DER HERR DER RINGE

Drei Ringe den Elbenkönigen hoch im Licht,
Sieben den Zwergenherrschern in ihren Hallen aus Stein,
Den Sterblichen, ewig dem Tode verfallen, neun,

Einer dem Dunklen Herrn auf dunklem Thron
Im Lande Mordor, wo die Schatten dröhn.

Ein Ring, sie zu knechten, sie alle zu finden,
Ins Dunkel zu treiben und ewig zu binden
Im Lande Mordor, wo die Schatten dröhn.

 
VORWORT
Diese Erzählung wuchs und wuchs, während ich sie erzählte, bis sie zur
Geschichte des Großen Ringkrieges wurde, in der immer wieder die noch
ältere Geschichte flüchtig auftauchte. Ich hatte damit begonnen, kurz
nachdem Der Hobbit geschrieben und noch ehe das Buch 1937 erschienen
war; aber dann fuhr ich mit der Erzählung nicht fort, denn zuerst wollte
ich die Mythologie und Legenden der Altvorderenzeit, die damals schon
seit einigen Jahren Gestalt angenommen hatten, vervollständigen und
ordnen. Das wollte ich gern zu meiner eigenen Freude tun, und ich hatte
wenig Hoffnung, daß andere Leute sich für diese Arbeit interessieren
würden, zumal sie in erster Linie sprachwissenschaftlich inspiriert war
und ursprünglich darauf zielte, den notwendigen »geschichtlichen« Hin-
tergrund für die Elbensprachen zu schaffen.
Als jene, die ich um Rat und ihre Meinung befragte, mich berichtigten,
daß nicht wenig Hoffnung, sondern gar keine Hoffnung bestünde, nahm
ich dann die Erzählung wieder auf, ermutigt durch die Bitten von Lesern,
ihnen mehr über Hobbits und ihre Abenteuer zu sagen. Aber die Dar-
stellung wurde unwiderstehlich zur älteren Welt hingezogen und wurde
gleichsam zu einem Bericht über deren Ende und Vergehen, bevor ihr Be-
ginn und die Zwischenzeit erzählt waren. Dieser Vorgang hatte schon bei
der Niederschrift des Hobbits eingesetzt, der bereits manche Hinweise auf
die älteren Begebenheiten enthält: Elrond und Gondolin, die Hochelben
und die Orks, und auch ungebeten wurden flüchtig Dinge sichtbar, die
höher oder tiefer oder dunkler waren, als es äußerlich schien: Durin,
Moria, Gandalf, der Geisterbeschwörer, der Ring. Als die Bedeutung die-
ser flüchtigen Ausblicke und ihrer Beziehung zur ganz alten Geschichte
einmal entdeckt war, enthüllte sich das Dritte Zeitalter und sein Höhe-
punkt, der Ringkrieg.
Diejenigen, die mehr über Hobbits wissen wollten, erfuhren es schließ-
lich, aber sie mußten lange darauf warten; denn in den Jahren 1936 bis
1949 kam ich nur dann und wann dazu, mich mit dem Herrn der Ringe
zu beschäftigen. Damals hatte ich viele Pflichten, die ich nicht vernach-
lässigte, und so manche anderen Interessen als Lernender und Lehrender,
die mich oft völlig in Anspruch nahmen. Auch der Ausbruch des Krie-
ges 1939 trug natürlich zur Verzögerung bei; am Schluß jenes Jahres
hatte die Erzählung noch nicht das Ende von Buch I erreicht. Trotz der
Dunkelheit der nächsten fünf Jahre fand ich es nun nicht mehr möglich, die
Darstellung völlig aufzugeben, und so quälte ich mich voran, zumeist des
Nachts, bis ich an Balins Grab in Moria stand. Dort hielt ich eine lange
Weile inne. Es war fast ein Jahr vergangen, als ich fortfuhr und dann Ende
1941 nach Lothlórien und zum Großen Strom kam. Im nächsten Jahr
schrieb ich die ersten Entwürfe der Begebenheiten, die jetzt das Buch III
bilden, und die Anfänge der Kapitel l und 3 von Buch V; und dort, als
die Signalfeuer in Anórien aufflammten und Theoden zum Hargtal kam,
hörte ich auf. Weiter hatte ich nicht vorausgeschaut, und zum Nach-
denken war keine Zeit.
Im Jahre 1944 war es soweit, daß ich die noch ungeklärten Wirren
eines Krieges, den zu führen oder zumindest über den zu berichten meine
Aufgabe war, beiseite ließ und mich zwang, Frodos Wanderung nach
Mordor in Angriff zu nehmen. Diese Kapitel, die später Buch IV werden
sollten, schickte ich in Fortsetzungen an meinen Sohn Christopher, der
damals bei der Royal Air Force in Südafrika war. Dennoch dauerte es
noch weitere fünf Jahre, bis die Erzählung zu ihrem jetzigen Ende ge-
langte; in dieser Zeit wechselte ich mein Haus, meinen Lehrstuhl und
mein College, und die Tage waren zwar weniger dunkel, aber nicht weni-
ger arbeitsreich. Dann, als das »Ende« schließlich erreicht war, mußte die
ganze Darstellung überarbeitet und großenteils sogar neu geschrieben
werden. Und sie mußte getippt und noch einmal getippt werden: von mir;
die Kosten für professionelles Tippen von Zehnfingrigen überstiegen
meine Mittel.
Seit Der Herr der Ringe im Jahr 1954 endlich erschien, haben viele
Leute das Buch gelesen; und ich möchte hier gern einiges sagen zu den
Ansichten oder Mutmaßungen über die Motive und Bedeutungen der Er-
zählung, die mir zugegangen sind oder über die ich gelesen habe. Das
Hauptmotiv war der Wunsch eines Märchenerzählers, es einmal mit einer
wirklich langen Darstellung zu versuchen, die die Aufmerksamkeit der
Leser fesselt, sie unterhält, erfreut und manchmal vielleicht erregt oder tief
bewegt. Als Richtschnur hatte ich nur mein eigenes Gefühl für das, was
ansprechend oder packend ist, und für viele erwies sich diese Richtschnur
unvermeidbar oft als falsch. Manche, die das Buch gelesen oder jedenfalls
besprochen haben, fanden es langweilig, absurd oder belanglos; und ich
habe keinen Grund, mich zu beklagen, denn ich habe ähnliche Ansichten
über ihre Arbeiten oder über die Art zu schreiben, die sie offenbar vor-
ziehen. Aber selbst denjenigen, denen meine Darstellung Vergnügen be-
reitet hat, hat vieles nicht gefallen. Vielleicht ist es in einer langen Erzäh-
lung nicht möglich, jedermann an allen Stellen zu gefallen oder auch
jedermann an denselben Stellen zu mißfallen; denn aus den mir zugegan-
genen Briefen ersehe ich, daß gerade die Abschnitte oder Kapitel, die
den einen ein Ärgernis sind, von anderen besonders gelobt werden. Der
kritischste Leser von allen, ich selbst, findet jetzt viele kleinere und
größere Mängel; da er aber zum Glück weder verpflichtet ist, das Buch
zu besprechen, noch es ein zweites Mal zu schreiben, wird er sie mit Still-
schweigen übergehen, abgesehen von dem einen Mangel, den andere fest-
gestellt haben: das Buch ist zu kurz.
Was irgendwelche tiefere Bedeutung oder »Botschaft« betrifft, so gibt
es nach der Absicht des Verfassers keine. Das Buch ist weder allegorisch
noch aktuell. Als die Darstellung wuchs, schlug sie Wurzeln (in der Ver-
gangenheit) und verzweigte sich unerwartet, aber ihr Hauptthema lag
von Anfang an fest, weil der Ring nun einmal das Bindeglied zwischen
ihr und dem Hobbit war. Das entscheidende Kapitel, »Der Schatten der
Vergangenheit«, ist einer der ältesten Teile der Erzählung. Es war schon
lange geschrieben, ehe die Vorzeichen des Jahres 1939 sich zur Dro-
hung eines unentrinnbaren Verhängnisses verdichtet hatten, und von die-
sem Punkt an hätte sich die Darstellung im wesentlichen in denselben
Grundzügen weiterentwickelt, auch wenn das Verhängnis abgewendet
worden wäre. Ihr Ursprung sind Dinge, die mir schon lange im Sinn
lagen oder in einigen Fällen schon niedergeschrieben waren, und wenig
oder nichts wurde durch den Krieg, der 1939 begann, oder durch seine
Folgen verändert.
Der wirkliche Krieg ähnelt weder in seinem Verlauf noch in seinem
Abschluß dem Krieg der Sage. Hätte er den Fortgang der Sage inspiriert
oder bestimmt, dann hätte man sich des Ringes bemächtigt und ihn gegen
Sauron eingesetzt; Sauron wäre nicht vernichtet, sondern versklavt, und
Barad-dûr nicht zerstört, sondern besetzt worden. Nachdem Saruman
nicht in den Besitz des Ringes zu gelangen vermochte, hätte er in jener
Zeit der Verwirrung und des Verrats die fehlenden Zwischenglieder seiner
eigenen Nachforschungen über Ringkunde in Mordor gefunden und sich
bald einen eigenen Großen Ring gemacht, um damit den selbsternannten
Herrscher von Mittelerde herauszufordern. Bei diesem Kampf hätten beide
Seiten für die Hobbits nur Haß und Verachtung empfunden: nicht einmal
als Sklaven hätten sie lange überlebt.
Andere Lösungen könnten ersonnen werden je nach dem Geschmack
oder den Ansichten jener, die Allegorien oder aktuelle Bezüge schätzen.
Aber ich habe eine herzliche Abneigung gegen Allegorie in all ihren
Erscheinungen, und zwar immer schon, seit ich alt und wachsam genug
war, um ihr Vorhandensein zu entdecken. Wahre oder erfundene Ge-
schichte mit ihrer vielfältigen Anwendbarkeit auf das Denken und die
Erfahrung der Leser ist mir sehr viel lieber. Ich glaube, daß viele Leute
»Anwendbarkeit« mit »Allegorie« verwechseln; aber die eine ist der
Freiheit des Lesers überlassen, die andere wird ihm von der Absicht des
Verfassers aufgezwungen.
Ein Verfasser kann natürlich nicht völlig unbeeinflußt bleiben von seiner
Erfahrung, aber die Art und Weise, wie der Keim einer Darstellung aus
dem Boden der Erfahrung Nutzen zieht, ist äußerst verwickelt, und Ver-
suche, diesen Vorgang zu beschreiben, sind bestenfalls Mutmaßungen
aufgrund unzulänglicher und mehrdeutiger Nachweise. Auch ist es eine
falsche, obschon natürlich verlockende Annahme, daß, wenn das Leben
eines Autors und eines Kritikers einander überschneiden, die Denkweise
und die Ereignisse der von ihnen gemeinsam erlebten Zeiten notwendiger-
weise einen starken Einfluß ausüben. Man muß in der Tat persönlich in
den Schatten des Krieges geraten, um zu erfahren, wie bedrückend er ist;
aber im Laufe der Jahre scheint man nun oft zu vergessen, daß es ein kei-
neswegs weniger furchtbares Erlebnis war, in der Jugend von 1914 über-
rascht zu werden, als 1939 und in den folgenden Jahren dabei zu sein.
1918 waren bis auf einen alle meine nächsten Freunde tot. Oder um ein
weniger schmerzliches Beispiel anzuführen: man hat vermutet, daß »Die
Befreiung des Auenlands« die Situation in England zu der Zeit, als ich
meine Erzählung beendete, widerspiegelt. Das stimmt nicht. Das Kapitel
ist ein wesentlicher Bestandteil der Fabel und war von Anfang an vorge-
sehen, wenn es auch in seinem Verlauf modifiziert wurde durch Saru-
mans Charakter, wie er sich in der Darstellung entwickelte, ohne — muß
ich das erwähnen? — irgendwelche allegorische Bedeutung oder einen
zeitgenössischen politischen Bezug. Allerdings besteht ein Zusammen-
hang, wenn auch ein loser (weil die wirtschaftliche Situation eine völlig
andere war), mit einem viel weiter zurückliegenden Erlebnis. Das Land, in
dem ich als Kind gelebt hatte, wurde elend zerstört, ehe ich zehn Jahre alt
war, in jenen Tagen, als Automobile selten waren (ich hatte niemals eins
gesehen) und die Menschen noch Vororteisenbahnen bauten. Kürzlich sah
ich in einer Zeitung ein Bild vom Verfall der einst florierenden Mühle an
dem Teich, der mir vor langer Zeit so viel bedeutet hatte. Den Jungen
Müller mochte ich nie, aber sein Vater, der Alte Müller, hatte einen
schwarzen Bart, und er hieß nicht Sandigmann.
Der Herr der Ringe erscheint jetzt in einer neuen (englischen) Auflage,
und ich habe die Gelegenheit benutzt, das Buch zu überarbeiten. Dabei habe
ich eine Reihe von Irrtümern und Widersprüchen im Text ausgemerzt und
versucht, einige Punkte zu erläutern, auf die aufmerksame Leser hinge-
wiesen hatten. Ich habe über alle ihre Kommentare und Anfragen nachge-
dacht, und wenn es so aussieht, als seien manche übergangen worden,
dann mag es daran liegen, daß ich keine gute Ordnung in meinen Notizen
hielt; aber viele Fragen könnten nur durch zusätzliche Anhänge beant-
wortet werden, oder sogar nur in einem Ergänzungsband, der ein gut Teil
des in die Originalausgabe nicht aufgenommenen Materials enthalten
würde, insbesondere ausführlichere sprachwissenschaftliche Erläuterun-
gen. Inzwischen bringt diese Ausgabe dieses Vorwort, eine Erweiterung
der Einführung, einige Anmerkungen und ein Register der Personen- und
Ortsnamen. Dieses Register ist, wie beabsichtigt, vollständig in bezug auf
Stichwörter, aber nicht in bezug auf Verweisstellen, weil sein Umfang für
diese Ausgabe beschränkt werden mußte. Ein vollständiges Register, das
das gesamte von Mrs. N. Smith für mich aufbereitete Material berück-
sichtigt, gehört eher in den Ergänzungsband.

