ZWEITES KAPITEL
DER SCHATTEN DER VERGANGENHEIT
Der Gesprächsstoff war nicht in neun und sogar nicht in neunund-
neunzig Tagen erschöpft. Über das zweite Verschwinden von Herrn Bilbo
Beutlin wurde in Hobbingen, ja im ganzen Auenland über Jahr und Tag
geredet, und in Erinnerung blieb es noch viel länger. Es wurde eine Ge-
schichte, die die Großmütter jungen Hobbits erzählten; und der verrückte
Beutlin, der unter Blitz und Donner zu verschwinden und mit Säcken voll
Gold und Edelsteinen wiederzukommen pflegte, wurde schließlich eine be-
liebte Sagengestalt und lebte noch fort, nachdem all die wahren Ereignisse
längst vergessen waren.
Einstweilen aber war man in der Nachbarschaft allgemein der Ansicht,
Bilbo sei immer ziemlich verdreht gewesen, jetzt sei er ganz verrückt
geworden und einfach ins Blaue hinein davongerannt. Zweifellos sei er in
einen Teich oder einen Fluß gefallen und habe ein tragisches, wenn auch
kaum vorzeitiges Ende gefunden. Die Schuld wurde zumeist Gandalf zu-
geschoben.
»Wenn dieser verflixte Zauberer nur den jungen Frodo in Frieden läßt,
dann wird er sich schon einleben und zu etwas Hobbitverstand kommen«,
sagten die Leute. Und es sah wirklich so aus, als würde der Zauberer
Frodo in Frieden lassen, und er lebte sich auch ein, nur daß ihm der Hob-
bitverstand käme, war kaum zu merken. Vielmehr geriet er sofort in den
Ruf, in dem auch Bilbo gestanden hatte: ein sonderbarer Kauz zu sein. Er
weigerte sich, Trauer zu tragen; und im nächsten Jahr gab er zu Ehren
von Bilbos hundertzwölftem Geburtstag ein Fest, das er eine Zentnerfeier
nannte *. Aber das traf nicht ganz zu, denn zwanzig Gäste waren gela-
den, und es gab mehrere Mahlzeiten, bei denen es Futter schneite und
Schoppen regnete, wie die Hobbits sagten.
Manche Leute waren ziemlich empört; aber Frodo hielt daran fest, Jahr
für Jahr zu Bilbos Geburtstag ein Fest zu geben, bis sie sich schließlich
daran gewöhnt hatten. Er sagte, er glaube nicht daran, daß Bilbo tot sei.
Wenn sie ihn fragten: »Aber wo ist er?«, zuckte er die Schultern.
Er lebte allein, wie es auch Bilbo getan hatte; doch hatte er viele
*Damals hatte ein Zentner 112 Pfund (Anm. des Übers.).
Freunde, besonders unter den jungen Hobbits (meist Nachkommen des
Alten Tuk), die als Kinder Bilbo gern gehabt hatten und auf Beutelsend
aus- und eingegangen waren. Folko Boffin und Fredegar Böiger gehörten
dazu; aber seine engsten Freunde waren Peregrin Tuk (gewöhnlich Pippin
genannt) und Merry Brandybock (der eigentlich Meriadoc hieß, was fast
in Vergessenheit geraten war). Mit ihnen durchstreifte Frodo das ganze
Auenland; aber öfter wanderte er für sich allein, und zur Verwunderung
der vernünftigen Leute sah man ihn manchmal weit von zu Hause im
Sternenlicht über die Hügel und durch die Wälder gehen. Merry und Pip-
pin vermuteten, daß er dann und wann die Elben besuchte, wie es Bilbo
getan hatte.
Mit der Zeit begannen die Leute zu merken, daß auch auf Frodo die Re-
densart zutraf, »noch gut auszusehen«: seine äußere Erscheinung war im-
mer noch die eines robusten und tatkräftigen Hobbits, der gerade aus den
»Zwiens« heraus war. »Manche Leute sind eben Glückskinder«, sagten sie;
aber erst als sich Frodo dem gewöhnlich gesetzteren Alter von fünfzig
näherte, kam es ihnen allmählich sonderbar vor.
Was Frodo selbst betrifft, so fand er es recht angenehm, nachdem er
den ersten Schock überwunden hatte, sein eigener Herr und der Herr
Beutlin von Beutelsend zu sein. Einige Jahre war er ganz vergnügt und
machte sich keine Sorgen um die Zukunft. Doch halb unbewußt reute es
ihn immer mehr, daß er Bilbo nicht begleitet hatte. Dann und wann, be-
sonders im Herbst, merkte er, daß er sich Gedanken machte über die unbe-
wohnten Gegenden, und seltsame Phantasiebilder von Bergen, die er nie ge-
sehen hatte, tauchten in seinen Träumen auf. Immer häufiger sagte er zu
sich selbst: »Vielleicht werde auch ich eines Tages den Fluß überschreiten.«
Worauf die andere Hälfte seines Ichs antwortete: »Noch nicht.«
So ging es weiter, bis er die Vierziger allmählich hinter sich ließ und
sein fünfzigster Geburtstag näherrückte: fünfzig war eine Zahl, die er als
irgendwie bedeutsam (oder unheilvoll) empfand; jedenfalls war es das
Alter, in dem Bilbo plötzlich von Abenteuerlust befallen worden war.
Frodo wurde von Unruhe gepackt, und die alten Pfade erschienen ihm zu
ausgetreten. Er betrachtete Landkarten und fragte sich, was wohl jenseits
der Grenzen läge: die im Auenland hergestellten Karten zeigten dort
zumeist weiße Flecke. Er pflegte jetzt weitere Spaziergänge zu machen
und immer häufiger allein; und Merry und seine anderen Freunde beob-
achteten ihn besorgt. Oft sah man ihn die fremden Wanderer, die zu die-
ser Zeit im Auenland auftauchten, ein Stück begleiten und sich mit ihnen
unterhalten.
Gerüchte verbreiteten sich über merkwürdige Dinge, die draußen in der
Welt geschahen; und da Gandalf seit Jahren nicht dagewesen war und
auch keine Botschaft gesandt hatte, sammelte Frodo alle Nachrichten, die
er erhalten konnte. Elben, die selten im Auenland wanderten, sah man
jetzt des Abends westwärts durch die Wälder ziehen, sie gingen und
kehrten nicht zurück; denn sie verließen Mittelerde und nahmen keinen
Anteil mehr an ihren Wirren. Indes waren Zwerge in ungewöhnlicher
Zahl auf der Straße. Die alte Ostweststraße, die bei den Grauen Anfurten
endete, führte durch das Auenland, und die Zwerge hatten sie immer auf
dem Weg zu ihren Bergwerken im Blauen Gebirge benutzt. Für die Hob-
bits waren sie die Hauptquelle für Nachrichten aus fernen Gegenden —
wenn sie welche hören wollten: in der Regel sagten Zwerge wenig, und
Hobbits fragten auch nicht mehr. Aber Frodo traf jetzt oft fremde Zwerge
aus fernen Ländern, die im Westen Zuflucht suchten. Sie waren besorgt, und
manche sprachen im Flüsterton von dem Feind und dem Lande Mordor.
Diesen Namen kannten die Hobbits nur aus den Sagen der dunklen Ver-
gangenheit, und wie ein Schatten lag er über ihren Erinnerungen; er war
unheilvoll und beunruhigend. Es schien, als sei die böse Macht in Düster-
wald nur vom Weißen Rat vertrieben worden, um in größerer Stärke in
den alten Festen von Mordor erneut zu erstehen. Der Dunkle Turm sei
wieder aufgebaut worden, hieß es. Von dort breitete sich die Macht weit-
um aus, und im fernen Osten und Süden wurden Kriege geführt, und die
Furcht wuchs. Die Orks nahmen wieder an Zahl zu in den Bergen. Trolle
waren unterwegs, und sie waren nicht länger einfältig, sondern verschla-
gen und mit fürchterlichen Waffen ausgerüstet. Und es wurde von Ge-
schöpfen gemurmelt, die noch entsetzlicher seien als diese, aber sie hat-
ten keinen Namen.
Wenig von alledem drang natürlich bis zu den Ohren der gewöhn-
lichen Hobbits. Aber selbst die Taubsten und die hartnäckigsten Stuben-
hocker hörten sonderbare Erzählungen; und diejenigen, die an den Gren-
zen ihren Geschäften nachgingen, sahen merkwürdige Dinge. Die Unter-
haltung im Grünen Drachen in Wasserau an einem Frühlingsabend in
Frodos fünfzigstem Lebensjahr zeigte, daß selbst mitten im behaglichen
Auenland Gerüchte vernommen worden waren, wenngleich die meisten
Hobbits noch darüber lachten.
Sam Gamdschie saß in einer Ecke am Feuer, und ihm gegenüber Timm
Sandigmann, des Müllers Sohn; und da waren noch verschiedene andere
einfache Hobbits, die ihrer Unterhaltung lauschten.
»Komische Dinge hört man heutzutage«, sagte Sam.
»Na ja«, meinte Timm, »wenn man sie sich anhört. Aber Ammenmär-
chen und Kindergeschichten kann ich auch zu Hause hören, wenn ich will.«
»Das kannst du gewiß«, erwiderte Sam, »und ich behaupte, an man-
chen ist mehr Wahres dran, als du glaubst. Wer hat denn die Geschichten
überhaupt erfunden? Nimm zum Beispiel die Drachen.«
»Nein, danke schön«, sagte Timm, »mag ich nicht. Ich habe über sie er-
zählen hören, als ich klein war, aber jetzt besteht keine Veranlassung,
daran zu glauben. Es gibt nur einen Drachen in Wasserau, und der ist
grün«, erklärte er, und alle lachten.
»Wohl wahr«, meinte Sam und stimmte in das Gelächter ein. »Aber
was ist mit diesen Baum-Männern, diesen Riesen, wie man sie nennen
könnte? Man sagt, einer, der größer war als ein Baum, sei vor nicht lan-
ger Zeit oben jenseits der Nordmoore gesehen worden.«
»Wer ist man?«
»Mein Vetter Hal zum Beispiel. Er arbeitet für Herrn Boffin in Ober-
bühl und geht oft im Nordviertel auf die Jagd. Er hat einen gesehen.«
»Sagt er vielleicht. Dein Hal sagt immer, er habe was gesehen; und
vielleicht sieht er Dinge, die gar nicht da sind.«
»Aber dieser war so groß wie eine Ulme und ging — mit Schritten drei
Klafter lang, wenn es wenig war.«
»Dann wett' ich, war es nicht wenig. Was Hal gesehen hatte, war eben
wirklich eine Ulme.«
»Aber dieser ging, sage ich dir doch; und außerdem gibt es in den
Nordmooren keine Ulmen.«
»Dann kann Hal auch keine gesehen haben«, folgerte Timm. Es wurde
gelacht und geklatscht: die Zuhörer fanden wohl, es stände Eins zu Null
für Timm.
