NEUNTES KAPITEL
DER GROSSE STROM
Frodo wurde von Sam geweckt. Er lag, gut zugedeckt, unter hohen,
grauborkigen Bäumen in einem stillen Winkel der Wälder auf dem west-
lichen Ufer des Großen Stroms, des Anduin. Er hatte die ganze Nacht
durchgeschlafen, und das Grau des Morgens schimmerte schwach durch
die kahlen Äste. Gimli war nahebei mit einem kleinen Feuer beschäftigt.
Sie brachen wieder auf, ehe es heller Tag war. Die meisten von ihnen
waren allerdings nicht begierig, nach Süden zu gelangen: sie waren zu-
frieden, daß die Entscheidung, die sie spätestens treffen mußten, sobald
sie nach Rauros und zur Insel Zinnenfels kamen, noch einige Tage auf-
geschoben war; und sie überließen es dem Strom, die Geschwindigkeit
zu bestimmen, denn sie hatten nicht den Wunsch, den Gefahren entge-
genzueilen, die vor ihnen lagen, welchen Kurs sie zuletzt auch immer ein-
schlagen würden. Aragorn ließ sie mit der Strömung treiben und ihre Kräfte
für zukünftige Anstrengungen sparen. Doch bestand er darauf, daß sie
wenigstens jeden Tag früh aufbrachen und bis spät am Abend weiterfuh-
ren; denn er ahnte, daß die Zeit dränge, und fürchtete, der Dunkle Herr-
scher sei nicht müßig gewesen, während sie sich in Lórien aufgehalten
hatten.
Dennoch sahen sie an jenem Tag und am nächsten keine Spur eines
Feindes. Die eintönigen grauen Stunden vergingen ereignislos. Im Laufe
des dritten Tages ihrer Fahrt veränderte sich die Landschaft allmählich:
die Bäume wurden spärlicher und verschwanden dann ganz. Auf dem
östlichen Ufer zu ihrer Linken erblickten sie lange, formlose Hänge, die
sich aufwärts und bis zum Himmel erstreckten; braun und verdorrt sahen
sie aus, als sei ein Feuer über sie hinweggegangen und habe keinen leben-
den grünen Halm zurückgelassen: eine unfreundliche Wüste, deren Leere
nicht einmal von einem Baumstumpf oder einem aufragenden Stein un-
terbrochen wurde. Sie hatten die Braunen Lande erreicht, die sich riesig
und verlassen zwischen dem Südlichen Düsterwald und den Bergen des
Emyn Muil erstreckten. Welche Pestilenz oder Krieg oder böse Tat des
Feindes dieses ganze Gebiet so verheert hatte, wußte selbst Aragorn
nicht.
Auch im Westen zu ihrer Rechten war das Land baumlos, aber es war
eben und an manchen Stellen grün von weiten Grasflächen. Auf dieser
Seite des Stroms kamen sie an ganzen Wäldern von Schilf vorüber, das so
hoch war, daß es die Aussicht nach Westen völlig versperrte, als die klei-
nen Boote an seinem raschelnden Saum entlangglitten. Die herabhängen-
den dunklen, verwelkten Federbüschel des Schilfs schwankten hin und her
in den hellen, kalten Lüften und zischten leise und traurig. Hier und dort
konnte Frodo durch Einschnitte einen Blick auf wellige Wiesen werfen
und sah weit dahinter Berge im Sonnenuntergang und ganz in der Ferne
am Horizont eine dunkle Linie: die südlichsten Ketten des Nebelgebirges.
Es gab kein Zeichen von irgendwelchen Lebewesen, die sich bewegten,
ausgenommen Vögel. Deren gab es viele: kleine Wasservögel, die im
Schilf pfiffen und piepsten, doch ließen sie sich selten blicken. Ein- oder
zweimal hörten die Gefährten das Rauschen und Schwirren von Schwa-
nenflügeln, und als sie aufschauten, sahen sie eine lange Kette, die über
den Himmel zog.
»Schwäne!« sagte Sam. »Und mächtig große noch dazu!«
»Ja!« sagte Aragorn. »Und es sind schwarze Schwäne!«
»Wie weit und leer und traurig dieses ganze Land aussieht!« sagte
Frodo. »Ich hatte mir vorgestellt, wenn man nach Süden kommt, wird es
wärmer und fröhlicher, bis man den Winter für immer hinter sich läßt.«
»Aber wir sind noch nicht weit im Süden«, sagte Aragorn. »Es ist
noch Winter, und wir sind fern vom Meer. Hier ist die Welt kalt, bis
es plötzlich Frühling wird, und wir können sogar noch Schnee bekom-
men. Weit unten in der Bucht von Belfalas, in die der Anduin fließt, ist
es vielleicht warm und heiter, oder würde es sein, wenn der Feind nicht
wäre. Doch hier sind wir nicht mehr als sechzig Wegstunden, glaube ich,
südlicher als das Südviertel in eurem Auenland, obwohl es Hunderte von
Meilen entfernt ist. Ihr seht jetzt im Südwesten über die nördlichen Ebe-
nen der Riddermark, Rohan, das Land der Herren der Rösser. Es wird
nicht lange dauern, dann kommen wir zur Mündung des Limklar, der von
Fangorn herabkommt und sich in den Großen Strom ergießt. Er bildet die
Nordgrenze von Rohan; und in alter Zeit gehörte alles Land zwischen
dem Limklar und dem Weißen Gebirge den Rohirrim. Es ist ein reiches
und erfreuliches Land, und sein Gras ist ohnegleichen; doch in diesen
bösen Zeiten wohnen die Leute nicht mehr am Strom und reiten auch
nicht oft an seine Ufer. Der Anduin ist breit, doch können die Orks ihre
Pfeile weit über den Fluß schießen; und neuerdings, heißt es, haben sie
sich sogar über das Wasser gewagt, um die Herden und Gestüte von
Rohan zu überfallen.«
Sam blickte beklommen von Ufer zu Ufer. Vorher hatten ihm die
Bäume einen feindseligen Eindruck gemacht, als ob sie geheime Augen
und lauernde Gefahren bargen. Jetzt wünschte er, daß noch Bäume da
wären. Er hatte das Gefühl, die Gemeinschaft sei allzu wehrlos in den
kleinen, offenen Booten in einem Gelände, das keinen Schutz bot, auf
einem Fluß, der eine Kriegsfront war.
In den nächsten paar Tagen, als sie immer weiter nach Süden kamen,
wurde die ganze Gemeinschaft von diesem Gefühl der Unsicherheit ergrif-
fen. Einen ganzen Tag lang nahmen sie die Paddel zuhilfe und hasteten
davon. Die Ufer glitten vorbei. Bald wurde der Strom breiter und seichter.