EINFÜHRUNG
Über Hobbits
Das Buch handelt weitgehend von Hobbits, und aus seinen Seiten kann
ein Leser viel über ihren Charakter und ein wenig über ihre Geschichte
erfahren. Weitere Einzelheiten sind auch in der Auswahl aus dem Roten
Buch der Westmark zu finden, die unter dem Titel Der Hobbit bereits
veröffentlicht wurde. Jene Darstellung stammt aus den ersten Kapiteln
des Roten Buches, die Bilbo selbst, der erste Hobbit, der in der ganzen
Welt berühmt wurde, verfaßt und die er Hin und wieder zurück genannt
hat; er erzählt darin von seiner Fahrt in den Osten und seiner Rückkehr:
ein Abenteuer, durch das später alle Hobbits in die großen Ereignisse
jenes Zeitalters, von denen hier berichtet wird, hineingezogen wurden.
Viele Leser mögen indes gleich zu Beginn mehr über dieses bemerkens-
werte Volk wissen wollen, während manche vielleicht das erste Buch
nicht besitzen. Für sie seien hier einige der wichtigeren Punkte aus der
Hobbitkunde zusammengestellt und das erste Abenteuer kurz wiederge-
geben.
Die Hobbits sind ein unauffälliges, aber sehr altes Volk, das früher
zahlreicher war als heute; denn sie lieben Frieden und Stille und einen
gut bestellten Boden: eine wohlgeordnete und wohlbewirtschaftete
ländliche Gegend war ihr bevorzugter Aufenthaltsort. Kompliziertere
Maschinen als einen Schmiede-Blasebalg, eine Wassermühle oder einen
Handwebstuhl verstehen und verstanden oder mochten sie auch nicht,
obwohl sie mit Werkzeugen sehr geschickt umgingen. Selbst in den alten
Zeiten empfanden sie in der Regel Scheu vor dem »Großen Volk«, wie sie
uns nennen, und heute meiden sie uns voll Schrecken und sind nur noch
schwer zu finden. Sie haben ein feines Gehör und scharfe Augen, und
obwohl sie dazu neigen, Fett anzusetzen und sich nicht unnötigerweise zu
beeilen, sind sie dennoch flink und behende in ihren Bewegungen. Von
Anfang an beherrschten sie die Kunst, rasch und geräuschlos zu ver-
schwinden, wenn große Leute, denen sie nicht begegnen wollen, daher-
trapsen; und diese Kunst haben sie weiterentwickelt, bis sie den Men-
schen wie Zauberei vorkam. In Wirklichkeit haben sich die Hobbits nie-
mals mit Zauberei irgendeiner Art befaßt, und ihre Fähigkeit, sich zu
verflüchtigen, beruht allein auf einer durch Vererbung und Übung und
innige Erdverbundenheit so vollkommenen Geschicklichkeit, daß sie für
größere und plumpere Rassen unnachahmlich ist.
Denn sie sind kleine Leute, kleiner noch als Zwerge: das heißt, weniger
stämmig und kräftig, obwohl sie es in der Länge eigentlich mit ihnen auf-
nehmen können. Ihre Größe ist unterschiedlich und schwankt zwischen
zwei und vier Fuß nach unseren Maßen. Heute werden sie selten größer
als drei Fuß; aber sie seien geschrumpft, behaupten sie, und in alten Zei-
ten größer gewesen. Nach dem Roten Buch maß Bandobras Tuk (Bullen-
raßler), Sohn von Isegrim dem Zweiten, sogar vier Fuß und fünf Zoll
und konnte ein Pferd reiten. Soweit die Hobbits zurückdenken können, ist
er seither nur von zwei berühmten Persönlichkeiten übertroffen worden;
aber jene seltsame Geschichte wird in diesem Buch berichtet.
Was die Hobbits aus dem Auenland in diesen Erzählungen anlangt, so
waren sie, solange Frieden und Wohlstand bei ihnen herrschten, ein fröh-
liches Volk. Sie kleideten sich in leuchtenden Farben und hatten eine be-
sondere Vorliebe für Gelb und Grün; aber Schuhe trugen sie selten, denn
ihre Füße hatten zähe, lederartige Sohlen und waren mit dichtem, krau-
sem Haar bedeckt, ähnlich ihrem Haupthaar, das gewöhnlich braun war.
Daher war das einzige Handwerk, das bei ihnen wenig ausgeübt wurde,
die Schuhmacherei; doch hatten sie lange und geschickte Finger und
konnten viele andere nützliche und hübsche Dinge herstellen. Ihre Ge-
sichter waren in der Regel eher gutmütig als schön, breit, mit glänzenden
Augen, roten Wangen und Mündern, die immer zum Lachen und Essen
und Trinken bereit waren. Und sie lachten und aßen und tranken denn
auch oft und herzhaft, waren jederzeit zum Scherzen aufgelegt und hatten
gern sechs Mahlzeiten täglich (wenn sie sie bekommen konnten). Sie waren
gastfrei und hatten ihre Freude an Festen und an Geschenken, die sie groß-
zügig machten und immer gern annahmen.
Es liegt also auf der Hand, daß die Hobbits trotz der späteren Entfrem-
dung mit uns verwandt sind: weit näher als Elben oder selbst Zwerge.
Früher sprachen sie die Sprache der Menschen auf ihre eigene Weise und
hatten ziemlich dieselben Vorlieben und Abneigungen wie die Menschen.
Aber wie unsere Verwandtschaft genau war, läßt sich nicht mehr fest-
stellen. Der Ursprung der Hobbits reicht weit zurück in die Altvorderen-
zeit, die jetzt vergangen und vergessen ist. Nur die Elben haben noch
Aufzeichnungen aus jener dahingeschwundenen Zeit, aber ihre Überliefe-
rungen handeln fast ausschließlich von ihrer eigenen Geschichte, und in
ihnen kommen Menschen selten vor und Hobbits werden gar nicht er-
wähnt. Doch es ist klar, daß die Hobbits in Wirklichkeit schon viele lange
Jahre friedlich in Mittelerde gelebt hatten, ehe ein anderes Volk sie auch
nur bemerkte. Und da die Welt schließlich von unzähligen seltsamen Ge-
schöpfen wimmelt, erschienen diese kleinen Leute wohl sehr wenig wichtig.
Aber in Bilbos und Frodos, seines Erben, Tagen wurden sie plötzlich, ohne
daß sie es selber wollten, sowohl wichtig als auch berühmt und störten die
Pläne der Weisen und der Großen.
Jene Tage, das Dritte Zeitalter von Mittelerde, sind nun lange vergan-
gen, und die Gestalt der Länder hat sich verändert; doch die Gegenden, in
denen damals Hobbits lebten, waren zweifellos dieselben, in denen sie
sich noch immer aufhalten: der Nordwesten der Alten Welt, östlich des
Meeres. Von ihrer ursprünglichen Heimat hatten die Hobbits in Bilbos
Tagen keine Kenntnis mehr. Liebe zur Wissenschaft (abgesehen von der
Ahnenforschung) war keineswegs verbreitet bei ihnen; doch einige we-
nige der älteren Familien studierten noch immer ihre eigenen Bücher
und sammelten sogar Berichte über die alten Zeiten und fernen Länder,
von Elben, Zwergen und Menschen. Ihre eigenen Aufzeichnungen began-
nen erst mit der Besiedlung des Auenlands, und ihre ältesten Legenden
reichten nicht weiter zurück als bis zu ihren Wanderungstagen. Dennoch
