ERSTES BUCH
ERSTES KAPITEL
EIN LANGERWARTETES FEST
Als Herr Bilbo Beutlin von Beutelsend ankündigte, daß er demnächst zur
Feier seines einundelfzigsten Geburtstages ein besonders prächtiges Fest
geben wolle, war des Geredes und der Aufregung in Hobbingen kein Ende.
Bilbo war sehr reich und sehr absonderlich, und seit er vor sechzig Jah-
ren plötzlich verschwunden und unerwartet zurückgekehrt war, hatte man
im Auenland nicht aufgehört, sich über ihn zu verwundern. Die Reich-
tümer, die er von seinen Fahrten mitgebracht hatte, waren mittlerweile
zu einer Legende im Auenland geworden, und allgemein glaubte man, was
immer die alten Leute auch reden mochten, daß der Bühl von Beutelsend
voller Stollen sei, in denen sich die Schätze häuften. Und wenn das noch
nicht für seinen Ruf genügte, dann staunte man über die ungebrochene
Lebenskraft. Die Zeit blieb nicht stehen, aber auf Herrn Beutlin schien sie
wenig Wirkung auszuüben. Mit neunzig war er nicht anders als mit fünf-
zig. Als er neunundneunzig war, sagten die Leute, er sähe noch gut aus;
aber unverändert wäre zutreffender gewesen. Manche schüttelten den
Kopf
und meinten, das sei zu viel des Guten; es sei einfach unbillig, daß jemand
(anscheinend) ewige Jugend und obendrein noch (angeblich) unerschöpf-
liche Reichtümer besitzen sollte.
»Dafür wird er bezahlen müssen«, sagten sie. »Es ist nicht natürlich
und wird ein schlechtes Ende nehmen!«
Aber bisher hatte es kein schlechtes Ende genommen; und da Herr Beut-
lin nicht kleinlich war mit seinem Geld, waren die meisten Leute gewillt,
ihm seine Seltsamkeiten und sein Glück zu verzeihen. Mit seinen Ver-
wandten (außer den Sackheim-Beutlins natürlich) verkehrte er freund-
schaftlich und hatte unter den Hobbits aus den armen und weniger be-
deutenden Familien viele anhängliche Bewunderer. Doch besaß er keinen
wirklich guten Freund, bis einige seiner jüngeren Vetter heranwuchsen.
Der älteste von ihnen und Bilbos Lieblingsvetter war der junge Frodo
Beutlin. Als Bilbo neunundneunzig war, adoptierte er Frodo, setzte ihn
zu seinem Erben ein und holte ihn zu sich nach Beutelsend; und damit
waren die Hoffnungen der Sackheim-Beutlins endgültig zerschlagen. Bilbo
und Frodo waren zufällig am gleichen Tag geboren, am 22. September.
»Du solltest lieber bei mir leben, Frodo, mein Junge«, sagte Bilbo eines
Tages. »Dann können wir unsere Geburtstage gemütlich zusammen feiern.«
Damals war Frodo noch in den »Zwiens«, wie die Hobbits die verantwor-
tungsfreien Zwanziger zwischen Kindheit und Mündigwerden mit dreiund-
dreißig nannten.
Zwölf weitere Jahre verstrichen. Alljährlich hatten die Beutlins gemein-
sam sehr muntere Geburtstagsfeste auf Beutelsend gegeben; doch jetzt, hieß
es, sei für den Herbst etwas ganz Besonderes geplant. Bilbo wurde einund-
elfzig, in, eine recht eigenartige Zahl, und für einen Hobbit ein sehr be-
achtliches Alter (selbst der alte Tuk war nur 130 geworden); und Frodo
wurde dreiunddreißig, 33, eine wichtige Zahl: der Zeitpunkt, zu dem er
»mündig wurde«.
Die Zungen standen nicht still in Hobbingen und Wasserau; und das
Gerücht von dem bevorstehenden Ereignis verbreitete sich im ganzen
Auenland. Wieder einmal wurden Lebensgeschichte und Charakter des
Herrn Bilbo Beutlin das Hauptgespräch; und die älteren Leute entdeckten
plötzlich, daß ihre Erinnerungen sehr begehrt und gefragt waren.
Niemand hatte aufmerksamere Zuhörer als der alte Harn Gamdschie,
der landauf, landab als der Ohm bekannt war. Er schwang seine Reden im
Efeubusch, einer kleinen Gastwirtschaft an der Wasserauer Straße; und
was
er sagte, hatte einiges Gewicht, denn er hatte vierzig Jahre lang den Gar-
ten in Beutelsend betreut und war davor schon der Gehilfe des alten Höhlen-
mann gewesen. Nun, da er selbst nicht mehr der Jüngste war und steif in
den Gelenken, wurde die Hauptarbeit von seinem jüngsten Sohn getan,
Sam Gamdschie. Beide, Vater und Sohn, standen auf sehr gutem Fuße mit
Bilbo und Frodo. Sie wohnten ebenfalls auf dem Bühl, im Beutelhalden-
weg 3, direkt unterhalb von Beutelsend.
»Ein sehr liebenswürdiger und feiner Edelhobbit ist Herr Bilbo, wie ich
schon immer gesagt habe«, erklärte der Ohm. Und das war die reine Wahr-
heit: denn Bilbo war sehr höflich zu ihm, nannte ihn »Meister Hamfast«
und fragte ihn über den Gemüseanbau ständig um Rat — was »Wurzeln«
betraf, besonders Kartoffeln, wurde der Ohm weit und breit von allen
(einschließlich ihm selbst) als höchste Autorität anerkannt.
»Aber was ist mit diesem Frodo, der bei ihm wohnt?« fragte der Alte
Eichler aus Wasserau. »Beutlin heißt er wohl, aber er ist mehr als ein
halber Brandybock, wird behauptet. Das kann ich nicht fassen, daß sich
irgendein Beutlin aus Hobbingen da unten im Bockland eine Frau suchen
muß, wo die Leute so sonderbar sind.«
»Und kein Wunder, daß sie sonderbar sind«, warf Väterchen Zwiefuß
ein (Ohms nächster Nachbar), »wenn sie auf der falschen Seite vom
Brandyweinfluß leben, und gerade vor dem Alten Wald. Das ist ein dunk-
ler, böser Ort, wenn nur die Hälfte der Erzählungen wahr ist.«
»Da hast du recht, Väterchen«, sagte der Ohm. »Zwar wohnen die
Brandybocks nicht im Alten Wald; aber allem Anschein nach sind sie
eine sonderbare Sippe. Auf diesem großen Fluß treiben sie sich mit Boo-
ten herum — und das ist nicht natürlich. Kein Wunder, daß es ein böses
Ende nahm. Aber sei dem, wie ihm wolle, Herr Frodo ist ein so netter
junger Hobbit, wie man ihn sich nur wünschen kann. Herrn Bilbo sehr
ähnlich, und nicht nur im Äußern. Schließlich war sein Vater ja ein Beut-
lin. Ein anständiger, ehrbarer Hobbit war Herr Drogo Beutlin; er gab nie
Anlaß zu Gerede, bis er ertrunken wurde.«
»Ertrunken wurde?« fragten mehrere Stimmen zugleich. Natürlich hat-
ten sie dieses und andere dunklere Gerüchte schon früher gehört; aber
Hobbits haben eine Leidenschaft für Familiengeschichten und sind immer
bereit, sie noch einmal zu hören.
»Ja, so wird erzählt«, fuhr der Ohm fort. »Ihr wißt ja, Herr Drogo hei-
ratete das arme Fräulein Primula Brandybock. Mütterlicherseits war sie
eine Base ersten Grades von unserem Herrn Bilbo (ihre Mutter war ja die
jüngste Tochter vom Alten Tuk gewesen); und Herr Drogo war sein Vet-
ter zweiten Grades. Deshalb ist Herr Frodo also sein Vetter ersten und
zweiten Grades, um eine Generation verschoben, wie man so sagt,
wenn ihr wißt, was ich meine. Und Herr Drogo blieb im Brandy-
schloß bei seinem Schwiegervater, dem alten Herrn Gorbadoc, wie er es
oft nach seiner Heirat getan hatte (weil er eine Schwäche für dessen
Weinbuddeln hatte und der alte Gorbadoc eine mächtig üppige Tafel
hielt); und er ging auf dem Brandyweinfluß bootfahren; und er und seine
Frau wurden ertrunken, und der arme Herr Frodo war noch ein Kind, und
überhaupt.«
»Ich habe gehört, daß sie nach dem Nachtessen im Mondschein auf
dem Wasser fuhren«, sagte der Alte Eichler, »und daß Drogos Gewicht
das Boot zum Sinken gebracht hat.«
»Und ich habe gehört, sie stieß ihn rein und er hat sie mitgezogen«,
ließ sich Sandigmann vernehmen, der Müller von Hobbingen.
»Du solltest nicht auf alles hören, was geredet wird. Sandigmann«, ver-
wies ihn der Ohm, der den Müller nicht sehr mochte. »Es gibt keinen
Grund nicht, von reinstoßen und mitziehen zu sprechen. Boote sind schon
heimtückisch genug, auch wenn man stillsitzt, da braucht man nicht noch
weiter nach einer Ursache für das Unglück zu suchen. Na, jedenfalls war
Herr Frodo nun eine Waise, und bei diesen sonderbaren Bockländern,
wie man sagen könnte, gestrandet, und wurde im Brandyschloß irgend-
wie aufgezogen. Ein regelrechter Pferch nach allem, was man hört. Der
alte Herr Gorbadoc hatte niemals weniger als ein paar Hundert Verwandte
im Haus. Kein besseres Werk hat Herr Bilbo jemals vollbracht, als den
Jungen zurückzuholen, damit er unter anständigen Leuten lebt.
