txt-edition by Rob *Christopher Stasheff* *Der Zauberer Ihrer Majestät* Roman - Deutsche Erstausgabe Deutsche Übersetzung von Edda Petri v 1.0 Titel der amerikanischen Originalausgabe: HER MAJESTY'S WIZARD Copyright (c) 1986 by Christopher Stasheff Copyright (c) 1992 der deutschen Ausgabe und Übersetzung ISBN 3-453-05410-5 *Kapitel 1* Matthew Mantrell beugte sich über den Tisch in der Cafeteria der Universität und tippte mit dem Zeigefinger auf das mit Runen beschriebene Pergament. Er bemühte sich, die Dringlichkeit, die er in sich spürte, seinem Gegenüber zu vermitteln. "Ich sage dir, Paul, dies ist wichtig!" Paul seufzte und schüttelte den Kopf. Dann griff er zur Kaffeetasse. Er warf nicht mal einen flüchtigen Blick auf das Pergament. Irgendwie war es Matt nie gelungen, daß die anderen ihn ernst nahmen. Dabei war er ziemlich groß und hatte sich durch Fechten rank und schlank gehalten. Seine Augen waren wie sein Haar braun und strahlten vor Ehrlichkeit und Wärme. Die Nase war mehr die eines Doktor Watson, nicht die eines Sherlock Holmes. Unglücklicherweise sah er liebenswürdig, freundlich und gutmütig aus. Paul hatte den Kaffee ausgetrunken, räusperte sich und stellte die Tasse ab. "Wenn ich mich recht entsinne", sagte er, "solltest du doch an deiner Dissertation arbeiten, Alter. Wann hast du das letzte Mal etwas für deine Doktorarbeit getan?" "Vor drei Monaten", gab Matt zu. Paul schüttelte den Kopf. "Mann, du mußt endlich in Gang kommen. Viel Zeit bleibt dir nicht mehr." Das stimmte. Matt hatte noch einen Monat im Frühjahrsemester und den Sommer. Danach hieß es: Hinaus ins feindliche Leben - zwei Jahre Assistent am College. Da blieb kaum Zeit, um den Doktor zu machen, ohne den er nicht in die geheiligten Ränge der Professoren aufsteigen konnte. Bei dem Gedanken wurde ihm siedend heiß. Trotzdem erklärte er: "Aber dies _ist_ wichtig! Das spüre ich bis ins Mark." "Und was willst du deinem Doktorvater und den anderen Professoren erzählen? Daß du alles fallenlassen willst, weil - wie du behauptest - dies Fragment aus einer alten Ausgabe der _Njalssaga_ gerutscht ist, als du in der Bibliothek herumgestöbert hast?" "Es ist aber rausgefallen." "Und warum hat es vorher niemand entdeckt? Seit fünfzig Jahren durchforsten sie die Bibliothek. Woher weißt du, ob es nicht ein schlechter Scherz ist?" "Das ist in Runen geschrieben..." "Die du - und weiß der Teufel wie viele andere noch - lesen und schreiben können?" Wieder schüttelte Paul den Kopf. "Ein Fetzen Pergament mit Runen in einer Sprache, die vielleicht deutsches Kauderwelsch sind, vielleicht aber auch Französisch oder Altnordisch, mit Elfen- und Heinzelmännchendialekt vermischt." "Ja doch. Aber ich fühle, daß es eine richtige Sprache ist", entgegnete Matt. Er lächelte gequält. "Die Worte ergeben nur keinen Sinn - noch nicht." "Seit drei Monaten quälst du dich damit ab, die Bedeutung aus den Wurzeln zu erschließen - ohne den geringsten Erfolg." Paul seufzte. "Gib's auf, Mann! Nächsten Monat haben wir Juni und dein Stipendium läuft aus. Deine Dissertation ist nicht fertig, das Ende nicht einmal in Sicht. Ohne Doktortitel siehst du uralt aus." Er warf einen Blick auf die Uhr und stand auf. Dann schlug er Matt auf die Schulter. "Ich muß los. Viel Glück, Alter. Steck den Kopf mal wieder in die Realität, so weit das möglich ist, hm?" Matt sah ihm nach. Natürlich hatte Paul recht - vom knallharten, praktischen Gesichtspunkt aus. Aber Matt _wußte_, daß er auch recht hatte. Er konnte es nur nicht belegen. Seufzend holte er seinen silbernen Kugelschreiber heraus, um ein paar neue Varianten mit den Rätselworten auf dem Pergament auszuprobieren. Sobald er auf das Manuskript schaute, vergaß er alles andere um sich herum. Er spürte, daß er nur auf die schwarzen Zeichen starren und die fremden Phoneme immer wieder aussprechen müsse, um ihren