»Immerhin«, fuhr Sam fort, »kannst du nicht leugnen, daß nicht nur
unser Halfast, sondern auch andere Leute seltsames Volk durch das
Auenland haben ziehen sehen — hindurchziehen, bedenke: mehr noch
werden an den Grenzen zurückgeschickt. Die Grenzer haben niemals so
viel zu tun gehabt wie jetzt.
Und ich habe gehört, daß die Elben nach Westen ziehen. Sie sagen, sie
gehen zu den Häfen, weit jenseits der Weißen Türme.« Sam machte eine
ungenaue Bewegung mit dem Arm: weder er noch irgendeiner von ihnen
wußte, wie weit es zum Meer war, an den alten Türmen vorbei jenseits
der Westgrenzen des Auenlands. Doch war seit alters her bekannt, daß
dort die Grauen Anfurten lagen, wo dann und wann Elbenschiffe ihre
Segel setzten, um niemals zurückzukehren.
»Sie segeln, segeln, segeln über die See, sie fahren nach Westen und ver-
lassen uns«, sagte Sam halb singend und schüttelte traurig und bedeut-
sam den Kopf. Aber Timm lachte.
»Na, das ist doch nichts Neues, wenn du den alten Erzählungen
glaubst. Und ich sehe nicht ein, was es mir oder dir ausmachen soll. Laß
sie doch segeln! Aber ich bin sicher, daß du sie nicht dabei beobachtet
hast; und überhaupt keiner aus dem Auenland.«
»Nun, ich weiß nicht«, sagte Sam nachdenklich. Er glaubte einmal im
Wald einen Elben gesehen zu haben und hoffte immer noch, eines Tages
noch mehr von ihnen zu sehen. Von allen Sagen, die er in seiner Kindheit
gehört hatte, waren es immer die Bruchstücke von Märchen und nur halb
erinnerten Berichten über die Elben, soweit die Hobbits sie kannten, die
ihn am tiefsten bewegt hatten. »Selbst in unserer Gegend gibt es Leute,
die die Huldreichen kennen und Nachrichten von ihnen erhalten«, sagte
er. »Der Herr Beutlin zum Beispiel, für den ich arbeite. Er hat mir
gesagt, daß sie fortsegeln, und er weiß ein wenig von den Elben. Und der
alte Herr Bilbo wußte noch mehr: oft habe ich mich mit ihm unterhalten,
als ich noch ein kleiner Junge war.«
»Ach, die sind ja beide verdreht«, sagte Timm. »zumindest der alte
Bilbo hat gesponnen, und Frodo fängt auch an. Wenn du deine Neuigkei-
ten von dort beziehst, wird's dir nie an Unsinn mangeln. So, Freunde, ich
mach' mich auf den Heimweg. Auf euer Wohl!« Er trank seinen Becher
leer und ging geräuschvoll hinaus.
Sam saß schweigend da und sagte nichts mehr. Er hatte über eine ganze
Menge nachzudenken. Zuerst einmal war im Garten von Beutelsend viel
zu tun, und morgen würde er einen arbeitsreichen Tag haben, falls sich
das Wetter aufklärte. Das Gras wuchs rasch. Aber er hatte mehr auf dem
Herzen als nur seine Gartenarbeit. Nach einer Weile seufzte er, stand auf
und ging hinaus.
Es war Anfang April, und der Himmel klärte sich jetzt nach einem
starken Regen auf. Die Sonne war untergegangen, und ein kühler, fahler
Abend verblaßte langsam zur Nacht. Die ersten Sterne standen am Him-
mel, als Sam heimging durch Hobbingen und den Bühl hinauf, leise
vor sich hinpfeifend und voller Gedanken.
Es war gerade zu dieser Zeit, daß Gandalf nach langer Abwesenheit
wieder auftauchte. Nach dem Fest war er drei Jahre lang weggeblieben.
Dann hatte er Frodo einmal kurz besucht und war, nachdem er ihn sich
gut angeschaut hatte, wieder verschwunden. In den nächsten ein oder
zwei Jahren war er ziemlich oft gekommen, unerwartet nach der Dämme-
rung, und ging ohne Gruß vor Sonnenaufgang schon wieder fort. Von sei-
nen eigenen Angelegenheiten und Fahrten erzählte er nichts und wollte
wohl hauptsächlich wissen, wie es Frodo gesundheitlich ginge und was er
triebe.
Dann plötzlich hatten seine Besuche aufgehört. Es war jetzt über neun
Jahre, daß Frodo nichts von ihm gesehen oder gehört hatte, und er glaubte
schon fast, der Zauberer werde niemals wiederkommen und habe jedes
Interesse an den Hobbits verloren. Aber an jenem Abend, als Sam nach
Hause ging und das Dämmerlicht verblaßte, hörte er das einstmals ver-
traute Klopfen am Fenster des Arbeitszimmers.
Frodo begrüßte seinen alten Freund überrascht und hocherfreut. Sie
sahen sich beide prüfend an.
»Na, alles in Ordnung?« fragte Gandalf. »Du siehst aus wie eh und je,
Frodo!«
»Du auch«, antwortete Frodo; aber bei sich dachte er, daß Gandalf älter
und bekümmerter aussehe. Er bestürmte ihn mit Fragen, wie es ihm er-
gangen sei und was es Neues in der weiten Welt gebe, und bald waren sie
ins Gespräch vertieft und blieben bis tief in die Nacht auf.
Am nächsten Morgen saßen der Zauberer und Frodo nach einem spä-
ten Frühstück am offenen Fenster des Arbeitszimmers. Ein Feuer pras-
selte im Kamin, aber die Sonne schien warm und der Wind wehte von
Süden. Alles sah frisch aus, und das junge Frühlingsgrün schimmerte auf
den Feldern und auf den Zweigspitzen der Bäume.
Gandalf dachte an einen Frühling vor fast achtzig Jahren, als Bilbo
ohne Taschentuch von Beutelsend weggelaufen war. Sein Haar war viel-
leicht weißer als damals, sein Bart und seine Augenbrauen vielleicht län-
ger und sein Gesicht zerfurchter von Sorgen und Weisheit; aber seine
Augen strahlten wie eh und je, und er rauchte und blies Rauchringe mit
derselben Kraft und demselben Behagen.
Jetzt rauchte er schweigend, denn Frodo war tief in Gedanken versun-
ken. Noch in der Helligkeit des Morgens verspürte er den dunklen Schat-
ten der Nachrichten, die Gandalf mitgebracht hatte. Schließlich brach er
das Schweigen.
»Gestern abend hast du angefangen, mir merkwürdige Dinge über mei-
nen Ring zu erzählen, Gandalf«, sagte er. »Und dann hast du innegehal-
ten und gemeint, solche Sachen ließe man besser ruhen bis zum hellichten
Tage. Findest du nicht, daß du nun fortfahren solltest? Du sagtest, der
Ring sei gefährlich, viel gefährlicher, als ich es mir vorstellte. In welcher
Beziehung?«
»In mancher Beziehung«, antwortete der Zauberer. »Er ist viel mächtiger,
als ich zuerst zu denken wagte, so machtvoll, daß er zuletzt jeden Sterb-
lichen, der ihn besitzt, völlig unterwerfen würde. Der Ring würde dann
ihn beherrschen.
Vor langer Zeit wurden in Eregion viele Elbenringe hergestellt. Zauber-
ringe, wie ihr sie nennt, und es gab natürlich verschiedene Arten: man-
che waren mehr und manche waren weniger wirksam. Die weniger wirk-
samen Ringen waren nur Versuche in der Kunst, ehe sie voll entwickelt
war, und für die Elbenschmiede waren sie bloße Kleinigkeiten — und den-
noch meiner Ansicht nach gefährlich für Sterbliche. Doch die Großen
Ringe, die Ringe der Macht, waren verderbenbringend.
Ein Sterblicher, Frodo, der einen der Großen Ringe besitzt, stirbt nicht,
aber er wächst auch nicht und gewinnt nicht mehr Leben, sondern dehnt
es bloß aus, bis zuletzt jede Minute eine Qual ist. Und wenn er den Ring
oft benutzt, um sich unsichtbar zu machen, schwindet er, bis er schließ-
lich ständig unsichtbar ist und im Zwielicht wandelt unter dem Auge der
dunklen Macht, die die Ringe beherrscht. Ja, früher oder später — später,
wenn er zuerst stark ist oder keine bösen Absichten hat, doch werden
weder Stärke noch gute Absichten von Dauer sein — früher oder später
wird die dunkle Macht ihn verschlingen.«
»Wie entsetzlich!« sagte Frodo. Lange herrschte wieder Schweigen.
Vom Garten herein drang das Klappern von Sam Gamdschies Schere, der
den Rasen schnitt.
»Wie lange weißt du das schon?« fragte Frodo schließlich. »Und wie
viel wußte Bilbo?«
»Bilbo wußte bestimmt nicht mehr als das, was er dir erzählt hat«,
sagte Gandalf. »Gewiß hätte er etwas, das er für gefährlich hielt, nicht an
dich weitergegeben, nicht einmal, nachdem ich ihm versprochen hatte,
mich um dich zu kümmern. Er hielt den Ring für sehr schön und im Not-
fall sehr nützlich; und wenn irgend etwas nicht stimmte oder sonder-
bar sei, dann, glaubte er, läge es an ihm. Er sagte,, der Ring habe ihn
»bedrückte und er sei ständig um ihn in Sorge gewesen; aber er hat
nicht vermutet, daß der Ring daran schuld war. Obwohl er festgestellt
hatte, daß man auf ihn aufpassen mußte; der Ring schien nicht immer die
gleiche Größe oder das gleiche Gewicht zu haben; er wurde auf sonder-
bare Weise einmal enger, einmal weiter und konnte plötzlich von einem
Finger gleiten, auf dem er fest gesessen hatte.«
»Ja, davor hat er mich in seinem letzten Brief gewarnt«, sagte Frodo.
