicht.«
»Dem Ohm kann man sowieso keinen Vorwurf machen«, sagte Frodo.
»Ich habe es sogar selbst gehört, daß er mit einem Fremden sprach, der
sich offenbar nach mir erkundigt hatte, und fast wäre ich hingegangen
und hätte ihn gefragt, wer es war. Ich wollte, ich hätte es getan, oder
du hättest mir früher etwas davon gesagt. Dann wäre ich auf der Straße
vielleicht vorsichtiger gewesen.«
»Immerhin kann es ja sein, daß gar kein Zusammenhang besteht zwi-
schen diesem Reiter und dem Fremden vom Ohm«, meinte Pippin. »Wir
haben uns ganz heimlich aus Hobbingen davongemacht, und ich wüßte
nicht, wie er unsere Spur verfolgt haben könnte.«
»Und was ist mit dem Wittern, Herr?« fragte Sam. »Und der Ohm
sagte, es war ein schwarzer Kerl.«
»Ich wollte, ich hätte auf Gandalf gewartet«, murmelte Frodo. »Aber
vielleicht hätte das die Sache nur schlimmer gemacht.«
»Dann weißt du oder errätst etwas über diesen Reiter?« fragte Pippin,
der die gemurmelten Worte verstanden hatte.
»Ich weiß nichts und möchte lieber nichts erraten«, antwortete Frodo.
»Na schön, Vetter Frodo. Du kannst dein Geheimnis vorläufig behal-
ten, wenn du geheimnisvoll sein willst. Aber was sollen wir nun tun?
Eigentlich hätte ich gern einen Happen zu essen und einen Schluck zu
trinken, aber irgendwie glaube ich, wir sollten uns lieber davonmachen.
Dein Gerede von schnüffelnden Reitern mit unsichtbaren Nasen hat mich
ganz unruhig gemacht.«
»Ja, ich glaube, wir gehen jetzt lieber weiter«, sagte Frodo, »aber nicht
auf der Straße — falls der Reiter zurückkommt oder ein anderer ihm folgt.
Wir sollten heute noch ein gutes Stück hinter uns bringen. Bockland ist
noch meilenweit.«
Die Schatten der Bäume auf dem Gras waren lang und dünn, als sie
sich wieder aufmachten. Sie hielten sich jetzt einen Steinwurf weit links
der Straße und möglichst außer Sichtweite. Aber das behinderte sie; denn
das Gras war hoch und büschelig, der Boden uneben und die Bäume zogen
sich zu Dickichten zusammen.
In ihrem Rücken war die Sonne rot hinter den Bergen untergegangen,
und der Abend brach herein, ehe sie wieder auf die Straße kamen am
Ende der langen Ebene, über die sie ein paar Meilen ganz gerade verlaufen
war. An diesem Punkt bog die Straße nach links ab und führte hinunter
in die Niederungen des Luches und dann nach Stock; aber rechts zweigte
ein schmaler Weg ab, der sich durch einen alten Eichenwald nach Wald-
hof schlängelte. »Das ist unser Weg«, sagte Frodo.
Nicht weit von der Wegscheide stießen sie auf einen riesigen Baum-
stamm: er lebte noch und hatte Blätter auf den kleinen Zweigen, die er
rings um die Stümpfe seiner längst gefällten Hauptäste getrieben hatte;
aber er war hohl, und durch einen großen Spalt auf der von der Straße
abgewandten Seite konnte man hineingelangen. Die Hobbits krochen hin-
ein und setzten sich dort auf eine Schicht alter Blätter und verfaulten
Holzes. Sie ruhten sich aus und aßen eine Kleinigkeit, unterhielten sich
leise und lauschten von Zeit zu Zeit.