lassen diese Legenden wie auch ihre eigentümlichen Wörter und Bräuche
klar erkennen, daß wie so manch anderes Volk auch die Hobbits in der
weit zurückliegenden Vergangenheit nach Westen gezogen waren. In
ihren ältesten Erzählungen finden sich Andeutungen, daß sie einst in den
oberen Tälern des Anduin gehaust haben mußten, zwischen den Ausläu-
fern des Großen Grünwalds und dem Nebelgebirge. Die Gründe, warum
sie später das schwierige und gefährliche Wagnis unternahmen, über das
Gebirge nach Eriador zu ziehen, sind nicht mehr bekannt. Ihre eigenen Be-
richte erwähnen, daß sich die Menschen vermehrt hätten und ein Schatten
auf den Wald gefallen sei, so daß er sich verdüsterte, und sein neuer Name
war Düsterwald.
Schon vor dem Zug über die Berge hatte es drei recht unterschiedliche
Hobbitstämme gegeben: Harfüße, Starren und Falbhäute. Die Harfüße
hatten eine braunere Haut, waren schmächtiger und kleiner, bartlos und
barfuß; ihre Hände und Füße waren flink und behende; und sie bevorzug-
ten Hochebenen und Berghänge. Die Starren waren derber und von stär-
kerem Körperbau; ihre Füße und Hände waren kräftiger, und sie zogen
flaches Land und Flußufer vor. Die Falbhäute hatten eine hellere Haut
und auch helleres Haar, und sie waren größer und schlanker als die ande-
ren; sie liebten Bäume und Waldgebiete.
Die Harfüße hatten in alten Zeiten viel Umgang mit Zwergen gehabt
und lange in den Vorbergen der Gebirge gelebt. Sie zogen früh nach
Westen und wanderten durch ganz Eriador bis zur Wetterspitze, während
die anderen noch im Wilderland geblieben waren. Sie waren der ursprüng-
lichste und ausgeprägteste Hobbitschlag und der bei weitem zahlreichste.
Bei ihnen war der Drang, seßhaft zu werden, am stärksten, und sie blie-
ben am längsten dem Brauch ihrer Vorfahren treu, in Stollen und Höhlen
zu leben.
Die Starren hielten sich lange an den Ufern des Großes Flusses Anduin
auf und hatten weniger Scheu vor den Menschen. Sie kamen später als die
Harfüße nach Westen und folgten dem Lauf der Lautwasser nach Süden;
und viele von ihnen wohnten lange dort zwischen Tharbad und den Gren-
zen von Dunland, ehe sie wieder nach Norden zogen.
Die Falbhäute, an Zahl die geringsten, waren ein nördlicher Stamm. Sie
hatten ein freundschaftlicheres Verhältnis zu den Elben als die anderen
Hobbits und mehr Begabung für Sprache und Gesang als für ein Hand-
werk; und von alters her zogen sie die Jagd dem Ackerbau vor. Sie
überschritten die Berge nördlich von Bruchtal und folgten dem Fluß
Weißquell. In Eriador vermischten sie sich bald mit den anderen
Stämmen, die vor ihnen gekommen waren, aber da sie ein wenig kühner
und verwegener waren, fand man sie häufig als Führer oder Häuptlinge
von Harfuß- oder Starrensippen. Selbst zu Bilbos Zeit konnte man
noch den starken Einschlag der Falbhäute bei den vornehmen Familien
wie den Tuks oder den Herren von Bockland feststellen.
In den Westlanden von Eriador zwischen dem Nebelgebirge und dem
Gebirge von Lun fanden die Hobbits Menschen und auch Elben vor. Ja, es
lebte hier sogar noch ein Rest der Dúnedain, der Könige der Menschen,
die über das Meer aus Westernis gekommen waren; aber ihre Zahl verrin-
gerte sich rasch, und ringsum verödeten die Länder ihres Nördlichen
Königreichs. Es gab Raum genug für Einwanderer, und es währte nicht
lange, bis sich die Hobbits in geordneten Gemeinden ansiedelten. Von
ihren ersten Niederlassungen waren die meisten zu Bilbos Zeit schon
längst verschwunden und vergessen; aber eine der ersten, die Bedeutung
erlangen sollte, war erhalten geblieben, obschon sie an Größe eingebüßt
hatte; sie war in Bree, das im Chetwald lag, etwa vierzig Meilen östlich
vom Auenland.
Zweifellos war es in jenen frühen Tagen, daß die Hobbits ihre Buchsta-
ben lernten und nach Art der Dúnedain zu schreiben begannen, die ihrer-
seits die Kunst von den Elben gelernt hatten. Und in jenen Tagen verga-
ßen die Hobbits auch, welcher Sprachen sie sich früher bedient hatten,
und sprachen von nun an die Gemeinsame Sprache, das Westron, wie es
genannt wurde, das in allen Ländern der Könige von Amor bis Gondor
und an allen Küsten des Meeres von Belfalas bis Lun geläufig war.
Immerhin behielten sie einige ihrer eigenen Wörter bei und auch ihre
Namen für Monate und Tage und eine große Zahl Personennamen aus der
Vergangenheit.
Etwa um diese Zeit wird die Legende unter den Hobbits zum ersten Mal
Geschichte mit einer Zeitrechnung. Denn es war im tausendsechshundert-
understen Jahr des Dritten Zeitalters, daß die Falbhäutebrüder Marcho und
Blanco von Bree auszogen; und nachdem sie die Erlaubnis des hohen
Königs in Fornost* erhalten hatten, überschritten sie mit einem großen
Gefolge von Hobbits den braunen Fluß Baranduin. Sie zogen über die
Brücke von Steinbogen, die in den Tagen der Macht des Nördlichen
Königreichs gebaut worden war, und sie nahmen das ganze jenseitige
Land zwischen dem Fluß und den Femen Höhen in Besitz, um hier zu
leben. Nichts weiter wurde von ihnen verlangt, als daß sie die Große
Brücke instand hielten, wie auch alle anderen Brücken und Straßen, und
daß sie den Sendboten des Königs beistünden und seine Oberhoheit aner-
kennten.
So begann die Auenland-Zeitrechnung, denn das Jahr, in dem die Hob-
bits den Brandywein (wie sie den Namen verdrehten) überschritten,
wurde das Jahr Eins vom Auenland, und alle späteren Daten errechneten
sich danach**. Die westlichen Hobbits verliebten sich sogleich in ihr
neues Land und blieben dort, und bald verschwanden sie wiederum aus
der Geschichte der Menschen und Elben. Solange es noch einen König
gab, waren sie dem Namen nach seine Untertanen, aber in Wirklichkeit
wurden sie von ihren eigenen Hauptleuten regiert und mischten sich
überhaupt nicht in die Ereignisse der Welt draußen ein. Zur letzten
Schlacht bei Fornost mit dem Herrn der Hexen von Angmar schickten sie
Bogenschützen, um dem König zu helfen, oder behaupteten es wenigstens,
obwohl es in keinem Geschichtsbuch der Menschen verzeichnet ist. Aber
in jenem Krieg endete das Nördliche Königreich; und nun nahmen sich
die Hobbits das Land zu eigen und wählten unter ihren Hauptleuten einen
* Wie die Chroniken von Gondor berichten, war das Argeleb II., der zwanzigste
Herrscher der Nördlichen Linie, die dreihundert Jahre später mit Arvedui erlosch.