Aber ich schätze, es war ein harter Schlag für diese Sackheim-Beut-
lins. Schon damals, als Herr Bilbo fortging und man ihn für tot hielt,
hatten sie geglaubt, sie würden Beutelsend bekommen. Und dann kommt er
zurück und jagt sie davon; und lebt und lebt und sieht niemals einen Tag
älter aus, auf sein Wohl! Und plötzlich hat er einen Erben und läßt alle
Papiere richtig aufsetzen. Die Sackheim-Beutlins werden nun Beutelsend
niemals von innen sehen, oder jedenfalls steht's zu hoffen.«
»Ein hübsches Stück Geld ist da oben versteckt, heißt es«, sagte ein
Fremder, ein Geschäftsreisender aus Michelbinge im Westviertel. »Der
ganze obere Teil Eures Bühls soll ja voller Stollen sein, angefüllt mit Tru-
hen von Gold und Silber und Edelsteinen, nach allem, was ich gehört
habe.«
»Dann habt Ihr mehr gehört, als ich dazu sagen kann«, erwiderte
der Ohm. »Von Edelsteinen weiß ich nichts. Herr Bilbo ist freigebig mit
seinem Geld, und da scheint's keinen Mangel zu geben; aber von Stollen-
bauten weiß ich nichts. Ich habe Herrn Bilbo gesehen, als er zurückkam,
sechzig Jahre ist's wohl her, ich war noch ein Junge. Gerade hatte ich erst
als Lehrling beim alten Höhlenmann angefangen (der ein Vetter meines
Vaters war), und doch nahm er mich schon mit rauf nach Beutelsend, um
ihm zu helfen, damit die Leute nicht überall herumtrampelten und durch
den ganzen Garten marschierten, während der Verkauf im Gange war.
Und mittendrin kam Herr Bilbo den Bühl herauf mit einem Pony und ein
paar mächtig großen Taschen und einigen Kisten. Sicherlich waren sie
hauptsächlich voll mit Schätzen, die er in fremden Gegenden gesammelt
hatte, wo es Berge von Gold geben soll, wie sie sagen. Aber es war nicht
genug, um Stollen damit zu füllen. Mein Sohn Sam wird mehr darüber
wissen. Er ist tagein, tagaus in Beutelsend. Verrückt nach Berichten aus
alten Zeiten ist er und hört sich alles an, was Herr Bilbo erzählt. Herr
Bilbo hat ihm seine Buchstaben beigebracht — was kein Schaden ist, wohl-
gemerkt, und ich hoffe, es wird auch kein Schaden daraus entstehen.
Elben und Drachen, sage ich als zu ihm. Kohl und Kartoffeln sind bes-
ser für mich und dich. Laß dich nicht hineinziehen in die Angelegenhei-
ten deiner Herrschaft, sonst bekommst du Verdruß, der zu groß ist für
dich, sage ich als zu ihm. Und das könnte ich auch zu anderen sagen«,
fügte er mit einem Blick auf den Fremden und den Müller hinzu.
Aber der Ohm überzeugte seine Zuhörer nicht. Die Sage von Bilbos
Reichtum hatte sich in den Köpfen der jüngeren Hobbitgeneration schon
allzu sehr festgesetzt.
»Ach, er wird wohl zu dem, was er zuerst hergebracht hat, noch aller-
hand dazugetan haben«, wandte der Müller ein und drückte damit die all-
gemeine Meinung aus. »Er ist oft weg von zu Hause. Und seht euch bloß
diese Ausländer an, die ihn besuchen: Zwerge kommen des Nachts, und
dieser alte wandernde Zauberer, Gandalf, und was nicht alles. Du kannst
sagen, was du willst, Ohm, aber Beutelsend ist ein sonderbarer Ort, und
seine Bewohner sind noch sonderbarer.«
»Und du kannst sagen, was du willst, weil du nämlich davon auch
nicht mehr verstehst als vom Bootfahren, Herr Sandigmann«, erwiderte
der Ohm, und jetzt mochte er den Müller noch weniger als sonst.
»Wenn das sonderbar ist, dann könnten wir in diesen Gegenden ein biß-
chen mehr Sonderbarkeit gebrauchen. Nicht so weit entfernt, da gibt's
manche, die würden einem Freund kein Glas Bier anbieten, und wenn sie
auch in 'ner Höhle mit goldenen Wänden wohnten. Aber in Beutelsend
machen sie's richtig. Unser Sam sagt, jeder wird zum Fest eingeladen, und
es soll Geschenke geben, wohlgemerkt, Geschenke für alle — und zwar
jetzt in diesem Monat.«
Jetzt in diesem Monat war September und das Wetter so schön, wie
man es sich nur wünschen konnte. Ein oder zwei Tage später verbreitete
sich das Gerücht (vermutlich von dem gut unterrichteten Sam aufgebracht),
daß es ein Feuerwerk geben werde — und noch dazu ein Feuerwerk, wie man
es seit fast hundert Jahren nicht im Auenland gesehen hatte, gewiß nicht
seit dem Tod des Alten Tuk.
Die Tage vergingen, und der große Tag kam näher. Ein wunderlich
aussehender Wagen, mit wunderlich aussehenden Paketen beladen, traf
eines Abends in Hobbingen ein und rumpelte den Bühl hinauf nach Beu-
telsend. Die verdutzten Hobbits guckten aus ihren erleuchteten Haustüren
und gafften ihm nach. Ausländisches Volk, das fremdartige Lieder sang,
kam mit dem Wagen: Zwerge mit langen Bärten und weiten Kapuzen. Ein
paar von ihnen blieben in Beutelsend. Am Ende der zweiten September-
woche fuhr am hellichten Tage, von der Brandyweinbrücke kommend, ein
zweirädriger Karren durch Wasserau. Ein alter Mann saß ganz allein
darauf. Er trug einen hohen spitzen blauen Hut, einen langen grauen Man-
tel und ein silbernes Halstuch. Er hatte einen langen weißen Bart und
buschige Augenbrauen, die unter seiner Hutkrempe hervorragten. Kleine
Hobbitkinder rannten durch ganz Hobbingen und bis hinauf zum Bühl
hinter dem Karren her, der die Feuerwerkskörper brachte, wie sie richtig
errieten. An Bilbos Haustür begann der alte Mann abzuladen: es waren
große Bündel mit Feuerwerkskörpern aller Arten und Formen, und jedes
war mit einem dicken roten G und der Elbenrune gezeichnet.
Das war natürlich Gandalfs Zeichen, und der alte Mann war Gandalf,
der Zauberer, dessen Ruf im Auenland hauptsächlich auf seiner Fertig-
keit, mit Feuer, Rauch und Blitz umzugehen, beruhte. Sein eigentliches
Geschäft war weit schwieriger und gefährlicher, aber davon wußten die
Leute im Auenland nichts. Für sie war er einfach eine der »Attraktio-
nen« des Festes. Daher die Aufregung der Hobbitkinder. »G heißt Groß-
artig!« riefen sie, und der alte Mann schmunzelte. Sie kannten ihn vom
Sehen, obwohl er nur gelegentlich in Hobbingen auftauchte und niemals
lange blieb; aber weder sie noch irgend jemand außer den ältesten unter
den Altvorderen hatte eine seiner Feuerwerkvorführungen gesehen — sie
gehörten jetzt einer sagenhaften Vergangenheit an.
Als der alte Mann, dem Bilbo und einige Zwerge geholfen hatten, mit
dem Abladen fertig war, schenkte Bilbo den Kindern ein paar Pfennige;
aber nicht ein einziger Knallfrosch oder Schwärmer kam zur Enttäu-
schung der Zuschauer zum Vorschein.
»Nun lauft«, sagte Gandalf. »Ihr bekommt noch genug zu sehen, wenn
es soweit ist.« Dann verschwand er mit Bilbo nach drinnen, und die Tür
wurde geschlossen. Die Hobbitkinder starrten noch eine Weile vergeblich
auf die Tür, dann machten sie sich davon und hatten das Gefühl, daß der
Tag des Festes niemals kommen würde.
In Beutelsend saßen Bilbo und Gandalf am offenen Fenster eines klei-
nen Zimmers, das nach Westen in den Garten ging. Der Spätnachmittag
war heiter und friedlich. Rot und golden leuchteten die Blumen: Löwen-
maul und Sonnenblumen, und allenthalben rankte sich Kapuzinerkresse
über die grasbedeckten Wände und lugte in die runden Fenster hinein.
»Prächtig schaut dein Garten aus«, sagte Gandalf.
»Ja«, antwortete Bilbo. »Ich hänge wirklich sehr an ihm und an dem
ganzen lieben alten Auenland. Aber ich glaube, ich brauche Ferien.«
»Du willst also deinen Plan ausführen?«
»Allerdings. Ich habe mich vor Monaten dazu entschlossen und meine
Meinung nicht geändert.«
»Sehr gut. Es hat keinen Zweck, mehr zu sagen. Halte an deinem Plan
fest — an dem ganzen Plan, wohlgemerkt —, und ich hoffe, es wird sich
alles zum besten wenden, für dich und für uns alle.«
»Das hoffe ich auch. Jedenfalls habe ich vor, mich am Donnerstag gut
zu unterhalten und mir einen kleinen Scherz zu leisten.«
»Wer wird wohl darüber lachen, möchte ich mal wissen«, sagte Gan-
dalf und schüttelte den Kopf.
»Das werden wir sehen«, sagte Bilbo.
Am nächsten Tag rollten weitere Karren den Bühl hinauf, und immer
noch mehr Karren. Es hätte etwas Gemurre geben können über »am Ort
einkaufen«, aber gerade in dieser Woche begann sich aus Beutelsend eine
ganze Flut von Aufträgen zu ergießen für Lebensmittel, Gebrauchs- und
Luxuswaren, die in Hobbingen oder Wasserau oder sonstwo in der Nach-
barschaft erhältlich waren. Die Leute waren begeistert; und sie began-
nen die Tage auf dem Kalender abzustreichen und schauten ungeduldig
nach dem Briefträger aus, da sie auf Einladungen hofften.