Sinn zu erfassen. Natürlich war das Blödsinn! Er mußte ganz rational an die Entzifferung gehen, indem er von den Wurzeln ausging und sie in die anderen Sprachen einordnete. Na gut! Mit den Wortwurzeln anfangen! _Lalinga _- das allererste Wort. _Lingua_ hieß im Lateinischen >Zunge< oder >Sprache<. _La_ war in den romanischen Sprachen der weibliche Artikel. Aber die nächsten Wörter paßten nicht in dies Muster. _Lalinga wogreus marwold reigor_... Er lehnte sich zurück und holte tief Luft. Er vertiefte sich wieder hinein und murmelte die sinnlosen Wörter vor sich hin... Nein! Nicht sinnlos! Er ergaben einen _Sinn_. Da war er sicher. Wenn er nur den Schlüssel fände... Die Sache ist _gefährlich_, warnte ihn irgend etwas im Hinterstübchen seines Kopfes. _Sehr gefährlich. Dort lauern Drachen _- und Wahnsinn... Matt vergrub das Gesicht in den Händen und massierte die Schläfen. Vielleicht hatte Paul recht. Er brütete viel zu lang über diesem Rätsel. Einfach _weglegen_... Nur noch _einen_ Versuch! Er setzte sich auf und griff entschlossen nach dem Stift. Nur noch den einen Versuch! _Lalinga wogreus marwold reigor Athelstrigen marx alupta Harleng krimorg barlow steigor..._ Hör auf! warnte ihn wieder sein Verstand. _Wenn du zu tief drinsteckst, kommst du nie wieder raus_... Aber Matt konnte nicht aufhören - ganz unterschwellig ließen die Wörter einen Sinn erahnen. Ihm dröhnte der Kopf, doch formten sich darinnen auch Wörter wie Akkorde: "_Du bist, verraten von Zeit und Raum, geboren, deiner Würde ledig..."_ Alles um ihn schien sich zu verfinstern. Nur das Pergament leuchtete. Die Runen darauf schlängelten sich, verschwammen, vereinigten sich... "_In eine Welt schmutzig und schäbig. Erkenne deine Art des Seins, auch die Heimat wird dann dein."_ Das Manuskript wurde dunkel und ließ ihn in einem formlosen, lichtlosen Limbus zurück. Matt erhob sich mühsam, fiel gegen die Wand und preßte den silbernen Kugelschreiber wie einen Talisman.. Doch in seinem Kopf dröhnten die Worte: "_Überwinde Zeit und Raum, Dein wahres Selbst, du kennst es kaum!"_ Welten wirbelten, Sonnen schossen durchs Chaos und rissen Matt mit, daß er sich wie ein Derwisch drehte. Als der Boden unter seinen Füßen wegsackte, wurde ihm schlecht. Seine Knie gaben nach. Matt klammerte sich an einen Balken an der Wand und versuchte, die Augen zu öffnen. Die Sonnen wurden langsamer. Seine Füße fanden wieder festen Boden. Stück für Stück kam der Strudel des Universums zum Halt. Matt lehnte an der Wand und rang nach Luft. Er gab sich Mühe, die Übelkeit zu bekämpfen. Paul hatte recht: Er _hatte_ zuviel gearbeitet... Eine Hand packte ihn an der Schulter. "He, Landsmann! Stell dich woanders hin!" Verwirrt schaute Matt auf - direkt in ein fleischiges, rotes Gesicht mit Vollbart unter einem Ballonbarett. Der Mann trug einen pelzbesetzten Umhang über einer Leinentunika. Die Hand schüttelte ihn. "Hast du nicht gehört? Hau ab von meinem Laden!" Ungläubig starrte Matt ihn an. Die Bedeutung der Worte war glasklar, aber es war nicht Englisch. Es war die Sprache des Manuskripts. Benommen schaute er umher. Wie war er ins Freie gekommen? Besonders in _diese_ Umgebung? Eine enge Straße mit Häusern, deren obere Fachwerkstockwerke über die Grundmauern hinausragten. Kopfsteinpflaster. Wo war er? "Almosen, guter Mann! Almosen für einen Armen." Ein schmutzstarrendes Gesicht war dicht vor ihm. Eine ebenfalls schmutzige, mit Schorf verkrustete Hand hielt ihm eine nicht übermäßig saubere Holzschüssel fast unter die Nase. Der zur Hand gehörige Arm paßte mit seinem ekligen Schorf genau zur Hand. Beides gehörte einer ausgemergelten Figur in Lumpen. Ein schmutziger Fetzen war über die Augen des alten, runzligen Gesichts gebunden. Der Bettler schüttelte wütend die Schüssel. "Almosen, Landsmann! Gib mir Almosen! Aus Nächstenliebe, guter Mann - Almosen!" Die