** Die Jahreszahlen des Dritten Zeitalters nach der Zählweise der Elben und Dúne-
dain lassen sich errechnen, wenn man 1600 zu den Daten nach der Auenland-Zeit-
rechnung addiert.


Thain, der die Machtbefugnis des Königs, der nicht mehr da war, inne-
hatte. Dann wurden sie tausend Jahre lang wenig durch Kriege belästigt,
und sie lebten glücklich und zufrieden und vermehrten sich nach der
Schwarzen Pest (A. Z. 37) bis zum Verhängnis des Langen Winters und
der darauffolgenden Hungersnot. Viele Tausende gingen damals zu-
grunde, aber die Tage der Not (1158—60) waren zur Zeit dieser Erzählung
lange vergangen, und die Hobbits waren es wieder gewöhnt, daß es alles
in Hülle und Fülle gab. Das Land war reich und fruchtbar, und obwohl es
vor ihrer Ankunft lange brachgelegen hatte, war es einst gut bestellt
gewesen, und der König harte dort viele Bauernhöfe, Äcker, Weinberge
und Wälder gehabt.
Vierzig Wegstunden erstreckte es sich von den Femen Höhen bis zur
Brandyweinbrücke, und fünfzig von den Mooren im Norden bis zu
den Marschen im Süden. Die Hobbits nannten den Herrschaftsbereich
ihres Thains Auenland, und es war ein Bezirk wohlgeordneter Arbeit;
in diesem erfreulichen Erdenwinkel widmeten sie sich ihrer geordneten
Arbeit, die darin bestand zu leben, und um die Welt draußen, wo
dunkle Dinge vor sich gingen, kümmerten sie sich immer weniger, bis
sie schließlich glaubten, Frieden und Überfluß seien die Regel in Mittel-
erde und ein Recht, das allen vernünftigen Leuten zustehe. Sie vergaßen
oder beachteten nicht das wenige, was sie je von den Wächtern gewußt
hatten und von der Mühsal jener, die den langen Frieden im Auenland
ermöglichten. Sie wurden in Wirklichkeit beschützt, aber sie erinnerten
sich dessen nicht mehr.
Zu keiner Zeit waren die Hobbits kriegslüstern gewesen, und unterein-
ander hatten sie sich nie bekämpft. In alten Zeiten hatten sie natürlich oft
zu den Waffen greifen müssen, um sich in einer rauhen Welt zu behaup-
ten; doch in Bilbos Tagen war das schon sehr alte Geschichte. An die
letzte Schlacht vor dem Beginn dieser Darstellung — die einzige übrigens,
die jemals innerhalb der Grenzen des Auenlandes geschlagen worden war —
konnte sich kein Lebender mehr erinnern; es war die Schlacht von
Grünfeld gewesen, A. Z. 1147, mit der Bandobras Tuk einen Angriff der
Orks abgeschlagen hatte. Selbst das Klima war milder geworden, und die
Wölfe, die einst in bitterweißen Wintern heißhungrig aus dem Norden
gekommen waren, waren jetzt ein Großvatermärchen. Obwohl es noch
immer einige Waffenbestände im Auenland gab, wurden sie jetzt zumeist
als Siegeszeichen angesehen, hingen über der Feuerstelle oder an den Wän-
den oder waren im Museum von Michelbinge untergebracht. Das Mathom-
Haus wurde es genannt; denn alles, was Hobbits nicht sofort verwenden
konnten, aber nicht gern wegwerfen wollten, nannten sie Mathom. Ihre
Behausungen waren wie dazu geschaffen, Mathoms anzuhäufen, und viele
der Geschenke, die von Hand zu Hand gingen, waren von dieser Art.
Dennoch hatten Friede und Daseinsfreude der Zähigkeit dieses Volkes
erstaunlich wenig anhaben können. Hobbits waren, wenn es hart auf hart
ging, nicht so leicht einzuschüchtern oder umzubringen; und vielleicht wa-
ren sie nicht zuletzt deshalb so gleichbleibend erpicht auf gute Dinge, weil
sie im Ernstfall darauf verzichten konnten und den Katastrophen, Feinden
oder Unbilden des Wetters in einer Weise zu widerstehen vermochten, die
jene erstaunte, die sie nicht gut kannten und nicht mehr sahen als ihre
dicken Bäuche und gutgenährten Gesichter. Obwohl sie nicht händelsüch-
tig waren und kein Vergnügen daran fanden, ein Lebewesen zu töten,
waren sie beherzt, wenn sie sich verteidigen mußten, und verstanden not-
falls mit der Waffe umzugehen. Sie waren gute Bogenschützen, denn sie
hatten scharfe Augen und eine sichere Hand. Und nicht nur mit Pfeil
und Bogen. Wenn sich irgendein Hobbit nach einem Stein bückte, tat man
gut daran, schnell in Deckung zu gehen, wie alle streunenden Tiere sehr
wohl wußten.
Ursprünglich hatten alle Hobbits in Erdhöhlen gelebt, oder glaubten es
wenigstens, und in solchen Behausungen fühlten sie sich noch immer am
heimischsten; aber im Laufe der Zeit mußten sie sich mit anderen Unter-
künften abfinden. In Bilbos Tagen war es im Auenland die Regel, daß
nur die reichsten und die ärmsten Hobbits an der alten Sitte festhielten.
Die ärmsten wohnten nach wie vor in höchst primitiven Höhlen, geradezu
in Löchern mit nur einem oder gar keinem Fenster; die reichsten dagegen
bauten auch jetzt noch in der alten Form, nur in behaglicherer Ausführung
als die anspruchslosen Unterschlüpfe von ehedem. Aber geeignetes Gelände
für diese großen und sich verzweigenden Stollen (oder Smials, wie sie sie
nannten) war nicht überall zu finden; und in den Ebenen und Niederungen
begannen die Hobbits, als sie immer zahlreicher wurden, oberirdisch zu
bauen. Ja, selbst im Hügelland und in den älteren Orten wie Hobbingen und
Buckelstadt oder der bedeutendsten Gemeinde des Auenlands, Michelbinge
auf den Weißen Höhen, gab es jetzt viele Häuser aus Holz, Ziegeln oder
Feldsteinen. Sie wurden besonders von Müllern, Schmieden, Seilern, Wag-
nern und anderen Handwerkern bevorzugt; denn selbst als die Hobbits noch
in Höhlen wohnten, pflegten sie schon längst Schuppen und Werkstätten
zu bauen.
Die Sitte, Bauernhäuser und Scheunen zu bauen, soll zuerst bei den
Bewohnern des Bruchs unten am Brandywein aufgekommen sein. Die
Hobbits in jenem Viertel, dem Ostviertel, waren ziemlich hochgewachsen
und plumpfüßig, und bei Matschwetter trugen sie Zwergenstiefel. Aber
bekanntlich hatten sie ja ein gut Teil Starrenblut in den Adern, wie
schon der Flaum zeigte, den viele auf den Wangen hatten. Kein Harfuß
und auch keine Falbhaut hat je auch nur eine Spur von Bart gehabt. Die
Leute im Bruch und in Bockland, östlich des Stroms, das sie anschließend
besiedelten, waren zum größten Teil später aus dem fernen Süden ins
Auenland gekommen; und sie hatten noch viele eigentümliche Namen
und seltsame Wörter, die sich sonst im Auenland nicht fanden.
Es ist wahrscheinlich, daß die Kunst des Bauens wie so manche andere
Fertigkeit von den Dúnedain stammte. Aber die Hobbits mögen sie auch
unmittelbar von den Elben gelernt haben, den Lehrern der Menschen in
ihrer Jugend. Denn die Elben von adligem Geblüt hatten Mittelerde
noch nicht verlassen, und zu jener Zeit lebten sie weit im Westen in den
Grauen Anfurten und an anderen Orten, die vom Auenland aus erreichbar
waren. Drei Elbentürme aus uralter Zeit waren noch immer jenseits der
Westgrenzen zu sehen. Weithin schimmerten sie im Mondenschein. Der
fernste war am höchsten und stand für sich auf einem grünen Hügel. Die
Hobbits im Westviertel sagten, von seiner Spitze aus könne man das
Meer sehen; doch hat man niemals von einem Hobbit gehört, der hinauf-
gestiegen wäre. Überhaupt hatten wenige Hobbits jemals das Meer
gesehen oder befahren, und noch geringer war die Zahl derer, die zurück-
gekehrt waren, um darüber zu berichten. Die meisten Hobbits betrachte-
ten selbst Flüsse und kleine Boote mit tiefem Argwohn, und nicht viele
von ihnen konnten schwimmen. Und nachdem sie schon längere Zeit im
Auenland gelebt hatten, sprachen sie immer seltener und seltener mit den
Elben, begannen sich vor ihnen zu fürchten und mißtrauten jenen, die
sich mit ihnen einließen; und das Meer wurde der Inbegriff des Schrek-
kens für sie und ein Sinnbild des Todes, und sie wandten den Blick ab
von den Bergen im Westen.
Die Kunst des Bauens mag von den Elben oder den Menschen übernom-
men worden sein, aber die Hobbits übten sie auf ihre eigene Weise aus.
Nach Türmen stand ihnen der Sinn nicht. Ihre Häuser waren gewöhnlich
langgestreckt, niedrig und behaglich. Die ältesten waren tatsächlich nicht
mehr als gebaute Nachbildungen von Smials, mit trockenem Gras oder
Stroh gedeckt oder auch mit Dächern aus Soden und mit Wänden, die
sich ein wenig ausbauchten. Jene Entwicklungsstufe gehörte indes zur
Frühzeit des Auenlands, und seitdem hatte sich die Hobbit-Bauweise
längst gewandelt und vervollkommnet durch Kunstgriffe, die die Hobbits
von den Zwergen gelernt oder selbst erfunden hatten. Eine Vorliebe für
runde Fenster und sogar runde Türen war die wichtigste bleibende Eigen-
tümlichkeit der Hobbit-Architektur.
Die Häuser und Höhlen der Hobbits im Auenland waren oft groß und
von großen Familien bewohnt. (Bilbo und Frodo Beutlin waren als Jung-
gesellen Ausnahmen, wie sie auch in manch anderer Hinsicht Ausnah-
men waren, etwa in ihrer Freundschaft mit den Elben.) Zuweilen, wie im
Falle der Tuks von Groß-Smials oder der Brandybocks vom Brandyschloß,
bewohnten mehrere Generationen gleichzeitig in Frieden und (verhältnis-
mäßiger) Eintracht den angestammten und vielstolligen Familienbesitz.
Überhaupt waren alle Hobbits sehr sippenbewußt und rechneten mit gro-
ßer Sorgfalt ihre sämtlichen Verwandten zusammen. Sie zeichneten lange
und ausführliche Stammbäume mit unzähligen Verzweigungen. Wenn
man sich mit Hobbits befaßt, ist es wichtig sich zu erinnern, wer mit
wem verwandt war und in welchem Grade. Es wäre unmöglich, in diesem
Buch einen Stammbaum wiederzugeben, der auch nur die wichtigeren
Angehörigen der wichtigeren Familien aus der Zeit, von der diese Erzäh-
lungen berichten, aufführte. Die Ahnentafeln am Schluß des Roten
Buches der Westmark sind allein schon ein kleines Buch, und jedermann,
die Hobbits ausgenommen, würde sie überaus langweilig finden. Hobbits
begeisterten sich für solche Dinge, die ihre Richtigkeit hatten: sie liebten
es, Bücher zu haben über Dinge, die sie schon kannten und die klar und
wahr ohne Widersprüche dargelegt waren.