Es war dämmerig, als sie wieder auf den Weg krochen. Der Westwind
seufzte in den Zweigen. Die Blätter wisperten. Bald begann der Weg
sanft, aber stetig in der Dunkelheit abzufallen. Über den Bäumen vor
ihnen erschien im dunkler werdenden Osten ein Stern. Sie gingen neben-
einander und im Gleichschritt, um sich Mut zu machen. Nach einiger
Zeit, als mehr Sterne kamen und sie heller leuchteten, fühlten sie sich
nicht mehr so beunruhigt und lauschten nicht mehr, ob sie Hufgetrappel
hörten. Sie begannen leise vor sich hinzusummen, wie es Hobbits beim
Wandern zu tun pflegen, besonders des Nachts auf dem Heimweg. Bei
den meisten Hobbits ist es dann ein Abendessen- oder Bettlied; aber diese
Hobbits summten ein Wanderlied (obwohl Abendessen und Bett natür-
lich auch darin vorkamen). Bilbo Beutlin hatte den Text verfaßt zu einer
uralten Melodie und hatte Frodo das Lied beigebracht, wenn sie über die
Feldwege im Tal der Wässer wanderten und sich über Abenteuer unter-
hielten.
Der Herd ist rot von Feuersglut,
Das Bett steht unterm Dach und gut;
Doch müde ist noch nicht der Fuß,
Dort um die Ecke, welch ein Gruß,
Steht überraschend Baum und Stein,
Von uns entdeckt, von uns allein.
Baum und Blume, Laub und Gras,
Was soll das? Was soll das?
Unterm Himmel Berg und See,
Geh nur, geh! Geh nur, geh!
Ja, um die Ecke, kommt uns vor,
Da steht geheimnisvoll ein Tor,
Und was wir heute nicht gesehn,
Das ruft uns morgen, fortzugehn
Und führt uns, fremd und ungewohnt,
Bis hin zur Sonne, hin zum Mond.
Apfel, Schlehe, Dorn und Nuß
Gilt der Gruß! Gilt der Gruß!
Sand und Stein und flache Sohl,
Lebewohl! Lebewohl!
Daheim verblaßt, die Welt rückt nah,
Mit vielen Pfaden liegt sie da
Und lockt durch Schatten, Trug und Nacht,
Bis endlich Stern um Stern erwacht.
Dann wiederum verblaßt die Welt —
Daheim! Wie mir das Wort gefällt!
Wolke, Zwielicht, Nebeldunst,
Ohne Gunst! Ohne Gunst!
Fleisch, Brot und Kerze auf dem Brett,
Und dann zu Bett! Und dann zu Bett!
Das Lied war zu Ende. »Und jetzt zu Bett! und jetzt zu Bett!«
sang Pip-
pin mit lauter Stimme.
»Pst!« machte Frodo. »Ich glaube, ich höre wieder Hufe.«
Sie hielten an und standen so still wie Baumschatten und lauschten. Ein
Stück weiter hinten auf dem Weg waren Hufe zu hören, und der Wind
trug das Geräusch deutlich herüber. Rasch und leise verließen sie den
Weg und rannten in den tieferen Schatten unter den Eichen.
»Wir wollen nicht zu weit gehen«, sagte Frodo. »Ich will nicht gesehen
werden, aber ich möchte sehen, ob es wieder ein Schwarzer Reiter ist.«
»Sehr schön«, sagte Pippin, »aber denke an das Schnüffeln.«
Die Hufe kamen näher. Die Hobbits hatten keine Zeit, ein besseres
Versteck zu finden als die Dunkelheit unter den Bäumen; Sam und Pippin
kauerten sich hinter einen großen Baumstamm, während Frodo wieder
etwas näher an den Weg herankroch. Der Pfad schimmerte grau und fahl,
ein lichter Streifen, der sich durch den Wald zog. Über ihm strahlten viele
Sterne am dunklen Himmel, aber es war kein Mond da.