Umgebung paßte zu diesem Mann. Die Gosse war voll Abfall und Unrat, ein Anziehungspunkt für räudige Köter und dreckige Schweine. Vor Matts Augen flitzte eine Ratte aus einem Abfallhaufen. Ein Hund warf sich mit Freudengeheul darauf. Angeekelt wandte Matt sich ab. Übelkeit stieg in ihm auf, wieder suchte er Halt an der Wand. "Er ist krank." Der Bettler klang, als sei er in Panik. So 'ne Übertreibung, dachte Matt. Ihm war nur schwindelig. "Und dauernd lehnt er sich gegen meinen Laden." Der Fleischkloß klang auch besorgt. "Weg da, sage ich!" Matt erinnerte sich an Seuchen im Mittelalter und wie man Fremde als Überträger verfolgte. Mühsam richtete er sich auf und fischte eine Münze aus der Tasche. "Alles in Ordnung. Mir geht's gut." Dann ließ er einen Viertel Dollar in die Schüssel fallen. "Nur ein bißchen schwindelig. Es war eine harte Reise, versteht ihr..." Warum hatte er an Seuchen im _Mittelalter_ gedacht? Der Bettler holte den Vierteldollar aus der Schüssel. Doch mit einem Fluch riß der Händler ihm die Münze aus der Hand. Die Augen traten ihm aus dem Kopf, als er sie betrachtete. Dann blickte er Matt voll Angst an. Diesem wurde plötzlich klar, daß er irgendwie unpassend gekleidet war. Die anderen hier trugen alle in etwa die gleiche Kleidung: Eine kurze Tunika über der Hose, darüber einen Umhang. Allerdings boten sie einen Querschnitt der Mode vom siebten bis zum vierzehnten Jahrhundert. Die meisten waren barfuß. Einige hatten Riemensandalen, andere Schnabelschuhe. Die Kopfbekleidung ging von der einfachen Kappe bis zum aufgeplusterten Barett des Fetten. "Was für ein Mann ist das da?" dröhnte eine neue Stimme. Sie gehörte einem Muskelprotz, der über der Hose mit Hosenträgern eine Lederschürze trug. Statt eines Hemdes zierten interessante Rußmalereien und versengte Haare seine Brust. Sein Hammer - ein viereckiger Eisenblock mit Eichenstiel - war noch bemerkenswerter. Dann waren da noch zwei Typen hinzugekommen. Der eine hatte einen dicken Knotenstock, der andere eine Breitaxt. Alle beäugten ihn feindselig. "Das ist ein Ausländer", brummte der Knotenstock. "Möglich", meinte Ballonmütze. "Er ist vor meinem Laden aufgetaucht, als ich gerade einen Blick auf mein Zählbrett tat. Und seht euch mal diese Münze an! Habt ihr so eine schon mal in der Hand gehabt?" Der Vierteldollar ging von Hand zu Hand, begleitet von Gemurmel und mißtrauischen Mienen. "Viel zu blank", meinte der Schmied. "Sieht aus, wie wenn 'ne Statue vom König geschrumpft ist." "Und diese Präzision!" Ballonmütze schien ein Kenner zu sein, vielleicht war er Silberschmied. "Einfach märchenhaft. Nur ein Zauberer kann diese Münze gemacht haben." "Ein Zauberer!" Die Männer starrten Matt schweigend an. Plötzlich erfaßte er den Schwachsinn der Situation. Er spürte, wie sein Humor die Oberhand gewinnen wollte. Obwohl er dagegen ankämpfte, verlor er - wie üblich. Er hob die Arme und deklamierte lautstark: "Vierhundert und siebenundzwanzig Jahre sind vergangen, seit unsere Vorväter Fuß auf diesen unseren Kontinent setzten. Eine neue Nation..." Wie Kinder beim Zahnarzt wichen die Männer erschreckt zurück und hielten sich zum Schutz die Hände vors Gesicht. Matt verstummte, stemmte die Hände in die Hüften und wartete grinsend ab, was als nächstes passieren würde. Natürlich passierte gar nichts. Langsam ließen die Städter die Arme sinken und musterten ihn ungläubig. Dann röteten sich ihre Gesichter vor Wut. Sie kamen mit geballten Fäusten auf Matt zu. Matt wich zurück, bis der Rauhputz des Hauses ihn am Rücken kratzte. Die Meute brüllte: "Elender, kraftloser Zauberer!"... "Wir lassen uns von dir doch keine Zaubersprüche gefallen!"... "Du widerlicher Hexer!" Hexer? Irgendwie klang das unschön. Da war >Zauberer< schon besser. Ehe er sich verprügeln ließ, wollte Matt es noch mal versuchen. Er streckte ihnen den Zeigefinger entgegen und rief laut: "_Auf die Türen, auf die Mauern! Sucht euch einen Platz zum Kauern!"