Über Pfeifenkraut
Noch etwas gab es seit alters her bei den Hobbits, das erwähnt werden
muß, ein erstaunlicher Brauch: durch Pfeifen aus Holz oder Ton saugten
oder atmeten sie den Rauch der brennenden Blätter einer Pflanze ein, die
sie Pfeifenkraut oder Blatt nannten, wahrscheinlich eine Art Nicotiana.
In geheimnisvolles Dunkel ist der Ursprung dieser eigentümlichen Sitte
oder »Kunst«, wie die Hobbits sie lieber nannten, gehüllt. Alles, was sich
im Altertum darüber herausfinden ließ, hat Meriadoc Brandybock (der
spätere Herr von Bockland) zusammengestellt, und da er und der Tabak
des Südviertels in unserer Geschichte eine Rolle spielen, sei hier zitiert,
was er im Vorwort zu seiner Kräuterkunde vom Auenland darüber be-
richtet.
»Das«, sagte er, »ist die einzige Kunst, von der wir behaupten können,
daß wir sie erfunden haben. Wann die Hobbits zuerst mit Rauchen began-
nen, ist nicht bekannt, in allen Sagen und Familiengeschichten ist es be-
reits eine Selbstverständlichkeit; schon seit undenklichen Zeiten rauchten
die Leute im Auenland verschiedene Kräuter, manche stinkiger, manche
süßer. Aber alle Berichte stimmen darüber überein, daß Tobold Hornbläser
aus Langgrund im Südviertel in den Tagen von Isegrim dem Zweiten, etwa
um das Jahr 1070 der Auenland-Zeitrechnung, als erster in seinem Garten
das echte Pfeifenkraut zog. Das beste einheimische kommt noch immer
aus jenem Bezirk, besonders die jetzt als Langgrundblatt, Alter Tobi und
Südstern bekannten Sorten.
Wie der alte Tobi zu der Pflanze kam, ist nicht verzeichnet, denn bis
zu seinem Sterbetag wollte er es nicht sagen. Er wußte viel über Kräuter,
aber er war nicht weitgereist. Es heißt, in seiner Jugend sei er oft in Bree
gewesen, obwohl er sich gewiß nie weiter vom Auenland entfernte als bis
dorthin. Deshalb ist es durchaus möglich, daß er in Bree von dieser
Pflanze hörte, wo sie jedenfalls jetzt auf den Südhängen des Berges gut
gedeiht. Die Hobbits von Bree nehmen für sich in Anspruch, die ersten
wirklichen Pfeifenkrautraucher gewesen zu sein. Natürlich behaupten sie
von allem, sie hätten es schon vor den Leuten im Auenland getan, die sie
als >Siedler< bezeichnen; aber in diesem Fall ist ihre Behauptung ver-
mutlich wirklich wahr. Und sicherlich hat sich die Kunst, das echte Kraut
zu rauchen, in den letzten Jahrhunderten von Bree aus unter den
Zwergen und anderem Volk wie Waldläufern, Zauberern oder Wanderern,
die seit eh und je an diesem Kreuzweg vorbeikommen, verbreitet. Heimat
und Mittelpunkt der Kunst sind also in dem alten Gasthaus von Bree,
Zum Tänzelnden Pony, zu suchen, das seit undenklichen Zeiten im Be-
sitz der Familie Butterblume ist.
Beobachtungen, die ich selbst auf meinen vielen Reisen nach dem
Süden machen konnte, haben mich indessen überzeugt, daß das Kraut
nicht zu den einheimischen Pflanzen unseres Teils der Welt gehört, son-
dern nach Norden gekommen ist vom unteren Anduin, wohin es, wie ich
vermute, ursprünglich von den Menschen aus Westernis über das Meer
gebracht worden war. In Gondor wächst es in Hülle und Fülle und ist
üppiger und größer als im Norden, wo es niemals wild vorkommt, son-
dern nur in warmen und geschützten Gegenden wie Langgrund gedeiht.
Die Menschen von Gondor nennen es süße Galenas und schätzen es nur
wegen des Duftes seiner Blüten. Aus jenem Land muß es in den langen
Jahrhunderten zwischen Elendils Ankunft und unseren Tagen über den
Grünweg heraufgebracht worden sein. Aber selbst die Dúnedain von
Gondor gestehen uns das zu: Hobbits steckten es als erste in die Pfeife.
Nicht einmal die Zauberer waren vor uns auf den Gedanken gekommen.
Obwohl ein Zauberer, den ich kannte, die Kunst schon vor langer Zeit
aufgegriffen hatte und ebenso geschickt darin wurde wie in allen anderen
Dingen, deren er sich befleissigte.«


