ZEHNTES KAPITEL
DER ZERFALL DES BUNDES
Aragorn fuhr ihnen voran zum rechten Arm des Stroms. Hier auf der
westlichen Seite zog sich im Schatten von Tol Brandir eine grüne Wiese
vom Fuß des Amon Hen hinunter bis zum Wasser. Dahinter erhoben sich
die ersten sanften, baumbestandenen Hänge des Berges, und auch an dem
geschwungenen westlichen Ufer des Sees standen Bäume. Eine kleine
Quelle sprang lustig herab und speiste das Gras.
»Hier wollen wir heute nacht rasten«, sagte Aragorn. »Das ist die
Wiese Parth Galen: ein schöner Ort einstmals in Sommertagen. Laßt uns
hoffen, daß noch nichts Böses hierher gekommen ist.«
Sie zogen ihre Boote auf das grüne Ufer und bereiteten daneben ihr
Lager. Sie stellten eine Wache auf, aber von ihren Feinden war nichts zu
sehen oder zu hören. Wenn Gollum es verstanden hatte, ihnen zu folgen,
dann blieb er jedenfalls unsichtbar. Dennoch wurde Aragorn im Laufe
der Nacht unruhig, er warf sich oft im Schlaf hin und her und wachte
immer wieder auf. In den frühen Morgenstunden stand er auf und kam zu
Frodo, der gerade Wache hatte.
»Warum schläfst du nicht?« fragte Frodo. »Du bist doch nicht mit der
Wache an der Reihe.«
»Ich weiß es nicht«, sagte Aragorn. »Aber ein Schatten und eine Dro-
hung haben mich im Schlaf verfolgt. Es wäre gut, dein Schwert zu zie-
hen.«
»Warum?« fragte Frodo. »Sind Feinde in der Nähe?«
»Laß sehen, was Stich uns zeigen mag.«
Frodo zog die Elbenklinge aus der Scheide. Zu seinem Entsetzen schim-
merten die Ränder schwach in der Nacht. »Orks!« sagte er. »Nicht sehr
nahe und doch zu nah, scheint es.«
»Das habe ich gefürchtet«, sagte Aragorn. »Aber vielleicht sind sie
nicht auf dieser Seite des Stroms. Der Schein von Stich war schwach, und
es mag sein, daß er lediglich auf Späher von Mordor hinweist, die sich
auf den Hängen des Amon Lhaw herumtreiben. Daß Orks auf Amon
Hen waren, habe ich noch nie gehört. Indes, wer weiß, was in diesen
bösen Tagen geschehen mag, da Minas Tirith jetzt die Wasserstraßen des
Anduin nicht länger schützt. Wir müssen vorsichtig sein.«
Der Tag brach an wie Feuer und Rauch. Im Osten hingen niedrige
schwarze Wolkenstreifen wie Schwaden eines großen Brandes. Die aufge-
hende Sonne beleuchtete sie von unten mit Flammen von düsterem Rot;
aber bald stieg sie über die Wolken hinaus in einen klaren Himmel. Der
Gipfel von Tol Brandir war mit Gold überzogen. Frodo hielt Ausschau
nach Osten und betrachtete die hohe Insel. Ihre Seiten sprangen jäh aus
dem fließenden Wasser hervor. Hoch über den Klippen waren Steilhänge,
auf denen Bäume wuchsen und immer höher stiegen, ein Wipfel über dem
anderen; und über ihnen waren wieder graue Flächen von unzugäng-
lichem Fels, gekrönt von einem spitzen Gipfel. Viele Vögel kreisten dort
oben, aber von anderen Lebewesen war nichts zu sehen.
Als sie gegessen hatten, rief Aragorn die Gemeinschaft zusammen.
»Der Tag ist endlich gekommen«, sagte er, »der Tag der Entscheidung,
die wir lange hinausgezögert haben. Was soll jetzt aus unserer Gemein-
schaft werden, die einträchtiglich so weit gewandert ist? Sollen wir mit
Boromir nach Westen gehen und in den Krieg von Gondor ziehen? Oder
sollen wir nach Osten gehen, dem Schrecken und dem Schatten entgegen?
Oder sollen wir unseren Bund auflösen und teils hierhin und teils dorthin
gehen, je nach der Entscheidung des einzelnen? Was immer wir tun, es
muß bald getan werden. Wir können uns hier nicht lange aufhalten. Der
Feind ist auf dem Ostufer, das wissen wir; aber ich fürchte, daß die Orks
vielleicht schon auf dieser Seite des Wassers sind.«
Es trat ein langes Schweigen ein, und keiner sprach oder rührte sich.
»Nun, Frodo«, sagte Aragorn schließlich. »Ich fürchte, die Bürde ist
dir auferlegt. Du bist der vom Rat bestimmte Träger. Deinen eigenen
Weg kannst nur du allein wählen. In dieser Sache kann ich dir nicht
raten. Ich bin nicht Gandalf, und obwohl ich versucht habe, seine Rolle
zu übernehmen, weiß ich doch nicht, welchen Plan oder welche Hoffnung
er für diese Stunde hatte, falls er überhaupt einen Plan hatte. Höchst-
wahrscheinlich würde, wenn er jetzt hier wäre, die Entscheidung doch dir
überlassen bleiben. Das ist nun einmal dein Schicksal.«
Frodo antwortete nicht gleich. Dann sprach er zögernd. »Ich weiß, daß
Eile geboten ist, und doch kann ich mich nicht entscheiden. Die Bürde ist
schwer. Gib mir noch eine Stunde Zeit, und dann werde ich midi äußern.
Und laßt mich allein.«
Aragorn sah ihn freundlich und mitleidig an. »Gut, Frodo, Drogos
Sohn«, sagte er. »Du sollst eine Stunde haben, und du sollst allein sein.