_ Ein lautes _Flopp_ erklang. Matt stand plötzlich auf einer leeren Straße. Nur am anderen Ende standen ein paar Neugierige. Er blinzelte und schüttelte den Kopf. Das konnte nicht sein! Wohin waren Ballonmütze und seine Freunde verschwunden? Matt sah sich suchend nach einer Veranda um. Nirgendwo eine Veranda. Lediglich eine niedrige Mauer stand etwa fünfzig Fuß weiter unten rechts an der Straße. Auf ihr kauerten vier stöhnende Figuren. Eine schaute auf - der Schmied. Er starrte Matt an. Matt starrte zurück. Dann verzerrte Wut das Gesicht des Schmieds. Mit einem Schrei sprang er von der Mauer herab und lief hammerschwingend auf Matt zu. Ballonmütze und die anderen Burschen folgten ihm mit Jubelgebrüll. Auch alle anderen auf der Straße folgten ihnen - selbstverständlich überließen sie dem Schmied die Führung. Es war keine Zeit, lange nachzudenken. Matt trat zurück und beugte seinen linken Arm, als hielte er ein Buch. Mit der rechten reckte er eine imaginäre Fackel hoch in die Luft. "_Bringt sie zu mir, die Müden und Armen, die geknechteten Massen, welche dürsten nach Freiheit."_ Sie marschierten weiter - ein heulender Mob, der den Fremdling angriff, welcher sich einer geheimen Sprache bediente. "_Die Vergessenen, Heimatlosen, den Abschaum! Alle zu mir! Ich geb' ihnen Raum!"_ Die Meute war nur mehr sechs Meter entfernt; aber Matt mußte Atem schöpfen, da er plötzlich einen steilen Berg erklomm. Schweißüberströmt kämpfte er wie gegen ein riesiges Kraftfeld, das ihn plötzlich eingeschlossen hatte. Mit letzter Kraft stieß er die letzte Zeile hervor: "_Und bei der güldenen Pforte wird leuchten mein Stab!"_ Ein Donnerschlag traf die Straße. Die Männer schrien. Matt schloß ganz fest die Augen. Als er sie wieder öffnete, war die Straße voller Menschen. Alle in Lumpen und mit sämtlichem Ungeziefer der Welt behaftet. Jeder Bettler der Stadt mußte plötzlich hierhergekommen sein. Aber warum gab es so viele Orientalen in einer mittelalterlichen europäischen Stadt? Waren das da drüben rechts nicht Hindus? Die Bettler richteten sich langsam auf. Mit offenen Mäulern starrten sie einander an. Dann erhob sich wieder lautes Geschrei. Alle waren furchtbar aufgeregt. Mit einem Ruck hatte Matt den klaren Verstand wiedergewonnen. Wenn du im Poker eine Straße hast, kassiere ab! Er sprang in die Menge und bahnte sich mit Ellenbogen und Stiefeln einen Weg durch sie hindurch. Hände griffen nach seinem Gürtel und suchten nach seinem Geldbeutel. Er dankte dem Himmel, daß die Kerle nichts von Taschen wußten. Eine Hand hielt er auf seiner Brieftasche, während er sich durch die letzten Reihen ins Freie zwängte. Dort holte er erstmal tief Luft und ging schnell weiter. Hinter ihm herrschte plötzlich ein unheilvolles Schweigen. Matt ging weiter. Dann rief jemand: "Da geht der Zauberer! Laßt ihn nicht entkommen!" Mit lautem, begeistertem Aufschrei setzte sich die Meute wieder in Bewegung. Hunderte von Füßen donnerten los. Matt dachte gar nicht daran, noch mal den Magier zu spielen, ehe er wußte, von wem das Drehbuch stammte. Er rannte weiter. Die Bettler stürmten mit Freudengebrüll hinterher. Sie genossen es, endlich mal die Verfolger zu sein. Matt rief sich ins Bewußtsein, daß er in der Schule ein Leichtathletikstar gewesen war, und legte sich voll ins Zeug. Aber die Schulzeit lag schon ein paar Jährchen zurück. Matt machte sich nicht die Mühe zu überlegen, woher die Bettler gekommen waren. Er mußte viel zu sehr keuchen. Dumpf erinnerte er sich, daß er sie gerufen hatte - doch jetzt riefen sie nach ihm. Und er hatte absolut keine Lust, ihnen zu gehorchen. Glücklicherweise hatten die Bettler auch keine besonders gute Kondition - Matt _hatte_ etwas Diesbezügliches zitiert. Als er einen gewissen Vorsprung hatte, bog er