»Deshalb habe ich den Ring immer am Kettchen.«
»Sehr weise«, erwiderte Gandalf. »Aber was Bilbos langes Leben be-
trifft, so hat er das niemals mit dem Ring in Verbindung gebracht. Das
Verdienst daran hat er sich allein zugeschrieben und war sehr stolz dar-
auf. Obwohl er rastlos wurde und unruhig. Dünn und ausgemergelt sagte
er. Ein Zeichen, daß der Ring Gewalt über ihn bekam.«
»Wie lange weißt du das alles?« fragte Frodo noch einmal.
»Wissen?« wiederholte Gandalf. »Ich weiß vieles, was nur die Weisen
wissen, Frodo. Aber wenn du »von diesem Ring wissen< meinst, dann
könnte man sagen: ich weiß es immer noch nicht. Es ist noch eine letzte
Probe zu machen. Aber ich zweifle nicht länger an meiner Vermutung.
Wann habe ich es zuerst vermutet?«, überlegte er und forschte in sei-
nem Gedächtnis. »Laß mich nachdenken — in dem Jahr, als der Weiße Rat
die dunkle Macht aus Düsterwald vertrieb, gerade vor der Schlacht der
Fünf Heere, fand Bilbo seinen Ring. Ein Schatten legte sich mir damals
aufs Herz, obwohl ich noch nicht wußte, was ich eigentlich fürchtete. Ich
fragte mich oft, wie Gollum wohl an einen Großen Ring gekommen sei,
denn das war der Ring eindeutig — das zumindest war von Anfang an
klar. Dann hörte ich Bilbos seltsame Geschichte, wie er ihn >gewonnen<
habe, und ich konnte sie nicht glauben. Als ich schließlich die Wahrheit
aus ihm herausholte, merkte ich sofort, daß er versucht hatte, jeden Zwei-
fel an seinem Anspruch auf den Ring auszuräumen. Ungefähr wie Gol-
lum mit seinem >Geburtstagsgeschenk<. Die Lügen waren sich zu ähnlich,
als daß ich mich damit hätte zufrieden geben können. Es war klar, daß
der Ring eine unheilvolle Macht besaß, die sich sofort auf jeden aus-
wirkte, der ihn in Verwahrung hatte. Das war die erste wirkliche War-
nung für mich, daß nicht alles in Ordnung war. Ich sagte Bilbo oft, daß
man von solchen Ringen besser keinen Gebrauch macht; aber das nahm
er übel und wurde immer gleich ärgerlich. Sonst konnte ich nicht viel tun.
Ich konnte ihm den Ring nicht wegnehmen, ohne noch größeren Schaden
anzurichten; und ich hatte sowieso kein Recht dazu. Ich konnte nur auf-
passen und abwarten. Vielleicht hätte ich Saruman den Weißen um Rat
fragen können, aber irgend etwas hielt mich davon ab.«
»Wer ist denn das?« fragte Frodo. »Von ihm habe ich ja noch nie ge-
hört.«
»Das mag schon sein. Mit Hobbits hat er oder hatte er nichts im Sinn.
Dennoch ist er groß unter den Weisen. Er ist der Oberste meines Ordens
und der Vorsitzende des Rates. Er hat ein reiches Wissen, aber sein Stolz
ist ebenso groß, und er nimmt jede Einmischung übel. Die Kunde von den
Elbenringen, den kleinen wie den großen, ist sein Bereich. Er hat sie lange
erforscht und nach den vergessenen Geheimnissen ihrer Herstellung ge-
sucht; doch als die Frage der Ringe im Rat erörtert wurde, sprach alles,
was er uns über die Ringkunde enthüllen wollte, gegen meine Befürchtun-
gen. So schlummerte mein Zweifel — aber unruhig. Noch beobachtete ich
und wartete ab.
Und alles schien mit Bilbo in Ordnung zu sein. Und die Jahre ver-
strichen. Ja, sie verstrichen und schienen ihn nicht zu berühren. Er zeigte
keine Anzeichen des Alterns. Der Schatten überfiel mich wieder. Aber
ich sagte mir: >Schließlich kommt er mütterlicherseits aus einer langlebi-
gen Familie. Noch ist Zeit. Warte ab !<
Und ich wartete. Bis zu jenem Abend, als er dieses Haus verließ. Was
er damals sagte und tat, erfüllte mich mit einer Furcht, die kein Wort von
Saruman beschwichtigen konnte. Ich erkannte endlich, daß etwas Dunkles
und Tödliches am Werk war. Und die Jahre seitdem habe ich hauptsäch-
lich damit verbracht, die Wahrheit herauszufinden.«
»Es ist doch nicht etwa ein dauernder Schaden angerichtet worden?«
fragte Frodo besorgt. »Er wird doch wohl rechtzeitig wieder in Ordnung
kommen? Ich meine, in Frieden ruhen können?«
»Er fühlte sich sofort besser«, sagte Gandalf. »Doch gibt es nur eine
Macht in der Welt, die alles über Ringe und ihre Wirkungen weiß, und
soweit mit bekannt, gibt es keine Macht in der Welt, die alles über Hob-
bits weiß. Unter den Weisen bin ich der einzige, der sich mit Hobbit-
kunde befaßt: ein unbekannter Wissenszweig, aber voller Überraschungen.
Weich wie Butter können sie sein, und doch bisweilen zäh wie alte Baum-
wurzeln. Ich halte es für wahrscheinlich, daß manche den Ringen weit
länger widerstehen können, als die meisten Weisen vermuten würden.
Über Bilbo, glaube ich, brauchst du dir keine Sorgen zu machen.
Natürlich hat er den Ring viele Jahre besessen und ihn auch benutzt, so
daß es einige Zeit dauern könnte, bis sich der Einfluß verliert — ehe es
für
ihn gefahrlos wäre, ihn wiederzusehen, zum Beispiel. Ansonsten mag er
ganz vergnügt noch Jahre leben: eben so bleiben, wie er war, als er sich
von dem Ring trennte. Denn schließlich hat er ihn aus freien Stücken auf-
gegeben: ein wichtiger Punkt. Nein, über den lieben Bilbo habe ich mir
keine Sorgen mehr gemacht, nachdem er sich einmal von dem Ding ge-
trennt hatte. Für dich fühle ich mich jetzt verantwortlich.
Alldieweil seit Bilbo fort ist, habe ich viel nachgedacht über dich und
all diese reizenden, törichten, hilflosen Hobbits. Es wäre ein schmerzlicher
Schlag für die Welt, wenn die Dunkle Macht das Auenland überwältigte;
wenn all eure freundlichen, fröhlichen, dummen Bolgers, Hornbläsers,
Boffins, Straffgürtels mitsamt den übrigen, ganz zu schweigen von den
lächerlichen Beutlins, versklavt würden.«
Frodo schauderte. »Aber warum sollten wir das werden?« fragte er.
»Und warum würde er solche Sklaven haben wollen?«
»Um dir die Wahrheit zu sagen«, erwiderte Gandalf, »weil ich glaube,
daß er bislang — bislang, wohlgemerkt — das Vorhandensein der
Hobbits
völlig übersehen hat. Ihr solltet dankbar dafür sein. Aber mit eurer
Sicherheit ist es vorbei. Er braucht euch nicht — er hat viel nützlichere
Diener —, aber er wird euch nicht mehr vergessen. Und Hobbits als jäm-
merliche Sklaven würden ihm weit besser gefallen als Hobbits, die froh
und frei sind. Er gibt so etwas wie Bosheit und Rache!«
»Rache?« fragte Frodo. »Rache wofür? Ich verstehe immer noch nicht,
was all das mit Bilbo und mit mir und mit unserem Ring zu tun hat.«
»Es hat durchaus damit zu tun«, sagte Gandalf. »Du kennst die wirkliche
Gefahr noch nicht; aber du wirst sie erkennen. Ich war selbst noch nicht
sicher, als ich das letzte Mal hier war; doch ist die Zeit gekommen, da ich
reden muß. Gib mir den Ring einen Augenblick.«
Frodo nahm ihn aus der Hosentasche, wo er an einem Kettchen hing,
das an seinem Gürtel befestigt war. Er machte ihn los und reichte ihn
zögernd dem Zauberer. Der Ring fühlte sich plötzlich sehr schwer an, als
ob es entweder ihm oder Frodo irgendwie widerstrebte, daß Gandalf ihn
berühren sollte.
Gandalf hielt ihn hoch. Der Ring sah aus, als sei er aus reinem und
massivem Gold. »Kannst du irgendwelche Zeichen auf ihm erkennen?«
fragte Gandalf.
»Nein«, antwortete Frodo. »Es sind keine drauf. Er ist ganz glatt, und
man sieht niemals einen Kratzer oder eine Spur von Abnützung.«
»Nun denn, schau!« Zu Frodos Erstaunen und Bestürzung warf der
Zauberer den Ring plötzlich mitten in die Glut des Feuers. Frodo stieß
einen Schrei aus und griff nach der Zange; aber Gandalf hielt ihn zurück.
»Warte!« sagte er in befehlendem Ton und warf Frodo unter seinen
buschigen Augenbrauen einen raschen Blick zu.
Der Ring veränderte sich offenbar nicht. Nach einer Weile stand Gan-
dalf auf, schloß die Läden vor den Fenstern und zog die Vorhänge zu. Das
Zimmer wurde dunkel und still, obwohl das Klappern von Sams Schere,
jetzt näher an den Fenstern, immer noch schwach vom Garten herein-
drang. Einen Augenblick blieb der Zauberer stehen und blickte ins Feuer;
dann bückte er sich, schob den Ring mit der Zange nach vorn und nahm
ihn sofort heraus. Frodo hielt den Atem an.
»Er ist ganz kühl«, sagte Gandalf. »Nimm ihn!« Frodo empfing ihn auf
der zurückzuckenden flachen Hand: er schien dicker und schwerer denn je
geworden zu sein.
»Halte ihn hoch! Und schau ihn genau an!«
Als Frodo das tat, sah er jetzt feine Linien, feiner als der feinste Feder-
strich, um den Ring herumlaufen, innen und außen: Linien aus Feuer, die
die Buchstaben einer schwungvollen Schrift zu bilden schienen. Sie leuch-
teten hell und scharf, und doch fern, als kämen sie aus einer großen Tiefe.

»Ich kann die feurigen Buchstaben nicht lesen«, sagte Frodo mit zit-
ternder Stimme.
»Nein«, erwiderte Gandalf, »aber ich kann es. Die Buchstaben sind
elbisch, von altertümlicher Art, und die Sprache ist die von Mordor, die
ich hier nicht aussprechen will. Doch diese Zeilen in der Gemeinsamen
Sprache bringen das, was gesagt ist, annähernd zum Ausdruck:
Ein Ring, sie zu knechten — sie alle zu finden,
Ins Dunkel zu treiben und ewig zu binden.