Es dauerte nicht lange, da ergoß sich auch eine Flut von Einladungen;
im Postamt von Hobbingen stapelten sich ganze Berge, das Postamt von
Wasserau wußte nicht mehr aus und ein, und es wurden freiwillige
Hilfspostboten gesucht. In ständigem Strom zogen sie den Bühl hinauf
und brachten Hunderte höflicher Variationen von Vielen Dank, ich
komme gern.
Am Tor von Beutelsend erschien ein Anschlag: ZUTRITT PUR UNBEFUGTE
VERBOTEN. Selbst diejenigen, die befugt waren oder es zu sein vorgaben,
weil sie etwas für das Fest zu liefern hatten, wurden selten hineingelassen.
Bilbo war beschäftigt: er schrieb Einladungen, hakte Zusagen von der
Liste ab, packte Geschenke ein und traf ein paar persönliche Vorbereitun-
gen. Seit Gandalfs Ankunft blieb er unsichtbar.
Eines Morgens wachten die Hobbits auf und sahen auf dem großen Feld
südlich von Bilbos Haustür lauter Seile und Stangen für kleine und große
Zelte. An der Böschung, die zur Straße führte, wurde ein zusätzlicher Ein-
gang mit breiten Stufen und einem großen weißen Tor angelegt. Die drei
Hobbitfamilien, die im Beutelhaldenweg nahe beim Feld wohnten, konnten
alles genau beobachten und wurden allgemein beneidet. Der alte Ohm
Gamdschie tat nicht einmal mehr so, als arbeite er in seinem Garten.
Die Zelte wuchsen allmählich empor. Eins war ganz besonders groß
und so hoch, daß der Baum auf dem Feld in ihm Platz fand und nun stolz
an einem Ende stand, und zwar am Kopf des längsten Tisches. An seinen
sämtlichen Zweigen wurden Laternen aufgehängt. Noch verheißungsvol-
ler war (nach Ansicht der Hobbits) eine riesige Küche, die in der Nord-
ecke des Feldes unter freiem Himmel aufgebaut wurde. Ein ganzer
Schwärm Köche aus allen Gast- und Wirtshäusern auf Meilen im Umkreis
traf ein, um den Zwergen und anderen sonderbaren Leuten, die in Beutels-
end einquartiert waren, zur Hand zu gehen. Die Vorfreude erreichte
ihren Höhepunkt.
Dann trübte sich das Wetter ein. Das war Mittwoch, am Vorabend des
Festes. Die Besorgnis war groß. Dann kam endlich Donnerstag, der
22. September. Die Sonne ging auf, die Wolken verzogen sich, Fahnen
wurden entrollt, und der Spaß begann.
Bilbo Beutlin nannte es ein Fest, aber in Wirklichkeit waren es unzäh-
lige Feiern, die gleichzeitig abgehalten wurden. Praktisch jeder, der in der
Nähe wohnte, war eingeladen. Ein paar hatte man versehentlich verges-
sen, aber als sie dann trotzdem kamen, machte es gar nichts. Auch aus
anderen Teilen des Auenlandes waren viele Leute gebeten worden; und
manche waren sogar von jenseits der Grenze gekommen. Bilbo begrüßte
persönlich die Gäste (auch die nicht geladenen) an dem neuen weißen
Tor. Er verteilte Geschenke an alle und etliche — und die etlichen waren
jene, die durch den Hinterausgang wieder verschwanden und nachher
noch einmal am Tor erschienen. Hobbits pflegen an ihren Geburtstagen
anderen Geschenke zu machen. In der Regel nicht sehr teure und nicht so
verschwenderisch wie bei dieser Gelegenheit; aber es war kein schlechtes
System. Denn da in Hobbingen und Wasserau an jedem Tag des Jahres
irgend jemand seinen Geburtstag feierte, hatte jeder Hobbit in diesen
Gegenden gute Aussicht, mindestens einmal wöchentlich mindestens ein
Geschenk zu bekommen. Doch wurde es ihnen niemals über.
Diesmal waren die Geschenke ungewöhnlich gediegen. Die Hobbitkin-
der waren so aufgeregt, daß sie eine Weile fast das Essen vergessen hät-
ten. Es gab Spielsachen, wie sie deren noch nie gesehen hatten, alle wun-
derschön und manche offenbar Zauberspielsachen. Viele waren denn auch
schon vor einem Jahr bestellt und weither aus dem Gebirge und vom Thai
gebracht worden und waren echte Zwergenarbeit.
Als jeder Gast begrüßt worden war und sich endlich alle auf dem Fest-
platz eingefunden hatten, gab es Lieder, Tänze, Musik, Spiele und natür-
lich Essen und Trinken. Es gab drei offizielle Mahlzeiten: Mittagessen,
Tee und Abendessen. Aber das Mittagessen und der Tee waren haupt-
sächlich dadurch gekennzeichnet, daß sich die Gäste zu diesen Zeiten hin-
setzten und gemeinsam aßen. Zu anderen Zeiten sah man lediglich Scha-
ren von Leuten trinken und essen — ohne Unterbrechung vom zweiten
Frühstück um elf bis um halb sieben, als das Feuerwerk begann.
Das Feuerwerk war Gandalfs Sache: er hatte es nicht nur gebracht,
sondern auch selbst erdacht und hergestellt; und die besonderen Dekora-
tionen, feststehenden Stücke und Raketen schoß er selbst ab. Aber Frö-
sche, Schwärmer, Knallerbsen, Fackeln, Zwergenkerzen, Elbenkaskaden,
Unholdbeller und Donnerschläge wurden auch großzügig verteilt. Sie
waren alle hervorragend. Gandalfs Kunst war mit dem Alter immer voll-
kommener geworden.
Es gab Raketen, die aussahen wie ein Schwärm funkensprühender und
mit süßer Stimme singender Vögel. Es gab grüne Bäume mit Stämmen aus
dunklem Rauch: ihre Blätter öffneten sich wie ein ganzer Frühling, der
sich auf einmal entfaltet, und aus ihren glänzenden Zweigen rieselten auf
die erstaunten Hobbits leuchtende Blüten herab, die einen süßen Duft aus-
strömten und verschwanden, ehe sie die nach oben gewandten Gesichter
berührten. Es gab Kaskaden von Schmetterlingen, die glitzernd in die
Bäume flogen; es gab Säulen aus buntem Feuer, die emporstiegen und
sich in Adler verwandelten, oder in Segelboote oder eine Kette fliegender
Schwäne; es gab einen roten Gewittersturm und einen gelben Wolken-
bruch; es gab einen Wald aus silbernen Speeren, die mit einem Kriegsge-
schrei in die Luft schössen wie eine kampfbereite Heerschar und wieder
herabstürzten in die Wässer und dabei zischten wie hundert feurige
Schlangen. Und dann gab es eine letzte Überraschung, Bilbo zu Ehren,
und sie erschreckte die Hobbits ganz ungemein, was Gandalf auch beab-
sichtigt hatte. Die Lichter gingen aus. Ein mächtiger Rauch stieg auf. Er
nahm die Gestalt eines in der Ferne sichtbaren Berges an, und sein Gipfel
begann zu leuchten. Grüne und violette Flammen loderten empor. Heraus
flog ein rotgoldener Drache — nicht in Lebensgröße, aber fürchterlich
naturgetreu; sein Rachen spie Feuer, seine Augen starrten nach unten;
ein Brüllen hob an, und dreimal schwirrte er über die Köpfe der
Menge hinweg. Sie duckten sich alle, und viele warfen sich flach auf den
Boden. Wie ein Schnellzug raste der Drache über sie hinweg, machte
einen Salto und zerplatzte mit ohrenbetäubendem Getöse über Wasserau.
»Das ist das Zeichen zum Abendessen«, sagte Bilbo. Angst und
Schrecken waren wie fortgeblasen, und die im Staube liegenden Hobbits
sprangen wieder auf die Füße. Es gab ein vorzügliches Abendessen für
alle; das heißt, für alle mit Ausnahme derjenigen, die zu dem besonderen
Familienfestmahl eingeladen waren. Das fand in dem Zelt mit dem Baum
statt. Bei den Einladungen hatte man sich auf zwölf Dutzend beschränkt
(eine Zahl, die auch von den Hobbits ein Gros genannt wurde, wenn-
gleich es nicht gerade als schicklich galt, das Wort auf Leute anzuwen-
den). Die Gäste waren aus allen Familien ausgesucht worden, mit denen
Bilbo und Frodo verwandt waren, und dazu noch ein paar gute und nicht
verwandte Freunde (zum Beispiel Gandalf). Viele junge Hobbits waren
eingeladen worden und durften mit elterlicher Erlaubnis dabei sein; was
langes Aufbleiben der Kinder betrifft, nahmen es die Hobbits nicht so
genau, besonders wenn Aussicht bestand, eine Mahlzeit für sie umsonst
zu bekommen. Junge Hobbits großzuziehen kostete eine Menge Futter.
Es waren viele Beutlins und Boffins da, und auch viele Tuks und Bran-
dybocks; verschiedene Grubers (Verwandte von Bilbo Beutlins Großmut-
ter) ; außerdem verschiedene Pausbackens (Verwandte seines Tuk-Großva-
ters); und ein paar auserwählte Lochners, Bolgers, Straffgürtels, Dachs-
baus, Gutleibs, Hornbläsers und Stolzfußens. Einige von ihnen waren nur
sehr weitläufig mit Bilbo verwandt, und manche waren kaum jemals zu-
vor in Hobbingen gewesen, weil sie in entfernten Winkeln des Auen-
lands wohnten. Die Sackheim-Beutlins waren nicht vergessen worden:
Otho und seine Frau Lobelia waren da. Zwar mochten sie Bilbo nicht und
verabscheuten Frodo, aber so prächtig war die mit goldener Tinte ge-
schriebene Einladungskarte gewesen, daß sie es nicht über sich gebracht
hatten, abzusagen. Außerdem hatte sich ihr Vetter Bilbo seit vielen Jah-
ren aufs Essen spezialisiert, und sein Tisch stand in hohem Rufe.