blitzschnell um eine Ecke - und rannte direkt in die Arme der Gendarme, die auf Kriegsrossen saßen und Lederhemden mit Eisenkettenbesatz trugen. Der grauhaarige Mann an der Spitze beugte sich herab und packte Matt am Arm, als dieser vorüberlaufen wollte. Er hatte einen recht kräftigen Griff. Damit riß er Matt gegen die Flanke des Pferdes. "Moment mal", knurrte er ihn an. "Wohin willst du denn so eilig?" "_Dorthin_!" Matt zeigte nach vorn. "Ich versuche, meine Vergangenheit hinter mir zu lassen." Da kam schon die Vorhut der Bettler um die Ecke. Sobald sie die Soldaten sahen, blieben sie wie angenagelt stehen. Dann überrollte sie die zweite Welle, so daß sie aufs Pflaster fielen. Kaum war die zweite Welle beim Anblick der Soldaten stehengeblieben, stürmte schon die dritte heran, welche dann wieder Opfer der vierten wurde. Der Sergeant, oder was auch immer er war, lehnte sich nur im Sattel zurück und sah seelenruhig mit der Andeutung eines Lächelns zu. Er hielt Matt immer noch mit seinem Schraubstockgriff fest. Als die gesamte Meute mehr oder weniger stehengeblieben war, brüllte der Sergeant wie ein Stier hinüber: "Was geht hier vor?" Zu Matt fügte er hinzu: "Du hast eine beachtliche Vergangenheit, mein Freund." Der Mob wurde ruhig. Ganz hinten räusperte sich jemand. Dann schob sich Ballonmütze wichtigtuerisch nach vorn. "Dieser Mann ist ein Zauberer!" "Ach wirklich?" meinte der Sergeant überfreundlich. "Nun, das erklärt sein fremdländisches Gewand. Welche Zaubereien hat er begangen?" Ballonmütze ließ eine Geschichte los, die selbst Walpole Ehre gemacht hätte und in der Matt eine bedeutende und unheimliche Rolle spielte. Er hatte nicht nur ein Gewitter direkt vor Ballonmützes Laden herabbeschworen, sondern auch Eisen in Silber verwandelt, die Erde vor den Füßen vier braver Bürger sich spalten lassen und die Ehre der Nation beschmutzt, indem er eine Horde ungelernter Arbeiter herbeigerufen hatte - die zweifellos den Einheimischen die Arbeitsplätze wegnehmen würden - und einen ehrlichen Bäcker in eine Kröte verwandelt. "Das ist glatte Verleumdung!" schrie Matt. "Ich habe niemals jemanden in eine Kröte verwandelt." "Aber die anderen Dinge hast du gemacht?" Dieser Sergeant war ein schneller Denker. Was konnte Matt sagen? "Na ja... hm..." "Das dachte ich mir." Der Sergeant nickte zufrieden. "Nun denn, Meister Zauberer..." "Magier", verbesserte ihn Matt. Er wollte gleich von Anfang an möglichst alles klarstellen. "Nicht Zauberer. Keinerlei Verkehr mit dem Teufel. Nie. Daher Magier." Der Sergeant zuckte mit den Achseln. "Na schön, Magier. Wirst du dich jetzt mit einem Augenzwinkern von uns wegheben? Oder kommst du mit auf die Wache, damit unser Hauptmann entscheiden kann, was mit dir geschehen soll?" "Hm..." Matt warf einen Blick auf den Mob. Seit Ballonmützes Bemerkung über Gastarbeiter hatten sich die Mienen noch mehr verfinstert. Die herbeigeeilten Bürger murmelten aufgebracht. Da traf Matt eine impulsive Entscheidung. "Hm, ich glaube, ich komme mit, Sergeant." Auf dem Weg zur Wachstube hatte er etwas Zeit, alles zu überdenken. Es lief auf die einfache Frage hinaus: Was war passiert? Wo war er? _Wann_ war er? Wie kam er hierher? Woher kamen alle diese Bettler? Und wieso patrouillierten Soldaten in einer Stadt? Warum brachten sie ihn zum Hauptmann anstatt zu einem Ratsherrn? Offensichtlich herrschte hier Kriegsrecht - was bedeutete, daß die Stadt erst kürzlich erobert worden war. Aber von wem? Die Soldaten sprachen dieselbe Sprache wie die Zivilisten - sogar mit demselben Akzent. Es mußte sich also um einen Bürgerkrieg gehandelt haben. Das bedeutete in der mittelalterlichen Gesellschaft entweder einen dynastischen Streit - wie die Rosenkriege - oder eine widerrechtliche Machtergreifung. Aber warum hatte der Sergeant vor einem sich bekennenden Magier keine Angst? Vielleicht war er ein