Das sind nur zwei Zeilen eines Gedichtes, das in der Elbenkunde seit
langem bekannt ist:
Drei Ringe den Elbenkönigen hoch im Licht,
Sieben den Zwergenherrschern in ihren Hallen aus Stein
Den Sterblichen, ewig dem Tode verfallen, neun,
Einer dem Dunklen Herrn auf dunklem Thron
Im Lande Mordor, wo die Schatten dröhn.
Ein Ring, sie zu knechten, sie alle zu finden,
Ins Dunkel zu treiben und ewig zu binden
Im Lande Mordor, wo die Schatten drohn.
Gandalf hielt inne und sagte dann leise mit dunkler Summe: »Dies ist
der Meister-Ring, der Eine, der alle beherrscht. Dies ist der Eine Ring, den
er vor langer Zeit sehr zur Schwächung seiner Macht verloren hat. Er
begehrt ihn unbedingt — aber er darf ihn nicht bekommen.«
Frodo saß schweigend und reglos da. Die Furcht schien ihn mit einer
riesigen Hand zu packen, wie eine dunkle Wolke, die im Osten aufstieg
und sich drohend auftürmte, um sich auf ihn zu stürzen. »Dieser Ring!«
stammelte er. »Wie in aller Welt ist er nur zu mir gekommen?«
»Ach«, sagte Gandalf, »das ist eine sehr lange Geschichte. Sie begann
schon in den Schwarzen Jahren, an die sich heute nur noch die Wissenden
erinnern. Wenn ich dir diese Erzählung ganz erzählen sollte, würden wir
hier immer noch sitzen, wenn aus Frühling Winter geworden ist.
Aber gestern abend habe ich dir von Sauron dem Großen erzählt, dem
Dunklen Herrscher. Die Gerüchte, die du gehört hast, sind wahr: er hat
sich wirklich erhoben und sein Versteck im Düsterwald verlassen und ist
zurückgekehrt zu seiner alten Festung im Dunklen Turm von Mordor. Von
diesem Namen habt selbst ihr Hobbits gehört, wie von einem Schatten
am Rande alter Berichte. Immer nach einer Niederlage und einer Atem-
pause nimmt der Schatten eine andere Gestalt an und wächst wieder.«
»Ich wollte, es hätte nicht zu meiner Zeit sein müssen«, sagte Frodo.
»Das wünschte ich auch«, erwiderte Gandalf, »und das wünschen alle,
die in solchen Zeiten leben. Aber nicht sie haben zu bestimmen. Wir
können nur bestimmen, was wir mit der Zeit anfangen, die uns gegeben
ist. Und schon, Frodo, beginnt unsere Zeit düster auszusehen. Der Feind
wird rasch sehr stark. Seine Pläne sind noch keineswegs reif, glaube ich,
aber sie reifen. Wir werden es schwer haben. Wir würden es auch dann
sehr schwer haben, wenn es diese furchtbare Möglichkeit nicht gäbe.
Dem Feind fehlt immer noch etwas, das ihm Stärke und Wissen ver-
leiht, um allen Widerstand zu brechen, um die letzten Verteidigungen zu
zerschlagen und alle Länder wieder in eine zweite Dunkelheit zu hüllen.
Ihm fehlt der Eine Ring.
Die Drei, die schönsten von allen, halten die Elbenherrscher vor ihm
verborgen, und seine Hand hat sie niemals berührt oder besudelt. Sieben
besaßen die Zwergenkönige, doch drei hat er wiedergewonnen, und die
anderen haben die Drachen vernichtet. Neun gab er den sterblichen Men-
schen, stolzen und großen Menschen, und so verführte er sie. Schon vor
langer Zeit sind sie unter die Herrschaft des Einen geraten und Ringgei-
ster geworden. Schatten unter seinem großen Schatten, seine entsetzlich-
sten Diener. Schon vor langer Zeit. Es ist viele Jahre her, seit die Neun
umgingen. Indes, wer weiß? Da der Schatten von neuem wächst, mag es
sein, daß auch sie wieder umgehen. Aber komm! Von solchen Dingen
wollen wir nicht einmal am hellichten Tage im Auenland reden.
So steht es also nun: die Neun hat er für sich gewonnen; die Sieben
auch, soweit sie nicht vernichtet sind. Die Drei sind noch verborgen.
Aber das kümmert ihn nicht mehr. Er braucht nur den Einen; denn er
selbst hat den Ring gemacht, es ist seiner, und er hat einen großen Teil
seiner früheren Macht auf ihn übergehen lassen, um die anderen damit zu
beherrschen. Wenn er ihn zurückbekommt, wird er wieder über alle ge-
bieten, wo immer sie auch sein mögen, selbst über die Drei, und alles, was
in sie hineingeschmiedet wurde, wird offenbar werden, und Sauron wird
stärker sein denn je.
Und das ist die furchtbare Aussicht, Frodo. Er glaubte, der Eine sei
vernichtet, die Elben hätten ihn zerstört, was sie auch hätten tun sollen.
Aber jetzt weiß er, daß er nicht vernichtet ist, daß er gefunden
wurde.
Deshalb forscht und sucht er nach ihm, und alle seine Gedanken sind auf
ihn gerichtet. Es ist seine große Hoffnung und unsere große Furcht.«
»Warum, warum nur wurde er nicht vernichtet!« rief Frodo. »Und wie
kam es, daß der Feind ihn überhaupt verlor, wenn er doch so stark ist und
der Ring für ihn so kostbar war?« Seine Hand umklammerte den Ring,
als sähe er bereits schwarze Finger, die sich nach ihm ausstreckten, um
ihn zu ergreifen.
»Er ist ihm abgenommen worden«, sagte Gandalf. »Früher vermochten
die Elben ihm mehr Widerstand zu leisten; und nicht alle Menschen hat-
ten sich von ihnen abgewandt. Die Menschen aus Westernis kamen ihnen
zu Hilfe. Das ist ein Kapitel aus der alten Geschichte, dessen man sich
erinnern sollte; denn auch damals gab es Leid und drohendes Unheil, aber
zugleich große Tapferkeit und große Taten, die nicht völlig vergebens
waren. Eines Tages werde ich dir vielleicht die Erzählung ganz erzählen,
oder du wirst sie von jemandem hören, der am besten darüber Bescheid
weiß.
Doch für den Augenblick mußt du vor allem erfahren, wie dieser Ring
zu dir kam, und weil allein das schon eine lange Erzählung ist, will ich
mich darauf beschränken. Es waren Gil-galad, der Elbenkönig, und Elen-
dil von Westernis, die Sauron überwältigten, obwohl sie dabei ihr Leben
verloren; und Isildur, Elendils Sohn, schnitt den Ring von Saurons Hand
und nahm ihn für sich. Da war Sauron besiegt, und sein Geist floh und
blieb lange Jahre verborgen, bis sein Schatten in Düsterwald wieder Ge-
stalt annahm.
Aber der Ring ging verloren. Er fiel in den Großen Strom, den An-
duin, und verschwand. Denn Isildur zog am Ostufer des Flusses nach Nor-
den und wurde in der Nähe der Schwertelfelder von den Orks aus dem
Gebirge überfallen, und fast alle seine Leute wurden erschlagen. Er sprang
ins Wasser, doch der Ring glitt von seinem Finger, als er schwamm, und
dann sahen ihn die Orks und töteten ihn mit Pfeilen.«
Gandalf hielt inne. »Und dort, in den dunklen Pfuhlen inmitten der
Schwertelfelder«, sagte er, »verscholl der Ring für das Bewußtsein und die
Sage; und selbst dieser Teil seiner Geschichte ist heute nur wenigen be-
kannt, und der Rat der Weisen vermochte nicht mehr herauszufinden.
Aber ich kann den Bericht nun endlich fortsetzen, glaube ich.«
»Sehr viel später, aber immer noch vor langer Zeit, lebte an den Ufern
des Großen Stroms am Rande von Wilderland ein flinkhändiges und
sachtfüßiges kleines Volk. Ich vermute, sie waren vom Hobbitschlag; ver-
wandt mit den Vorvätern der Starren, denn sie liebten den Strom und
schwammen oft darin oder machten sich kleine Boote aus Schilfrohr. Un-
ter ihnen lebte eine Familie, die hochgeachtet war, denn sie war größer
und wohlhabender als die meisten, und in ihr herrschte eine Großmutter
der Sippe, eine gestrenge Frau und bewandert in den alten Überlieferun-
gen, die es bei ihnen gab. Der wißbegierigste und vorwitzigste in jener
Familie war Sméagol. Wurzeln und Ursprünge lagen ihm besonders am
Herzen; er tauchte in tiefe Pfuhle; er grub unter Bäumen und wachsenden
Pflanzen; er trieb Stollen in grüne Erdhügel; und er blickte nicht mehr
hinauf zu den Bergeshöhen oder auf die Blätter an den Bäumen, er sah
nicht mehr die Blumen, die sich im Licht öffneten: sein Kopf und seine
Augen waren nach unten gerichtet.
Er hatte einen Freund mit Namen Déagol, der von ähnlicher Art war,
scharfäugiger, aber nicht so behende und stark. Einmal nahmen sie ein
Boot und fuhren hinunter zu den Schwertelfeldern, wo viele Schwertlilien
wuchsen und blühendes Schilf. Dort stieg Sméagol aus und durchstöberte
die Ufer, aber Déagol blieb im Boot und angelte. Plötzlich biß ein großer
Fisch an, und ehe er wußte, wie ihm geschah, wurde er mitgezogen und
hinunter ins Wasser bis zum Grund. Dort ließ er die Leine los, weil er im
Flußbett etwas glitzern zu sehen glaubte; und er hielt die Luft an und
griff hastig danach.
Prustend kam er wieder herauf, mit Kraut im Haar und einer Handvoll
Schlamm; und er schwamm ans Ufer. Und siehe da! als er den Schlamm
abwusch, lag ein wunderschöner goldener Ring in seiner Hand, und er
glänzte und glitzerte in der Sonne, so daß sein Herz voll Freude war.
Aber hinter einem Baum verborgen hatte Sméagol ihn beobachtet, und
als Déagol sich an dem Ring weidete, kam Sméagol leise herbei.
>Gib uns das, Déagol, mein Lieben, sagte Sméagol über die Schulter
seines Freundes hinweg.
>Warum?< fragte Déagol.
>Weil heute mein Geburtstag ist, mein Lieber, und ich es haben will!<
sagte Sméagol.