Das Hufgetrappel brach ab. Frodo sah, wie sich etwas Dunkles auf dem
helleren Streifen zwischen zwei Bäumen bewegte und dann anhielt. Es sah
aus wie der schwarze Schatten eines Pferdes, geführt von einem kleineren
schwarzen Schatten. Der schwarze Schatten stand dicht an der Stelle, wo
sie den Weg verlassen hatten, und er wandte sich von einer Seite zur an-
deren. Frodo glaubte, ein Schnüffelgeräusch zu hören. Der Schatten ging
in die Hocke und begann dann, auf ihn zuzukriechen.
Wieder wurde Frodo von dem Wunsch befallen, den Ring aufzustrei-
fen, der aber diesmal stärker war als vorher. So stark, daß seine Hand,
fast ehe er sich klar war, was er tat, in seiner Tasche herumtastete. Doch
in diesem Augenblick hörte man ein Singen, das von Gelächter unter-
brochen wurde. Helle Stimmen drangen durch die sternklare Nacht. Der
schwarze Schatten richtete sich auf und zog sich zurück. Er schwang sich
auf das schattenhafte Pferd und schien jenseits des Weges in der Dunkel-
heit zu verschwinden. Frodo atmete wieder.
»Elben!« rief Sam in einem heiseren Flüstern. »Elben, Herr!« Er wäre
aus dem Schatten der Bäume ausgebrochen und den Stimmen entgegenge-
eilt, wenn ihn die anderen nicht zurückgezogen hätten.
»Ja, es sind Elben«, sagte Frodo. »Man trifft sie manchmal im Wald-
ende. Sie leben nicht im Auenland, sondern wandern hier nur im Früh-
ling und Herbst, wenn sie aus ihren eigenen Landen jenseits der Turm-
berge kommen. Ich bin dankbar dafür, daß sie es tun! Ihr habt es nicht
gesehen, aber dieser Schwarze Reiter hielt genau hier an und war gerade
im Begriff auf uns zuzukriechen, als der Gesang begann. Sobald er die
Stimmen hörte, verschwand er.«
»Was ist mit den Elben?« fragte Sam, der zu aufgeregt war, um sich
noch über den Reiter Gedanken zu machen. »Können wir nicht hingehen
und sie sehen?«
»Horch! Sie kommen hier lang«, sagte Frodo. »Wir brauchen nur zu
warten.«
Der Gesang kam näher. Eine helle Stimme erhob sich jetzt über die
anderen. Sie sang in der schönen Elbensprache, die Frodo nur wenig
kannte und die anderen gar nicht. Doch der Klang, der sich harmonisch
mit der Melodie verband, formte sich für sie zu Worten, die sie nur teil-
weise verstanden. Das war das Lied, wie Frodo es hörte:
Schnee-Weiß! Schnee-Weiß! 0 Herrin hold
Fürstliche Fraue hochgestellt,
0 Licht uns Pilgern hier im Sold
Inmitten der verworrenen Welt.
Gilthoniel! 0 Elbereth!
Dein Auge klar, dein Atem rein!
Schnee-Weiß! Schnee-Weiß! Wir denken dein,
Ferne bist du und wir allein.
0 Sterne, ausgesäet von ihr
Im sonnenlosen Weltenjahr,
Wir sehen sie auch noch von hier
Wie Blumen blühen wunderbar.
0 Elbereth! Gilthoniel!
Im Dunkel leuchtest du uns hell
Noch aus der Ferne, ach, wir sehn
Dein Licht wie Trost am Himmel stehn.