Wir bleiben eine Weile hier. Aber halte dich in der Nähe und in Ruf-
weite.«
Frodo saß einen Augenblick mit gesenktem Kopf da. Sam, der seinen
Herrn sehr besorgt beobachtet hatte, schüttelte den Kopf und murmelte:
»Das ist doch klar wie Kloßbrühe, aber es ist nicht gut, wenn Sam Gam-
dschie jetzt schon seinen Senf dazu gibt.«
Plötzlich stand Frodo auf und ging fort; und Sam fiel auf, daß Boromir,
während die anderen sich zurückhielten und ihm nicht nachschauten,
Frodo nicht aus den Augen ließ, bis er außer Sicht war und zwischen den
Bäumen am Fuße des Amon Hen verschwand.
Zuerst wanderte Frodo ziellos durch den Wald, bis er merkte, daß ihn
seine Füße zu den Hängen des Berges trugen. Er stieß auf einen Pfad, die
verfallenden Reste einer uralten Straße. An steilen Stellen waren Stufen
in den Stein gehauen, aber jetzt waren sie rissig, ausgetreten und durch
Baumwurzeln gespalten. Eine Weile kletterte er empor, und er achtete
nicht auf den Weg, bis er zu einem grasbewachsenen Platz kam. Eber-
eschen umstanden ihn, und in der Mitte lag ein großer, flacher Stein. Die
kleine Bergwiese war nach Osten offen, und die frühe Morgensonne
schien herein. Frodo blieb stehen und blickte über den Strom, tief unter
ihm, und auf Tol Brandir und die Vögel, die in dem großen Luftraum
zwischen ihm und der unbetretenen Insel ihre Kreise zogen. Die Stimme
des Rauros war ein mächtiges Donnern, vermischt mit einem tiefen po-
chenden Dröhnen.
Er setzte sich auf den Stein und stützte das Kinn in die Hand; er starrte
nach Osten, aber seine Augen sahen wenig. Alles, was geschehen war,
seit Bilbo das Auenland verlassen hatte, zog ihm durch den Sinn, und
was er von Gandalfs Worten erinnerte, rief er sich ins Gedächtnis zurück
und dachte darüber nach. Die Zeit verging und er war einer Entscheidung
noch nicht nähergekommen.
Plötzlich fuhr er aus seinen Gedanken auf: ein merkwürdiges Gefühl
hatte ihn überkommen, daß etwas hinter ihm sei, daß unfreundliche
Augen ihn betrachteten. Er sprang auf und wandte sich um: aber zu sei-
ner Überraschung sah er nur Boromir, der lächelte und ein freundliches
Gesicht machte.
»Ich hatte Angst um dich, Frodo«, sagte er und kam näher. »Wenn
Aragorn recht hat und Orks in der Gegend sind, dann sollte keiner von
uns allein wandern, und du am allerwenigsten: so viel hängt von dir ab.
Und auch mir ist das Herz schwer. Darf ich jetzt hierbleiben und mich ein
wenig mit dir unterhalten, da ich dich nun gefunden habe? Es würde mir
wohltun. Wenn so viele da sind, wird jedes Gespräch zu einem Wortstreit
ohne Ende. Aber wir zwei zusammen können vielleicht zu einer Einsicht
gelangen.«
»Du bist sehr freundlich«, antwortete Frodo. »Aber ich glaube nicht,
daß Reden mir helfen wird. Denn ich weiß, was ich tun sollte, aber ich
habe Angst, es zu tun, Boromir. Ich habe Angst.«
Boromir stand schweigend da. Der Rauros dröhnte endlos. Der Wind
murmelte in den Zweigen der Bäume. Frodo fröstelte.
Plötzlich kam Boromir und setzte sich neben ihn. »Bist du sicher, daß
du dich nicht unnötig quälst?« fragte er. »Ich möchte dir gern helfen. Du
brauchst Rat bei deinem Entschluß. Willst du nicht meinen annehmen?«
»Ich glaube, ich weiß schon, welchen Rat du geben würdest, Boromir«,
sagte Frodo. »Und er würde mir weise vorkommen, wenn mein Herz mich
nicht warnte.«
»Warnte? Wovor warnte?« fragte Boromir scharf.
»Vor Aufschub. Vor dem Weg, der einfacher zu sein scheint. Davor,
daß ich mich der Bürde, die mir auferlegt ist, entledigen könnte. Vor —
nun ja, wenn es gesagt werden muß, vor dem Vertrauen auf die Stärke
und Wahrhaftigkeit von Menschen.«
»Doch hat diese Stärke euch lange beschützt in eurem fernen, kleinen
Land, obschon ihr es nicht wußtet.«
»Ich zweifle nicht an der Tapferkeit deines Volkes. Aber die Welt
wandelt sich. Die Mauern von Minas Tirith mögen stark sein, doch sind sie
nicht stark genug. Wenn sie nicht standhalten, was dann?«
»Dann werden wir mutig im Kampfe fallen. Doch ist immer noch Hoff-
nung, daß die Mauern standhalten.«
»Keine Hoffnung, solange der Ring da ist«, sagte Frodo.
»Ah! Der Ring!« sagte Boromir, und seine Augen leuchteten. »Der
Ring! Ist es nicht ein seltsames Geschick, daß wir so viel Angst und
Zweifel erdulden wegen eines so kleinen Dinges? So ein kleines Ding!
Und ich habe ihn nur einen Augenblick in Elronds Haus gesehen. Könnte
ich nicht noch einmal einen Blick darauf werfen?«
Frodo schaute auf. Eine Kälte legte sich plötzlich auf sein Herz. Er
bemerkte den seltsamen Glanz in Boromirs Augen, und doch war sein Ge-
sicht immer noch freundlich und freundschaftlich.
»Es ist am besten, wenn er verborgen bleibt«, antwortete er.
»Wie du willst. Mir ist es gleich«, sagte Boromir. »Aber darf ich denn
nicht einmal von ihm sprechen? Denn du scheinst immer nur an seine
Macht in den Händen des Feindes zu denken, an seine Verwendung für
böse Zwecke, und nicht für gute. Die Welt verändert sich, sagst du.