>Das ist mir gleich/, sagte Déagol. >Ich habe dir schon etwas geschenkt,
mehr als ich mir leisten konnte. Das hier habe ich gefunden und werde es
auch behalten.<
>Ach, wirst du das, mein Lieber?< sagte Sméagol; und er packte Déagol
an der Kehle und erwürgte ihn, weil das Gold so strahlend und schön war.
Dann steckte er den Ring an den Finger.
Niemand fand je heraus, was mit Déagol geschehen war; weit von
daheim war er ermordet und seine Leiche listig versteckt worden. Smea-
gol kehrte allein nach Hause zurück; und er merkte, daß niemand von der
Familie ihn sehen konnte, wenn er den Ring trug. Er war sehr erfreut
über seine Entdeckung und verbarg ihn; und er benutzte ihn, um Geheim-
nisse aufzuspüren, und machte von seinem Wissen auf unredliche und
boshafte Weise Gebrauch. Er wurde scharfäugig und hellhörig für alles,
was andere verletzte. Der Ring hatte ihm Macht gegeben entsprechend
seiner Veranlagung. Es ist nicht verwunderlich, daß er sich sehr unbeliebt
machte und (wenn sichtbar) von all seinen Verwandten gemieden wurde.
Sie traten ihn, und er biß sie in die Füße. Er gewöhnte sich an, zu stehlen
und vor sich hin zu murmeln und kehlig zu glucksen. Deshalb nannten sie
ihn Gollum und verfluchten ihn und sagten ihm, er solle weit fortgehen;
und seine Großmutter, die Frieden haben wollte, verbannte ihn aus der Fa-
milie und warf ihn aus ihrer Höhle hinaus.
Einsam wanderte er einher und weinte ein wenig über die Schlechtig-
keit der Welt, und er zog den Strom hinauf, bis er zu einem Bach kam,
der vom Gebirge herabfloß, und diesem folgte er. Mit unsichtbaren Fin-
gern fing er Fische in tiefen Pfuhlen und aß sie roh. Eines Tages war es
sehr heiß, und als er sich über einen Teich beugte, fühlte er ein Brennen
auf dem Hinterkopf, und ein blendender Lichtschein aus dem Wasser tat
seinen tränenden Augen weh. Er verwunderte sich darüber, denn die
Sonne hatte er schon fast vergessen. Dann blickte er zum letzten Mal
empor und drohte ihr mit der Faust.
Doch als er den Blick senkte, sah er weit vor sich die Gipfel des Nebel-
gebirges, wo der Bach entsprang. Und plötzlich dachte er: >Es muß kühl
und schattig sein unter diesen Bergen. Dort wird mich die Sonne nicht
beobachten. Der Fuß dieser Berge muß wahrlich tief verwurzelt sein; große
Geheimnisse müssen dort vergraben sein, die seit Anbeginn nicht entdeckt
sind.<
So wanderte er des Nachts hinauf in das Hochland, und er fand eine
kleine Höhle, aus der der dunkle Bach entsprang; und wie eine Made
kriechend bahnte er sich seinen Weg mitten ins Herz des Gebirges und
ward nicht mehr gesehen. Mit ihm verschwand der Ring im Schatten, und
selbst als die Macht seines Schöpfers wieder zu wachsen begann, konnte
er nichts über ihn erfahren.«
»Gollum!« rief Frodo. »Gollum? Meinst du, das ist jenes Gollum-
Geschöpf, das Bilbo getroffen hat? Wie abscheulich!«
»Es ist wahrlich eine traurige Geschichte«, sagte der Zauberer, »und sie
hätte auch anderen widerfahren können, sogar einigen Hobbits, die ich
kannte.«
»Ich kann einfach nicht glauben, daß Gollum mit Hobbits verwandt ist,
und sei es noch so entfernt«, warf Frodo etwas hitzig ein. »Was für ein
widerwärtiger Gedanke!«
»Dennoch ist es wahr«, erwiderte Gandalf. »Über ihre Herkunft weiß
ich jedenfalls mehr als die Hobbits selbst. Und sogar Bilbos Darstellung
deutet auf die Verwandtschaft hin. Vieles, an das sie sich nur dunkel erin-
nerten, war sehr ähnlich. Sie verstanden sich bemerkenswert gut, viel bes-
ser, als sich ein Hobbit mit, sagen wir, einem Zwergen oder einem Ork
oder sogar einem Elben verstanden hätte. Denk nur an die Rätsel, die sie
beide kannten.«
»Nun ja«, antwortete Frodo. »Obwohl auch andere Leute außer Hobbits
Rätsel raten, und von annähernd gleicher Art. Und Hobbits betrügen
nicht. Gollum war die ganze Zeit auf Betrug aus. Er wollte den armen
Bilbo einfach überrumpeln. Und ich möchte meinen, in seiner Nieder-
tracht machte es ihm Spaß, ein Spiel zu beginnen, das ihm zu guter Letzt
vielleicht eine leichte Beute einbrächte, ihm aber, falls er verlöre, nicht
schadete.«
»Nur zu wahr, fürchte ich«, sagte Gandalf. »Doch kommt noch etwas
dazu, was du wohl noch nicht erkennst. Selbst Gollum war nicht völlig
zugrunde gerichtet. Er hatte sich als zäher erwiesen, als selbst einer der
Weisen vermutet hätte — so zäh wie ein Hobbit vielleicht. Es gab einen
kleinen Winkel in seinem Herzen, der ihm noch gehörte, in den Licht ein-
drang wie durch eine Ritze im Dunkeln: Licht aus der Vergangenheit. Es
war für ihn, glaube ich, geradezu angenehm, wieder eine freundliche
Stimme zu hören, die Erinnerungen an Wind und Bäume und Sonne auf
dem Gras und an derlei vergessene Dinge heraufbeschwor.
Aber das konnte das Böse in ihm letztlich nur schlimmer machen —
sofern es nicht besiegt werden könnte. Sofern es nicht geheilt werden
könnte.« Gandalf seufzte. »Da besteht wenig Hoffnung für ihn. Gar keine
Hoffnung allerdings auch nicht. Nein, obwohl er den Ring so lange beses-
sen hat, fast so lange, wie er zurückdenken kann. Denn es war lange her,
seit er ihn viel getragen hatte: im schwarzen Dunkel brauchte er ihn sel-
ten. Gewiß war Gollum niemals > geschwunden<. Er ist immer noch dünn
und zäh. Aber das Ding fraß natürlich von innen her an ihm, und die
Qual war fast unerträglich geworden.
Alle >großen Geheimnisse< unter dem Gebirge hatten sich nur als leere
Nacht erwiesen: nichts gab es mehr herauszufinden, nichts, das zu tun
sich lohnte, nichts als ekliges, heimliches Essen und böse Erinnerungen.
Er war durch und durch unglücklich. Er haßte das Dunkel und noch mehr
das Licht: er haßte alles und am meisten den Ring.«
»Wie meinst du das?« fragte Frodo. »War denn der Ring nicht sein
Schatz und das Einzige, an dem er hing? Wenn er ihn haßte, warum ver-
suchte er dann nicht, ihn loszuwerden oder wegzugehen und ihn zurück-
zulassen?«
»Du solltest es allmählich verstehen, Frodo, nach allem, was du gehört
hast«, sagte Gandalf. »Er haßte den Ring und liebte ihn, wie er sich selbst
haßte und liebte. Er konnte ihn nicht loswerden. Er hatte keinen Willen
mehr in dieser Sache.
Ein Ring der Macht paßt selbst auf sich auf. Er kann sich heimtückisch
davonmachen, aber sein Hüter gibt ihn niemals auf. Höchstens spielt er
mit dem Gedanken, ihn jemand anderem anzuvertrauen — und das auch
nur in einem frühen Stadium, wenn die Wirkung des Ringes gerade erst
einsetzt. Soviel ich weiß, ist Bilbo der einzige in der Geschichte gewesen,
der nicht nur mit dem Gedanken gespielt, sondern es auch wirklich getan
hat. Und er brauchte dabei meine ganze Hilfe. Und selbst so würde er ihn
niemals einfach im Stich gelassen oder weggeworfen haben. Es war nicht
Gollum, Frodo, der Entscheidungen traf, sondern der Ring selbst. Der
Ring verließ ihn.«
»Was, eben zur rechten Zeit, um von Bilbo gefunden zu werden?«
fragte Frodo. »Wäre dann ein Ork nicht passender gewesen?«
»Das ist nicht zum Lachen«, erwiderte Gandalf. »Nicht für dich. Es war
das bisher seltsamste Ereignis in der ganzen Geschichte des Ringes: daß
Bilbo eben zur rechten Zeit kam und blindlings, im Dunkeln, seine Hand
auf ihn legte.
Da war mehr als eine Macht am Werk, Frodo. Der Ring versuchte, wie-
der zu seinem Herrn zurückzukehren. Er war von Isildurs Hand geglitten
und hatte ihn verraten; dann, als sich eine Gelegenheit bot, suchte er sich
den armen Déagol aus, und der wurde ermordet; und danach diesen Gol-
lum, und an ihm zehrte er. Gollum konnte ihm nicht mehr nützen: er war
zu klein und zu gemein; und wenn er bei ihm geblieben wäre, hätte Gol-
lum seinen Tümpel dort unten niemals verlassen. Als aber nun sein Herr
wieder erwachte und seine dunklen Gedanken vom Düsterwald aussandte,
verließ er Gollum. Nur um von dem unwahrscheinlichsten Geschöpf ge-
funden zu werden, das man sich vorstellen kann: von Bilbo aus dem
Auenland!
Im Hintergrund war noch etwas anderes am Werk, das über die Ab-
sicht des Ringschöpfers hinausging. Ich kann es nicht deutlicher ausdrük-
ken, als wenn ich sage, daß Bilbo dazu ausersehen war, den Ring zu fin-
den, aber nicht von dem, der den Ring gemacht hatte. In diesem Fall
wärst auch du ausersehen. Und das mag vielleicht ein ermutigender Ge-
danke sein.«
»Ist es nicht«, sagte Frodo. »Obwohl ich nicht sicher bin, ob ich dich
richtig verstanden habe. Aber wie hast du all das über den Ring erfahren
und über Gollum? Weißt du es wirklich oder vermutest du es nur?«
Gandalf sah Frodo an und seine Augen funkelten. »Ich wußte viel und
habe viel erfahren«, antwortete er. »Aber dir werde ich nicht genau
Rechenschaft ablegen über all mein Tun. Die Geschichte von Elendil und
Isildur und dem Einen Ring ist allen Weisen bekannt. Daß dein Ring der
Eine ist, ist allein durch die Feuerschrift erwiesen, abgesehen von jedem
anderen Anzeichen.«
»Und wann hast du das entdeckt?« unterbrach ihn Frodo.