Das Lied war zu Ende. »Das sind Hochelben! Sie sprachen den Na-
men Elbereth aus!« sagte Frodo erstaunt. »Wenige von diesem edelsten
Volk sind je im Auenland zu sehen. Nicht viele weilen noch in Mittel-
erde, östlich des Großen Meeres. Das ist wahrlich ein seltsamer Zufall!«
Die Hobbits setzten sich an den dunklen Straßenrand. Es dauerte nicht
lange, da kamen die Elben den Weg entlang ins Tal. Sie gingen langsam
an ihnen vorbei, und die Hobbits sahen das Sternenlicht auf ihrem Haar
und ihren Augen glänzen. Sie trugen kein Licht, und doch war es, wäh-
rend sie gingen, als ob ein Schimmer wie der Schein des Mondes, ehe er
sich über den Kamm der Berge erhebt, auf ihre Füße fiele. Sie waren jetzt
still, und als der letzte Elb vorbeiging, wandte er sich um, schaute auf die
Hobbits und lachte.
»Heil, Frodo!« sagte er. »Du bist spät unterwegs. Oder hast du dich
vielleicht verirrt?« Dann rief er laut zu den anderen hinüber, und die
ganze Gruppe hielt an und versammelte sich um sie.
»Das ist ja wirklich verwunderlich«, sagten sie. »Drei Hobbits bei
Nacht im Walde! So etwas haben wir nicht mehr gesehen, seit Bilbo weg-
ging. Was bedeutet das?«
»Es bedeutet einfach, ihr Schönen«, sagte Frodo, »daß wir anscheinend
denselben Weg gehen wie ihr. Ich wandere gern unter den Sternen. Aber
ich würde mich über eure Gesellschaft freuen.«
»Wir brauchen keine andere Gesellschaft, und Hobbits sind so langwei-
lig«, lachten sie. »Und woher weißt du, daß wir denselben Weg gehen wie
ihr, da du doch nicht weißt, wohin wir gehen?«
»Und woher wißt ihr meinen Namen?« fragte Frodo wiederum.
»Wir wissen viele Dinge«, sagten sie. »Wir haben dich früher oft mit
Bilbo gesehen, obwohl du vielleicht uns nicht gesehen hast.«
»Wer seid ihr, und wer ist euer Herr?« fragte Frodo.
»Ich bin Gildor«, antwortete ihr Anführer, der Elb, der ihn zuerst be-
grüßt hatte. »Gildor Inglorion aus Finrods Geschlecht. Wir sind Ver-
bannte, und die meisten unseres Stammes sind schon vor langer Zeit
fortgegangen, und auch wir halten uns hier nur noch eine Weile auf, ehe
wir über das Große Meer zurückkehren. Doch einige unserer Verwandten
leben noch im Frieden in Bruchtal. Komm nun, Frodo, sage uns, wie es
mit dir steht? Denn wir sehen, daß ein Schatten der Furcht auf dir liegt.«
»O ihr Weisen«, mischte sich Pippin ungeduldig ein. »Sagt uns etwas
über die Schwarzen Reiter!«
»Die Schwarzen Reiter?« wiederholten sie leise. »Warum fragst du
nach den Schwarzen Reitern?«
»Weil uns zwei Schwarze Reiter heute überholt haben, oder einer zwei-
mal«, sagte Pippin. »Gerade eben erst, als ihr herankamt, ist er ver-
schwunden.«
Die Elben antworteten nicht sofort, sondern redeten leise miteinander
in ihrer Sprache. Schließlich wandte sich Gildor an die Hobbits. »Wir
wollen hier nicht davon sprechen«, sagte er. »Wir glauben, ihr solltet
jetzt am besten mit uns kommen. Es ist nicht unsere Gewohnheit, aber
diesmal wollen wir euch auf unserem Weg mitnehmen, und ihr sollt heute
bei uns übernachten, wenn ihr wollt.«
»O ihr Schönen! Das ist mehr Glück, als ich zu hoffen wagte«, sagte
Pippin. Sam war sprachlos. »Ich danke dir vielmals, Gildor Inglorion«,
sagte Frodo und verbeugte sich. »Elen síla lúmenn' omentielvo, ein
Stern
leuchtet über der Stunde unserer Begegnung«, fügte er in der hochelbi-
schen Sprache hinzu.
»Seid vorsichtig. Freunde«, rief Gildor lachend. »Sagt nichts Geheimes!