Skeptiker und hielt jede Art von Magie für dummes Zeug. Wenn man aber bedachte, daß selbst die meisten der hohen Gelehrten im Mittelalter an Magie glaubten, war das unwahrscheinlich. Damit blieb nur die Möglichkeit, daß er deshalb keine Angst hatte, weil er wußte, daß ihn ein noch mächtigerer Zauberer oder Magier beschützte. Das konnte Matt aber völlig egal sein, da Magie tatsächlich nichts als dummes Zeug war. Aber woher waren denn nur all die Bettler gekommen? Der Hauptmann war ein großer, dunkler, gutaussehender Typ, den ein undefinierbarer Hauch von Aristokratie umgab. Vielleicht lag das an dem Samtumhang über der funkelnden Rüstung. "Du hast etwas Fremdländisches an dir", teilte er Matt mit. Matt nickte. "Ich _bin_ Ausländer." Der Hauptmann zog die Brauen hoch. "Ach was! Und aus welchem Land?" "Nun, das hängt davon ab, wo ich jetzt bin." Der Hauptmann runzelte die Stirn. "Wie ist das möglich?" "Das ist nicht so einfach, glaub mir. _Wo_ bin ich?" Jetzt musterte der Hauptmann Matt mißtrauisch von der Seite. "Wie kannst du hierhergekommen sein und nicht wissen, wohin du gekommen bist?" "Genauso, wie du nicht weißt, wohin du gekommen bist, wenn du an einem unbekannten Ort angekommen bist, ohne zu wissen, wie du dorthingekommen bist. Bis du herausgefunden hast, wohin du nun gekommen bist, kannst du nicht sagen, wohin du gekommen oder gegangen bist." Der Hauptmann schüttelte den Kopf. "Stimmt." "Deshalb weiß ich es auch nicht. Also _wo_ bin ich?" "Aber..." Der Hauptmann dachte angestrengt nach. Dann seufzte er und gab auf. "Na schön. Du bist in der Stadt Bordestang, der Hauptstadt von Merovence. Und nun sag mir, woher du kommst." "Ich weiß es nicht." "Was?" Der Hauptmann beugte sich über die rohen Bretter des Tisches vor. "Immer noch nicht? Das ist doch unmöglich." "Nun, ich wüßte, wo ich wäre, wenn ich am richtigen Ort wäre; aber ich bin am falschen Ort, deshalb weiß ich nicht, wo es ist. Das heißt, natürlich weiß ich, wo es ist, aber ich weiß nicht, wie man das Land hier nennt - wenn es überhaupt existiert." Der Hauptmann kniff die Augen zusammen und schüttelte kurz den Kopf. "Einen Moment mal. Willst du etwa sagen, daß du unseren Namen für dein Heimatland nicht kennst?" "Ja, so könnte man es ausdrücken." "Kein Problem." Erleichtert lehnte sich der Hauptmann zurück. Matt blickte über seine Schulter auf den Halbkreis der Soldaten. Der Sergeant ließ ihn nicht aus den Augen. Matt versuchte, die plötzliche Angst zu verdrängen, und schaute wieder den Hauptmann an. "Sage uns, wo dein Heimatland liegt", forderte ihn der Hauptmann auf. "Dann nenne ich dir unseren Namen dafür." "Ja, das klingt fair." Matt nickte. "Da ist nur eine winzige Schwierigkeit - ich habe meine Landkarte zu Hause gelassen. Daher kann ich nicht sagen, in welcher Richtung meine Heimat liegt, bis ich nicht mehr über die Lage dieses Landes weiß." Der Hauptmann warf die Hände in die Luft. "Was muß ich tun? Dir den ganzen Kontinent beschreiben?" "Ja, das würde bestimmt helfen." Einen Augenblick dachte Matt, er sei zu weit gegangen. Das Gesicht des Hauptmanns war rot angelaufen. Doch behielt er die Beherrschung. Er atmete ein paarmal tief durch. Dann stand er auf und ging zu einem Regal, das aus rohen Brettern gezimmert war, wie das meiste im Raum. Ja, der Krieg war offensichtlich noch nicht lange vorbei. "Hier!" Der Hauptmann legte Matt einen riesigen Pergamentband vor. Matt warf einen Blick darauf - und schluckte schwer. Vor ihm lag eine Karte Europas - mit einigen Abänderungen. Europa sah wie Napoleons oder Hitlers Traumwelt aus - der Ärmelkanal war verschwunden. Dover und Calais waren durch festes Land verbunden. Dänemark war mit Schweden vereinigt, und Sizilien klebte fest an der Stiefelspitze Italiens. Hier stimmte mit absoluter Gewißheit einiges nicht! Matt überlegte, wie wohl Australien und Neuseeland