»Gerade eben, in diesem Zimmer natürlich«, sagte Gandalf scharf.
»Aber ich hatte es erwartet. Ich bin zurückgekehrt von dunklen Wande-
rungen und langer Suche, um diese letzte Probe zu machen. Es ist der
letzte Beweis, und nun ist es nur allzu klar. Herauszufinden, welche Rolle
Gollum gespielt hat, und sie in die Lücke in der Geschichte einzufügen,
erforderte einiges Nachdenken. Anfangs mag ich bloß Vermutungen über
Gollum gehabt haben, aber jetzt vermute ich nicht. Ich weiß es. Ich habe
ihn gesehen.«
»Du hast Gollum gesehen?« rief Frodo verblüfft.
»Ja. Das zu tun lag auf der Hand, wenn möglich. Ich versuchte es
schon vor langer Zeit; aber schließlich ist es mir gelungen.«
»Was ist denn geschehen, nachdem Bilbo ihm entkommen war? Weißt
du das?«
»Nicht ganz genau. Was ich dir erzählt habe ist das, was Gollum zu
sagen bereit war — allerdings natürlich nicht in der Form, wie ich es be-
richtet habe. Gollum ist ein Lügner, und man muß seine Worte sieben.
Zum Beispiel nannte er den Ring sein >Geburtstagsgeschenk< und blieb
dabei. Er behauptete, ihn von seiner Großmutter bekommen zu haben, die
eine Menge herrlicher Dinge dieser Art gehabt habe. Eine lächerliche
Behauptung. Ich zweifle nicht daran, daß Sméagols Großmutter eine wirk-
liche Stammesmutter war, eine großartige Person in ihrer Art, aber
davon zu reden, sie habe viele Elbenringe besessen, war absurd, und daß
sie sie verschenkt habe, eine Lüge. Aber eine Lüge mit einem Körnchen
Wahrheit.
Der Mord an Déagol verfolgte Gollum, und er hatte sich eine Verteidi-
gung zurechtgelegt, die er seinem >Schatz< gegenüber noch und noch wie-
derholte, wenn er im Dunkeln an seinen Knochen nagte, bis er sie
schließlich fast glaubte. Es war sein Geburtstag gewesen. Déagol hätte
ihm den Ring schenken müssen. Der Ring war offenbar in eben dem
Augenblick aufgetaucht, um ein Geschenk zu sein. Es war sein Geburts-
tagsgeschenk, und so weiter und weiter.
Ich hatte Geduld mit ihm, so lange ich konnte, aber die Wahrheit war
verzweifelt wichtig, und zuletzt mußte ich grob werden. Ich machte ihm
Angst mit Blitzen und preßte die wahre Geschichte aus ihm heraus,
Stück für Stück, begleitet von viel Gewimmer und Gebrumm. Er kam sich
unverstanden und mißbraucht vor. Aber als er mir seine Geschichte end-
lich bis zu dem Rätselspiel und Bilbos Flucht erzählt hatte, wollte er
nichts mehr sagen und machte nur noch dunkle Andeutungen. Vor
irgend etwas anderem hatte er mehr Angst als vor mir. Er murmelte, er
würde sein Eigentum zurückbekommen. Die Leute würden schon sehen,
ob er es sich gefallen lasen würde, getreten und in ein Loch gejagt und
dann beraubt zu werden. Gollum habe jetzt gute Freunde, gute und sehr
starke Freunde. Sie würden ihm helfen. Beutlin würde dafür bezahlen.
Das war sein Hauptgedanke. Er haßte Bilbo und verfluchte seinen Namen.
Überdies wußte er, wo er herkam.«
»Wie hat er denn das herausgefunden?« fragte Frodo.
»Nun, was seinen Namen betrifft, so war Bilbo selbst so töricht gewe-
sen, ihn Gollum zu sagen; und danach konnte es nicht schwer sein, seine
Heimat zu ermitteln, nachdem Gollum erst mal herausgekommen war. Oh
ja, er kam heraus. Sein Verlangen nach dem Ring erwies sich stärker als
seine Angst vor den Orks oder vor dem Licht! Ein oder zwei Jahre spä-
ter verließ er das Gebirge. Du siehst, obwohl er immer durch das Begehren
an ihn gebunden war, fraß der Ring doch nicht mehr an ihm; Gollum
begann wieder ein wenig lebendig zu werden. Er fühlte sich alt, fürchter-
lich alt, doch weniger ängstlich, und er war entsetzlich hungrig.
Das Licht, Licht von Sonne und Mond, fürchtete und haßte er immer
noch, und das wird auch so bleiben, glaube ich; aber er war listig. Er fand
heraus, daß er sich vor Tageslicht und Mondenschein verbergen und mit
seinen bleichen, kalten Augen seinen Weg rasch und leise mitten in der
Nacht zurücklegen und kleine, verängstigte oder unvorsichtige Lebewesen
fangen konnte. Er wurde stärker und kühner mit frischer Nahrung und
frischer Luft. Er fand den Weg nach Düsterwald, wie zu erwarten war.«
»Und dort hast du ihn getroffen?« fragte Frodo.
»Ich sah ihn dort«, antwortete Gandalf. »Aber vorher war er schon
weit gewandert und hatte Bilbos Spur verfolgt. Es war schwierig, etwas
Genaues aus ihm herauszuholen, denn sein Gerede war ständig von Flü-
chen und Drohungen unterbrochen. >Was hat es in seine Taschen gesteckt?<
sagte er. >Ich wollte es nicht sagen, nein, Schatz. Kleiner Betrüger. Keine
anständige Frage. Es hat zuerst betrogen, wirklich. Es hat die Regeln ver-
letzt. Wir hätten es zerquetschen sollen, ja, Schatz. Und das werden wir
auch, Schatz !<
Da hast du eine Kostprobe von seinem Gerede. Sie wird dir vermutlich
genügen. Ich hatte mühselige Tage dadurch. Aber aus Andeutungen, die
er zwischen seinem Gefauche fallen ließ, entnahm ich, daß ihn seine tap-
senden Füße schließlich nach Esgaroth getragen haben und sogar zu den
Straßen in Thai, und er lauschte und spähte. Nun, die Kunde von den
großen Ereignissen verbreitete sich überall in Wilderland, und viele hatten
Bilbos Namen gehört und wußten, wo er herkam. Wir hatten aus unserer
Wanderung zurück zu seinem Heim im Westen kein Geheimnis gemacht.
Gollums scharfes Gehör mußte bald erfahren, was er wissen wollte.«
»Warum hat er dann Bilbo nicht weiter verfolgt?« fragte Frodo.
»Warum ist er nicht ins Auenland gekommen?«
»Ah«, sagte Gandalf, »jetzt kommen wir dazu. Ich glaube, Gollum hat
es versucht. Er hat sich aufgemacht und ist zurück nach Westen bis zum
Großen Strom gekommen. Aber dann ist er abgebogen. Die Entfernung
schreckte ihn nicht, dessen bin ich sicher. Nein, irgend etwas anderes zog
ihn fort. Das jedenfalls glauben meine Freunde, jene, die für mich auf ihn
Jagd machten.
Die Wald-Elben spürten ihn zuerst auf, eine leichte Aufgabe für sie,
denn seine Fährte war damals noch frisch. Durch Düsterwald und wieder
zurück folgten sie ihr, obwohl sie ihn niemals erwischten. Im ganzen
Wald lief das Gerücht über ihn um. Schreckliches erzählten sich sogar die
Tiere und Vögel. Die Waldmenschen sagten, irgendein neues Schreckge-
spenst ginge um, ein Geist, der Blut trank. Er stieg auf Bäume, um Nester
auszunehmen; er kroch in Höhlen, um die Jungen zu rauben; er schlüpfte
durch Fenster, um Wiegen zu finden.
Doch am Westrand vom Düsterwald schwenkte die Fährte ab. Sie ver-
lief nach Süden, entschwand aus dem Gesichtskreis der Wald-Elben und
verlor sich. Und dann habe ich einen großen Fehler gemacht. Ja, Frodo,
und nicht den ersten; obschon ich fürchte, daß dieser sich als der
schlimmste erweisen wird. Ich ließ die Sache laufen. Ich ließ ihn gehen;
denn ich hatte damals an vieles andere zu denken, und ich vertraute noch
immer Sarumans Wissen.
Nun, das ist Jahre her. Seitdem habe ich mit vielen dunklen und ge-
fährlichen Tagen dafür bezahlt. Die Fährte war längst kalt geworden, als
ich sie wieder aufnahm, nachdem Bilbo hier fortgegangen war. Und
meine Suche wäre vergeblich gewesen, hätte ich nicht die Hilfe eines
Freundes gehabt: Aragorns, des größten Wanderers und Jägers dieses
Zeitalters der Welt. Zusammen suchten wir die ganze Länge von Wilder-
land nach Gollum ab, ohne Hoffnung und ohne Erfolg. Aber schließlich,
als ich die Jagd schon aufgegeben und mich in andere Gegenden begeben
hatte, wurde Gollum gefunden. Mein Freund kehrte aus großen Gefahren
zurück und brachte das elende Geschöpf mit.
Was er getrieben hatte, wollte Gollum nicht sagen. Er weinte nur und
nannte uns grausam, mit vielen Gollums in der Kehle; und als wir ihn
drängten, winselte und schmeichelte er und rieb seine langen Hände,
leckte an seinen Fingern, als ob sie ihn schmerzten oder er sich irgend-
einer alten Qual erinnerte. Aber daran, fürchte ich, kann kein Zweifel
sein: Schritt für Schritt, Meile um Meile hat er sich langsam und heimlich
bis in das Land Mordor geschlichen.«
Ein bedrückendes Schweigen herrschte im Raum. Frodo konnte sein Herz
schlagen hören. Selbst draußen schien alles still zu sein. Kein Ton mehr
war von Sams Grasschere zu hören.
»Ja, nach Mordor«, sagte Gandalf. »Ach, Mordor zieht alle bösen Ge-
schöpfe an, und die Dunkle Macht hat ihren ganzen Willen darauf gerich-
tet, sie dort zu sammeln. Auch wird der Ring des Feindes seine Spuren
bei Gollum hinterlassen und ihn wehrlos gegen den Befehl gemacht
haben. Und alles Volk raunte damals von dem neuen Schatten im Süden
und von seinem Haß auf den Westen. Dort waren Gollums feine neue
Freunde, die ihm bei seiner Rache helfen würden!