Hier ist ein Kundiger der Alten Sprache. Bilbo war ein guter Lehrer. Heil,
Elbenfreund!« sagte er und verneigte sich vor Frodo. »Komm nun mit
deinen Freunden und schließe dich unserer Gesellschaft an. Am besten
geht ihr in der Mitte, damit ihr euch nicht verlauft. Ihr mögt müde wer-
den, ehe wir anhalten.«
»Warum? Wohin geht ihr denn?« fragte Frodo.
»Heute nacht bleiben wir in den Wäldern auf den Bergen über Wald-
hof. Es sind noch einige Meilen dorthin, aber dann könnt ihr euch ausru-
hen; und morgen wird euer Weg um so kürzer sein.«
Schweigend gingen sie nun weiter und glitten dahin wie schwach
schimmernde Schatten: denn Elben konnten (sogar noch besser als Hob-
bits) lautlos gehen, wenn sie wollten. Pippin begann bald schläfrig zu
werden und taumelte ein- oder zweimal; aber immer streckte ein großer
Elb an seiner Seite den Arm aus und rettete ihn vor dem Sturz. Sam ging
neben Frodo, als träume er, und in seinem Gesicht malten sich teils
Furcht, teils freudiges Staunen.
Auf beiden Seiten wurden die Wälder dichter; die Bäume waren jetzt
jünger und dicker; und als der Fußweg tiefer hinunterführte in eine Senke
zwischen den Bergen, waren die Abhänge rechts und links mit vielen
Haselsträuchern bewachsen. Schließlich verließen die Elben den Fußweg.
Ein grüner Saumpfad führte fast unsichtbar rechts durch das Dickicht;
ihm folgten sie, und er schlängelte sich die bewaldeten Hänge hinauf bis
zum Gipfel eines Bergrückens, der in das tiefere Land des Flußtals hinein-
ragte. Plötzlich kamen sie aus dem Schatten der Bäume heraus, und vor
ihnen lag eine weite Grasfläche, grau in der Nacht. Auf drei Seiten war
sie von Wald umgeben; aber nach Osten fiel das Gelände steil ab, und die
Gipfel der dunklen Bäume, die auf dem Grund des Tobels wuchsen, waren
zu ihren Füßen. Jenseits erstreckten sich die Niederungen dämmerig und
flach im Sternenlicht. Näher zu ihnen blinkten ein paar Lichter im Dorf
Waldhof.
Die Elben setzten sich ins Gras und unterhielten sich mit leiser
Stimme; sie schienen die Hobbits nicht weiter zu beachten. Frodo und
seine Gefährten hüllten sich in Mäntel und Decken, und Schläfrigkeit
überkam sie. Die Nacht zog herauf, und die Lichter im Tal erlöschten.
Pippin schlief ein, den Kopf auf ein grünes Hügelchen gebettet.
Fern noch im Osten stand Remmirath, das Siebengestirn, und langsam
stieg der rote Borgil über den Nebel empor, leuchtend wie ein feuriger
Edelstein. Dann wurde durch ein Umspringen des Windes der ganze
Nebel wie ein Schleier fortgezogen, und über dem Rand der Welt erschien
der Streiter des Himmels, Menelvagor mit seinem schimmernden Schwert-
gehänge. Die Elben stimmten ein Lied an. Plötzlich flammte unter den
Bäumen ein Feuer auf, das einen roten Schein warf.
»Kommt!« riefen die Elben den Hobbits zu. »Kommt! Jetzt ist die Zeit
für Unterhaltung und Fröhlichkeit!«
Pippin setzte sich auf und rieb die Augen. Ihn fröstelte. »Dort ist ein
Feuer in der Halle und Essen für hungrige Gäste«, sagte ein Elb, der vor
ihm stand.