Alle einhundertvierundvierzig Gäste erwarteten ein erfreuliches Fest-
mahl; allerdings graute ihnen etwas vor der Rede ihres Gastgebers nach
dem Essen (einem unvermeidlichen Programmpunkt). Er war imstande,
etwas Poesie, wie er es nannte, hineinzubringen; und manchmal, nach ein
oder zwei Gläsern pflegte er auf die unsinnigen Abenteuer seiner ge-
heimnisvollen Fahrt anzuspielen. Die Gäste wurden nicht enttäuscht: das
Festessen war sehr erfreulich und ein wirklich sehr in Anspruch nehmen-
des Vergnügen: gehaltvoll, reichlich, mannigfaltig und ausgedehnt. In der
folgenden Woche sank der Lebensmittelumsatz fast auf Null; da aber durch
Bilbos Einkäufe die Lager der meisten Geschäfte, Kellereien und Waren-
häuser auf Meilen im Umkreis geräumt waren, machte das nicht viel.
Nachdem das Festmahl (mehr oder weniger) vorüber war, kam die
Rede. Die meisten Tischgenossen waren jetzt allerdings in nachsichtiger
Stimmung, in jenem wonnevollen Zustand, den sie »die Winkel ausfül-
len« nannten. Sie nippten an ihren Lieblingsgetränken, knabberten ihre
Lieblingsnäschereien, und ihre Befürchtungen waren vergessen. Sie waren
bereit, sich alles anzuhören und nach jedem Satz zu jubeln.
Meine lieben Leute, begann Bilbo und erhob sich von seinem Platz.
»Hört! Hört!« riefen sie und wiederholten das immerzu im Chor, offenbar
ihre guten Vorsätze mißachtend. Bilbo verließ seinen Platz, ging unter
den erleuchteten Baum und stellte sich auf einen Stuhl. Der Lichtschein
der Laternen fiel auf sein strahlendes Gesicht; die goldenen Knöpfe an
seiner gestickten seidenen Weste glänzten. Alle konnten sie ihn sehen,
wie er da stand, die eine Hand schwenkte er in der Luft, und die andere
steckte in der Hosentasche.
Meine Heben Beutlins und Boffins, begann er noch einmal. Und meine
lieben Tuks und Brandybocks, Grubers und Pausbackens, Lochners und
Hornbläsers und Bolgers, Straffgürtels, Gutleibs, Dachsbaus und Stolzfu-
ßens ... — »Stolzfüße!« rief ein älterer Hobbit vom hinteren Teil
des Zel-
tes. Sein Name war natürlich Stolzfuß und wohlverdient; seine Füße
waren groß und außergewöhnlich pelzig, und beide lagen auf dem Tisch.
Stolzfußens, wiederholte Bilbo. Außerdem meine guten Sackheim-
Beutlins, die ich endlich wieder in Beutelsend willkommen heiße. Heute ist
mein hundertelfter Geburtstag: einundelfzig bin ich heute! — »Hurra!
Hurra! Hoch soll er leben!« schrien sie und hämmerten vor Freude auf die
Tische. Bilbo machte es großartig. So hatten sie es gern: kurz und bündig.
Ich hoffe, Ihr freut euch ebenso sehr wie ich. Ohrenbetäubender Beifall.
Ja- (und Nein-) Rufe. Ein Tusch von Trompeten und Hörnern, Pfeifen und
Flöten und anderen Musikinstrumenten. Es waren, wie gesagt, viele junge
Hobbits da. Hunderte von Knallbonbons waren aufgerissen worden. Die
meisten trugen die Herkunftsbezeichnung THAL; das sagte vielen Hobbits
nichts, aber alle waren sich einig, daß es wundervolle Knallbonbons waren.
Sie enthielten Musikinstrumente, klein, aber vortrefflich gemacht und von
bezauberndem Klang. Einige der jungen Tuks und Brandybocks in einer
Ecke glaubten, Onkel Bilbo sei fertig (da er ja alles Notwendige klar gesagt
hatte), stellten nun aus dem Stegreif ein Orchester zusammen und began-
nen ein fröhliches Tanzlied zu spielen. Der junge Herr Everard Tuk und
Fräulein Melilot Brandybock stiegen auf einen Tisch, und mit Schellen in
den Händen begannen sie den Springerreihen zu tanzen: einen hübschen,
wenn auch ziemlich lebhaften Tanz.
Aber Bilbo war noch nicht fertig. Von einem Jungen in der Nähe
schnappte er sich ein Horn und blies drei laute Töne. Der Lärm erstarb.
Ich will euch nicht lange aufhalten! rief er. Beifall von der ganzen Ver-
sammlung. Ich habe euch alle aus einem bestimmten Grund zusammenge-
rufen. So, wie er das sagte, machte es irgendwie Eindruck. Es trat fast
völlige Stille ein, und einer oder zwei von den Tuks spitzten die Ohren.
Ja, eigentlich aus drei Gründen. Erstens vor allem, um euch zu sagen,
daß ich euch alle unerhört gern habe und daß einundelfzig Jahre eine viel
zu kurze Zeit sind, um unter so vortrefflichen und bewundernswerten
Hobbits zu leben. Mächtiger Beifallsausbruch.
Ich kenne die Hälfte von euch nicht halb so gut, wie ich es gern
möchte, und ich mag weniger als die Hälfte von euch auch nur halb so
gern, wie ihr es verdient. Das war unerwartet und gar nicht so einfach zu
verstehen. Vereinzelt wurde geklatscht, aber die meisten versuchten erst
einmal dahinterzukommen, ob es eigentlich als Kompliment gemeint war.
Zweitens, um meinen Geburtstag zu feiern. Wiederum Zurufe. Eigent-
lich sollte ich sagen: UNSEREN Geburtstag. Denn es ist natürlich auch
der Geburtstag meines Erben und Neffen Frodo. Heute wird er mündig
und tritt sein Erbe an. Flüchtiges Klatschen seitens der Älteren und
einige
laute Rufe:»Frodo! Frodo! Braver alter Frodo!« seitens der Jüngeren. Die
Sackheim-Beutlins runzelten die Stirn und fragten sich, was »tritt sein
Erbe an« wohl bedeuten sollte.
Zusammen sind wir hundertvierundvierzig Jahre alt. Die Zahl der
Tischgenossen sollte dieser bemerkenswerten Gesamtsumme entsprechen:
Ein Gros, wenn ich den Ausdruck gebrauchen darf. Kein Beifall. Das war
ja lächerlich. Viele der Gäste, und besonders die Sackheim-Beutlins,
waren beleidigt, denn sie hatten das Gefühl, nur eingeladen worden zu
sein, um die erforderliche Zahl voll zu machen, wie Waren in einer Fak-
kung. »Ein Gros! Nein, so was. Ein gewöhnlicher Ausdruck.«
Außerdem ist es, wenn ich die alte Geschichte erwähnen darf, der Jahres-
tag meiner Ankunft mit dem Faß in Esgaroth am Langen See; obwohl ich
die Tatsache, daß es mein Geburtstag war, damals übersehen hatte. Ich
wurde nämlich erst einundfünfzig, und in diesem Alter sind Geburtstage
noch nicht so wichtig. Das Bankett allerdings war großartig, obwohl ich
zu der Zeit eine böse Erkältung hatte, wie ich mich erinnere, und nur
»vülen Donk" sagen konnte. Heute kann ich es ganz richtig wiederholen:
Vielen Dank, daß ihr zu meinem kleinen Fest gekommen seid. Beharr-
liches Schweigen. Alle fürchteten, daß ihnen nun ein Lied oder irgendein
Gedicht bevorstünde; und allmählich hatten sie sowieso genug. Warum
konnte er nicht aufhören und sie auf sein Wohl trinken lassen? Aber Bilbo
sang nicht, noch kam ein Gedicht. Er hielt einen Augenblick inne.
Drittens und letztens, sagte er, möchte ich etwas KUNDTUN. Dieses
Wort sprach er so laut und betont aus, daß jeder, so er noch konnte, sich
aufsetzte. Ich bedaure kundtun zu müssen, daß dies — auch wenn ich ge-
sagt habe, einundelfzig Jahre in eurer Mitte seien eine viel zu kurze Zeit
- das ENDE ist. Ich gehe nun. Ich verlasse euch JETZT. LEBT WOHL!
Er stieg vom Stuhl und verschwand. Es gab einen blendenden Blitz, und
alle Gäste kniffen die Augen zu. Als sie sie wieder aufmachten, war
Bilbo nirgends zu sehen. Hundertvierundvierzig verblüffte Hobbits saßen
sprachlos da. Der alte Odo Stolzfuß nahm seine Füße vom Tisch und
stampfte auf. Dann trat Totenstille ein, bis plötzlich nach tiefem Atemho-
len alle Beutlins, Boffins, Tuks, Brandybocks, Grubers, Pausbackens, Loch-
ners, Bolgers, Straffgürtels, Dachsbaus, Gutleibs, Hornbläsers und Stolz-
fußens auf einmal zu reden begannen.
Alle waren sich darüber einig, daß der Scherz von sehr schlechtem
Geschmack zeugte und mehr Essen und Trinken nötig seien, um die
Gäste über den Schreck und Verdruß hinwegzubringen. »Er ist verrückt,
das habe ich ja immer gesagt« war vermutlich die häufigste Erklärung.
Sogar die Tuks (mit wenigen Ausnahmen) fanden Bilbos Verhalten un-
sinnig. Im Augenblick hielten die meisten sein Verschwinden selbstver-
ständlich für nicht mehr als einen lächerlichen Streich.