Minas Tirith wird fallen, wenn der Ring da ist. Aber warum? Gewiß,
wenn der Ring beim Feinde wäre. Aber warum, wenn er bei uns wäre?«
»Bist du nicht bei dem Rat gewesen?« fragte Frodo. »Weil wir ihn
nicht verwenden können und das, was mit ihm getan wird, sich in Böses
verwandelt.«
Boromir stand auf und schritt ärgerlich auf und ab. »So redest du in
einem fort!« rief er. »Gandalf, Elrond — all diese Leute haben dir das bei-
gebracht. Für sie selbst mag es richtig sein. Diese Elben und Halbelben
und Zauberer würden vielleicht zu Schaden kommen. Indes bin ich mir
oft im Zweifel, ob sie eigentlich weise sind oder bloß zaghaft. Doch jeder
nach seiner Art. Aufrechte Menschen lassen sich nicht verführen. Wir
in Minas Tirith sind in langen Jahren der Prüfung standhaft geblie-
ben. Wir trachten nicht nach der Macht von Zauberern, sondern nur nach
Stärke, um uns zu verteidigen. Stärke für eine gerechte Sache. Und siehe
da! in unserer Not bringt der Zufall den Ring der Macht ans Licht. Er ist
ein Geschenk, sage ich; ein Geschenk für die Feinde von Mordor. Es ist
Wahnsinn, ihn nicht zu gebrauchen, die Macht des Feindes nicht gegen
den Feind zu gebrauchen. Die Furchtlosen, die Mitleidlosen allein werden
den Sieg erringen. Was könnte ein Krieger nicht in dieser Stunde tun, ein
großer Führer? Was könnte nicht Aragorn tun? Oder wenn er es ablehnt,
warum nicht Boromir? Der Ring würde mir Befehlsgewalt geben. Wie ich
die Heere von Mordor zurücktreiben wollte und wie sich alle Männer
unter mein Banner scharen würden!«
Boromir ging mit großen Schritten auf und ab und sprach immer lau-
ter. Fast schien er Frodo vergessen zu haben, während er von Mauern und
Waffen redete und dem Aufgebot seiner Mannen; und er machte Pläne
für große Bündnisse und künftige glorreiche Siege; und er warf Mordor
nieder und wurde selbst ein mächtiger König, gütig und weise. Plötzlich
hielt er inne und schwenkte die Arme.
»Und sie sagen uns, wir sollten ihn wegwerfen!« rief er. »Ich sage
nicht vernichten. Das könnte richtig sein, wenn vernünftigerweise Hoff-
nung bestünde, es zu tun. Aber dem ist nicht so. Der einzige Plan, der
uns vorgeschlagen wurde, besteht darin, daß ein Halbling blindlings nach
Mordor hineinläuft und dem Feind jede Möglichkeit bietet, den Ring wie-
der für sich selbst zu erlangen. Torheit!
Gewiß siehst du das ein, mein Freund?« fragte er und wandte sich
plötzlich an Frodo. »Du sagst, du habest Angst. Wenn dem so ist, dann
sollte es dir der Kühnste verzeihen. Aber ist es nicht in Wirklichkeit dein
gesunder Verstand, der sich auflehnt?«
»Nein, ich habe Angst«, sagte Frodo. »Einfach Angst. Aber ich bin
froh, daß du dich so deutlich ausgesprochen hast. Ich sehe jetzt klarer.«
»Dann wirst du nach Minas Tirith mitkommen?« rief Boromir. Seine
Augen glänzten, und sein Gesicht war erwartungsvoll.
»Du mißverstehst mich«, sagte Frodo.
»Aber du wirst kommen, wenigstens für eine Weile?« drängte Boro-
mir. »Es ist jetzt nicht mehr weit zu meiner Stadt; und von dort ist es
kaum weiter nach Mordor als von hier. Wir sind jetzt lange genug in der
Wildnis gewesen, und du brauchst Nachrichten über das, was der Feind
tut, ehe du etwas unternimmst. Komm mit mir, Frodo«, sagte er. »Du
brauchst Ruhe vor deinem Wagnis, wenn du wirklich gehen mußt.« Er
legte in freundschaftlicher Weise dem Hobbit die Hand auf die Schulter;
aber Frodo spürte, wie die Hand vor unterdrückter Erregung zitterte. Er
trat rasch einen Schritt beiseite und beobachtete bestürzt den hochge-
wachsenen Menschen, der fast doppelt so groß war wie er und ihn an
Kraft um ein Vielfaches übertraf.
»Warum bist du so unfreundlich?« fragte Boromir. »Ich bin ein zuverläs-
siger Mann, weder ein Dieb noch ein Häscher. Ich brauche deinen Ring: das
weißt du jetzt; aber ich gebe dir mein Wort, daß ich ihn nicht behalten
will. Willst du mich nicht wenigstens meinen Plan versuchen lassen?
Leihe mir den Ring!«
»Nein, nein!« rief Frodo. »Der Rat hat es mir auferlegt, ihn zu tragen.«
»Durch unsere eigene Torheit wird der Feind uns besiegen!« rief Boro-
mir. »Wie mich das erbost! Narr! Dickköpfiger Narr! Wissentlich dem
Tod in die Arme laufen und unsere Sache verderben! Wenn irgendwelche
Sterblichen Anspruch auf den Ring haben, dann sind es die Menschen
von Númenor, und nicht Halblinge! Du hast ihn nur durch einen un-
glücklichen Zufall erhalten. Er hätte mir gehören können. Er sollte mir
gehören. Gib ihn mir!«
Frodo antwortete nicht, sondern zog sich zurück, bis der große flache
Stein zwischen ihnen war. »Komm, komm, mein Freund«, sagte Boromir
mit sanfterer Stimme. »Warum willst du dich nicht von ihm befreien?