Lange steinige Strande erstreckten sich am Ostufer, und dort waren Sand-
bänke, so daß vorsichtig gesteuert werden mußte. Die Braunen Lande ver-
wandelten sich in ödes Heideland, über das ein kalter Wind aus dem
Osten blies. Auf der anderen Seite waren aus den Wiesen wellige Hügel
mit verdorrtem Gras inmitten einer Ried- und Moorlandschaft geworden.
Frodo fröstelte bei dem Gedanken an die Rasenflächen und den Spring-
quell, die klare Sonne und den sanften Regen von Lothlórien. In allen
Booten wurde wenig gesprochen und gar nicht gelacht. Alle hingen ihren
eigenen Gedanken nach.
Legolas lief im Geist unter den Sternen einer Sommernacht auf irgend-
einer Waldlichtung im Norden zwischen den Buchen dahin. Gimli glaubte
Gold in den Fingern zu haben und fragte sich, ob es geeignet sei, als
Gehäuse für die Gabe der Herrin verarbeitet zu werden. Merry und Pippin
im mittleren Boot war unbehaglich zumute, denn Boromir murmelte vor
sich hin, biß sich manchmal auf die Fingernägel, als ob ihn irgendeine
Unrast oder ein Zweifel verzehrten, und manchmal griff er zum Paddel
und trieb das Boot näher an das von Aragorn heran. Dann bemerkte
Pippin, der im Bug saß und zurückschaute, einen sonderbaren Glanz in
seinen Augen, wenn Boromir nach vorn blickte und Frodo anstarrte. Sam
war schon lange zu der Einsicht gelangt, daß Boote vielleicht nicht so ge-
fährlich seien, wie man ihm als Kind weisgemacht hatte, daß sie aber weit
unbequemer waren, als er sich je vorgestellt hatte. Er war verkrampft und
unglücklich und hatte nichts zu tun, als die vorbeiziehende Winterland-
schaft und das graue Wasser ringsum zu betrachten. Selbst wenn die
Paddel benutzt wurden, vertraute man Sam keins an.
Als am vierten Tag die Dämmerung herabsank, schaute er zurück über
die gebeugten Köpfe von Frodo und Aragorn und die nachfolgenden
Boote; er war schläfrig und sehnte sich nach einem Lagerplatz und wollte
wieder Erde unter seinen Füßen spüren. Plötzlich fiel sein Blick auf etwas:
zuerst starrte er teilnahmslos, dann setzte er sich auf und rieb sich die
Augen; aber als er wieder hinschaute, war nichts mehr zu sehen.
In jener Nacht lagerten sie auf einem kleinen Werder nahe dem west-
lichen Ufer. Sam lag in Decken eingewickelt neben Frodo. »Ich hatte
einen komischen Traum, ein oder zwei Stunden, ehe wir anhielten, Herr
Frodo«, sagte er. »Oder vielleicht war es kein Traum. Komisch war's
jedenfalls.«
»Na, was war es denn?« fragte Frodo, denn er wußte, daß Sam nicht
einschlafen würde, ehe er seine Geschichte erzählt hatte, was immer es
sein mochte. »Ich habe, seit wir Lothlórien verließen, nichts gesehen oder
zu sehen geglaubt, das mich zum Lächeln gebracht hätte.«
»Es war nicht auf diese Weise komisch, Herr Frodo. Es war sonderbar.
Und sehr übel, wenn's kein Traum war. Ich will es dir lieber erzählen. Es
war folgendermaßen: ich sah einen Baumstamm mit Augen.«
»Gegen den Baumstamm ist nichts einzuwenden«, meinte Frodo. »Es
gibt viele im Fluß. Aber laß die Augen weg!«
»Kann ich nicht«, sagte Sam. »Die Augen waren es ja gerade, die mich
haben aufhorchen lassen, sozusagen. Was ich sah, hielt ich für einen
Baumstamm, der in der Dämmerung hinter Gimlis Boot herschwamm;
aber ich achtete nicht viel drauf. Dann schien es mir, als ob uns der
Baumstamm langsam einholte. Und das war eigentümlich, wie man sagen
könnte, da wir schließlich alle auf dem Strom trieben. Gerade in dem
Augenblick sah ich die Augen: zwei blasse Punkte, als ob sie schimmer-
ten, auf einem Höcker am vorderen Ende des Baumstamms. Und außer-
dem war es kein Baumstamm, denn er hatte paddelnde Füße, fast wie von
einem Schwan, nur kamen sie mir größer vor, und sie tauchten dauernd
ins Wasser und wieder heraus.
Da setzte ich mich auf und rieb mir die Augen und hatte vor, zu rufen,
wenn es immer noch da sein sollte, nachdem ich mir den Schlaf ausgerie-
ben hatte. Denn das Ding, was immer es war, kam jetzt rasch heran und
war schon dicht hinter Gimli. Aber ob diese zwei Lampen gemerkt hat-
ten, daß ich mich bewegte und starrte, oder ob ich wieder zu Verstand
gekommen war, das weiß ich nicht. Als ich wieder hinschaute, waren sie
nicht mehr da. Immerhin glaubte ich, daß ich aus dem Augenwinkel, wie
man so sagt, etwas Dunkles in den Schatten des Ufers habe schießen sehen.
Allerdings konnte ich keine Augen mehr sehen.
Ich sagte zu mir: >du träumst wieder, Sam Gamdschie<, sagte ich; und
dann sagte ich nichts mehr. Aber ich habe nachgedacht seitdem, und jetzt
bin ich nicht mehr so sicher. Was hältst du davon, Herr Frodo?«
»Ich würde meinen: ein Baumstamm und Dämmerung und Schlaf in
deinen Augen, Sam«, sagte Frodo, »wenn es das erste Mal gewesen wäre,
daß diese Augen gesehen worden sind. Aber es ist nicht das erste Mal. Ich
sah sie schon weit im Norden, ehe wir nach Lórien kamen. Und ich sah
ein seltsames Geschöpf mit Augen, das in jener Nacht auf das Flett klet-
terte. Haldir sah es auch. Und erinnerst du dich an den Bericht der Elben,
die die Orkbande verfolgten?«
»O ja«, sagte Sam. »Und ich erinnere mich noch an mehr. Mir gefallen
meine Gedanken nicht; aber wenn ich an dieses und jenes denke und an
Herrn Bilbos Geschichten und all das, dann glaube ich, ich könnte dem
Geschöpf einen Namen geben, auf gut Glück geraten. Einen häßlichen
Namen. Gollum vielleicht?«
»Ja, das habe ich schon eine ganze Weile gefürchtet«, sagte Frodo.
»Schon seit der Nacht auf dem Flett. Ich vermute, er hat in Moria auf der
Lauer gelegen und dort unsere Fährte aufgenommen; aber ich hatte gehofft,
daß unser Aufenthalt in Lórien ihn wieder von der Spur abbringen würde.