Aber der alte Rorig Brandybock war nicht so sicher. Weder das Alter
noch ein gewaltiges Abendessen hatten seinen Verstand benebelt, und er
sagte zu seiner Schwiegertochter Esmeralda: »Da ist irgend etwas faul,
meine Liebe! Ich glaube, der verrückte Beutlin ist wieder auf und davon.
Alberner alter Narr. Aber warum sollen wir uns darüber Gedanken
machen? Die Weinbuddeln hat er ja nicht mitgenommen.« Laut rief er zu
Frodo hinüber, er möge den Wein noch einmal kreisen lassen.
Frodo war der einzige der Anwesenden, der nichts gesagt hatte. Eine
Zeitlang hatte er schweigend neben Bilbos leerem Stuhl gesessen und alle
Bemerkungen und Fragen geflissentlich überhört. Natürlich hatte er den
Spaß genossen, obwohl er vorher eingeweiht worden war. Nur mit Mühe
konnte er sich davon zurückhalten, über die empörte Überraschung der
Gäste zu lachen. Aber gleichzeitig war er zutiefst betrübt: ihm wurde
plötzlich klar, daß er den alten Hobbit herzlich gern hatte. Die Mehrzahl
der Gäste ließ sich Essen und Trinken weiterhin schmecken und ereiferte
sich über Bilbo Beutlins vergangene und gegenwärtige Absonderlichkei-
ten; nur die Sackheim-Beutlins waren schon voll Zorn gegangen. Auch
Frodo hatte genug von der Gesellschaft. Er ließ neuen Wein kommen;
dann stand er auf, leerte sein Glas still für sich auf Bilbos Wohl und stahl
sich von dannen.
Was Bilbo Beutlin betrifft, so hatte er schon während seiner Rede mit
dem goldenen Ring in der Tasche gespielt: seinem Zauberring, den er so
viele Jahre geheimgehalten hatte. Als er hinunterging, ließ er ihn auf sei-
nen Finger gleiten und ward von keinem Hobbit in Hobbingen jemals
wieder gesehen.
Er ging rasch zu seiner Höhle, blieb einen Augenblick draußen stehen
und lauschte lächelnd dem Getöse, das aus dem Zelt und von den sonsti-
gen Lustbarkeiten auf dem Feld zu ihm herüberdrang. Dann ging er hin-
ein. Er zog seine Festkleidung aus, faltete seine gestickte seidene Weste
zusammen, schlug sie in Seidenpapier ein und legte sie weg. Geschwind
zog er ein paar derbe alte Sachen an und schnallte sich einen abgetrage-
nen Ledergürtel um. Daran hängte er ein kurzes Schwert in einer Scheide
aus schwarzem Leder. Aus einer abgeschlossenen, nach Mottenkugeln
duftenden Schublade nahm er einen alten Mantel und eine Kapuze. Sie
waren weggeschlossen gewesen, als ob sie sehr kostbar seien, aber sie
waren so geflickt und von Wind und Wetter mitgenommen, daß man ihre
ursprüngliche Farbe kaum noch erraten konnte: es mochte ein dunkles
Grün gewesen sein. Eigentlich waren sie ihm zu groß. Dann ging er in
sein Arbeitszimmer und holte aus einer großen Geldkassette ein in alte
Lappen gewickeltes Bündel und ein in Leder gebundenes Manuskript; und
auch einen dicken Briefumschlag. Buch und Bündel stopfte er obenauf in
einen schweren Beutel, der dort stand und schon fast voll war. In den
Umschlag ließ er den goldenen Ring mit dem Kettchen gleiten, dann ver-
siegelte er ihn und adressierte ihn an Frodo. Zuerst stellte er ihn auf den
Kaminsims, aber plötzlich nahm er ihn und steckte ihn in die Tasche. In
diesem Augenblick öffnete sich die Tür, und Gandalf trat rasch ein.
»Hallo!« sagte Bilbo. »Ich fragte mich schon, ob du wohl noch auftau-
chen würdest.«
»Ich freue mich, dich sichtbar vorzufinden«, erwiderte der Zauberer
und setzte sich auf einen Stuhl. »Ich wollte dich gern noch sehen und ein
paar letzte Worte mit dir reden. Du findest wahrscheinlich, daß alles
herrlich und dem Plan entsprechend vonstatten gegangen ist?«
»Ja, sicher«, sagte Bilbo. »Obwohl dieser Blitz überraschend war: mich
hat er erschreckt, ganz zu schweigen von den anderen. Ein kleiner Beitrag
von dir, nehme ich an?«
»So ist es. All die Jahre hast du klugerweise den Ring geheimgehalten,
und es schien mir erforderlich, deinen Gästen etwas anderes zu bieten, das
dein plötzliches Verschwinden vielleicht erklären könnte.«
»Und mir meinen Spaß verderben würde. Du bist ein gräßlicher alter
Wichtigtuer«, lachte Bilbo. »Aber wie gewöhnlich wirst du es wohl am
besten wissen.«
»Allerdings — wenn ich überhaupt etwas weiß. Aber bei dieser ganzen
Angelegenheit bin ich nicht so sicher. Sie hat jetzt den Schlußpunkt er-
reicht. Du hast deinen Spaß gehabt und die Mehrzahl deiner Verwandten
erschreckt oder beleidigt und dem ganzen Auenland Gesprächsstoff für
neun oder höchstwahrscheinlich neunundneunzig Tage geliefert. Hast du
noch mehr vor?«
»Ja. Ich habe das Gefühl, ich brauche Ferien, sehr lange Ferien, wie ich
dir schon früher gesagt habe. Wahrscheinlich Dauerferien: ich glaube
nicht, daß ich zurückkommen werde. Ich habe wirklich nicht vor, wieder
herzukommen, und habe deshalb alle Vorkehrungen dafür getroffen. Ich
bin alt, Gandalf. Man sieht es mir nicht an, aber im tiefsten Herzens-
gründe fühle ich mich allmählich alt. Noch gut aussehend, in der
Tat!«
schnaubte er. »Doch komme ich mir ganz dünn vor, gewissermaßen aus-
gemergelt, wenn du weißt, was ich meine: wie Butter, die auf zu viel Brot
verstrichen wurde. Das kann doch nicht richtig sein. Ich brauche eine
Veränderung oder dergleichen.«
Gandalf sah ihn forschend und aufmerksam an. »Nein«, meinte er
nachdenklich, »das scheint wirklich nicht in Ordnung zu sein. Ich glaube
auch, daß dein Plan wahrscheinlich der beste ist.«
»Ich bin auf jeden Fall fest entschlossen. Ich will wieder Berge sehen,
Gandalf — Berge; und dann irgendeinen Ort finden, wo ich ruhen
kann.
In Frieden und Stille, ohne eine Menge neugieriger Verwandte und eine
Schar verflixter Besucher, die sich gegenseitig die Klinke in die Hand ge-
ben. Vielleicht finde ich irgendeinen Ort, wo ich mein Buch fertigschrei-
ben kann. Ich habe mir einen hübschen Schluß dafür ausgedacht: und dann
lebte er vergnügt bis ans Ende seiner Tage.«
Gandalf lachte. »Das wird er hoffentlich. Aber niemand wird das Buch
lesen, wie immer der Schluß auch sein mag.«
»Oh, vielleicht doch, in späteren Jahren. Frodo hat es schon gelesen, so
weit es bis jetzt geht. Du wirst ein Auge auf Frodo haben, nicht wahr?«
»Ja, das werde ich — zwei Augen, sooft ich sie entbehren kann.«
»Natürlich würde er mit mir kommen, wenn ich ihn darum bäte. Er hat
es mir sogar selbst vorgeschlagen, kurz vor dem Fest. Aber in Wirklich-
keit will er nicht, noch nicht. Ich möchte gern wieder das wüste Land
sehen, ehe ich sterbe, und das Gebirge; er aber hängt noch immer am
Auenland mit seinen Wäldern und Feldern und kleinen Flüssen. Er sollte
sich hier wohlfühlen. Ich hinterlasse ihm natürlich alles mit Ausnahme
von ein paar Kleinigkeiten. Er wird hier hoffentlich glücklich sein, wenn
er sich daran gewöhnt hat, auf eigenen Füßen zu stehen. Es ist jetzt Zeit,
daß er sein eigener Herr wird.«
»Alles?« fragte Gandalf. »Auch den Ring? Du warst einverstanden
gewesen, erinnerst du dich?«
»Nun, hm, ja, ich glaube schon«, stammelte Bilbo.
»Wo ist er?«
»In einem Umschlag, wenn du es unbedingt wissen mußt«, sagte Bilbo
ungeduldig. »Da, auf dem Kaminsims. Ach nein, hier in meiner Tasche.«
Er zögerte. »Ist das nicht seltsam?« sagte er leise zu sich. »Ja, warum
eigentlich nicht? Warum sollte er nicht hierbleiben?«
Gandalf sah Bilbo wieder sehr scharf an, und seine Augen funkelten.