Am südlichen Ende der Lichtung erstreckte sich der Rasen bis in den
Wald hinein und bildete gleichsam den grünen Boden einer geräumigen,
von den Ästen der Bäume überdachten Halle. Ihre hohen Stämme standen
ringsum wie Säulen. In der Mitte flackerte ein Holzfeuer, an den Baum-
säulen brannten Fackeln und verbreiteten ein silbrig-goldenes Licht. Die
Elben saßen um das Feuer auf dem Gras oder auf den glatten, runden
Sägeflächen alter Baumstümpfe. Einige gingen mit Bechern hin und her und
schenkten Getränke ein; andere brachten Speisen auf vollen Tellern und
Schüsseln.
»Das ist karge Kost«, sagten sie zu den Hobbits, »denn wir sind hier
im grünen Wald fern von unseren Hallen. Wenn ihr jemals daheim unsere
Gäste seid, werden wir euch besser bewirten.«
»Mir erscheint es gut genug für ein Geburtstagsfest«, sagte Frodo.
Pippin konnte sich später kaum an das Essen oder Trinken erinnern,
denn er war so erfüllt von dem Leuchten auf den Gesichtern der Elben
und dem Klang so vielfältiger und schöner Summen, daß er sich wie in
einem Wachtraum vorkam. Aber er erinnerte sich, daß es Brot gab,
wohlschmeckender, als ein köstlicher weißer Laib einem Verhungernden
erscheinen mag, und Früchte, süß wie wilde Beeren und schmackhafter als
in Gärten gezogenes Obst; er leerte einen Becher, gefüllt mit einem duften-
den Getränk, kühl wie eine klare Quelle, golden wie ein Sommernachmit-
tag.
Sam konnte niemals mit Worten beschreiben und auch nicht sich selbst
deutlich erklären, was er in jener Nacht dachte oder fühlte, obwohl es ihm
im Gedächtnis blieb als eines der wichtigsten Ereignisse seines Lebens.
Am nächsten kam er seinen Gefühlen noch, wenn er sagte: »Ja, Herr,
wenn ich solche Äpfel ziehen könnte, würde ich mich einen Gärtner nen-
nen. Aber der Gesang war es, der mir zu Herzen ging, wenn du weißt,
was ich meine.«
Frodo saß da, aß und trank und unterhielt sich mit Vergnügen; aber
sein Sinn war hauptsächlich auf das gesprochene Wort gerichtet. Er
kannte die Elbensprache ein wenig und lauschte eifrig. Dann und wann
redete er mit jenen, die ihn bedienten, und dankte ihnen in ihrer eigenen
Sprache. Sie blickten ihn freundlich an und sagten dann lachend: »Hier
ist ein Juwel unter den Hobbits!«
Nach einer Weile schlief Pippin fest ein; er wurde aufgehoben und in
eine Laube unter den Bäumen getragen; dort wurde er auf ein weiches
Bett gelegt, und er schlief die ganze Nacht. Sam wollte seinen Herrn nicht
verlassen. Als Pippin fort war, kam er und kauerte sich zu Frodos Füßen,
wo er schließlich einnickte und die Augen schloß. Frodo blieb lange wach
und unterhielt sich mit Gildor.
Sie sprachen von vielen Dingen, alten und neuen, und Frodo stellte Gil-
dor viele Fragen über die Ereignisse in der weiten Welt außerhalb des
Auenlands. Die Nachrichten waren zumeist traurig und unheilschwan-
ger: über die zunehmende Dunkelheit, die Kriege der Menschen und die
Flucht der Elben. Schließlich brachte Frodo die Frage vor, die ihm am
meisten am Herzen lag:
»Sage mir, Gildor, hast du Bilbo jemals gesehen, seit er uns verließ?«
Gildor lächelte. »Ja«, antwortete er. »Zweimal. Er sagte uns Lebewohl
an eben dieser Stelle. Aber ich sah ihn dann noch einmal, weit von hier.«
Er wollte nichts mehr über Bilbo sagen, und Frodo versank in Schweigen.