Warum nicht all deinen Zweifel und deine Furcht loswerden? Du kannst
mir die Schuld geben, wenn du willst. Du kannst sagen, ich war zu stark
und habe ihn dir mit Gewalt abgenommen. Denn ich bin zu stark für
dich. Halbling«, rief er. Und plötzlich sprang er über den Stein und auf
Frodo zu. Sein schönes und liebenswürdiges Gesicht war abscheulich ver-
ändert; ein rasendes Feuer glühte in seinen Augen.
Frodo schlüpfte beiseite, so daß wieder der Stein zwischen ihnen war.
Es gab nur eins, das er tun konnte: zitternd zog er den Ring an der Kette
heraus und ließ ihn rasch auf den Finger gleiten, gerade als Boromir sich
wieder auf ihn stürzte. Der Mensch stutzte, starrte einen Augenblick ver-
blüfft und rannte dann wie wild umher, hier und dort zwischen den Fel-
sen und Bäumen suchend.
»Elender Betrüger!« schrie er. »Warte nur, wenn du mir in die Hände
fällst! Jetzt weiß ich, was du im Sinn hast. Du willst Sauron den Ring
bringen und uns alle verraten. Du hast nur auf eine Gelegenheit gewartet,
um uns im Stich zu lassen. Tod und Verderben über dich und alle Halb-
linge!« Dann fiel er, weil er mit dem Fuß an einem Stein hängen geblie-
ben war, längelang hin und blieb auf dem Gesicht liegen. Eine Weile lag
er so still, als ob sein eigener Fluch ihn niedergestreckt habe; dann plötz-
lich weinte er.
Er stand auf, fuhr sich mit der Hand über die Augen und wischte sich
die Tränen ab. »Was habe ich gesagt?« rief er. »Was habe ich getan?
Frodo! Frodo! Komm zurück! Mich überkam der Wahnsinn, aber jetzt ist
es vorbei. Komm zurück!«
Es kam keine Antwort. Frodo hörte sein Rufen nicht einmal. Er war
schon weit fort und eilte blindlings den Pfad zum Berggipfel hinauf. Er
bebte von Schreck und Kummer und sah in Gedanken immer noch Boro-
mirs wahnsinniges, verbissenes Gesicht mit den brennenden Augen.
Bald kam er zum Gipfel von Amon Hen und blieb stehen, um Luft zu
holen. Er sah wie durch einen Nebel einen großen, flachen Kreis, mit
mächtigen Steinen gepflastert und umgeben von einer verfallenden
Festungsmauer; und in der Mitte stand auf vier Säulen aus Stein ein
Hochsitz, der über eine vielstufige Treppe erreicht wurde. Frodo stieg die
Treppe hinauf, setzte sich auf den alten Sitz und kam sich vor wie ein
verirrtes Kind, das auf den Thron von Bergkönigen geklettert war.
Zuerst konnte er wenig sehen. Er schien in einer Nebelwelt zu sein, in
der es nur Schatten gab: er hatte den Ring am Finger. Dann wich der
Nebel hier und dort zurück, und er sah viele Bilder: klein und klar, als
lägen sie vor seinen Augen auf einem Tisch, und doch fern. Zu hören
war nichts; es waren einfach lebende Bilder. Die Welt schien zusammen-
geschrumpft und still geworden zu sein. Er saß auf dem Sitz des Sehens
auf Amon Hen, dem Berg des Auges der Menschen von Númenor. Im
Osten erblickte er weite, auf keiner Karte verzeichnete Lande, namenlose
Ebenen und unerforschte Wälder. Er blickte nach Norden, und der Große
Strom lag wie ein Band unter ihm, und das Nebelgebirge sah klein und
hart aus wie abgebrochene Zähne. Er blickte nach Westen und sah die
ausgedehnten Weiden von Rohan; und Orthanc, die Zinne von Isen-
gart, wie einen schwarzen Dom. Er blickte nach Süden, und gerade zu seinen
Füßen rollte sich der Große Strom zusammen wie eine überkippende
Welle und stürzte über die Fälle von Rauros in einen schäumenden Ab-
grund; ein schimmernder Regenbogen stand über der Gischt. Und er sah
Ethir Anduin, das mächtige Delta des Stroms, und Myriaden von Seevö-
geln, die wie weißer Staub in der Sonne wirbelten, und unter ihnen ein
grünes und silbernes Meer, in endlosen Linien wogend.
Aber wohin er auch schaute, überall sah er Anzeichen des Krieges.
Das Nebelgebirge wimmelte wie ein Ameisenhaufen: aus tausend Höhlen
strömten Orks heraus. Unter den Zweigen von Düsterwald war ein töd-
licher Kampf zwischen Elben und Menschen und wilden Tieren entbrannt.
Das Land der Beorninger stand in Flammen; eine Wolke hing über Moria;
an den Grenzen von Lórien stieg Rauch auf.
Reiter galoppierten über das Gras von Rohan; Wölfe ergossen sich aus
Isengart. Von den Anfurten in Harad stachen Kriegsschiffe in See; und
aus dem Osten zogen endlos Menschen heran: Schwertträger, Lanzenträ-
ger, Bogenschützen zu Pferde, Streitwagen von Anführern und beladene
Karren. Die ganze Streitmacht des Dunklen Herrschers war in Bewegung.
Dann wandte sich Frodo wieder nach Süden und erblickte Minas Tirith.
Weit entfernt schien es zu sein, und schön: mit weißen Mauern, vielen
Türmen, stolz und hehr; die Zinnen glitzerten von Stahl, und auf den
Türmen flatterten viele Banner. Hoffnung erfüllte sein Herz. Aber gegen-
über von Minas Tirith war noch eine Festung, eine größere und stärkere.
Dorthin, nach Osten, wurde sein Auge wider Willen gezogen. Sein Blick
schweifte über die zerstörte Brücke von Osgiliath, über die grinsenden Tore
von Minas Morgul und das Geistergebirge, und er schaute auf Gorgoroth,
das Tal des Schreckens im Lande Mordor. Dunkelheit lag dort unter der
Sonne. Feuer glühte inmitten des Rauchs. Der Schicksalsberg stand in
Flammen, und dichter Qualm stieg auf. Und dann blieb sein Blick haften:
Mauer über Mauer, Brustwehr über Brustwehr, schwarz, unermeßlich
stark, ein Berg aus Eisen, ein Tor aus Stahl, ein Turm aus Adamant: so
sah er Barad-dûr, Saurons Festung. Alle Hoffnung verließ ihn.