»Ich meine, Bilbo«, sagte er ruhig, »an deiner Stelle würde ich ihn zu-
rücklassen. Willst du es nicht?«
»Nun ja — und nein. Jetzt, da es so weit ist, mag ich ihn ganz und gar
nicht hergeben, das muß ich schon sagen. Und ich sehe auch nicht ein,
warum ich es sollte? Warum willst du es unbedingt?« fragte er, und
seine Stimme klang merkwürdig verändert. Sie war scharf vor Mißtrauen
und Ärger. »Dauernd quälst du mich wegen meines Ringes; aber wegen
der anderen Dinge, die ich auf meiner Fahrt bekommen habe, hast du mir
niemals so zugesetzt.«
»Nein, aber ich mußte dich quälen«, antwortete Gandalf. »Ich wollte die
Wahrheit wissen. Es war wichtig. Zauberringe sind — nun ja, eben Zau-
berringe; sie sind selten und sonderbar. Ich war beruflich an deinem Ring
interessiert, könnte man sagen; und ich bin es noch. Ich möchte gern wis-
sen, wo er ist, wenn du wieder auf Wanderschaft gehst. Außerdem meine
ich, daß du ihn lange genug gehabt hast. Du wirst ihn nicht mehr brau-
chen, Bilbo, wenn ich mich nicht sehr irre.«
Bilbo lief rot an, und seine Augen blitzten zornig. Sein freundliches
Gesicht wurde hart. »Warum nicht?« rief er. »Und was geht es dich über-
haupt an, was ich mit meinen Sachen mache? Er gehört mir. Ich habe ihn
gefunden. Er ist zu mir gekommen.«
»Ja, ja«, sagte Gandalf. »Aber deswegen brauchst du nicht zornig zu
werden.«
»Wenn ich es bin, ist es deine Schuld. Es ist meiner, sage ich dir. Mein
Eigen. Mein Schatz. Ja, mein Schatz.«
Das Gesicht des Zauberers blieb ernst und aufmerksam, und nur ein
Flackern in seinen tiefliegenden Augen verriet, daß er bestürzt und sogar
beunruhigt war. »So ist der Ring schon früher genannt worden«, sagte er,
»doch nicht von dir«.
»Aber jetzt sage ich es. Und warum auch nicht? Selbst wenn Gollum
einmal dasselbe gesagt hat. Jetzt gehört er nicht ihm, sondern mir. Und
ich werde ihn behalten.«
Gandalf erhob sich. Er sprach streng. »Du bist ein Narr, wenn du ihn
behältst, Bilbo. Mit jedem Wort, das du sagst, machst du es deutlicher. Der
Ring hat schon viel zu viel Macht über dich. Gib ihn auf! Und dann
kannst du gehen und bist frei.«
»Ich werde selbst bestimmen, was ich tue, und gehen, wie es mir be-
liebt«, erwiderte Bilbo dickköpfig.
»Nun, nun, mein lieber Hobbit«, beschwichtigte ihn Gandalf. »Dein
ganzes Leben lang waren wir Freunde, und du verdankst mir einiges.
Komm! Tu, was du versprochen hast: gib ihn auf!«
»Wenn du meinen Ring selbst haben willst, dann sage es doch!« rief
Bilbo. »Aber du bekommst ihn nicht. Ich will meinen Schatz nicht her-
geben. Das sage ich dir.« Seine Hand verirrte sich zum Heft seines kleinen
Schwerts.
Gandalfs Augen funkelten. »Jetzt bin bald ich an der Reihe, zornig zu
werden«, sagte er. »Wenn du das noch einmal sagst, ist es soweit. Dann
wirst du Gandalf den Grauen unverhüllt sehen.« Er machte einen Schritt
auf den Hobbit zu und schien groß und bedrohlich zu werden, sein Schat-
ten erfüllte den kleinen Raum.
Bilbo wich zurück und stellte sich mit dem Rücken an die Wand; er
atmete schwer, und seine Hand umklammerte die Tasche. Sie standen sich
eine Weile gegenüber, die Luft im Raum prickelte. Gandalf ließ den Hobbit
nicht aus den Augen. Langsam entspannten sich Bilbos Hände, und er
begann zu zittern.
»Ich weiß nicht, was über dich gekommen ist, Gandalf«, sagte er. »So
bist du. doch niemals gewesen. Was soll das Ganze? Es ist meiner, nicht
wahr? Ich habe ihn gefunden, und Gollum hätte mich getötet, wenn ich
ihn nicht behalten hätte. Ich bin kein Dieb, was immer er auch gesagt
hat.«
»Das habe ich niemals von dir behauptet«, antwortete Gandalf. »Und'
auch ich bin kein Dieb. Ich will dich nicht berauben, sondern dir helfen.
Ich wollte, du würdest mir vertrauen wie früher.« Er wandte sich ab, und
der Schatten verschwand. Er schien wieder zusammenzuschrumpfen zu
einem alten grauen Mann, gebeugt und besorgt.
Bilbo fuhr sich mit der Hand über die Augen. »Entschuldige«, sagte er.
»Aber mir war so sonderbar zumute. Und doch würde es eine Erleichte-
rung sein, nichts mehr mit ihm zu tun zu haben. In letzter Zeit hat er
mich richtig bedrückt. Manchmal hatte ich das Gefühl, er sei wie ein
Auge, das mich anschaute. Und dauernd habe ich den Wunsch, ihn auf-
zustreifen und zu verschwinden, weißt du. Oder ich mache mir Gedanken,
ob er heil ist, und hole ihn heraus, um mich zu vergewissern. Ich hatte
versucht, ihn wegzuschließen, aber dann stellte ich fest, daß ich keine
Ruhe fand, wenn ich ihn nicht in der Tasche hatte. Ich weiß nicht,
warum. Und es scheint, als könnte ich mich zu nichts entschließen.«
»Dann vertraue mir. Meine Meinung steht fest. Geh fort und laß ihn
zurück. Hör auf, ihn zu besitzen. Gib ihn Frodo, und um Frodo werde ich
mich kümmern.«
Bilbo stand einen Augenblick starr und unentschlossen da. Plötzlich
seufzte er. »Na schön«, sagte er. »Ich bin einverstanden.« Dann zuckte er
die Schultern und lächelte etwas wehmütig. »Schließlich war das ja der
Zweck des ganzen Festes: eine Menge Geburtstagsgeschenke zu machen
und es dadurch irgendwie zu erleichtern, gleichzeitig auch ihn wegzugeben.
Zwar ist es dadurch doch nicht leichter geworden, aber immerhin wäre es
schade, wenn alle meine Vorbereitungen umsonst gewesen wären. Es würde
den Scherz ziemlich verderben.«
»Es würde in der Tat den einzigen Sinn nehmen, den ich bei der ganzen
Angelegenheit erkennen konnte«, sagte Gandalf.
»Na gut, er geht mit allem anderen an Frodo.« Bilbo holte tief Luft.
»Und jetzt muß ich mich wirklich auf den Weg machen, sonst erwischt
mich hier noch jemand. Ich habe Lebewohl gesagt und könnte es nicht
ertragen, es noch einmal zu tun.« Er nahm seinen Beutel und ging zur
Tür.
»Du hast ja den Ring immer noch in der Tasche!« sagte der Zauberer.
»Ist das die Möglichkeit!« rief Bilbo. »Und mein Testament und alle
anderen Dokumente auch. Am besten nimmst du den Umschlag und lie-
ferst ihn für mich ab. Das ist das Sicherste.«
»Nein, gib den Ring nicht mir«, erwiderte Gandalf. »Lege den Um-
schlag dort auf den Kaminsims. Da ist er sicher genug, bis Frodo kommt.
Ich werde hier auf ihn warten.«
Bilbo zog den Umschlag heraus, aber gerade, als er ihn neben die Uhr
stellen wollte, zuckte seine Hand zurück, und das Päckchen fiel auf den
Boden. Ehe er es aufheben konnte, hatte sich der Zauberer gebückt und es
auf den Kamin gelegt. In einem Anflug von Zorn verdüsterte sich das
Gesicht des Hobbits. Aber dann sah er plötzlich erleichtert aus und
lachte.
»So, das wär's«, sagte er. »Nun fort mit mir!«
Sie gingen hinaus in die Halle. Bilbo suchte sich aus dem Schirmstän-
der seinen Lieblingsstock heraus; dann pfiff er. Drei Zwerge kamen aus
verschiedenen Räumen, wo sie beschäftigt gewesen waren.
»Ist alles fertig?« fragte Bilbo. »Alles gepackt und beschriftet?«
»Alles«, antworteten sie.
»So, dann wollen wir aufbrechen!« Er ging zur Tür hinaus.
Es war eine herrliche Nacht, und der dunkle Himmel war mit Sternen
übersät. Bilbo schaute hinauf und schnupperte in der Luft. »Was für ein
Spaß! Was für ein Spaß, wieder loszugehen, unterwegs zu sein mit Zwer-
gen! Das ist es, wonach ich mich seit Jahren wahrhaftig gesehnt habe.«
Er blickte auf sein altes Heim und verneigte sich vor der Tür. »Lebt
wohl!« sagte er. »Leb wohl, Gandalf.«
»Leb wohl einstweilen, Bilbo. Gib gut auf dich acht! Du bist alt genug
und vielleicht weise genug.«
»Achtgeben! Ich gebe nicht acht. Mach dir nur keine Sorgen um mich!
Ich bin jetzt so glücklich, wie ich es nur jemals war, und das will sehr
viel heißen. Aber nun ist es soweit. Endlich habe ich den richtigen An-
lauf genommen.« Und mit leiser Stimme, wie für sich selbst, sang er im
Dunkeln:
Die Straße gleitet fort und fort,
Weg von der Tür, wo sie begann,
Weit überland, von Ort zu Ort,
Ich folge ihr, so gut ich. kann.
Ihr lauf ich raschen Fußes nach,
Bis sie sich groß und breit verflicht
Mit Weg und Wagnis tausendfach.
Und wohin dann? Ich weiß es nicht.
Er hielt für einen Augenblick inne. Dann wandte er sich wortlos ab
von den Lichtern und den Stimmen auf dem Feld und in den Zelten und
ging, gefolgt von seinen drei Gefährten, hinüber in seinen Garten und
trottete den langen, abschüssigen Pfad hinunter. Unten sprang er an einer
niedrigen Stelle über die Hecke, schlug sich in die Wiesen und ver-
schwand in der Nacht wie ein Rascheln des Windes im Grase.
Gandalf blieb noch eine Weile stehen und blickte ihm in der Dunkel-
heit nach. »Leb wohl, mein lieber Bilbo — bis zu unserm nächsten Tref-
fen!« sagte er leise und ging hinein.
Kurz danach kam Frodo und fand Gandalf im Dunkeln sitzend, tief
in Gedanken. »Ist er fort?« fragte er.