Das elende Geschöpf muß sich in den Wäldern am Silberlauf verborgen und
unsere Abfahrt beobachtet haben!«
»So wird's wohl sein«, sagte Sam. »Und auch wir sollten lieber ein biß-
chen wachsamer sein, sonst spüren wir irgendwann in diesen Nächten
häßliche Finger an unserem Hals, falls wir überhaupt rechtzeitig aufwa-
chen, um noch etwas zu spüren. Und das war's, worauf ich hinauswollte.
Nicht nötig, Streicher oder die anderen heute nacht zu stören. Ich will
Wache halten. Ich kann morgen schlafen, da ich ja in einem Boot doch
bloß Gepäck bin, wie du sagen könntest.«
»Könnte ich«, antwortete Frodo. »Und ich könnte sagen: »Gepäck mit
Augen<. Du sollst Wache halten; aber nur, wenn du versprichst, mich für
die zweite Hälfte der Nacht zu wecken, falls nicht vorher etwas ge-
schieht.«
Mitten in der Nacht fuhr Frodo aus tiefem, dunklem Schlaf auf, als
Sam ihn schüttelte. »Es ist eine Schande, dich zu wecken«, flüsterte Sam,
»aber du hast es gewollt. Es gibt nichts zu berichten, oder nicht viel. Ich
glaubte, vor einiger Zeit ein leises Plätschern und ein schnüffelndes Ge-
räusch zu hören; aber des Nachts hört man eine Menge solcher Geräusche
an einem Fluß.«
Er legte sich nieder, und Frodo setzte sich, in seine Decken gehüllt, hin
und kämpfte gegen seine Müdigkeit an. Minuten oder Stunden waren
langsam verstrichen, und nichts war geschehen. Frodo wollte gerade der
Versuchung nachgeben, sich wieder hinzulegen, als eine dunkle Gestalt,
kaum sichtbar, auf eines der vertäuten Boote zuschwamm. Eine lange
weißliche Hand kam aus dem Wasser und packte den Bordrand; zwei
blasse, lampenähnliche Augen schimmerten kalt, als sie in das Boot hin-
einstarrten; dann schauten sie auf und erblickten Frodo auf dem Werder.
Sie waren nicht mehr als zwei oder drei Ellen entfernt, und Frodo hörte
ein schwaches Zischen, als das Geschöpf Luft holte. Er stand auf, zog
Stich aus der Scheide und trat auf die Augen zu. Sofort ging ihr Licht
aus. Es gab noch ein Zischen und ein Platschen, und das dunkle, baum-
stammähnliche Wesen schoß flußabwärts davon in die Nacht. Aragorn
bewegte sich im Schlaf, drehte sich um und setzte sich auf.
»Was ist los?« flüsterte er, sprang auf und kam zu Frodo. »Ich spürte
irgend etwas im Schlaf. Warum hast du dein Schwert gezogen?«
»Gollum«, antwortete Frodo. »Oder zumindest vermute ich es.«
»Ah«, sagte Aragorn. »Dann weißt du also Bescheid über unseren
kleinen Wegelagerer? Er ist durch ganz Moria hinter uns hergewatschelt
und bis hinunter zum Nimrodel. Seit wir mit den Booten unterwegs sind,
hat er auf einem Baumstamm gelegen und mit Händen und Füßen gepad-
delt. Ich habe ein oder zweimal nachts versucht, ihn zu schnappen, aber
er ist schlauer als ein Fuchs und schlüpfrig wie ein Fisch. Ich hatte ge-
hofft, bei der Flußfahrt könnten wir ihn abhängen, aber er ist ein zu ge-
schickter Wassermann.
Morgen werden wir versuchen müssen, schneller voranzukommen. Lege
du dich jetzt hin, ich werde für den Rest der Nacht wachen. Ich wollte,
ich könnte diesen Wurm packen. Wir könnten ihn uns nützlich machen.
Aber wenn es mir nicht gelingt, dann müssen wir versuchen, ihn abzu-
schütteln. Er ist sehr gefährlich. Abgesehen von einem nächtlichen Mord,
kann er auch jeden Feind, der in der Nähe ist, auf unsere Fährte setzen.«
Die Nacht verging, ohne daß Gollum auch nur seinen Schatten zeigte.
Danach war die Gemeinschaft sehr auf der Hut, aber sie sahen nichts
mehr von Gollum, solange die Fahrt dauerte. Wenn er sie noch weiter
verfolgte, dann war er sehr vorsichtig und listig. Auf Aragorns Geheiß
paddelten sie jetzt lange Strecken hintereinander, und die Ufer zogen
rasch vorbei. Aber sie sahen wenig vom Land, denn sie fuhren meist des
Nachts und in der Dämmerung und ruhten am Tage und legten sich so
versteckt hin, wie das Land es nur zuließ. Auf diese Weise verging die
Zeit ohne Ereignisse bis zum siebenten Tag.
Das Wetter war immer noch grau und bedeckt, und der Wind wehte
von Osten, doch als aus dem Abend Nacht wurde, klärte sich der Him-
mel weit im Westen auf, und Lachen von schwachem Licht, gelb und
blaßgrün, taten sich unter den grauen Wolkenufern auf. Dort konnte man
die weiße Sichel des Neumonds auf den fernen Seen schimmern sehen.
Sam sah es und runzelte die Stirn.
Am nächsten Tag begann sich auf beiden Seiten die Landschaft rasch
zu verändern. Die Ufer stiegen an und wurden steinig. Bald kamen sie
durch ein felsiges Bergland, und auf beiden Ufern waren steile Hänge,
versteckt unter dichtem Gestrüpp von Weißdorn und Schlehen und einem
Gewirr von Heckenwinden und Brombeeren. Dahinter standen niedrige,
abbröckelnde Felsklippen und Kamine aus grauem, verwittertem Gestein,
mit dunklem Efeu überzogen; und hinter diesen wiederum erhoben sich
hohe Bergkämme, gekrönt mit windverzausten Tannen. Sie näherten sich
dem grauen Bergland des Emyn Muil, der südlichen Grenze von Wilder-
land.
Es gab viele Vögel auf den Klippen und Felsenkaminen, und den gan-
zen Tag über hatten Schwärme von Vögeln, die sich schwarz gegen den
fahlen Himmel abhoben, hoch in den Lüften gekreist. Als sie an jenem
Tag lagerten, hatte Aragorn die Vögel mißtrauisch beobachtet und sich
gefragt, ob Gollum irgendein Unheil gestiftet habe und die Nachricht
über ihre Fahrt sich jetzt in der Wildnis verbreite. Später, als die Sonne
unterging und die Gemeinschaft sich zur Weiterfahrt bereit machte,
zeigte er auf einen dunklen Fleck im schwächer werdenden Licht: ein gro-
ßer Vogel, der hoch und noch fern war, bald kreisend, bald langsam nach
Süden fliegend.