Und plötzlich spürte er das Auge. Da war ein Auge in dem Dunklen
Turm, das nicht ruhte. Er wußte, daß es seinen Blick bemerkt hatte. Ein
grimmiger, entschlossener Wille war da. Es sprang ihm entgegen; fast
wie einen Finger fühlte er es nach ihm suchen. Sehr bald würde es ihn
aufspüren und genau wissen, wo er war. Es strich über Amon Lhaw. Es
blickte auf Tol Brandir — Frodo ließ sich von dem Sitz fallen, kauerte sich
zusammen und zog sich die graue Kapuze über den Kopf.
Er hörte sich selbst aufschreien: Niemals! Niemals! Oder hatte er geru-
fen: Wahrlich, ich komme, ich komme zu dir? Er wußte es nicht. Dann
schoß ihm ein anderer Gedanke in den Sinn, als ob er ihm von einer an-
deren Macht eingegeben worden sei: Nimm ihn ab! Nimm ihn ab! Narr,
nimm ihn ab! Nimm den Ring ab!
Die beiden Mächte kämpften in ihm. Gleichsam durchbohrt von der
Stoßkraft ihrer Angriffe, wand er sich einen Augenblick lang in
Qualen. Plötzlich wurde er sich wieder seiner selbst bewußt. Frodo, we-
der die Stimme noch das Auge: frei, sich zu entscheiden, und nur ein
Moment blieb ihm für diese Entscheidung. Er zog den Ring vom Finger.
Er kniete im hellen Sonnenschein vor dem Hochsitz. Ein schwarzer Schat-
ten wie ein Arm schien über ihn hinwegzuziehen; er verfehlte Amon
Hen und suchte weiter im Westen und verblaßte. Dann war der ganze
Himmel klar und blau, und Vögel sangen in jedem Baum.
Frodo erhob sich. Eine große Müdigkeit lastete auf ihm, aber sein Ent-
schluß stand fest, und sein Herz war leichter. Er sprach laut mit sich
selbst. »Ich werde jetzt tun, was ich tun muß«, sagte er. »Das wenigstens
ist klar: das Böse des Ringes wirkt sich sogar schon auf den Bund aus,
und der Ring muß die Gefährten verlassen, ehe er mehr Unheil stiftet. Ich
werde allein gehen. Einigen kann ich nicht trauen, und diejenigen, denen
ich vertrauen kann, sind mir zu lieb: der arme, alte Sam, und Merry und
Pippin. Und auch Streicher: sein Herz sehnt sich nach Minas Tirith, und
er wird dort gebraucht werden, nachdem Boromir jetzt dem Bösen verfal-
len ist. Ich werde allein gehen. Sofort.«
Rasch schritt er den Pfad hinunter und kam wieder zu der Wiese, wo
Boromir ihn gefunden hatte. Dann blieb er stehen und lauschte. Er hörte
Schreien und Rufen aus dem Wald unten am Ufer.
»Sie werden nach mir suchen«, sagte er. »Ich möchte mal wissen, wie
lange ich eigentlich fort gewesen bin. Stunden vermutlich.« Er zögerte.
»Was kann ich tun?« murmelte er. »Ich muß jetzt gehen, oder ich werde
nie gehen. Es wird sich nicht noch einmal eine Gelegenheit bieten. Ich
verlasse sie äußerst ungern, und noch dazu ohne Erklärung. Aber gewiß
werden sie es verstehen. Sam wird es verstehen. Und was kann ich sonst
tun?«
Langsam zog er den Ring heraus und streifte ihn wieder auf. Er wurde
unsichtbar und eilte den Berg hinab, leiser als ein Rascheln des Windes.
Die anderen waren lange am Flußufer geblieben. Eine Zeitlang hatten
sie nicht gesprochen, sondern waren unruhig auf- und abgelaufen; aber
jetzt saßen sie im Kreis und unterhielten sich. Immer wieder bemühten sie
sich, von anderen Dingen zu reden, von ihrem langen Weg und ihren vie-
len Abenteuern; sie fragten Aragorn nach dem Reich Gondor und seiner
alten Geschichte und den Resten der großen Bauten, die man noch immer
in diesem seltsamen Grenzland des Emyn Muil sehen konnte: die steiner-
nen Könige und die Hochsitze von Lhaw und Hen und die hohe Treppe
neben dem Raurosfall. Aber immer kehrten ihre Gedanken und Worte zu
Frodo und dem Ring zurück. Wozu würde sich Frodo entschließen?
Warum zögerte er?
»Er überlegt sich, welcher Weg der kühnste ist, glaube ich«, sagte Ara-
gom. »Und da hat er sehr recht. Es ist jetzt für die Gemeinschaft hoff-
nungsloser denn je, nach Osten zu gehen, nachdem Gollum uns aufge-
spürt hat und wir fürchten müssen, daß das Geheimnis unserer Fahrt
schon verraten ist. Aber Minas Tirith liegt dem Feuer und der Vernich-
tung der Bürde nicht näher.