Von der Ordnung im Auenland
Das Auenland zerfiel in vier Teile, die schon erwähnten Viertel: Nord-,
Süd-, Ost- und Westviertel; und diese wiederum in eine Reihe von Stammes-
länder, die noch die Namen einiger der alten führenden Familien trugen, ob-
wohl diese Namen zur Zeit dieser Geschichte nicht nur in ihren eigenen
Stammesländern zu finden waren. Fast alle Tuks lebten noch in Tukland,
aber auf viele andere Familien wie die Beutlins oder Boffins traf das nicht
zu. Außerhalb der Viertel gab es noch die Ost- und die Westmarken: das
Bockland (1127) und die Westmark kamen im Jahr 740 (A. Z.) zum
Auenland.
Zu jener Zeit konnte man im Auenland kaum von einer »Regie-
rung« sprechen. Die meisten Familien regelten ihre Angelegenheiten
selbst. Nahrung anzubauen und sie aufzuessen nahm den größten Teil
ihrer Zeit in Anspruch. In anderen Dingen waren sie gewöhnlich großzü-
gig und nicht gewinnsüchtig, sondern zufrieden und bescheiden, so daß
Güter, Höfe, Werkstätten und kleine Gewerbebetriebe generationenlang
unverändert blieben.
Natürlich hielten sie auch an der alten Überlieferung fest in ihrem Ver-
hältnis zu dem hohen König in Fornost, oder Norburg, wie sie es nannten,
nördlich vom Auenland. Aber es hatte seit fast tausend Jahren keinen König
mehr gegeben, und sogar die Ruinen von Königsnorburg waren von Gras
überwuchert. Und doch sagten die Hobbits immer noch von ungesitteten
Leuten und boshaften Geschöpfen (etwa von Trollen), sie hätten wohl nichts
vom König gehört. Denn alle ihre wesentlichen Gesetze führten sie auf
den König von ehedem zurück; und gewöhnlich befolgten sie die Gesetze
aus freien Stücken, weil es Die Regeln waren (wie sie sagten), seit alters
her und gerecht.
Es ist richtig, daß die Familie Tuk schon lange einen hervorragenden
Platz einnahm; denn das Thain-Amt war einige Jahrhunderte zuvor (von
den Altbocks) auf sie übergegangen, und seitdem hatte immer das Fami-
lienoberhaupt der Tuk diesen Titel geführt. Der Thain war der Vogt der
Volksversammlung vom Auenland und Hauptmann der Auenland-Heer-
schau und der Hobbit-Wehren; aber da Volksversammlung und Heerschau
nur in Notzeiten abgehalten wurden und es keine Notzeiten mehr gab,
war das Amt des Thains nicht mehr als eine Ehrenbezeichnung. Der Familie
Tuk wurde denn auch eine besondere Hochachtung gezollt, denn sie war
weiterhin zahlreich und überaus wohlhabend und brachte gewöhnlich in
jeder Generation starke Charaktere mit absonderlichen Gewohnheiten
und sogar verwegenem Temperament hervor. Diese letzteren Eigenschaften
wurden (bei den Reichen) eher geduldet als allgemein gebilligt. Nichtsde-
stoweniger hielt sich die Sitte, daß das Familienoberhaupt Der Tuk hieß
und seinem Namen, falls erforderlich, eine Zahl hinzugefügt wurde: zum
Beispiel Isegrim der Zweite.
Der einzige wirkliche Beamte im Auenland zu jener Zeit war der Bür-
germeister von Michelbinge (oder vom Auenland), der alle sieben Jahre
auf dem Freimarkt auf den Weißen Höhen an Lithe, das heißt am Mitt-
sommertag, gewählt wurde. Seine einzige Pflicht als Bürgermeister be-
stand darin, als Gastgeber bei Festmählern mitzuwirken, die an den nicht
eben seltenen Feiertagen im Auenland veranstaltet wurden. Aber die
Ämter des Postmeisters und des Ersten Landbüttels waren mit dem Bür-
germeisteramt verbunden, so daß ihm sowohl die Postzustellung als auch
die Wache unterstanden. Das waren die einzigen öffentlichen Dienste im
Auenland, und die Briefträger waren von den beiden die zahlreicheren und
die bei weitem stärker beschäftigten. Keineswegs alle Hobbits waren des
Schreibens mächtig, aber diejenigen, die es waren, schrieben ununterbro-
chen an ihre sämtlichen Freunde (und an einige unter ihren Verwandten),
die weiter als ein Nachmittagsspaziergang entfernt wohnten.
Landbüttel war der Name, den die Hobbits ihrer Polizei gaben, oder der
ihr am meisten entsprechenden Einrichtung, die sie besaßen. Natürlich
hatten sie keine Uniformen (so etwas war völlig unbekannt), sondern nur
eine Feder an der Mütze; und sie waren praktisch eher Feldhüter denn
Polizisten, da sie sich mehr um streunende Tiere als um Leute kümmer-
ten. Im ganzen Auenland gab es für den Inlandsdienst nur zwölf, drei in
jedem Viertel. Eine sehr viel größere Anzahl, die je nach Bedarf
schwankte, war dafür eingesetzt, »die Grenzen abzuschreiten« und dafür zu
sorgen, daß sich Ausländer aller Arten, ob groß oder klein, nicht unlieb-
sam aufführten.
Zu der Zeit, als diese Darstellung beginnt, hatte sich die Zahl der Gren-
zer, wie sie genannt wurden, stark erhöht. Es gingen viele Berichte und
Beschwerden über fremde Personen und Geschöpfe ein, die an den Gren-
zen herumschlichen oder sie sogar überschritten: das erste Anzeichen,
daß nicht alles so war, wie es sein sollte und immer gewesen war außer in
Erzählungen und Sagen aus längstvergangenen Zeiten. Wenige beachteten
das Zeichen, und nicht einmal Bilbo hatte eine Ahnung, was es bedeu-
tete. Sechzig Jahre waren verstrichen, seit er seine denkwürdige Fahrt
angetreten hatte, und selbst für Hobbits, die oft genug die Hundert er-
reichten, war er alt; viel war offenbar noch von den beträchtlichen Reich-
tümern vorhanden, die er damals mitgebracht hatte. Wie viel oder wie
wenig, verriet er niemandem, nicht einmal seinem Lieblingsneffen Frodo.
Und noch immer hielt er den Ring, den er gefunden hatte, geheim.