»Was ist das, Legolas?« fragte er. »Ist es, wie ich glaube, ein Adler?«
»Ja«, antwortete Legolas. »Es ist ein Adler, ein jagender Adler. Ich
frage mich, was das bedeutet. Es ist weit vom Gebirge.«
»Wir wollen nicht aufbrechen, ehe es ganz dunkel ist«, sagte Aragorn.
Die achte Nacht ihrer Fahrt brach an. Es war still und windlos; der
graue Ostwind hatte sich gelegt. Die schmale Mondsichel war früh im
bleichen Sonnenuntergang verschwunden, aber hoch oben war der Himmel
klar, und obwohl fern im Süden große Wolken standen, die noch schwach
schimmerten, blinkten im Westen helle Sterne.
»Kommt!« sagte Aragorn. »Wir wollen noch eine Nachtfahrt wagen.
Jetzt nahem wir uns Bereichen des Flusses, die ich nicht gut kenne; denn
ich bin in diesen Gegenden noch nie zu Wasser unterwegs gewesen,
jedenfalls nicht zwischen hier und den Stromschnellen von Sam Gebir.
Aber wenn meine Rechnung richtig ist, müssen sie noch viele Meilen
entfernt sein. Immerhin gibt es schon gefährliche Stellen, ehe wir dorthin
kommen: Felsen und steinige Werder im Strom. Wir müssen sehr aufpas-
sen und dürfen nicht schnell paddeln.«
Sam im vordersten Boot wurde das Amt des Ausgucks übertragen.
Er legte sich in den Bug und starrte in die Finsternis. Die Nacht wurde
dunkel, aber die Sterne hoch oben waren seltsam hell, und ein Wider-
schein lag auf der Oberfläche des Flusses. Es ging auf Mittemacht zu,
sie waren eine Zeitlang getrieben und hatten kaum die Paddel benutzt,
als Sam plötzlich aufschrie. Nur wenige Klafter vor ihnen ragten dunkle
Umrisse aus dem Strom, und er hörte das Strudeln von dahinschießendem
Wasser. Eine reißende Strömung schwenkte nach links, zum östlichen
Ufer, wo die Durchfahrt frei war. Als sie dorthin mitgerissen wurden,
konnten sie, jetzt von ganz nah, sehen, wie der Strom gegen scharfe Fel-
sen schäumte, die wie eine Reihe Zähne aus dem Wasser ragten. Die
Boote waren dicht zusammengedrängt.
»Hoi! Aragorn!« schrie Boromir, als sein Boot gegen das vordere bum-
ste. »Das ist Irrsinn! Wir können die Stromschnellen nicht bei Nacht be-
zwingen! Kein Boot kann Sarn Gebir überstehen, sei es bei Tage oder
bei Nacht.«
»Zurück! Zurück!« riet Aragorn. »Wendet! Wendet, wenn ihr könnt!«
Er stieß sein Paddel ins Wasser und versuchte, das Boot anzuhalten und
beizudrehen.
»Ich habe mich verrechnet«, sagte er zu Frodo. »Ich wußte nicht, daß
wir schon so weit waren. Der Anduin fließt schneller, als ich geglaubt
hatte. Sarn Gebir muß schon ganz nahe sein.«
Unter großen Mühen brachten sie die Boote zum Stehen und herum;
aber zuerst konnten sie gegen die Strömung nur langsam vorankommen
und wurden die ganze Zeit immer näher an das östliche Ufer getrieben.
Dunkel und unheilvoll türmte es sich jetzt in der Nacht auf.
»Alle zusammen, paddelt!« schrie Boromir. »Paddelt! Sonst werden
wir auf die Untiefen getrieben.« Während er noch sprach, spürte Frodo,
wie der Kiel unter ihm auf Stein schrammte.
In diesem Augenblick hörte man ein Surren von Bogensehnen: meh-
rere Pfeile schwirrten über sie hinweg, und einige fielen zwischen sie.
Einer traf Frodo zwischen den Schultern, und er taumelte mit einem
Schrei nach vorn und ließ sein Paddel los; aber der Pfeil prallte an sei-
nem verborgenen Panzerhemd ab. Ein anderer durchbohrte Aragorns
Kapuze; und ein dritter stak im Bordrand des zweiten Bootes, dicht an
Merrys Hand. Sam glaubte schwarze Gestalten zu sehen, die auf dem lan-
gen Kiesstrand des östlichen Ufers auf- und abliefen. Sie schienen sehr
nahe zu sein.
»Yrch!« sagte Legolas, in seine eigene Sprache verfallend.
»Orks!« rief Gimli.
»Gollums Werk, da möchte ich wetten«, sagte Sam zu Frodo. »Und
einen hübschen Platz haben sie sich ausgesucht. Offenbar soll uns der
Fluß direkt in ihre Arme treiben!«
Sie alle beugten sich vor und mühten sich mit den Paddeln ab: sogar
Sam nahm eines zur Hand. Jeden Augenblick erwarteten sie, den Biß der
schwarzgefiederten Pfeile zu spüren. Viele schwirrten über ihre Köpfe
oder fielen nahebei ins Wasser; aber keiner traf mehr. Es war dunkel,
doch nicht zu dunkel für die Nachtaugen von Orks, und im Sternen-
schimmer wären sie für ihre verschlagenen Feinde eine Zielscheibe gewe-
sen, hätten nicht die grauen Mäntel aus Lórien und das graue Holz der
Elben-Boote die Hinterlist der Bogenschützen von Mordor vereitelt.
Schlag um Schlag quälten sie sich weiter. In der Dunkelheit war es
schwer auszumachen, ob sie überhaupt vorankamen; aber allmählich ließ
das Strudeln des Wassers nach, und der Schatten des östlichen Ufers wich
zurück in die Nacht. Schließlich hatten sie, soweit sie es beurteilen konn-
ten, wieder die Mitte des Stroms erreicht und ihre Boote in sichere Entfer-
nung von den herausragenden Felsen gebracht. Dann machten sie eine
halbe Drehung und stießen mit aller Kraft auf das westliche Ufer zu. Un-
ter dem Schatten von Büschen, die sich über das Wasser neigten, hielten
sie an und schöpften Atem.
Legolas legte sein Paddel hin und nahm den Bogen zur Hand, den er
aus Lórien mitgebracht hatte. Dann sprang er an Land und ging ein paar
Schritte die Böschung hinauf. Er spannte den Bogen, legte einen Pfeil ein,
wandte sich um und schaute zurück über den Fluß in die Dunkelheit.
Über das Wasser hallten schrille Schreie, aber nichts war zu sehen.