»Ja«, antwortete Gandalf. »Nun ist er fort.«
»Ich wünschte — ich meine, ich hatte bis heute abend gehofft, es sei
nur ein Scherz«, sagte Frodo. »Aber im Grunde meines Herzens wußte
ich, daß er wirklich vorhatte, wegzugehen. Über ernste Dinge pflegte er
immer zu scherzen. Ich wünschte, ich wäre früher hergekommen, um
mich noch von ihm zu verabschieden.«
»Ihm war es wohl lieber, denke ich, in aller Stille zu verschwinden«,
meinte Gandalf. »Mach dir nicht zu viel Sorgen. Er wird wohlauf sein —
jetzt. Er hat ein Päckchen für dich dagelassen. Dort liegt es!«
Frodo nahm den Briefumschlag vom Kaminsims und warf einen Blick
darauf, öffnete ihn aber nicht.
»Du wirst wohl sein Testament und all die anderen Dokumente darin
finden«, sagte der Zauberer. »Jetzt bist du der Herr von Beutelsend. Und
außerdem wirst du, vermute ich, einen goldenen Ring finden.«
»Den Ring!« rief Frodo. »Hat er mir den dagelassen? Ich frage mich,
warum. Immerhin, er mag nützlich sein.«
»Mag sein, und mag nicht sein«, antwortete Gandalf. »Ich würde kei-
nen Gebrauch von ihm machen, wenn ich du wäre. Aber halte ihn ge-
heim, und bewahre ihn gut! So, ich gehe jetzt ins Bett.«
Als Herr von Beutelsend empfand Frodo es als seine lästige Pflicht,
sich von den Gästen zu verabschieden. Gerüchte von merkwürdigen Er-
eignissen hatten sich mittlerweile auf dem gesamten Feld verbreitet, aber
Frodo wollte nichts sagen als: Gewiß wird sich morgen alles aufklären.
Gegen Mittemacht kamen die Kutschen für die besseren Herrschaften.
Eine nach der anderen rollten sie davon, mit satten, aber sehr unbefriedig-
ten Hobbits. Wie verabredet, erschienen dann Gärtner und schafften mit
Schubkarren jene weg, die versehentlich zurückgeblieben waren.
Langsam verstrich die Nacht. Die Sonne ging auf. Die Hobbits erhoben
sich erheblich später. Der Vormittag zog sich hin. Leute kamen und be-
gannen (auftragsgemäß) die Zelte abzubauen, Tische und Stühle, Löffel
und Messer, Flaschen und Teller, die Laternen und die blühenden Sträu-
cher in Kübeln, die Krümel und das Papier der Knallbonbons, die vergesse-
nen Handtaschen, Handschuhe und Taschentücher und die nicht aufgeges-
senen Leckerbissen (ein sehr unbedeutender Posten) wegzuräumen. Dann
kam eine Reihe von Leuten (ohne Auftrag): Beutlins und Boffins und
Tuks und andere Gäste, die in der Nähe wohnten oder übernachtet hatten.
Um die Mittagszeit, als selbst jene, die am meisten gegessen hatten, wie-
der auf den Beinen waren, hatte sich eine große Volksmenge in Beutels-
end eingefunden, uneingeladen, aber nicht unerwartet.
Frodo empfing sie an der Tür; er lächelte, sah aber ziemlich müde
und bekümmert aus. Er begrüßte die Besucher, doch konnte er ihnen nicht
viel mehr sagen als am Vorabend. Auf alle Fragen antwortete er einfach:
»Herr Bilbo Beutlin ist abgereist; soviel ich weiß, für immer.« Manche
Besucher forderte er auf, näherzutreten, weil Bilbo »Botschaften« für sie
hinterlassen hatte.
Drinnen in der Halle türmten sich alle möglichen Pakete und Päckchen
und kleinere Möbelstücke. An jedem war ein Zettel befestigt. Verschiedene
lauteten etwa derart:
Für Adelard Tuk zum BEHALTEN von Bilbo; an einem Regenschirm.
Adelard hatte viele mitgenommen, die ihm nicht zugedacht waren.
Für DORA BEUTLIN zur Erinnerung an eine LANGE Korrespondenz
in Liebe von Bilbo; an einem großen Papierkorb. Dora war Drogos
Schwester und die älteste überlebende Verwandte von Bilbo und Frodo;
sie war neunundneunzig und hatte seit einem halben Jahrhundert ganze
Bände von guten Ratschlägen geschrieben.
Für MILO LOCHNER in der Hoffnung, daß es nützlich sein wird, von
B.B.; an einer goldenen Feder und einem Tintenfaß. Milo hatte niemals
Briefe beantwortet.
Für ANGELIKA zum täglichen Gebrauch von Onkel Bilbo; an einem
runden, konvexen Spiegel. Sie war eine junge Beutlin und fand ihr Ge-
sicht offenbar allzu Wohlgestalt.
Für die Sammlung von HUGO STRAFFGÜRTEL von einem Spender;
an einem (leeren) Bücherregel. Hugo war groß im Bücherborgen und mit
dem Zurückgeben noch saumseliger als üblich.
Für LOBELIA SACKHEIM-BEUTLIN als GESCHENK; an einem Etui
mit silbernen Löffeln.
Bilbo glaubte, daß sie sich während einer seiner
früheren Fahrten eine ganze Anzahl seiner Löffel angeeignet hatte. Lobe-
lia wußte das ganz genau. Als sie etwas später an jenem Tage kam, be-
griff sie sofort, was gemeint war, aber die Löffel nahm sie.
Das ist nur eine kleine Auswahl der Geschenke, die vorbereitet worden
waren. In Bilbos Behausung hatten sich im Laufe seines langen Lebens
allerhand Dinge angesammelt. Hobbithöhlen waren im allgemeinen mit
Dingen vollgestopft: die Sitte, so viele Geburtstagsgeschenke zu machen,
war weitgehend daran schuld. Natürlich waren die Geburtstagsgeschenke
keineswegs immer neu; es gab ein oder zwei alte Mathoms, die im
gan-
zen Bezirk von Hand zu Hand gingen, obwohl ihr Verwendungszweck
längst vergessen war; Bilbo dagegen hatte gewöhnlich neue Geschenke
gemacht und die, die er erhielt, behalten. Jetzt wurde in der alten Höhle
ein wenig Luft geschaffen.
Jedes einzelne der zahlreichen Abschiedsgeschenke war mit einem von
Bilbo eigenhändig geschriebenen Zettel versehen, von denen mehrere eine
Anspielung oder einen Scherz erhielten. Aber natürlich wurden die mei-
sten Dinge dorthin gegeben, wo sie am dringendsten gebraucht wurden
und willkommen waren. Die ärmeren Hobbits, besonders jene im Beutel-
haldenweg, kamen sehr gut weg. Der Ohm Gamdschie erhielt zwei Sack
Kartoffeln, einen neuen Spaten, eine Wollweste und ein Einreibemittel für
knirschende Gelenke. Als Gegengabe für reichlich gewährte Gastfreund-
schaft bekam der alte Rorig Brandybock ein Dutzend Flaschen »Alter Win-
gert«: ein kräftiger Rotwein aus dem Südviertel und jetzt ganz schön
abgelagert, denn Bilbos Vater hatte ihn schon eingekellert. Nachdem
Rorig die erste Flasche getrunken hatte, verzieh er Bilbo und nannte ihn
einen Prachtskerl.
Für Frodo war von allem noch reichlich genug da. Und natürlich blie-
ben die eigentlichen Schätze und auch die Bücher, Bilder und mehr Möbel,
als er brauchte, in seinem Besitz. Indes war überhaupt nicht die Rede von
Geld oder Schmuck: nicht ein Pfennig und nicht eine Glasperle wurden
verschenkt.
Frodo hatte eine sehr mißliche Zeit an diesem Nachmittag. Ein falsches
Gerücht, daß der ganze Haushalt aufgelöst und alles verschenkt würde,
hatte sich wie ein Lauffeuer verbreitet; und es dauerte nicht lange, da
wimmelte das Anwesen von Leuten, die hier nichts zu suchen hatten,
aber nicht ferngehalten werden konnten. Zettel wurden abgerissen und
durcheinandergebracht, und Zank und Streit brach aus. In der Halle ver-
suchten manche Leute, einen schwunghaften Tauschhandel aufzuziehen;
und andere wieder wollten sich mit kleineren Gegenständen, die ihnen
nicht zugedacht waren oder unerwünscht oder unbewacht zu sein schie-
nen, heimlich davonstehlen. Der Weg zum Tor war mit Schubkarren und
Handwagen verstopft.
Inmitten dieses Tohuwabohus erschienen die Sackheim-Beutlins. Frodo
hatte sich einen Augenblick zurückgezogen und seinen Freund Merry
Brandybock gebeten, ein Auge auf alles zu haben. Als Otho lauthals
nach Frodo verlangte, verbeugte sich Merry höflich.
»Es paßt ihm nicht«, sagte er. »Er ruht sich aus.«
»Versteckt sich, meinst du«, sagte Lobelia. »Jedenfalls wünschen wir
ihn zu sehen und gedenken ihn zu sehen. Geh' nun und sage ihm das!«
Merry ließ sie eine ganze Weile in der Halle warten, und sie hatten Zeit
genug, ihr Abschiedspäckchen mit den Löffeln zu entdecken. Das bes-
serte ihre Laune nicht gerade. Schließlich wurden sie ins Arbeitszimmer
gebeten. Frodo saß an einem Tisch und hatte eine Menge Papiere vor
sich liegen. Man sah ihm deutlich an, daß es ihm nicht gerade paßte, die
Sackheim-Beutlins zu sehen; und er stand auf und spielte mit irgend et-
was in seiner Tasche. Aber er sprach sehr höflich.