»Unseliger Narr! In jenem Lande wird er viel gelernt haben, zu viel für
seinen Frieden. Und früher oder später wird er, als er an den Grenzen
lauerte und spähte, ergriffen und mitgenommen worden sein — zum Verhör.
So hat es sich abgespielt, fürchte ich. Als er gefunden wurde, war er schon
lange dort gewesen und auf dem Rückweg. Mit irgendeiner unheilvollen
Absicht. Aber darauf kommt es jetzt nicht so sehr an. Sein größtes
Unheil hat er schon angerichtet.
Ja, leider! Durch ihn hat der Feind erfahren, daß der Eine wiedergefun-
den war. Er weiß, wo Isildur fiel. Er weiß, wo Gollum seinen Ring fand.
Er weiß, daß es ein Großer Ring ist, denn er schenkte langes Leben. Er
weiß, daß es nicht einer der Drei ist, denn sie sind niemals verloren wor-
den, und sie dulden nichts Böses. Er weiß, daß es nicht einer der Sieben
oder einer der Neun ist, denn über sie besteht Klarheit. Er weiß, daß es
der Eine ist. Und er hat nun auch, glaube ich, von Hobbits und vom
Auenland gehört.
Vom Auenland — er mag jetzt danach forschen, wenn er nicht schon
herausgefunden hat, wo es liegt. Wirklich, Frodo, ich fürchte, er mag
sogar der Meinung sein, daß der lange unbemerkt gebliebene Name Beut-
lin wichtig geworden ist.«
»Aber das ist ja entsetzlich!« rief Frodo. »Weit schlimmer als das
Schlimmste, was ich mir nach deinen Andeutungen und Warnungen vor-
gestellt hatte. 0 Gandalf, bester Freund, was soll ich tun? Denn jetzt habe
ich wirklich Angst. Was soll ich tun? Welch ein Jammer, daß Bilbo die-
ses elende Geschöpf nicht erdolcht hat, als er die Gelegenheit hatte!«
»Ein Jammer? Ihn jammerte Gollum. Mitleid und Erbarmen hielten
seine Hand zurück: nicht ohne Not wollte er töten. Und dafür ist er reich
belohnt worden, Frodo. Du kannst gewiß sein, wenn ihm das Böse so
wenig anhaben konnte und er sich ihm schließlich zu entziehen ver-
mochte, dann nur, weil er den Ring auf diese Weise in Besitz nahm. Voll
Mitleid.«
»Verzeih mir«, sagte Frodo. »Aber ich habe Angst; und ich empfinde
keinerlei Mitleid für Gollum.«
»Du hast ihn nicht gesehen«, warf Gandalf ein.
»Nein, und ich möchte auch nicht. Ich kann dich nicht verstehen.
Willst du damit sagen, daß ihr, du und die Elben, ihn nach all diesen ent-
setzlichen Taten am Leben gelassen habt? Jetzt ist er jedenfalls so
schlimm wie ein Ork, und einfach ein Feind. Er verdient den Tod.«
»Verdient ihn! Das will ich glauben. Viele, die leben, verdienen den
Tod. Und manche, die sterben, verdienen das Leben. Kannst du es ihnen
geben? Dann sei auch nicht so rasch mit einem Todesurteil bei der Hand.
Denn selbst die ganz Weisen können nicht alle Absichten erkennen. Ich
habe nicht viel Hoffnung, daß Gollum geheilt werden kann, ehe er stirbt,
aber möglich ist es dennoch. Und sein Leben ist eng verknüpft mit dem
Schicksal des Rings. Mein Herz sagt mir, daß er noch eine Rolle zu spie-
len hat, zum Guten oder zum Bösen, ehe das Ende kommt; und wenn es
dazu kommt, dann mag Bilbos Mitleid bestimmend sein für das Schicksal
von vielen - und nicht zuletzt für das deine. Wie dem auch sei, wir
haben ihn nicht getötet: er ist sehr alt und sehr unglücklich. Die Waldel-
ben halten ihn gefangen, aber sie behandeln ihn mit aller Güte, die ihre
weisen Herzen ihnen eingehen.«
»Gleichviel«, sagte Frodo, »auch wenn Bilbo Gollum nicht töten
konnte, so wünschte ich, er hätte den Ring nicht behalten. Ich wünschte,
er hätte ihn nie gefunden und ich hätte ihn nie bekommen! Warum hast
du zugelassen, daß ich ihn behielt? Warum hast du mich nicht dazu ge-
bracht, daß ich ihn wegwürfe oder ihn zerstörte?«
»Zugelassen? Dazu gebracht?« wiederholte der Zauberer. »Hast du
denn nicht zugehört? Du überlegst nicht, was du sagst. Aber was das
Wegwerfen betrifft, das wäre offensichtlich verkehrt. Diese Ringe haben
es an sich, gefunden zu werden. In unrechten Händen hätte er großes
Unheil anrichten können. Das Schlimmste wäre gewesen, wenn er dem
Feind in die Hände gefallen wäre. Und das wäre gewiß geschehen; denn
dies ist der Eine, und der Feind übt seine ganze Macht aus, um ihn zu fin-
den oder an sich zu ziehen.
Natürlich, mein lieber Frodo, war es gefährlich für dich; und das hat
mich zutiefst beunruhigt. Doch stand so viel auf dem Spiel, daß ich etwas
wagen mußte — obwohl kein Tag verging, auch wenn ich fern war, an
dem das Auenland nicht von wachsamen Augen beobachtet wurde.
Solange du den Ring nie benutztest, glaubte ich, daß er keine nachhaltige
Wirkung auf dich ausüben würde, keine unheilvolle, jedenfalls nicht auf
sehr lange Zeit. Und du darfst nicht vergessen, daß ich vor neun Jahren,
als ich dich zuletzt sah, sehr wenig mit Sicherheit wußte.«
»Aber warum ihn nicht zerstören, da du doch selbst sagst, das hätte
schon längst geschehen sollen?« rief Frodo. »Wenn du mich gewarnt oder
mir eine Botschaft geschickt hättest, dann hätte ich ihn beseitigt.«
»Wirklich? Wie wolltest du das machen? Hast du es jemals versucht?«
»Nein. Aber ich nehme an, man könnte ihn zerschlagen oder ihn
schmelzen.«
»Versuche es!« sagte Gandalf. »Versuche es jetzt.«
Frodo zog den Ring wieder aus der Tasche und betrachtete ihn. Er
schien jetzt ganz eben und glatt zu sein, und Frodo konnte kein Zeichen
oder Muster erkennen. Das Gold sah sehr klar und rein aus, und Frodo
dachte bei sich, wie satt und schön seine Farbe und wie vollkommen er
gearbeitet war. Es war ein herrliches und überaus kostbares Stück. Als er
ihn herausnahm, hatte er vorgehabt, ihn an die heißeste Stelle des Feuers
zu werfen. Doch jetzt stellte er fest, daß er es nicht vermochte, nicht ohne
großen Kampf. Zögernd wog er den Ring in der Hand und zwang sich, an
alles zu denken, was Gandalf ihm gesagt hatte; und dann machte er mit
einer Willensanstrengung eine Bewegung, als wollte er ihn wegschleudern
— aber dann merkte er, daß er ihn wieder in die Tasche gesteckt hatte.
Gandalf lachte grimmig. »Siehst du? Auch du, Frodo, kannst ihn
schon nicht mehr so einfach aufgeben oder hast nicht mehr den Willen,
ihn zu beschädigen. Und ich könnte dich nicht dazu >bringen< — außer
mit Gewalt, und das würde deinen Willen brechen. Aber um den Ring zu
zerbrechen, ist Gewalt zwecklos. Selbst wenn du ihn nähmst und mit
einem schweren Schmiedehammer auf ihn einschlügest, würde keine Delle
zu sehen sein. Durch deine Hände kann er nicht zerstört werden, und
auch nicht durch meine.
Dein kleines Feuer würde natürlich nicht einmal gewöhnliches Gold
zum Schmelzen bringen. Dieser Ring hat es unversehrt überstanden und
ist nicht einmal heiß geworden. Im ganzen Auenland gibt es keine
Schmiedewerkstatt, die ihn umformen könnte. Nicht einmal die Ambosse
und Schmelzöfen der Zwerge. Es hieß einmal, daß Drachenfeuer die Ringe
der Macht schmelzen und verzehren könnte, aber jetzt gibt es auf der
Welt keinen Drachen mehr, in dem das alte Feuer heiß genug wäre; über-
dies hat es noch nie ein Drache vermocht, nicht einmal Ancalagon der
Schwarze, dem Einen Ring, dem Beherrschenden Ring, Schaden zuzu-
fügen, denn Sauron selbst hat ihn gemacht.
Es gibt nur einen Weg: in den Tiefen des Orodruin, des Feurigen Berges,
die Schicksalsklüfte zu finden und den Ring dort hineinzuwerfen, wenn du
ihn wirklich zerstören und auf immer dem Zugriff des Feindes entziehen
willst.«
»Ich will ihn wirklich zerstören!« rief Frodo. »Oder vielmehr, daß er
zerstört werde. Denn ich bin nicht geeignet für gefährliche Unternehmun-
gen. Ich wollte, ich hätte den Ring nie gesehen! Warum ist er nur auf
mich gekommen? Warum wurde ich erwählt?«
»Solche Fragen lassen sich nicht beantworten«, sagte Gandalf. »Du
kannst gewiß sein, daß es nicht wegen irgendwelcher Vorzüge war, die
andere nicht besitzen: nicht Macht oder Weisheit jedenfalls. Doch bist du
erwählt worden, und daher mußt du alles zusammennehmen, was du an
Kraft und Mut und Verstand hast.«
»Aber von alledem habe ich so wenig! Du bist weise und mächtig.
Willst du den Ring nicht nehmen?«
»Nein!« schrie Gandalf und sprang auf. »Mit dieser Macht würde ich
eine zu große und entsetzliche Macht besitzen. Und über mich würde der
Ring eine noch größere und tödlichere Macht gewinnen.« Seine Augen
blitzten, und sein Gesicht war wie von einem inneren Feuer erleuchtet.
»Versuche mich nicht! Denn ich will nicht werden wie der Dunkle Herr-
scher. Noch geht der Weg des Ringes zu meinem Herzen über Mitleid,
Mitleid mit den Schwachen, und ich wünsche mir Stärke, um Gutes zu
tun. Versuche mich nicht! Ich wage ihn nicht zu nehmen, nicht einmal,
um ihn unbenutzt zu verwahren. Das Verlangen, ihn zu verwenden,
würde zu groß sein für meine Kraft. Ich würde ihn so nötig brauchen.