Frodo blickte hinauf zu dem Elb, der hoch über ihm stand und in die
Nacht hinausschaute nach einem Ziel, auf das er schießen könnte. Sein
Kopf war dunkel, gekrönt von hellen, weißen Sternen, die in den schwar-
zen Lachen des Himmels hinter ihm glitzerten. Aber jetzt stiegen von
Süden große Wolken auf, segelten heran und schickten dunkle Vorreiter in
die gestirnten Gefilde. Ein plötzliches Grauen befiel die Gefährten.
»Elbereth Gilthoniel!« seufzte Legolas, als er hinaufschaute. Und wäh-
rend er noch schaute, kam etwas Dunkles aus der Schwärze des Südens
hervor, wie eine Wolke geformt und doch keine Wolke, denn es bewegte
sich weit schneller, raste auf die Gruppe zu und löschte, als es sich
näherte, alles Licht aus. Bald sah man, daß es ein großes geflügeltes
Wesen war, schwärzer als Höhlen in der Nacht. Wilde Stimmen schallten
über das Wasser, die es begrüßten. Ein Schauer überlief Frodo mit einem-
mal und griff ihm ans Herz; eine tödliche Kälte, wie die Erinnerung an
eine alte Wunde, war in seiner Schulter. Er kauerte sich nieder, als ob er
sich verbergen wollte.
Plötzlich sang der große Bogen aus Lórien. Schrill schoß der Pfeil von
der Elbensehne. Frodo schaute auf. Fast über ihm schwankte das geflü-
gelte Wesen. Es gab einen mißtönenden, krächzenden Schrei von sich, als
es herabstürzte in die Finsternis auf dem östlichen Ufer. Der Himmel war
wieder klar. Man hörte ein Gewirr vieler Stimmen in der Ferne, die in der
Dunkelheit fluchten und jammerten, und dann trat Schweigen ein. Weder
Pfeil noch Schrei kamen in jener Nacht wieder von Osten.
Nach einer Weile brachte Aragorn die Boote wieder ein Stück stromauf-
wärts. Sie tasteten sich eine Strecke weit am Rand des Wassers entlang, bis
sie eine kleine, seichte Bucht fanden. Einige niedrige Bäume wuchsen dort
dicht am Fluß, und hinter ihnen erhob sich eine steile, felsige Böschung.
Hier beschloß die Gemeinschaft zu bleiben und die Morgendämmerung
abzuwarten: es war sinnlos, bei Nacht zu versuchen weiterzukommen. Sie
schlugen kein Lager auf und zündeten kein Feuer an, sondern blieben zu-
sammengekauert in den Booten, die dicht aneinander vertäut waren.
»Gepriesen seien Galadriels Bogen, und Hand und Auge von Legolas!«
sagte Gimli, als er an einer lembas-Waffel knabberte. »Das war ein
mäch-
tiger Schuß im Dunkeln, mein Freund!«
»Wer kann sagen, was er traf?« fragte Legolas.
»Ich kann es nicht«, sagte Gimli. »Aber ich bin froh, daß der Schatten
nicht näher kam. Er gefiel mir ganz und gar nicht. Zu sehr erinnerte er
mich an den Schatten von Moria — den Schatten des Balrog«, flüsterte er.
»Es war kein Balrog«, sagte Frodo, der immer noch von dem Schauer
geschüttelt wurde, der ihn überkommen hatte. »Es war etwas Kälteres. Ich
glaube, es war ...« Dann hielt er inne und schwieg.
»Was glaubst du?« fragte Boromir gespannt, beugte sich von seinem
Boot aus vor und versuchte, einen Blick auf Frodos Gesicht zu werfen.
»Ich glaube — nein, ich will es nicht sagen«, antwortete Frodo. »Was
immer es war, sein Sturz hat unsere Feinde in Schrecken versetzt.«
»So scheint es«, sagte Aragorn. »Doch wo sie sind und wieviele es
sind und was sie als nächstes tun werden, das wissen wir nicht. Heute
nacht müssen wir alle ohne Schlaf auskommen! Jetzt verbirgt uns die
Dunkelheit. Aber was der Tag bringen wird, wer kann es sagen? Habt
eure Waffen griffbereit!«
Sam trommelte auf das Heft seines Schwertes, als ob er mit den Fin-
gern zähle, und schaute zum Himmel hinauf. »Es ist sehr seltsam«, mur-
melte er. »Der Mond ist derselbe im Auenland und in Wilderland, oder
sollte es wenigstens sein. Aber entweder ist er aus dem Gang geraten,
oder ich kann nicht mehr richtig rechnen. Du wirst dich erinnern, Herr
Frodo, der Mond nahm ab, als wir auf dem Flett in dem Baum da oben
lagen: eine Woche nach dem Vollmond, schätze ich. Und gestern abend
sind wir eine Woche unterwegs gewesen, und jetzt geht ein Neumond auf,
dünn wie ein Fingernagelmond, als ob wir in dem Elbenland überhaupt
keine Zeit verbracht hätten.
An drei Nächte erinnere ich mich bestimmt, und ich glaube mich auch
noch an verschiedene andere zu erinnern, aber ich möchte einen Eid able-
gen, daß es bestimmt kein ganzer Monat war. Man sollte denken, daß
Zeit dort überhaupt nicht zählt!«
»Und vielleicht war das wirklich so«, sagte Frodo. »Es mag sein, daß
wir in jenem Land in einer Zeit waren, die anderswo längst vergangen ist.
Erst als uns der Silberlauf zum Anduin brachte, kehrten wir, glaube ich,
in die Zeit zurück, die durch sterbliche Lande zum Großen Meer fließt.
Und ich erinnere mich überhaupt an keinen Mond in Caras Galadon,
weder an zunehmenden noch an abnehmenden, sondern nur an Sterne bei
Nacht und Sonne bei Tag.«
Legolas bewegte sich in seinem Boot. »Nein«, sagte er, »die Zeit verweilt
niemals. Aber Wandel und Wachstum sind nicht bei allen Dingen und an
allen Orten gleich. Für die Elben bewegt sich die Welt, und sie bewegt
sich sehr rasch, und dennoch sehr langsam. Rasch, weil die Elben selbst
sich wenig verändern, während alles andere dahineilt: es ist ein Kummer
für sie. Langsam, weil sie die verstreichenden Jahre nicht zählen, nicht für
sich selbst. Die vorübergehenden Jahreszeiten sind nur immer wieder-
holte Wellenkringel auf dem langen, langen Strom. Dennoch müssen un-
ter der Sonne alle Dinge zuletzt vergehen.«
»Aber das Vergehen ist langsam in Lórien«, sagte Frodo. »Die Macht
der Herrin ruht darauf. Reich sind die Stunden, wie kurz sie auch schei-
nen mögen, in Caras Galadon, wo Galadriel den Elbenring trägt.«
»Das hätte nicht außerhalb von Lórien gesagt werden dürfen, nicht ein-
mal zu mir«, sagte Aragorn. »Sprich nicht mehr davon! Aber so ist es,
Sam: in jenem Land bist du aus der Zeitrechnung gekommen. Dort zieht
die Zeit rasch vorbei, an uns wie an den Elben. Der alte Mond verging,
ein neuer Mond nahm zu und wieder ab in der Welt draußen, während
wir dort verweilten. Und gestern abend kam wieder ein neuer Mond. Der
Winter ist nahezu vorbei. Die Zeit geht einem Frühling mit wenig Hoff-
nung entgegen.«
Die Nacht blieb ruhig. Keine Stimme und kein Ruf drangen noch über
das Wasser. In den Booten zusammengekauert, spürten die Gefährten, daß
sich das Wetter änderte. Die Luft wurde warm und sehr still unter den
großen, feuchten Wolken, die vom Süden und den fernen Meeren heran-
gesegelt kamen. Das Rauschen des Flusses an den Felsen der Stromschnel-
len schien lauter zu werden und dichter bei ihnen zu sein. Von den Zwei-
gen der Bäume über ihnen begann es zu tropfen.