Wir könnten dort eine Weile bleiben und tapfer Widerstand leisten;
aber der Herr Denethor und alle seine Mannen können nicht hoffen, das
zu vollbringen, wovon selbst Elrond sagte, es übersteige seine Macht: ent-
weder die Bürde geheimzuhalten oder die gesamte Streitmacht des Feindes
abzuwehren, wenn er sie entsendet. Welchen Weg würde einer von uns an
Frodos Stelle wählen? Ich weiß es nicht. Jetzt fehlt uns Gandalf wirklich
sehr.«
»Schmerzlich ist unser Verlust«, sagte Legolas. »Doch müssen wir nun
unbedingt auch ohne seine Hilfe einen Entschluß fassen. Warum können
wir nicht die Entscheidung treffen und Frodo dadurch helfen? Laßt uns
ihn zurückrufen und abstimmen. Ich würde für Minas Tirith stimmen.«
»Und ich auch«, sagte Gimli. »Wir sind natürlich nur ausgesandt wor-
den, um dem Träger unterwegs behilflich zu sein, und sollten nicht wei-
tergehen, als wir wollten; und keinem von uns ist ein Eid oder Befehl auf-
erlegt worden, zum Schicksalsberg zu gehen. Bitter war mein Abschied
von Lothlórien. Indes bin ich bis hierher mitgekommen, und ich sage fol-
gendes: nun, da wir vor der letzten Entscheidung stehen, ist es mir klar,
daß ich Frodo nicht verlassen kann. Ich würde Minas Tirith wählen, aber
wenn er sich anders entscheidet, werde ich ihm folgen.«
»Und auch ich will mit ihm gehen«, sagte Legolas. »Es wäre treulos,
jetzt Lebewohl zu sagen.«
»Es wäre fürwahr ein Treubruch, wenn wir ihn alle verließen«, sagte
Aragorn. »Aber wenn er nach Osten geht, dann brauchen ihn nicht alle
zu begleiten; und ich glaube auch nicht, daß es gut wäre. Dieses Wagnis
ist überaus gefährlich: für acht ebenso wie für zwei oder drei oder einen
allein. Wenn ihr mir die Entscheidung überließet, würde ich drei Gefähr-
ten auswählen: Sam, der es anders nicht ertragen würde, Gimli und mich
selbst. Boromir will in seine Heimat zurückkehren, wo sein Vater und
sein Volk ihn brauchen; und mit ihm sollten die anderen gehen, oder
wenigstens Meriadoc und Peregrin, wenn Legolas nicht gewillt ist, sich
von uns zu trennen.«
»Das geht ganz und gar nicht!« rief Merry. »Wir können Frodo nicht
im Stich lassen! Pippin und ich haben immer vorgehabt, dorthin zu gehen,
wo er hingeht, und diese Absicht haben wir noch. Aber wir waren uns
nicht klar darüber, was das bedeutet. Es sah aus der Ferne anders aus, im
Auenland oder in Bruchtal. Es wäre verrückt und grausam, wenn man
Frodo nach Mordor gehen ließe. Warum können wir ihn nicht davon ab-
bringen?«
»Wir müssen ihn davon abbringen«, sagte Pippin. »Und das ist es,
worüber er sich Sorgen macht, dessen bin ich sicher. Er weiß, daß wir
nicht einverstanden sind, wenn er nach Osten geht. Und er möchte nicht
gerne jemanden bitten, mit ihm zu gehen, der arme Kerl. Stellt euch vor:
allein nach Mordor gehen!« Pippin lief es kalt über den Rücken. »Aber
der liebe, törichte, alte Hobbit sollte wissen, daß er nicht zu bitten
braucht. Er sollte wissen, daß wir, wenn wir ihn nicht davon abbringen
können, ihn nicht im Stich lassen werden.«
»Entschuldigung«, sagte Sam. »Ich glaube nicht, daß ihr meinen Herrn
überhaupt versteht. Er zögert nicht, weil er nicht weiß, welchen Weg er
einschlagen will. Das ist es natürlich nicht! Welchen Wert hat Minas Tirith
überhaupt? Für ihn, meine ich, Entschuldigung, Herr Boromir«, fügte
er hinzu und wandte sich um. Erst da entdeckten sie, daß Boromir, der
zuerst schweigend bei ihnen gesessen hatte, nicht mehr da war.
»Na, wo ist der denn hin?« rief Sam und sah besorgt aus. »Er war ein
bißchen sonderbar in letzter Zeit, nach meiner Meinung. Aber mit dieser
Sache hat er sowieso nichts zu tun. Er ist wohl nach Hause gegangen, wie
er immer gesagt hat; und das kann man ihm nicht übelnehmen. Aber
Herr Frodo, der weiß, daß er die Schicksalsklüfte finden muß, wenn er
kann. Doch hat er Angst. Jetzt, da es soweit ist, fürchtet er sich ganz
ein-
fach. Darin besteht seine Schwierigkeit. Natürlich hat er sozusagen ein
bißchen Schulung gehabt — wir alle —, seit wir von zu Hause aufgebro-
chen sind, denn sonst würde er so entsetzliche Angst haben, daß er den
Ring einfach in den Strom würfe und sich davonmachte. Aber er fürch-
tet sich doch noch zu sehr, um gleich loszugehen. Und auch nicht unseret-
wegen macht er sich Sorgen: ob wir mit ihm mitgehen oder nicht. Er
weiß, daß wir es vorhaben. Das ist noch etwas, das ihn quält. Wenn er
sich dazu durchringt, zu gehen, dann will er allein gehen. Merkt euch
meine Worte! Wir werden Schwierigkeiten haben, wenn er zurückkommt.
Denn er wird sich durchringen, so gewiß wie sein Name Beutlin ist.«
»Ich glaube, du sprichst weiser als irgendeiner von uns, Sam«, sagte
Aragorn. »Und was sollen wir tun, wenn sich deine Ansicht als richtig
herausstellt?«
»Ihn zurückhalten! Ihn nicht gehen lassen!« rief Pippin.