Große Gefahren liegen vor mir.«
Er ging zum Fenster, zog die Vorhänge auf und öffnete die Läden. Das
Sonnenlicht strömte wieder in den Raum. Draußen auf dem Weg ging
pfeifend Sam vorbei. »Und nun«, sagte der Zauberer, als er sich wieder
zu Frodo umwandte, »liegt die Entscheidung bei dir. Aber ich will dir
immer helfen.« Er legte Frodo die Hand auf die Schulter. »Ich will dir
helfen, diese Bürde zu tragen, solange du sie zu tragen hast. Aber wir
müssen bald etwas tun. Der Feind regt sich.«
Es trat ein langes Schweigen ein. Gandalf setzte sich wieder und zog an
seiner Pfeife, als ob er tief in Gedanken versunken sei. Seine Augen
schienen geschlossen zu sein, aber unter den Lidern hervor beobachtete er
Frodo scharf. Frodo starrte wie gebannt auf die rote Glut im Kamin, bis sie
sein ganzes Blickfeld erfüllte und ihm war, als schaute er hinab in tiefe
feurige Brunnen. Er dachte an die sagenhaften Schicksalsklüfte und die
Schrecken des Feurigen Berges.
»Nun?« fragte Gandalf schließlich. »Worüber denkst du nach? Hast du
dich entschieden, was du tun willst?«
»Nein!« antwortete Frodo. Er kam aus der Dunkelheit wieder zu sich
und stellte zu seiner Überraschung fest, daß es nicht dunkel war und er
durch das Fenster den sonnendurchfluteten Garten sehen konnte. »Oder
vielleicht doch. Sofern ich richtig verstanden habe, was du gesagt hast,
muß ich den Ring wohl behalten und sicher verwahren, zumindest vor-
läufig, was immer er mir auch antun mag.«
»Was immer er dir auch antun mag; doch wird es lange, lange dauern,
bis er Unheil anrichtet, wenn du ihn mit diesem Vorsatz behältst.«
»Das hoffe ich«, antwortete Frodo. »Aber ich hoffe auch, daß du viel-
leicht bald einen besseren Hüter findest. Doch einstweilen scheine ich eine
Gefahr zu sein, eine Gefahr für alle, die in meiner Nähe leben. Ich kann
nicht den Ring behalten und hier bleiben. Ich müßte Beutelsend verlas-
sen, das Auenland verlassen, alles verlassen und fortgehen.« Er seufzte.
»Ich würde das Auenland gern retten, wenn ich kann — obwohl es Zeiten
gegeben hat, da mir seine Bewohner unsagbar dumm und langweilig vor-
kamen und ich dachte, ein Erdbeben oder ein Drachenüberfall könnten
gut für sie sein. Aber jetzt denke ich nicht so. Ich denke, daß ich, solange
das Auenland unversehrt und wohlbehalten hinter mir liegt, das Wan-
dern erträglicher finden werde: ich werde dann wissen, daß es einen
sicheren Zufluchtsort gibt, selbst wenn ich dort nicht wieder Zuflucht
suchen kann.
Natürlich habe ich schon manchmal daran gedacht, wegzugehen, aber
ich hatte es mir gewissermaßen als Ferien vorgestellt, eine Reihe von Aben-
teuern wie Bilbos oder noch bessere und mit einem friedlichen Ende. Doch
das hier würde Verbannung bedeuten, Flucht vor einer Gefahr und immer
neuen Gefahren, die mir nachziehen. Und ich muß vermutlich allein ge-
hen, wenn ich das vollbringen und das Auenland retten soll. Aber ich
komme mir sehr klein vor und ganz entwurzelt und bin — nun ja, ver-
zweifelt. Der Feind ist so stark und furchtbar.«
Er sagte es Gandalf nicht, aber während er sprach, war in seinem Her-
zen ein heißes Verlangen entbrannt, Bilbo zu folgen — und ihn vielleicht
wiederzufinden. Das Verlangen war so mächtig, daß es seine Angst über-
wucherte: er hätte fast aufspringen und ohne Hut, wie Bilbo es vor langer
Zeit an einem ähnlichen Morgen getan hatte, den Weg hinunterrennen
können.
»Mein lieber Frodo!« rief Gandalf aus. »Hobbits sind doch wirklich
erstaunliche Geschöpfe, wie ich schon früher gesagt habe. In einem
Monat kann man alles Wissenswerte über sie lernen, und doch können sie
einen nach hundert Jahren, wenn man in Not ist, noch überraschen. Ich
hatte kaum erwartet, eine solche Antwort zu erhalten, nicht einmal von
dir. Es war kein Mißgriff von Bilbo, daß er dich zu seinem Erben er-
wählte, obwohl er kaum ahnte, wie wichtig das werden würde. Ich
fürchte, du hast recht. Der Ring wird nicht länger im Auenland verbor-
gen bleiben können, und um deinetwillen ebenso wie um anderer willen
wirst du fortgehen und den Namen Beutlin ablegen müssen. Diesen
Namen zu führen wird außerhalb des Auenlands oder in der Wildnis ge-
fährlich sein. Ich werde dir jetzt einen Decknamen geben. Wenn du gehst,
gehe als Herr Unterberg.
Aber ich glaube nicht, daß du allein gehen mußt. Nicht, wenn du
jemanden weißt, dem du vertrauen kannst und der bereit wäre, an deiner
Seite zu bleiben — und den in unbekannte Gefahren mitzunehmen du be-
reit wärst. Aber wenn du dich nach einem Gefährten umschaust, sei vor-
sichtig bei der Auswahl! Und sei vorsichtig mit dem, was du sagst, selbst
deinem besten Freund gegenüber! Der Feind hat viele Späher und viele
Möglichkeiten zu hören.«
Plötzlich brach er ab, als ob er horche. Frodo merkte mit einem Mal,
daß alles sehr still war, drinnen und draußen. Gandalf kroch an eine Seite
des Fensters. Dann sprang er mit einem Satz zum Fensterbrett und
streckte einen langen Arm hinaus und nach unten. Es gab einen Angst-
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schrei, und herauf kam Sam Gamdschies Krauskopf, an einem Ohr ge-
packt.
»Na, bei meinem Barte!« sagte Gandalf. »Das ist doch Sam Gamdschie?
Was machst du denn da?«
»Gott behüte, Herr, Herr Gandalf«, sagte Sam. »Nichts! Bloß nur die
Rasenkante unter dem Fenster habe ich gerade geschnitten, wenn Ihr mir
folgen könnt.« Er nahm seine Schere auf und hielt sie zum Beweis hoch.
»Kann ich nicht«, sagte Gandalf grimmig. »Es ist schon eine Weile her,
daß ich deine Schere zuletzt gehört habe. Wie lange hast du gelauscht?«
»Gelauscht, Herr Gandalf? Ich kann Euch nicht folgen und bitte um
Vergebung. In ganz Beutelsend gibt's kein Haarwild und folglich keine
Lauscher.«
»Laß die albernen Witze! Was hast du gehört und warum hast du ge-
horcht?« Gandalfs Augen blitzten, und seine Augenbrauen sträubten sich
wie Borsten.
»Herr, Herr Frodo!« rief Sam zitternd. »Laß nicht zu, daß er mir weh
tut! Laß nicht zu, daß er mich in ein Ungeheuer verwandelt! Mein altes
Väterchen würde sich so aufregen. Ich hab's nicht bös gemeint, Ehren-
wort, Herr!«
»Er wird dir nicht weh tun«, sagte Frodo, der sich kaum das Lachen
verbeißen konnte, obwohl er selbst verdutzt und ziemlich bestürzt war.
»Er weiß so gut wie ich, daß du es nicht böse meinst. Aber nun rappel dich
auf und beantworte seine Fragen geradeheraus!«
»Nun ja, Herr Gandalf«, stotterte Sam. »Ich hörte allerlei, was ich
nicht recht verstand, von einem Feind und Ringen und Herrn Bilbo
und Drachen und einem feurigen Berg — und von Elben, Herr. Ich
horchte, weil ich einfach nicht anders konnte, wenn Ihr wißt, was ich
meine. Gott behüte, Herr, aber solche Geschichten habe ich doch so gem.
Und ich glaube auch daran, was immer Timm sagen mag. Elben, Herr!
Die würde ich ja so gern sehen. Kannst du mich nicht mitnehmen, Herr
Frodo, daß ich die Elben sehe, wenn du gehst?«
Plötzlich lachte Gandalf. »Komm herein!« rief er, streckte beide Arme
hinaus, hob den erstaunten Sam mitsamt Schere, Grasschnipseln und
allem durchs Fenster und stellte ihn auf den Boden. »Dich mitnehmen,
daß du die Elben siehst, wie?« fragte er und sah Sam scharf an, aber ein
Lächeln huschte über sein Gesicht. »Du hast also gehört, daß Herr Frodo
weggeht?«
»Ja, Herr Gandalf, und darum habe ich geschnauft, was Ihr anschei-
nend gehört habt. Ich hab's unterdrücken wollen, aber es brach einfach
aus mir heraus: es hat mich so aufgeregt.«
»Ich kann es nicht ändern, Sam«, sagte Frodo traurig. Ihm war plötz-
lich klar geworden, daß aus dem Auenland fliehen mehr schmerzliches
Abschiednehmen bedeuten würde, als bloß den vertrauten Bequemlich-
keiten von Beutelsend Lebewohl zu sagen.
»Ich werde gehen müssen. Aber ...« und hier sah er Sam scharf an —
»wenn du mir wirklich zugetan bist, dann hältst du das ganz geheim.
Verstehst du? Und wenn nicht, wenn du nur ein Wort verlauten läßt von
dem, was du hier gehört hast, dann hoffe ich, daß Gandalf dich in eine
greuliche Kröte verwandelt und eine ganze Schar Ringelnattern in den
Garten setzt.«
Sam fiel zitternd auf die Knie. »Steh auf, Sam!« sagte Gandalf. »Mir
ist etwas Besseres eingefallen. Etwas, um dir den Mund zu stopfen und als
gerechte Strafe fürs Horchen. Du wirst mitgehen mit Herrn Frodo!«
»Ich, Herr?« rief Sam und sprang auf wie ein Hund, der zum Spazieren-
gehen aufgefordert wird. »Ich soll mitgehen und Elben sehen und alles?
Hurra!« schrie er, und brach dann in Tränen aus.