Als der Tag kam, war die Stimmung der Welt ringsum weich und
traurig geworden. Langsam wurde die Morgendämmerung zu einem fah-
len Licht, verschwommen und schattenlos. Dunst lag über dem Strom,
und weißer Nebel verhüllte das Ufer; die andere Seite war nicht zu sehen.
»Ich kann Nebel nicht ausstehen«, sagte Sam. »Aber der hier scheint
mir ein Glück zu sein. Jetzt können wir vielleicht weg, ohne daß diese
verfluchten Unholde uns sehen.«
»Vielleicht«, meinte Aragorn. »Aber es wird schwer sein, den Weg zu
finden, sofern sich der Nebel nicht später ein wenig hebt. Und den Weg
müssen wir finden, wenn wir an Sarn Gebir vorbei und zum Emyn Muil
kommen sollen.«
»Ich sehe nicht ein«, sagte Boromir, »warum wir an den Stromschnel-
len vorbei müssen oder überhaupt weiter am Fluß bleiben sollen. Wenn
der Emyn Muil vor uns liegt, dann können wir uns von diesen kleinen
Booten trennen und nach Westen und Süden gehen, bis wir zur Entflut
kommen, und sie überqueren, und dann sind wir in meinem Land.«
»Das können wir, wenn wir nach Minas Tirith wollen«, sagte Ara-
gorn, »aber darüber sind wir uns noch nicht einig. Und dieser Weg mag
gefährlicher sein, als es klingt. Das Tal der Entflut ist flach und moorig,
und Nebel ist eine tödliche Gefahr für jene, die zu Fuß gehen und schwer
beladen sind. Ich würde die Boote nicht aufgeben, ehe wir es müssen.
Der Strom ist wenigstens ein Weg, der nicht verfehlt werden kann.«
»Aber der Feind hält das östliche Ufer«, wandte Boromir ein. »Und
selbst wenn du durch die Tore von Argonath kommst und unbelästigt
den Zinnenfels erreichst, was willst du dann tun? Über die Wasserfälle
hinunterspringen und in den Sümpfen landen?«
»Nein«, antwortete Aragorn. »Sage lieber, daß wir unsere Boote auf
dem alten Pfad zum Fuß des Rauros tragen und dann auf dem Wasser
weiterfahren werden. Weißt du nicht, Boromir, oder willst du es ver-
gessen, daß es die Nordtreppe gibt und den Hochsitz auf Amon Hen, die
in den Tagen der großen Könige erbaut wurden? Ich zumindest möchte
wieder an dieser hohen Stätte gewesen sein, ehe ich einen Entschluß über
meinen weiteren Weg fasse. Dort werden wir vielleicht irgendein Zeichen
sehen, das uns leiten wird.«
Boromir wehrte sich lange gegen diese Entscheidung; aber als es klar
wurde, daß Frodo Aragorn folgen würde, wo immer er auch hinginge,
gab er nach. »Es ist nicht die Art der Menschen von Minas Tirith, ihre
Freunde in der Not zu verlassen«, sagte er, »und ihr werdet meine Kraft
brauchen, wenn ihr je den Zinnenfels erreichen wollt. Bis zu diesem
hohen Eiland will ich mitgehen, aber nicht weiter. Von dort aus werde ich
in meine Heimat zurückkehren, allein, wenn meine Hilfe mir nicht die
Belohnung einer Begleitung eingetragen hat.«
Es war nun heller Tag geworden, und der Nebel hatte sich ein wenig
gehoben. Es wurde beschlossen, daß Aragorn und Legolas sofort am
Ufer weitergehen sollten, während die anderen bei den Booten blieben.
Aragorn hoffte irgendeinen Weg zu finden, auf dem sie ihre Boote und
das Gepäck zu den ruhigeren Gewässern hinter den Stromschnellen tragen
könnten.
»Elbenboote würden vielleicht nicht sinken«, sagte er, »aber das heißt
nicht, daß wir Sarn Gebir lebend überstehen. Niemandem ist das jemals
gelungen. Die Menschen von Gondor haben in dieser Gegend keine Straße
angelegt, denn selbst in ihren großen Tagen reichte ihr Gebiet am An-
duin nicht über den Emyn Muil hinaus; aber es gibt irgendwo auf dem
westlichen Ufer einen Weg, über den früher die Boote getragen wurden.
Er kann noch nicht zerstört sein; denn leichte Boote pflegten von Wilder-
land nach Osgiliath hinunterzufahren, und zwar noch vor wenigen Jah-
ren, ehe die Orks von Mordor sich so vermehrten.«
»Zu meinen Lebzeiten ist selten ein Boot aus dem Norden gekommen,
und die Orks treiben sich auf dem östlichen Ufer herum«, sagte Boromir.
»Wenn ihr weitergeht, wird die Gefahr mit jeder Meile größer, selbst
wenn ihr einen Pfad findet.«
»Gefahr lauert auf jedem Weg nach Süden«, erwiderte Aragorn.
»Wartet einen Tag auf uns. Wenn wir in dieser Zeit nicht zurückkom-
men, wißt ihr, daß uns Böses widerfahren ist. Dann müßt ihr einen neuen
Führer wählen und ihm folgen, so gut ihr könnt.«
Schweren Herzens sah Frodo Aragorn und Legolas das steile Ufer er-
klimmen und im Nebel verschwinden; aber seine Befürchtungen erwiesen
sich als grundlos. Nur zwei oder drei Stunden vergingen, und es war
kaum Mittag, als die schattenhaften Gestalten der Kundschafter wieder
erschienen.