»Du fragst mich nicht oder erzählst mir nicht viel über das, was dich
selbst betrifft, Frodo«, sagte Gildor. »Aber ein wenig weiß ich bereits,
und mehr kann ich in deinem Gesicht lesen oder in den Gedanken, die
deinen Fragen zugrunde liegen. Du verläßt das Auenland, und doch
zweifelst du, ob du finden wirst, was du suchst, oder vollbringen kannst,
was du vorhast, und ob du jemals zurückkehren wirst. Ist es nicht so?«
»So ist es«, sagte Frodo. »Aber ich glaubte, mein Weggehen sei ein
Geheimnis, das nur Gandalf und mein getreuer Sam kannten.« Er blickte
hinunter auf Sam, der leise schnarchte.
»Der Feind wird das Geheimnis von uns nicht erfahren«, sagte Gildor.
»Der Feind?« fragte Frodo. »Dann weißt du also, warum ich das Auen-
land verlasse?«
»Ich weiß nicht, aus welchem Grunde dich der Feind verfolgt«, antwor-
tete Gildor. »Aber ich sehe, daß er es tut — so seltsam es mir auch er-
scheint. Und ich warne dich, denn Gefahren liegen jetzt vor dir und hin-
ter dir und auf allen Seiten.«
»Du meinst die Reiter? Ich fürchtete, daß sie Diener des Feindes seien.
Was sind denn die Schwarzen Reiter?«
»Hat Gandalf dir nichts gesagt?«
»Nichts über solche Wesen.«
»Dann steht es mir wohl nicht an, mehr darüber zu sagen — damit
Furcht dich nicht von deiner Wanderung abhält. Denn mir scheint, daß
du dich gerade noch rechtzeitig auf den Weg gemacht hast, wenn es über-
haupt noch rechtzeitig ist. Du mußt dich jetzt eilen, darfst dich nicht auf-
halten und nicht umkehren; denn das Auenland ist nicht länger ein
Schutz für dich.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, welche Nachricht entsetzlicher sein
könnte als deine Andeutungen und Warnungen«, rief Frodo. »Ich wußte
natürlich, daß Gefahren vor mir lägen; aber ich erwartete nicht, daß sie
mir schon in unserem eigenen Auenland begegnen würden. Kann ein
Hobbit nicht in Frieden von der Wässer zum Strom wandern?«
»Aber es ist nicht euer eigenes Auenland«, antwortete Gildor. »An-
dere lebten schon hier, ehe es Hobbits gab; und andere werden hier wie-
der leben, wenn Hobbits nicht mehr sind. Die weite Welt erstreckt sich
rings um euch: ihr könnt euch absperren, doch könnt ihr sie nicht für
immer aussperren.«
»Ich weiß — und doch schien das Auenland immer so sicher und ver-
traut. Was kann ich nun tun? Mein Plan war, das Auenland heimlich zu
verlassen und nach Bruchtal zu gehen; aber jetzt werde ich schon ver-
folgt, ehe ich überhaupt nach Bockland komme.«
»Du solltest, meine ich, dennoch an dem Plan festhalten«, sagte Gildor.