aussahen oder die Meerenge von Panama. Plötzlich kam ihm eine Idee. "Wie ist das Klima hier?" Er zeigte auf London. "Einigermaßen warm im Winter? Jede Menge Regen? Dichter Nebel?" Der Hauptmann blickte ihn völlig überrascht an. "Aber keineswegs! Im Winter ist alles eine Eiswüste. Die Schneewehen werden anderthalbmal so hoch wie ein Mann." Das klärte alles. "Gibt es auch Eisfelder, die niemals schmelzen?" "Ja, das wird behauptet - in den Bergen im Norden. Du bist offenbar dort gewesen?" Gletscher im schottischen Hochland! "Nein, aber ich habe Bilder davon gesehen." Keine Frage - eine Eiszeit war im Anrücken. Ob die Uhr der Natur oder die der Geschichte falsch ging, spielte keine Rolle. Alles lief auf das eine hinaus: Matt war nicht in seinem eigenen Universum. Der Wind von diesen schottischen Gletschern blies durch Matts Seele und drang mit seiner Eiseskälte bis zu seinem innersten Wesen vor. Einen Augenblick lang fühlte er sich schrecklich verloren und einsam. Die warm erleuchteten Fenster der Universität schienen unendlich weit entfernt zu sein. "Wir sind hier." Der Hauptmann legte die Fingerspitze auf einen Punkt etwa hundert Meilen östlich der Pyrenäen und fünfzig Meilen nördlich des Mittelmeers. "Weißt du jetzt, wo du dich befindest?" Matt riß sich zusammen. "Nein. Ich meine - doch im Prinzip ja. Ich glaube jedenfalls." "Gut!" Der Hauptmann nickte befriedigt. "Und wo ist nun dein Heimatland?" "Oh, ungefähr dort." Matt deutete auf einen Punkt, der sich etwa einen halben Meter links von der Karte befand. Der Hauptmann lief wieder rot an. "Ich habe mich wirklich bemüht, dir auf jede erdenkliche Weise zu helfen. Und so vergiltst du mir meine Höflichkeit!" "Nein, nein! Ich meine das im Ernst. Es _gibt_ wirklich da draußen ein Land - ungefähr dreitausend Meilen nach Westen. Dort wurde ich geboren. Allerdings nehme ich an, daß es sich sehr verändert hat, seit ich es verließ. Ich glaube sogar, daß ich es kaum wiedererkennen würde." "Da hat es Gerüchte gegeben", meinte der Sergeant. "Ja, ja. Von einem immer warmen Land, in dem der Wein wild wächst und das von einem heiligen Magier regiert wird und voller Fabeltiere ist!" fuhr ihn der Hauptmann an. "Ein Land, das Träumer gesehen haben, das aus den Resten ihrer Weinbecher aufgestiegen ist! Du kannst doch nicht so töricht sein, diese Märchen zu glauben!" "Na ja, man müßte ein paar Abstriche machen." Matt lächelte und war plötzlich ganz ruhig. "Aber selbst bei der Klimaveränderung müßten die Winter in Louisiana immer noch warm sein. Und die wilden Concord-Trauben sind etwas sauer, schmecken aber wirklich gut. Magier gedeihen _tatsächlich_ dort - zumindest, als ich dort lebte. Allerdings nannten wir sie nicht so." Im Raum war alles mucksmäuschenstill. Matt war sicher, daß er die volle Aufmerksamkeit aller Anwesenden hatte. Der Hauptmann leckte sich die Lippen. "Und du bist so ein Magier?" "Wer - ich?" Verblüfft sah Matt ihn an. "Du lieber Gott, nein! Ich weiß kaum, was ein Atom _ist, ganz_ zu schweigen von seiner Spaltung!" Der Hauptmann nickte. "Von Atomen habe ich gehört - das ist ein Zauber eines alten griechischen Alchemisten." Matt konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. "Demokrit war nun wirklich kein Zauberer." "Er weiß über solche Dinge Bescheid", sagte der Sergeant beeindruckt. "Er kennt sogar die Namen", stimmte ihm der Hauptmann zu. Entgeistert starrte Matt ihn an. "He, Moment mal! Du glaubst doch nicht im Ernst, daß _ich_..." "Weißt du, wie man Blei in Gold verwandelt?" fuhr ihn der Hauptmann barsch an. "Nicht genau. Nur so in groben Zügen. Dazu braucht man ein Zyklotron und dann..." Matt beendete den Satz nicht. Er hatte _nie_ gelernt, zum richtigen Zeitpunkt zu lügen. Der Hauptmann drehte sich so schnell um, daß sein Samtumhang wirbelte. "Genug! Wir wissen jetzt, daß er ein Zauberer ist. Mehr brauchen