»Ich weiß nicht«, sagte Aragorn. »Er ist der Träger, und die Vernich-
tung der Bürde ist ihm auferlegt worden. Ich glaube nicht, daß es uns
zusteht, ihm zu diesem oder jenem Weg zuzureden. Und ich glaube auch
nicht, daß es uns gelingen würde, wenn wir es versuchten. Da sind andere
Mächte am Werk, die weit stärker sind.«
»Na, ich wünschte, Frodo würde sich >durchringen< und zurückkom-
men, damit wir die Sache hinter uns bringen«, sagte Pippin. »Dieses War-
ten ist entsetzlich. Die Zeit ist doch sicher schon um?«
»Ja«, sagte Aragorn. »Eine Stunde ist längst vorbei. Der Vormittag ist
bald vergangen. Wir müssen ihn rufen.«
In diesem Augenblick tauchte Boromir wieder auf. Er kam zwischen
den Bäumen hervor und ging ohne ein Wort auf sie zu. Sein Gesicht sah
düster und traurig aus. Er hielt inne, als ob er die Anwesenden zähle,
und dann setzte er sich hin, abseits von den anderen, und hielt die Augen
auf den Boden gerichtet.
»Wo warst du, Boromir?« fragte Aragorn. »Hast du Frodo gesehen?«
Boromir zögerte eine Sekunde. »Ja und nein«, antwortete er dann stok-
kend. »Ja, ich habe ihn ein Stück bergaufwärts getroffen und mit ihm
gesprochen. Ich drängte ihn, mit nach Minas Tirith zu kommen und
nicht in den Osten zu gehen. Ich wurde ärgerlich, und er verließ mich. Er
verschwand. So etwas habe ich noch nie gesehen, obwohl ich in Erzählun-
gen davon gehört habe. Er muß den Ring aufgesetzt haben. Ich konnte
ihn nicht wiederfinden. Ich hatte angenommen, er würde zu euch zurück-
kommen.«
»Ist das alles, was du zu sagen hast?« fragte Aragorn und sah Boromir
scharf und nicht allzu freundlich an.
»Ja«, antwortete er. »Mehr will ich noch nicht sagen.«
»Das ist schlecht!« rief Sam und sprang auf. »Ich weiß nicht, was die-
ser Mensch vorgehabt hat. Warum sollte Herr Frodo das Ding aufsetzen?
Er hätte es nicht tun sollen; und wenn er es getan hat, dann weiß der
Himmel, was geschehen sein mag!«
»Doch wird er ihn nicht aufbehalten haben«, sagte Merry. »Nicht,
wenn er dem unwillkommenen Besucher entwischt ist, wie Bilbo es zu
machen pflegte.«
»Aber wo ist er hingegangen? Wo ist er?« rief Pippin. »Er ist jetzt
schon eine Ewigkeit weg.«
»Wie lange ist es her, daß du Frodo zuletzt gesehen hast, Boromir?«
fragte Aragorn.
»Eine halbe Stunde vielleicht«, antwortete er. »Oder es könnte auch
eine Stunde sein. Ich bin seitdem etwas herumgewandert. Ich weiß es
nicht! Ich weiß es nicht!« Er stützte den Kopf in die Hände und saß da,
als sei er von Gram gebeugt.
»Eine Stunde, seit er verschwunden ist!« schrie Sam. »Wir müssen
sofort versuchen, ihn zu finden. Kommt mit!«
»Wartet einen Augenblick!« rief Aragorn. »Wir müssen jeweils zu
zweit gehen — hier, haltet an! Wartet!«
Es hatte keinen Zweck. Sie hörten gar nicht mehr auf ihn. Sam war als
erster losgesaust. Merry und Pippin waren ihm nachgestürzt und ver-
schwanden gerade westwärts zwischen den Bäumen am Ufer und riefen
Frodo/ Frodo! mit ihren hellen, hohen Hobbitstimmen. Legolas und Gimli
rannten. Eine plötzliche Panik oder Raserei schien die Gemeinschaft befal-
len zu haben.
»Wir werden uns alle verstreuen und verirren«, stöhnte Aragorn.
»Boromir, ich weiß nicht, welche Rolle du bei diesem Unheil gespielt hast,
aber hilf jetzt! Gehe den beiden jungen Hobbits nach und beschütze sie
wenigstens, selbst wenn du Frodo nicht finden kannst. Komm hierher
zurück, wenn du ihn oder irgendwelche Spuren von ihm findest. Ich
werde bald wieder da sein.«
Aragorn eilte rasch davon und ging Sam nach. Gerade als Sam die
kleine Wiese zwischen den Ebereschen erreicht hatte, sich keuchend berg-
auf quälte und Frodo! rief, überholte er ihn.
»Komm mit mir mit, Sam!« sagte er. »Keiner von uns sollte allein lau-
fen. Irgendein Unheil ist im Gange. Ich spüre es. Ich gehe auf den Gipfel,
zum Sitz von Amon Hen, ob ich etwas sehen kann. Und schau! Wie ich
geahnt habe, Frodo ist hier langgegangen. Komm mir nach und halte die
Augen offen!« Er hastete den Pfad hinauf.
Sam tat sein Möglichstes, aber mit Streicher, dem Waldläufer, konnte
er nicht Schritt halten und blieb bald zurück. Er war noch nicht weit ge-
gangen, da war Aragorn schon außer Sicht. Sam blieb stehen und
schnaufte. Plötzlich schlug er sich mit der Hand vor die Stirn.
»Halt, Sam Gamdschie!« sagte er laut. »Deine Beine sind zu kurz, also
gebrauche deinen Kopf. Nun wollen wir mal sehen. Boromir lügt nicht,
das ist nicht seine Art; aber er hat uns nicht alles erzählt. Irgend etwas
hat Herrn Frodo mächtig erschreckt. Er hat sich auf der Stelle durchge-
rungen, plötzlich. Er hat sich endlich entschlossen — zu gehen. Wohin?
Nach dem Osten. Nicht ohne Sam? Doch, sogar ohne seinen Sam. Das ist
hart, grausam hart.«
Sam fuhr sich mit der Hand über die Augen und wischte sich die
Tränen ab. »Ruhig, Gamdschie!« sagte er. »Denke, wenn du kannst! Über
Flüsse kann er nicht fliegen und über Wasserfälle nicht springen. Er hat
keine Ausrüstung bei sich. Also mußte er zu den Booten zurückgehen.