»Ich glaube nicht, daß der Weg sich als zu schwierig erweisen wird für
deinen Mut. Aber wenn du einen eindeutigeren Rat haben willst, solltest
du Gandalf fragen. Ich kenne den Grund für deine Flucht nicht, und daher
weiß ich nicht, mit welchen Mitteln deine Verfolger dich angreifen wer-
den. Diese Dinge muß Gandalf wissen. Ich nehme an, du wirst ihn sehen,
ehe du das Auenland verläßt?«
»Ich hoffe. Aber das ist noch etwas, das mir Sorgen macht. Ich habe
Gandalf schon seit vielen Tagen erwartet. Spätestens vorgestern sollte er
in Hobbingen sein; aber er ist nicht gekommen. Nun frage ich mich, was
geschehen sein kann. Ob ich auf ihn warten soll?«
Gildor schwieg einen Augenblick. »Die Nachricht gefällt mir nicht«,
sagte er schließlich. »Wenn Gandalf sich verspätet, bedeutet es nichts
Gutes. Aber es heißt: Misch dich nicht in die Angelegenheiten von Zau-
berern ein, denn sie sind schwierig und rasch erzürnt. Die Entscheidung
liegt bei dir: zu gehen oder zu warten.«
»Und es heißt auch«, erwiderte Frodo: »Frage nicht die Elben um Rat,
denn sie werden sowohl Ja als auch Nein sagen.«
»Heißt es wirklich so?« lachte Gildor. »Elben geben selten unvorsich-
tige Ratschläge, denn Ratschläge sind eine gefährliche Gabe, selbst von
den Weisen an die Weisen, und alle Wege mögen in die Irre führen. Aber
was willst du? Du hast mir nicht alles über dich erzählt; und wie soll ich
dann besser entscheiden als du? Aber wenn du Rat haben willst, dann
will ich ihn dir um der Freundschaft willen geben. Ich glaube, du solltest
sofort gehen, ohne Säumen; und wenn Gandalf nicht kommt, ehe du auf-
brichst, dann rate ich dir dies: geh nicht allein. Nimm Freunde mit, die
vertrauenswürdig und willig sind. Nun solltest du dankbar sein, denn ich
gebe diesen Rat nicht gern. Die Elben haben ihre eigene Bürde zu tragen
und ihre eigenen Sorgen, und sie kümmern sich wenig um die Wege der
Hobbits oder irgendwelcher anderen Geschöpfe auf der Welt. Unsere
Pfade kreuzen die ihren selten, aus Zufall oder Absicht. Diese Begegnung
mag mehr als ein Zufall sein; doch die Absicht ist mir nicht klar, und ich
fürchte, zu viel zu sagen.«
»Ich bin dir zutiefst dankbar«, sagte Frodo. »Aber ich wünschte, du
würdest mir genau sagen, was die Schwarzen Reiter eigentlich sind.
Wenn ich deinem Rat folge, mag es sein, daß ich Gandalf lange nicht sehe,
und ich sollte die Gefahr kennen, die mich verfolgt.«
»Genügt es dir nicht, zu wissen, daß sie Diener des Feindes sind?« ant-
wortete Gildor. »Fliehe sie! Sprich kein Wort mit ihnen! Sie sind tödlich.
Frage mich nicht mehr! Aber mein Herz sagt mir, daß du, Frodo, Drogos
Sohn, ehe alles zu Ende ist, mehr von diesen grausamen Wesen wissen
wirst als Gildor Inglorion. Möge Elbereth dich beschützen!«
»Aber wo soll ich Mut finden?« fragte Frodo. »Das ist es, was ich
hauptsächlich brauche.«
»Mut kann man an unwahrscheinlichen Stellen finden«, sagte Gildor.
»Sei guter Hoffnung! Schlafe jetzt! Am Morgen werden wir fort sein;
aber wir werden Botschaften durch die Lande schicken. Die Wandernden
Gefährten sollen von deiner Fahrt wissen, und jene, die die Macht haben,
Gutes zu tun, sollen auf der Hut sein. Ich nenne dich Elbenfreund; und
möge das Ende deines Weges unter einem guten Stern stehen! Selten haben
wir so viel Freude an Fremden gehabt, und es tut wohl, Worte der Alten
Sprache von den Lippen anderer Wanderer in der Welt zu hören.«
Frodo wurde von Müdigkeit gepackt, gerade als Gildor aufhörte zu
reden. »Ich will jetzt schlafen«, sagte er; der Elb geleitete ihn zu einer
Laube neben Pippin, und er warf sich auf ein Bett und fiel sofort in
traumlosen Schlummer.