»Alles ist gut«, sagte Aragorn, als er die Böschung herabkletterte. »Es
gibt einen Pfad, und er führt zu einer guten Landestelle, die noch brauch-
bar ist. Die Entfernung ist nicht groß: die Stromschnellen sind nur eine
halbe Meile flußabwärts, und sie sind wenig mehr als eine Meile lang.
Nicht weit dahinter wird der Strom wieder klar und ruhig, obwohl er
rasch fließt. Unsere schwerste Aufgabe wird es sein, die Boote und unser
Gepäck zu dem alten Weg zu bringen. Wir haben ihn gefunden, aber er
liegt ziemlich weit weg vom Wasser und verläuft im Schutz einer Fels-
wand, eine Achtelmeile oder mehr vom Ufer entfernt. Wir könnten uns
weit stromaufwärts quälen und sie doch im Nebel verfehlen. Ich fürchte,
wir müssen den Fluß jetzt verlassen und uns, so gut es geht, von hier aus
zu dem Weg aufmachen.«
»Das würde selbst dann nicht einfach sein, wenn wir alle Men-
schen wären«, sagte Boromir.
»Und dennoch werden wir es versuchen«, antwortete Aragorn.
»Freilich«, sagte Gimli. »Die Beine von Menschen werden auf einer
schlechten Straße zurückbleiben, während ein Zwerg weitergeht, und sei
die Last auch das Doppelte seines Eigengewichts, Herr Boromir!«
Die Aufgabe erwies sich wahrlich als schwer, doch zuletzt war sie
geschafft. Alle Sachen wurden aus den Booten herausgenommen und
oben auf die Uferböschung gebracht, wo es eine ebene Stelle gab. Dann
wurden die Boote aus dem Wasser gezogen und hinaufgetragen. Sie
waren weit weniger schwer als erwartet. Aus welchem Baum, der in dem
elbischen Land wuchs, sie gemacht waren, wußte nicht einmal Legolas;
aber das Holz war widerstandsfähig und doch merkwürdig leicht. Merry
und Pippin konnten ihr Boot mühelos allein auf ebenem Boden tragen.
Dennoch bedurfte es der Kraft der zwei Menschen, die Boote über das
Gelände zu heben und zu schleppen, das die Gemeinschaft jetzt zu durch-
queren hatte. Es stieg vom Fluß aus an, eine Einöde, übersät mit Kalk-
stein-Findlingen und vielen unter Unkraut und Büschen verborgenen
Löchern; mit Brombeerdickichten und steilen Schluchten; und Rinnsale, die
von landeinwärts gelegenen Terrassen herabtröpfelten, sammelten sich
hier und dort in morastigen Tümpeln.
Ein Boot nach dem anderen trugen Boromir und Aragorn, während die
anderen sich mit dem Gepäck abplagten und es hinterherschleppten.
Schließlich war alles hinübergeschafft und auf dem Weg. Dann zogen sie,
ohne auf größere Hindernisse als wucherndes Dornengestrüpp und viele
Steine zu stoßen, zusammen weiter. Nebelschleier hingen immer noch
über der abbröckelnden Felswand, und zu ihrer Linken war der Fluß von
Dunst verhüllt: sie hörten ihn über die scharfen Schwellen und steini-
gen Zähne von Sarn Gebir rauschen und schäumen, aber sie konnten ihn
nicht sehen. Zweimal legten sie die Strecke zurück, bis alles zur südlichen
Landestelle gebracht war.
Dort fiel der Weg, der nun wieder dem Fluß zustrebte, sanft ab zum
flachen Rand eines kleinen Sees. Er schien in das Flußufer hineingegraben
worden zu sein, aber nicht von Hand, sondern durch das Wasser, das hin-
unterwirbelte von Sarn Gebir gegen einen Felsvorsprung, der wie eine
Mole ein Stück in den Strom hineinragte. Dahinter erhob sich das Ufer
steil zu einer grauen Klippe, und zu Fuß konnte man nicht weitergehen.
Schon war der kurze Nachmittag vergangen, und eine düstere, wolkige
Dämmerung brach herein. Sie saßen am Wasser und lauschten dem un-
deutlichen Brausen und Tosen der im Nebel verborgenen Stromschnellen;
sie waren erschöpft und müde, und ihre Herzen waren ebenso düster wie
der vergehende Tag.
»Ja, hier sind wir und hier müssen wir noch eine Nacht verbringen«,
sagte Boromir. »Wir brauchen Schlaf, und selbst wenn Aragorn der Sinn
danach stünde, bei Nacht durch das Tor von Argonath zu fahren, so sind
wir doch alle zu müde dazu — ausgenommen zweifellos unser standhafter
Zwerg.«
Gimli antwortete nicht; er war im Sitzen eingenickt.
»Laßt uns jetzt ruhen, solange wir können«, sagte Aragorn. »Morgen
müssen wir wieder bei Tage fahren. Sofern das Wetter sich nicht noch
einmal ändert und uns einen Streich spielt, könnten wir Glück haben und
durchkommen, ohne daß uns irgendwelche Augen vom östlichen Ufer
aus sehen. Aber heute nacht müssen wir immer abwechselnd zu zweit
Wache halten: drei Stunden schlafen und eine Stunde wachen.«
Nichts Schlimmeres gab es in jener Nacht als einen kurzen Nieselregen
eine Stunde vor der Morgendämmerung. Sobald es ganz hell geworden
war, brachen sie auf. Schon lichtete sich der Nebel. Sie hielten sich mög-
lichst dicht an der westlichen Seite und konnten sehen, wie die undeut-
lichen Umrisse der niedrigen Klippen immer höher wurden, schattenhafte
Wälle, die in dem dahineilenden Strom standen. Als der Morgen weit
fortgeschritten war, sanken die Wolken tiefer, und es begann heftig zu
regnen. Sie breiteten ihre Felldecken über die Boote aus, damit sie nicht
volliefen, und ließen sich weiter treiben; wenig war zu sehen durch die
grauen Regenvorhänge.
Indes hielt der Regen nicht lange an. Langsam wurde der Himmel hel-
ler, und dann brachen die Wolken plötzlich auf, und ihre zerfransten Fet-
zen zogen nach Norden ab, den Fluß hinauf. Nebel und Dunst waren ver-
schwunden. Vor den Booten lag eine breite Schlucht, an deren hohen, fel-
sigen Hängen sich auf Vorsprüngen und in schmalen Spalten ein paar
verkrüppelte Bäume festklammerten. Die Fahrrinne wurde schmaler und
der Strom schneller. Jetzt sausten sie dahin und hatten wenig Hoffnung,
anhalten oder beidrehen zu können, was auch immer vor ihnen liegen
mochte. Über ihnen war ein Streifen blaßblauer Himmel, um sie herum
der dunkle, überschattete Strom, und vor ihnen schwarz und die Sonne
aussperrend die Berge des Emyn Muil, zwischen denen keine Durchfahrt
zu sehen war.