Zurück zu den Booten. Zurück zu den Booten, Sam, wie der Blitz!«
Sam machte kehrt und schoß wieder den Pfad hinunter. Er fiel und
schlug sich die Knie auf. Er stand auf und rannte weiter. Er kam zu der
Wiese Parth Galen am Ufer, wo die Boote lagen, nachdem sie aus dem
Wasser gezogen worden waren. Niemand war da. Im Wald hinter ihm
schien jemand zu rufen, aber er achtete nicht darauf. Einen Augenblick
stand er stocksteif da und starrte. Ein Boot glitt ganz von selbst über die
Böschung. Mit einem lauten Ruf rannte Sam über die Wiese. Das Boot
glitt ins Wasser.
»Ich komme, Herr Frodo! Ich komme!« rief Sam, sprang vom Ufer ab
und griff nach dem abfahrenden Boot. Er verfehlte es um eine Elle. Mit
einem Schrei und einem Platschen fiel er in das rasch fließende Wasser.
Gurgelnd ging er unter, und der Strom schloß sich über seinem Krauskopf.
Ein Schreckensruf kam aus dem leeren Boot. Ein Paddel wirbelte, und
das Boot drehte bei. Frodo konnte Sam gerade rechtzeitig am Schöpf pak-
ken, als er prustend und strampelnd hoch kam. Angst stand ihm in den
runden braunen Augen.
»Herauf mit dir, Sam, mein Junge«, sagte Frodo. »Hier, nimm meine
Hand!«
»Rette mich, Herr Frodo!« keuchte Sam. »Ich vertrinke. Ich kann deine
Hand nicht sehen.«
»Hier ist sie. Kneife doch nicht so. Junge! Ich laß dich schon nicht los.
Tritt Wasser und zappele nicht, sonst bringst du das Boot zum Kentern.
So, nun halte dich an der Seite fest und laß mich paddeln.«
Mit ein paar Schlägen brachte Frodo das Boot zum Ufer zurück, und
Sam konnte herauskrabbeln, naß wie eine Wasserratte. Frodo nahm den
Ring ab und stieg wieder aus dem Boot aus.
»Von all den verflixten Ärgernissen bist du das schlimmste, Sam!«,
sagte er.
»O, Herr Frodo, das ist hart«, sagte Sam zitternd. »Das ist hart, daß du
versuchst, ohne mich wegzugehen. Wenn ich nicht den richtigen Riecher
gehabt hätte, wo wärst du dann jetzt?«
»Unterwegs und in Sicherheit.«
»In Sicherheit!« sagte Sam. »Ganz allein und ohne daß ich dir helfen
kann? Das hätte ich nicht ertragen können, das wäre mein sicherer Tod
gewesen.«
»Es würde dein sicherer Tod sein, wenn du mitkämst, Sam«, sagte
Frodo, »und das könnte ich nicht ertragen.«
»Nicht so sicher, als wenn ich zurückbleiben muß«, sagte Sam.
»Aber ich gehe nach Mordor.«
»Das weiß ich sehr gut, Herr Frodo. Natürlich gehst du dahin. Und ich
komme mit dir.«
»Nun höre, Sam«, sagte Frodo, »halte mich jetzt nicht auf. Die anderen
können jede Minute zurückkommen. Wenn sie mich hier erwischen,
werde ich Gründe anführen und Erklärungen abgeben müssen, und ich
werde niemals wieder den Mut aufbringen oder eine Gelegenheit haben,
wegzugehen. Aber ich muß sofort gehen. Es ist die einzige Möglichkeit.«
»Natürlich«, sagte Sam. »Aber nicht allein. Ich komme mit, oder kei-
ner von uns geht. Eher schlage ich Löcher in alle Boote.«
Frodo mußte lachen. Ihm wurde plötzlich weich und warm ums Herz.
»Laß eins übrig«, sagte er. »Wir werden es brauchen. Aber du kannst
nicht so mitkommen ohne deine Ausrüstung und Lebensmittel und
alles.«
»Warte einen Augenblick, dann hole ich mein Zeug!« rief Sam eifrig.
»Es ist alles bereit. Ich hatte mir schon gedacht, daß wir heute aufbre-
chen.« Er stürzte zum Lagerplatz, fischte seinen Rucksack aus dem Stapel
heraus, wo Frodo ihn hingelegt hatte, schnappte sich eine zusätzliche
Decke und noch ein paar Lebensmittelpakete und rannte zurück.
»Mein ganzer Plan ist also vereitelt«, sagte Frodo. »Es hat keinen
Zweck, dir entkommen zu wollen. Aber ich bin froh, Sam. Ich kann dir
nicht sagen, wie froh. Komm mit! Es ist klar, daß wir dazu ausersehen
sind, zusammen zu gehen. Wir werden aufbrechen, und mögen die ande-
ren einen sicheren Weg finden. Streicher wird sich um sie kümmern. Ich
glaube kaum, daß wir sie wiedersehen werden.«
»Vielleicht doch noch, Herr Frodo. Vielleicht doch«, sagte Sam.
So machten sich Frodo und Sam gemeinsam zum letzten Abschnitt der
Fahrt auf. Frodo paddelte vom Ufer weg, und dann trug der Strom sie
rasch davon, den westlichen Arm hinunter und vorbei an den dräuenden
Klippen von Tol Brandir. Das Brausen des großen Wasserfalls kam näher.
Selbst mit der Unterstützung, die Sam zu gewähren vermochte, war es ein
schwieriges Unterfangen, am südlichen Ende der Insel das Boot durch die
Strömung hindurch zum östlichen Ufer zu bringen.
Schließlich kamen sie auf den südlichen Hängen des Amon Lhaw wie-
der an Land. Dort fanden sie ein sanft abfallendes Ufer, und sie zogen das
Boot heraus und versteckten es hoch über dem Wasser hinter einem gro-
ßen Findling. Dann schulterten sie ihre Rucksäcke und nahmen die Suche
auf nach einem Pfad, der sie über die grauen Berge des Emyn Muil und
hinunter in das Land des Schattens bringen würde.