Die Sackheim-Beutlins waren ziemlich angriffslustig. Sie begannen
damit, daß sie ihm für verschiedene wertvolle und nicht mit Zetteln ge-
kennzeichnete Dinge, die sie ihm abkaufen wollten, schlechte Preise
boten (wie unter Freunden). Als Frodo erwiderte, daß nur die von Bilbo
ausdrücklich bezeichneten Sachen weggegeben würden, erklärten sie, die
ganze Geschichte sei sehr verdächtig.
»Nur eins ist mir klar«, sagte Otho, »und zwar, daß du außerordentlich
gut dabei weggekommen bist. Ich bestehe darauf, das Testament einzuse-
hen.«
Ohne Frodos Adoption wäre Otho Bilbos Erbe gewesen. Jetzt las er das
Testament sorgfältig durch und schnaubte wütend. Es war leider sehr klar
und korrekt aufgesetzt (entsprechend den Rechtsbräuchen der Hobbits,
die unter anderem sieben Zeugenunterschriften in roter Tinte ver-
langten).
»Wieder haben wir das Nachsehen!« sagte er zu seiner Frau. »Und das,
nachdem wir sechzig Jahre gewartet haben. Löffel? So ein Plunder!« Er
warf Frodo einen vernichtenden Blick zu und stampfte von dannen. Aber
Lobelia war nicht so leicht abzuschütteln. Etwas später kam Frodo aus
dem Arbeitszimmer, um zu sehen, wie die Dinge stünden, und da war sie
immer noch da, stöberte in allen Ecken und Winkeln herum und klopfte
den Fußboden ab. Er geleitete sie entschlossen zum Tor, nachdem er sie
um verschiedene kleine (aber ziemlich wertvolle) Gegenstände erleichtert
hatte, die irgendwie in ihren Regenschirm hineingefallen waren. Ihr Ge-
sicht sah aus, als ob sie krampfhaft über eine wirklich niederschmetternde
Abschiedsbemerkung nachdenke; aber alles, was ihr einfiel, als sie sich
auf der Schwelle umdrehte, war:
»Du wirst es noch bereuen, junger Freund! Warum bist du nicht auch
gegangen? Du gehörst nicht hierher; du bist kein Beutlin — du — du bist
ein Brandybock!«
»Hast du das gehört, Merry? Das war eine Beleidigung, wenn man so
will«, sagte Frodo, als er die Tür hinter ihr schloß.
»Das war ein Kompliment«, meinte Merry Brandybock, »und darum
natürlich nicht wahr.«
Dann gingen sie um die Höhle herum und warfen drei junge Hobbits
hinaus (zwei Boffins und einen Böiger), die Löcher in eine Kellerwand
geschlagen hatten. Auch hatte Frodo einen Strauß mit dem jungen San-
cho Stolzfuß (dem Enkel des alten Odo Stolzfuß), der eine Ausgrabung
in der größeren Speisekammer in Angriff genommen hatte, weil er dort
ein Echo entdeckt zu haben glaubte. Die Legende von Bilbos Gold weckte
sowohl Neugier als Hoffnung; denn legendäres Gold (auf geheimnisvolle
Weise, wenn nicht gar unrechtmäßig erworben) gehört, wie jedermann
weiß, demjenigen, der es findet — sofern er bei der Suche nicht gestört
wird.
Nachdem er Sancho überwältigt und hinausbefördert hatte, sank Frodo
auf einen Stuhl in der Halle. »Es ist Zeit, den Laden dicht zu machen,
Merry«, sagte er. »Verriegele die Tür und laß niemanden mehr herein,
und wenn sie mit einem Sturmbock kämen.« Dann ging er, um sich mit
einer verspäteten Tasse Tee zu erfrischen.
Kaum hatte er sich hingesetzt, da klopfte es leise an der Tür. »Höchst-
wahrscheinlich wieder Lobelia«, dachte er. »Sie muß sich etwas ganz
besonders Boshaftes ausgedacht haben und zurückgekommen sein, um es
zu sagen. Das kann warten.«
Er blieb bei seinem Tee sitzen. Es wurde wieder geklopft, jetzt viel lau-
ter, aber er kümmerte sich nicht drum. Plötzlich erschien der Kopf des
Zauberers am Fenster.
»Wenn du mich nicht hereinläßt, Frodo, dann blase ich dir deine
Tür durch die ganze Höhle, daß sie am anderen Ende vom Bühl wieder
herauskommt«, sagte er.
»Mein lieber Gandalf! Eine halbe Minute!« rief Frodo und lief aus dem
Zimmer zur Tür. »Komm herein! Komm herein! Ich dachte, es wäre Lobe-
lia.«
»Dann sei dir verziehen. Ich habe sie vorhin in einem Pony-Zweisitzer
nach Wasserau fahren sehen mit einem Gesicht, das frische Milch hätte
gerinnen lassen.«
»Auch mir hat sie schon fast das Blut zum Gerinnen gebracht. Ehrlich,
fast hätte ich Bilbos Ring ausprobiert. Ich hatte große Lust zu verschwin-
den.«
»Tu das ja nicht«, sagte Gandalf und setzte sich hin. »Sei vorsichtig
mit dem Ring, Frodo! Tatsächlich bin ich teilweise deshalb gekommen, um
dir ein letztes Wort darüber zu sagen.«
»Und das wäre?«
»Was weißt du bereits?«
»Nur, was mir Bilbo erzählte. Ich habe seine Darstellung gehört: wie er
ihn fand und wie er ihn benutzte: auf seiner Fahrt, meine ich.«
»Welche Darstellung, möchte ich wissen«, sagte Gandalf.
»Oh, nicht die, die er den Zwergen erzählt und in seinem Buch berich-
tet hat«, erklärte Frodo. »Kurz nachdem ich zu ihm gezogen bin, hat er
mir die wahre Begebenheit erzählt. Er sagte, du habest ihm so zugesetzt,
bis er sie dir erzählte, und deshalb solle ich sie besser auch wissen.
>Keine Geheimnisse zwischen uns, Frodo<, hat er gesagt, >aber sie
dürfen
nicht weitererzählt werden. Jedenfalls gehört er mir<.«
»Das ist interessant«, sagte Gandalf. »Und was hast du dir bei alledem
gedacht?«
»Wenn du den ganzen Schwindel mit dem >Geschenk< meinst, na, da
kommt mir die wahre Darstellung sehr viel wahrscheinlicher vor, und ich
verstehe wirklich nicht, warum er sich überhaupt eine andere ausgedacht
hat. Es sah Bilbo gar nicht ähnlich, so etwas zu tun; ich fand es sehr
merkwürdig.«
»Ich auch. Aber Leuten, die solche Schätze haben - und wenn sie sie
benutzen — widerfahren nun einmal merkwürdige Dinge. Laß es dir eine
Warnung sein, sehr vorsichtig mit ihm umzugehen. Er mag noch andere
Kräfte besitzen, als dich lediglich unsichtbar zu machen, wenn du gern
möchtest.«
»Das verstehe ich nicht«, sagte Frodo.
»Ich auch nicht«, antwortete der Zauberer. »Ich fange gerade erst an,
mir über den Ring Gedanken zu machen, besonders seit gestern abend.
Kein Grund zur Sorge. Aber wenn ich dir einen Rat geben darf, benutze
ihn sehr selten, wenn überhaupt. Zumindest bitte ich dich, ihn nicht in
irgendeiner Weise zu verwenden, die Anlaß zu Gerede gibt oder Verdacht
erweckt. Ich wiederhole: bewahre ihn gut und halte ihn geheim.
»Du bist sehr geheimnisvoll. Was befürchtest du eigentlich?«
»Ich bin noch nicht sicher, deshalb will ich jetzt nicht mehr darüber
sagen. Vielleicht kann ich dir etwas erzählen, wenn ich wiederkomme. Ich
mache mich sofort auf den Weg; deshalb lebe wohl einstweilen.« Er stand
auf.
»Sofort?« rief Frodo. »Ich hatte geglaubt, du würdest mindestens noch
eine Woche bleiben. Ich hatte darauf gerechnet, daß du mir hilfst.«
»Das hatte ich auch vor — aber ich habe es mir anders überlegt. Es mag
sein, daß ich ziemlich lange fortbleibe; aber ich werde dich besuchen,
sobald ich kann. Vorher anmelden werde ich mich nicht, sondern mich
still und leise hier hereinschleichen. Ich werde nicht mehr häufig das
Auenland offen besuchen. Ich habe nämlich festgestellt, daß ich ziemlich
unbeliebt geworden bin. Sie sagen, ich sei eine Landplage und störe ihren
Frieden. Manche Leute behaupten sogar, ich hätte Bilbo hinweggezaubert
oder noch was Schlimmeres. Falls es dich interessiert, es ist die Rede von
einem Komplott zwischen dir und mir, um uns sein Vermögen anzueig-
nen.
»Manche Leute!« rief Frodo. »Du meinst Otho und Lobelia. Wie ab-
scheulich! Ich würde ihnen Beutelsend und alles andere dazu geben, wenn
ich Bilbo wieder hätte und mit ihm durch die Lande wandern könnte. Ich
liebe das Auenland. Aber aus irgendeinem Grunde wünschte ich, ich
wäre auch weggegangen. Ich frage mich, ob ich Bilbo je wiedersehen
werde.«
»Das frage ich mich auch«, sagte Gandalf. »Und über vieles andere
mache ich mir noch Gedanken. Aber jetzt auf Wiedersehen! Gib auf dich
acht. Halte Ausschau nach mir, besonders zu unwahrscheinlichen Zeiten!
Auf Wiedersehen!«
Frodo begleitete ihn zur Tür. Er winkte noch einmal mit der Hand und
ging mit erstaunlich raschem Schritt davon; aber Frodo fand, daß der alte
Zauberer ungewöhnlich gebeugt aussah, fast als ob er eine schwere Last
trüge. Der Abend brach herein, und mit seinem grauen Mantel war Gan-
dalf rasch im Dämmerlicht verschwunden. Frodo sah ihn lange Zeit nicht
wieder.
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