Vom Ringfund
Eines Tages erschien an Bilbos Tür, wie im Hobbit erzählt wird, der
große Zauberer Gandalf der Graue und mit ihm dreizehn Zwerge: nie-
mand anderes als Thorin Eichenschild, Nachkomme von Königen, und seine
zwölf Gefährten in der Verbannung. Mit ihnen machte Bilbo sich zu seinem
eigenen bleibenden Erstaunen an einem Morgen im April des Jahres 1341
nach Auenland-Zeitrechnung auf die Schatzsuche nach dem Zwergenhort
der Könige unterm Berg unter dem Erebor in Thai, fern im Osten. Die
Suche war erfolgreich, und der Drache, der den Hort bewachte, wurde
getötet. Und obwohl, ehe alles gewonnen war, die Schlacht der Fünf
Heere geliefert und Thorin erschlagen und viele ruhmreiche Taten voll-
bracht wurden, hätte die Angelegenheit doch kaum Bedeutung für die
spätere Geschichte gehabt oder mehr als eine kurze Erwähnung in den
langen Annalen des Dritten Zeitalters verdient, wenn sich nicht ein »Zu-
fall« ereignet hätte. Als die Fahrtgenossen auf dem Weg ins Wilderland
waren, wurden sie auf einem Paß hoch oben im Nebelgebirge von Orks
überfallen; und so geschah es, daß Bilbo eine Weile allein in den schwarzen
Orkminen tief unter dem Gebirge umherirrte, und dort, als er sich ver-
geblich durch das Dunkel tastete, fand seine Hand einen Ring, der auf dem
Boden eines Stollens lag. Er steckte ihn in die Tasche. Es erschien ihm da-
mals bloß als ein glücklicher Zufall.
Als er versuchte, den Weg nach draußen zu finden, stieg Bilbo immer
tiefer hinab zum Fuß des Gebirges, bis er nicht weitergehen konnte. Am
Ende des Stollens erstreckte sich ein kalter See, fern vom Tageslicht, und
auf einer Felseninsel im Wasser lebte Gollum. Das war ein widerwärtiges
kleines Geschöpf: mit seinen großen Plattfüßen paddelte er in einem klei-
nen Boot, schaute mit blassen, leuchtenden Katzenaugen um sich und fing
mit langen Fingern blinde Fische, die er roh verschlang. Er aß jedes Lebe-
wesen, selbst Orks, wenn er sie erwischen und kampflos erwürgen
konnte. Er besaß ein geheimnisvolles Kleinod, das er vor langen Jahren
erhalten hatte, als er noch im Licht lebte: einen goldenen Ring, der seinen
Träger unsichtbar machte. Es war das einzige, was er liebte, sein
»Schatz«, und er führte Gespräche mit ihm, auch wenn er ihn nicht bei
sich hatte. Denn er hielt ihn in einer Höhle auf seiner Insel versteckt
außer wenn er auf Jagd war oder den Orks in den Minen nachstellte.
Vielleicht hätte er Bilbo sofort angegriffen, wenn er, als sie sich begeg-
neten, den Ring bei sich gehabt hätte; aber er hatte ihn nicht, und der
Hobbit hielt ein Elbenmesser in der Hand, das ihm als Schwert diente.
Um Zeit zu gewinnen, forderte Gollum ihn daher zum Rätselspiel auf und
sagte, wenn er ihm ein Rätsel aufgebe, das Bilbo nicht raten könne, würde
er ihn töten und verspeisen; wenn Bilbo ihn aber besiege, würde er tun,
was Bilbo wolle; er würde ihn zu einem Weg bringen, der aus dem Stol-
len herausführe.
Da Bilbo keine Hoffnung hatte, aus der Dunkelheit zu entkommen, und
weder vor- noch zurückgehen konnte, nahm er die Herausforderung an;
und gegenseitig gaben sie sich viele Rätsel auf. Zu guter Letzt gewann
Bilbo, mit mehr Glück als Verstand (wie es schien); denn ihm fiel schließ-
lich einfach kein Rätsel mehr ein, und so rief er, als seine Hand den Ring
fand, den er aufgehoben und vergessen hatte: Was habe ich in meiner
Tasche?
Das konnte Gollum nicht beantworten, obwohl er sich ausbat,
dreimal raten zu dürfen.
Allerdings gehen die Ansichten der Gelehrten darüber, ob diese letzte
Frage nach den strengen Regeln des Spiels bloß eine »Frage« und kein
»Rätsel« war, auseinander; aber alle stimmten darin überein, daß Gollum,
nachdem er die Frage einmal angenommen und sie zu beantworten ver-
sucht hatte, an sein Versprechen gebunden war. Und Bilbo drängte ihn,
sein Wort zu halten; denn ihm war der Gedanke gekommen, dieses
garstige Geschöpf könnte unredlich sein, obwohl doch solche Versprechen
heilig gehalten wurden und seit alters her alle außer den Verruchtesten
sich fürchteten, sie zu brechen. Aber nachdem Gollum so lange allein in
der Dunkelheit gelebt hatte, war sein Herz schwarz und voll Niedertracht.
Er stahl sich davon und paddelte zu seiner Insel, von der Bilbo nichts
wußte, nicht weit entfernt im dunklen Wasser. Dort, glaubte Gollum, läge
sein Ring. Er war jetzt hungrig und wütend, und sobald sein »Schatz« bei
ihm wäre, würde er sich vor keinerlei Waffe fürchten.
Doch der Ring war nicht auf der Insel; er hatte ihn verloren, er war
fort. Sein Aufschrei jagte Bilbo einen Schauer über den Rücken, obwohl
er noch nicht begriff, was geschehen war. Doch Gollum war endlich auf
den richtigen Gedanken gekommen, zu spät. Was hat es in seinen
Taschen?
schrie er. Das Leuchten in seinen Augen war wie eine grüne
Flamme, als er zurückhastete, um den Hobbit umzubringen und seinen
»Schatz« wiederzuerlangen. Im rechten Augenblick erkannte Bilbo die
Gefahr und flüchtete blindlings fort vom Wasser den Gang hinauf; und
wiederum wurde er durch sein Glück gerettet. Denn während er lief,
steckte er die Hand in die Tasche, und unversehens glitt der Ring auf sei-
nen Finger. So kam es, daß Gollum an ihm vorbeirannte, ohne ihn zu
sehen, und weitereilte, um den Ausgang zu bewachen, damit der »Dieb«
nicht entkäme. Vorsichtig folgte Bilbo ihm, während Gollum fluchend
und mit sich selbst von seinem »Schatz« sprechend dahinging; aus diesem
Gerede erriet Bilbo schließlich die Wahrheit, und er schöpfte Hoffnung in
der Dunkelheit: er selbst hatte den wunderbaren Ring gefunden und
damit eine Möglichkeit, den Orks und Gollum zu entkommen.
Schließlich blieben sie vor einer unsichtbaren Öffnung stehen, die zu
den tieferen Toren der Minen auf der Ostseite des Gebirges führte. Dort
kauerte sich Gollum lauernd hin und schnüffelte und lauschte; und Bilbo
war versucht, ihn mit seinem Schwert zu erschlagen. Aber Mitleid über-
kam ihn, und obwohl er. den Ring behielt, weil seine einzige Hoffnung
auf ihm beruhte, wollte er ihn doch nicht benutzen, um mit seiner Hilfe
das unglückliche Geschöpf zu töten, das ihm gegenüber im Nachteil war.
Endlich nahm er seinen ganzen Mut zusammen, sprang im Dunkeln über
Gollum hinweg und floh den Gang entlang, verfolgt von den haßerfüllten
und verzweifelten Rufen seine? Feindes: Dieb! Dieb! Beutlin! Wir hassen
es auf immerdar!

Nun ist es sonderbar, daß dies nicht die Darstellung ist, die Bilbo sei-
nen Gefährten zuerst erzählte. Ihnen berichtete er, Gollum habe verspro-
chen, ihm ein Geschenk zu machen, wenn er das Spiel gewönne; aber als
Gollum das Geschenk auf seiner Insel holen wollte, sei der Schatz ver-
schwunden gewesen: ein Zauberring, den er einmal vor langer Zeit zum
Geburtstag bekommen habe. Bilbo habe erraten, daß das eben der Ring
sei, den er gefunden hatte, und da er das Spiel gewonnen habe, hätte ihm
der Ring ja schon rechtens gehört. Da er aber in einer mißlichen Lage
gewesen sei, habe er nichts davon gesagt und sich von Gollum als Entgelt
anstelle eines Geschenks den Weg nach draußen zeigen lassen. Diesen
Bericht nahm Bilbo auch in seine Erinnerungen auf, und er scheint ihn
niemals selbst abgeändert zu haben, nicht einmal nach der Beratung bei
Elrond. Offenbar tauchte er auch noch in dem Original des Roten Buches
auf, ebenso in verschiedenen Abschriften und Auszügen. Doch enthalten
viele Kopien (als Alternative) auch den wahren Bericht, der zweifellos
aus Aufzeichnungen von Frodo oder Samweis stammt, die beide die
Wahrheit erfuhren, wenngleich es ihnen gegen den Strich gegangen zu
sein scheint, irgend etwas auszulassen, das der alte Hobbit selbst geschrie-
ben hatte.
Gandalf indes glaubte Bilbos erste Darstellung gleich, als er sie hörte,
nicht, und hätte deshalb sehr gern mehr über den Ring gewußt. Schließ-
lieh brachte er nach vielem Fragen den wahren Sachverhalt aus Bilbo
heraus, was eine Zeitlang eine Belastung für ihre Freundschaft war, aber
der Zauberer hielt die Wahrheit wohl für wichtig. Obgleich er darüber
nichts zu Bilbo sagte, fand er es auch wichtig und beunruhigend, daß
der gute Hobbit nicht gleich zu Anfang die Wahrheit gesprochen hatte:
ganz gegen seine sonstige Gewohnheit. Trotzdem war die Idee mit dem
»Geschenk« nicht bloß eine Erfindung, die den Hobbits ähnlich sah. Bilbo
war, wie er später gestand, durch Gollums Gerede, das er mitangehört
hatte, auf den Gedanken gebracht worden; denn Gollum hatte in der Tat
den Ring mehrmals sein »Geburtstagsgeschenk« genannt. Auch das fand
Gandalf merkwürdig und verdächtig; aber wie wir in diesem Buch sehen
werden, bekam er die Wahrheit über diesen Punkt erst viele Jahre später
heraus.
Von Bilbos späteren Abenteuern braucht hier kaum mehr gesagt zu
werden. Mit Hilfe des Ringes entkam er den Orkwachen am Tor und fand
seine Gefährten wieder. Auf seiner Fahrt bediente er sich viele Male des
Ringes, hauptsächlich, um seinen Freunden zu helfen; aber er hielt ihn
vor ihnen geheim, solange er konnte. Nach seiner Heimkehr sprach er nie
wieder mit irgend jemandem außer Gandalf und Frodo über den Ring;
und niemand sonst im Auenland wußte, daß es ihn gab — oder jedenfalls
glaubte Bilbo das. Nur Frodo zeigte er den Bericht über seine Wanderung,
an dem er schrieb.
Sein Schwert Stich hängte Bilbo über den Feuerplatz, und sein wunder-
volles Panzerhemd, ein Geschenk der Zwerge aus dem Drachenschatz,
überließ er als Leihgabe einem Museum, und zwar dem Mathomhaus in
Michelbinge. Doch in einer Schublade in Beutelsend bewahrte er den alten
Mantel und die Kapuze auf, die er auf seinen Fahrten getragen hatte; und
der Ring blieb, durch ein Kettchen gesichert, in seiner Tasche.
Er kehrte heim nach Beutelsend am 22. Juni in seinem zweiundfünfzig-
sten Jahr (A. Z. 1342), und nichts sehr Bemerkenswertes geschah im
Auenland, bis Herr Beutlin mit den Vorbereitungen zur Feier seines ein-
undelfzigsten Geburtstages begann (A. Z. 1401). An diesem Punkt be-
ginnt die Geschichte.