Frodo starrte nach vorn und sah in der Ferne zwei große Felsen: zwei
gewaltige Zinnen oder Säulen aus Stein schienen es zu sein. Hoch und
steil und unheilvoll ragten sie auf beiden Seiten aus dem Fluß. Eine
schmale Lücke tauchte zwischen ihnen auf, und die Strömung trieb die
Boote darauf zu.
»Schaut, Argonath, die Säulen der Könige!« rief Aragorn. »Wir wer-
den bald an ihnen vorbeikommen. Haltet die Boote in einer Reihe und
so weit auseinander, wie ihr könnt. Bleibt in der Mitte des Stroms!«
Als Frodo den großen Säulen entgegengetragen wurde, ragten sie wie
Türme empor. Riesen schienen sie ihm zu sein, ungeheure graue Gestalten,
schweigend, aber drohend. Dann sah er, daß sie wirklich geformt und gestal-
tet waren: die Kunstfertigkeit und Macht von einst hatte die Felsen bearbei-
tet, und noch immer bewahrten sie durch Sonne und Regen vergessener
Jahre die mächtigen Abbilder, die einst in sie hineingehauen worden
waren. Auf großen Sockeln, die im tiefen Wasser ruhten, standen zwei
große Könige aus Stein: noch immer blickten sie mit blinden Augen und
rissiger Stirn dräuend nach Norden. Beide hatten die linke Hand mit der
Handfläche nach außen erhoben in einer Gebärde der Warnung; in der
rechten Hand hielten sie eine Axt; auf den Köpfen trugen beide einen
verwitterten Helm und eine Krone. Große Macht und Majestät ruhte noch
auf ihnen, den schweigenden Hütern eines längst verschwundenen König-
reichs. Von Ehrfurcht und Angst wurde Frodo ergriffen, und er kauerte
sich nieder, schloß die Augen und wagte nicht aufzuschauen, als sich das
Boot ihnen näherte. Sogar Boromir beugte den Kopf, als die Boote, ver-
gänglich und flüchtig wie kleine Blätter, vorbeiwirbelten unter den immer-
währenden Schatten der Schildwachen von Númenor. So gelangten sie in
die dunkle Torschlucht.
Steil erhoben sich auf beiden Seiten die entsetzlichen Klippen zu uner-
meßlicher Höhe. Sehr fern war der trübe Himmel. Die schwarzen Fluten
brausten und hallten wider, und ein Wind heulte über ihnen. Frodo, der
auf den Knien kauerte, hörte Sam im Bug murmeln und stöhnen: »Was
für eine Gegend! Was für eine entsetzliche Gegend! Laßt mich bloß raus
aus diesem Boot, und ich werde mir nie wieder meine Zehen in einer Pfütze
naßmachen, geschweige denn in einem Fluß!«
»Fürchtet euch nicht!« sagte eine fremde Summe hinter ihm. Frodo
wandte sich um und sah Streicher, und doch nicht Streicher, denn der
wetterharte Waldläufer war nicht mehr da. Im Heck saß Aragorn, Ara-
thorns Sohn, stolz und aufrecht, und lenkte das Boot mit geschickten
Schlägen; seine Kapuze war zurückgeworfen, und sein dunkles Haar flat-
terte im Wind, und ein Licht schimmerte in seinen Augen: ein König, der
aus der Verbannung in sein eigenes Land zurückkehrte.
»Fürchtet euch nicht!« sagte er. »Lange habe ich gewünscht, die Stand-
bilder von Isildur und Anárion zu sehen, meinen Vorfahren. Unter ihrem
Schatten hat Elessar, der Elbenstein, Arathoms Sohn aus dem Hause
Valandil, Isildurs Sohn, Elendils Erbe, nichts zu fürchten!«
Dann erlosch das Licht in seinen Augen, und er sprach zu sich selbst:
»Ich wollte, Gandalf wäre hier! Wie mein Herz sich sehnt nach Minas
Anor und den Mauern meiner eigenen Stadt! Doch wohin soll ich jetzt
gehen?«
Die Schlucht war lang und dunkel und erfüllt von dem Geräusch von
Wind, stürzendem Wasser und widerhallendem Fels. Sie zog sich etwas
nach Westen, so daß zuerst alles dunkel vor ihnen war; doch bald sah
Frodo eine hohe Lichtspalte vor sich, die immer größer wurde. Rasch
näherte sie sich, und plötzlich schössen die Boote hindurch und hinaus in
ein weites, klares Licht.
Die Sonne hatte den Mittagspunkt längst überschritten und strahlte von
einem windigen Himmel. Die eingezwängten Fluten ergossen sich in
einen langen, ovalen See, den bleichen Nen Hithoel, gesäumt von steilen
grauen Bergen, deren Flanken mit Bäumen bestanden waren, während
ihre kahlen Häupter kalt im Sonnenlicht glänzten. Am südlichen Ende
erhoben sich drei Gipfel. Der mittlere stand etwas vor den anderen und
getrennt von ihnen, eine Insel im Wasser, um die der fließende Strom
seine blassen, schimmernden Arme schlang. Undeutlich, aber tief tönend
trug der Wind ein Dröhnen herüber, das wie fernes Donnergrollen klang.
»Schaut, der Tol Brandir!« sagte Aragorn und deutete nach Süden auf
den hohen Gipfel. »Links erhebt sich der Amon Lhaw, und auf der rech-
ten Seite liegt der Amon Hen, die Berge des Hörens und Sehens. In den
Tagen der großen Könige standen Hochsitze auf ihnen, und Wache wurde
dort gehalten. Aber es heißt, daß kein Mensch oder Tier jemals den Fuß
auf Tol Brandir gesetzt hat. Ehe der Schatten der Nacht fällt, werden wir
dorthin kommen. Ich höre des Rauros ewige Stimme rufen.«
Die Gemeinschaft ruhte sich nun eine Weile aus und ließ sich von der
Strömung, die durch die Mitte des Sees floß, treiben. Sie aßen etwas, dann
griffen sie zu den Paddeln und hasteten weiter. Die Berghänge im Westen
versanken im Schatten, und die Sonne wurde rund und rot. Hier und dort
kam ein dunstiger Stern zum Vorschein. Die drei Gipfel dräuten vor ihnen,
schwärzlich in der Dämmerung. Rauros brüllte mit lauter Stimme. Schon
hatte sich die Nacht auf die strömenden Fluten gesenkt, als die Boote
endlich den Schatten unter den Bergen erreichten.
Der zehnte Tag ihrer Reise war vorüber. Wilderland lag hinter ihnen. Sie
konnten nicht weiter, ohne eine Entscheidung zwischen dem östlichen und
dem westlichen Weg zu treffen. Der letzte Abschnitt ihrer Fahrt lag vor
ihnen.