ANMERKUNGEN ZU DEN AUFZEICHNUNGEN VOM AUENLAND
Dadurch, daß die Hobbits selbst eine Rolle gespielt hatten bei den gro-
ßen Ereignissen, die zur Einbeziehung des Auenlands in das Wiederver-
einigte Königreich führten, kam es, daß sie sich am Ende des Dritten Zeit-
alters sehr viel mehr für ihre eigene Geschichte interessierten, und viele
der bisher hauptsächlich mündlichen Überlieferungen wurden gesammelt
und niedergeschrieben. Die bedeutenderen Familien befaßten sich auch
mit den sonstigen Ereignissen im Königreich, und viele ihrer Angehörigen
studierten seine alten Geschichten und Sagen. Als das erste Jahrhundert
des Vierten Zeitalters seinem Ende zuging, gab es im Auenland schon
mehrere Bibliotheken, die viele geschichtliche Bücher und Aufzeichnun-
gen besaßen.
Die größten dieser Sammlungen waren vermutlich in Untertürmen,
Groß-Smials und Brandyschloß. Unser Bericht über das Ende des Dritten
Zeitalters stützt sich im wesentlichen auf das Rote Buch der Westmark.
Diese wichtigste Quelle für die Geschichte des Ringkrieges hieß so, weil
sie in Untertürmen aufbewahrt worden war, dem Heim der Schönkinds,
der Verweser der Westmark *. Eigentlich war es Bilbos persönliches Tage-
buch, das er nach Bruchtal mitgenommen hatte. Frodo brachte es wieder
ins Auenland zurück, und außerdem viele lose Blätter mit Notizen, und
sein Bericht über den Krieg, den er in den Jahren 1420—21 A. Z. schrieb,
füllte fast alle seine Seiten. Aber angefügt und mit ihm zusammen aufbe-
wahrt, wahrscheinlich in einem einzigen roten Einband, waren die drei gro-
ßen, in rotes Leder gebundenen Bände, die Bilbo ihm zum Abschied ge-
schenkt hatte. Diesen vier Bänden war in Westmark ein fünfter hinzuge-
fügt worden, der Erläuterungen, Stammbäume und verschiedene andere
Mitteilungen über die Hobbits, die zum Bund gehörten, enthielt.
Das Original des Roten Buches ist nicht erhalten, aber viele Abschrif-
ten, besonders vom ersten Band, waren für die Nachkommen der Kinder
von Meister Samweis angefertigt worden. Die wichtigste Abschrift hat
indes eine andere Geschichte. Sie wurde in Groß-Smials aufbewahrt, war
aber in Gondor, wahrscheinlich auf Bitten des Urenkels von Peregrin, ge-
schrieben und im Jahre 1592 A. Z. (V. Z. 172) vollendet worden. Der
Schreiber aus dem Süden fügte folgende Anmerkung bei: »Findegil,
Schreiber des Königs, beendete diese Arbeit im Jahre IV 172. Es ist in
allen Einzelheiten eine genaue Abschrift des Buches des Thains in Minas
Tirith. Jenes Buch war eine auf Wunsch von König Elessar angefertigte
Abschrift des Roten Buches der Periannath und wurde ihm von Thain
Peregrin überbracht, als er sich im Jahre IV 64 nach Gondor zurückzog.«
Das Buch des Thains war also die erste Abschrift des Roten Buches und
* Vgl. Anhang B: Bericht über die Jahre 1451, •1462, 1482, und die Anmerkung am
Schluß von Anhang C im dritten Band.

enthielt vieles, was später ausgelassen oder vergessen wurde. In Minas
Tirith kamen viele Anmerkungen und Verbesserungen hinzu, vor allem
von Namen, Wörtern und Zitaten in den elbischen Sprachen; und es
wurde ihm eine gekürzte Fassung von jenen Teilen der Erzählung von
Aragorn
und Armen beigegeben, die nicht in den Bericht über den Krieg
gehören. Die ganze Erzählung soll von Barahir, dem Enkel des Truch-
seß Faramir, bald nach dem Hinscheiden des Königs geschrieben worden
sein. Aber Findegils Abschrift ist vor allem deshalb von Bedeutung, weil
sie allein Bilbos gesamte »Übersetzungen aus dem Eibischen« enthält.
Diese drei Bände erwiesen sich als ein Werk von großer Sachkennt-
nis und Gelehrsamkeit, für das er von 1403—1418 alle ihm in Bruchtal
zugänglichen Quellen, lebende wie geschriebene, benutzt hatte. Frodo
machte indes wenig Gebrauch von ihnen, da sie fast ausschließlich die
Altvorderenzeit behandelten, deshalb sei hier nicht mehr darüber gesagt.
Weil Meriadoc und Peregrin die Häupter ihrer großen Familien wurden
und gleichzeitig ihre Beziehungen zu Rohan und Gondor aufrechterhiel-
ten, gab es in den Bibliotheken von Bockenburg und Buckelstadt so man-
ches, was im Roten Buch nicht vorkam. Im Brandyschloß befanden sich
viele Werke über Eriador und die Geschichte von Rohan. Manche von
ihnen waren von Meriadoc selbst verfaßt oder begonnen worden, obwohl
er im Auenland hauptsächlich bekannt wurde durch seine Kräuterkunde
des Auenlands
und seine Jahreszählung, worin er den Zusammenhang
zwischen den Kalendern von Auenland und von Bree mit denen von Bruch-
tal, Gondor und Rohan darlegte. Auch schrieb er eine kurze Abhand-
lung über Alte Wörter und Namen im Auenland und ließ es sich beson-
ders angelegen sein, die Verwandtschaft mit der Sprache der Rohirrim
bei solchen »Auenlandwörtern« wie Mathom und alten Bestandteilen in
Ortsnamen aufzuzeigen.
Die Bücher in Groß-Smials waren weniger fesselnd für die Leute im
Auenland, wenngleich wichtiger für die größere Geschichte. Keins von
ihnen war von Peregrin geschrieben worden, aber er und seine Nachfolger
sammelten viele Handschriften von Schreibern aus Gondor: hauptsächlich
Kopien oder Zusammenfassungen der Geschichte oder Sagen über Elendil
und seine Erben. Nur hier im Auenland war umfangreiches Material für
die Geschichte von Nûmenor und Saurons Erhebung zu finden. Wahr-
scheinlich wurde in Groß-Smials mit Hilfe von Unterlagen, die Meriadoc
gesammelt hatte, jene Erzählung der Jahre* zusammengestellt. Obwohl
* In stark verkürzter Form bis zum Ende des Dritten Zeitalters in Anhang B (im
dritten Band) wiedergegeben.

die angegebenen Daten, besonders für das Zweite Zeitalter, oft auf Mut-
maßungen beruhten, verdienen sie Aufmerksamkeit. Es ist wahrschein-
lich, daß Meriadoc in Bruchtal, wo er mehr als einen Besuch machte, Bei-
stand und Auskünfte erhielt. Obwohl Elrond aufgebrochen war, sind seine
Söhne zusammen mit einigen der Hochelben noch lange dort geblieben. Es
heißt, Celeborn habe nach dem Hinscheiden von Galadriel dort gewohnt,
aber der Tag ist nicht aufgezeichnet, an dem er sich schließlich zu den
Grauen Anfurten aufmachte und mit ihm die letzte lebende Erinnerung
an die Altvorderenzeit in Mittelerde dahinging.

=>