wir nicht zu wissen!" "Magier!" verbesserte ihn Matt bedrückt. "Nicht Zauberer!" Ungeduldig zuckte der Hauptmann mit den Schultern. "Zauberer, Magier - läuft alles aufs gleiche hinaus. Darüber muß an höherer Stelle, als ich es bin, entschieden werden." Der Sergeant hob eine Braue. Der Hauptmann nickte. "Ja, schafft ihn ins Schloß!" *Kapitel 2* Sie legten ihn in Ketten, von denen allerdings eine aus Silber war, und schoben ihn auf einem Ochsenkarren auf dem Weg zur Obrigkeit - das war wörtlich so; denn es ging die ganze Zeit bergauf. Sie kamen durch die winkeligen Gassen, deren Häuser eine Mischung aller Architekturstilrichtungen von 600 bis 1300 n. Chr. aufwiesen. Dies war für eine europäische Stadt nicht ungewöhnlich. Matt störte nur, daß einige der Läden aus dem siebten Jahrhundert so neu wie die aus dem vierzehnten aussahen. Er gab auf, die historischen Perioden irgendwie in die Zeit zu ordnen. Offensichtlich hatte jedes Universum seine eigene Abfolge. Das erinnerte ihn daran, daß er himmelweit von zu Hause entfernt war. Was hatte in dem Pergamentfragment gestanden? "Überspringe die Leere von Zeit und Raum..." Plötzlich stand ihm ganz lebendig ein Bild vor Augen, auf dem sich eine unendliche Zahl von Zeitlinien kreuzten. Der Gedanke ließ ihn erschauern. Genug! Er war in einem fremden Universum. Weiter wollte er im Augenblick nicht denken. Es war eines, in dem die Eiszeit sich lange gehalten hatte oder die Menschheit sehr früh aufgetreten war. Wie viele Knoten würde das noch geben - bei dem langen Faden der Geschichte? Wenn man bedachte, daß England noch mit Frankreich fest verbunden war - eine ganze Menge. Auch wenn die Briten wohl kaum eine Mauer über die schmale Landzunge gebaut hätten, welche Calais mit Dover verband, - die Römer hätten das bestimmt getan. Wahrscheinlich bauten die Brito-Römer eine solche Mauer, um die Goten abzuwehren, als es mit dem römischen Reich schon dem Ende zuging. Sofern es hier ein Rom gegeben hatte. Angenommen, es hatte ein Rom gegeben. Die Sprache wies einige Wurzelwörter auf, die mit dem Lateinischen verwandt zu sein schienen. Der Hauptmann hatte das alte Griechenland erwähnt. Die Historie schien in beiden Fällen etwa parallel zu verlaufen. Also hatte es wohl ein Reich ums Mittelmeer gegeben, das Rom entsprach. Okay. Mit dem Niedergang Roms hätten dann die Brito-Römer eine Mauer errichtet, die bestimmt so wirkungsvoll war wie die Hadrians - welche die Analog-Goten einfach ignorierten. Die Dänen waren bestimmt ebenso fröhlich angesegelt wie in Matts Welt. Dann mußte England seine übliche bunte Mischung der verschiedensten Völker und Kulturen haben, vielleicht nur etwas beschleunigt. Traf das auch die Eroberung durch die Engländer zu? Möglich war es. Henry II. hatte ebensoviel von Frankreich erobert, wie er sich durch Heirat oder Erbschaft unter den Nagel gerissen hatte. Und Knut war gleichzeitig König von Norwegen, Dänemark und England - regierte aber von England aus. Wenn ein ehrgeiziger Engländer in dieses Universum geraten wäre, hätte er den ganzen Laden übernehmen können, da er sich um Nachschubverbindungen für die Marine keine Sorgen machen mußte. Das erklärte auch den Einfluß des Englischen auf die Sprache in Südfrankreich. Vielleicht _hatte_ Knut es getan. In seiner Macht stand es, dem Meer zu gebieten, _nicht_ hereinzufließen... Eine Sekunde lang überlegte Matt, ob es nicht eine bessere Erklärung für die niedrige Wasserlinie gab als Vergletscherung. Schließlich schien in diesem Universum die Magie prima zu funktionieren... Er riß sich aus diesem mystischen Sumpf. Dort lagen nur Drachen. Magie war nichts als Aberglauben und ein interessantes akademisches Forschungsgebiet. Sie funktionierte nirgendwo. Es gab eine völlig logische Erklärung für das Auftreten so vieler Bettler! Wenn er nur draufkäme... Er schüttelte den Kopf, um die Flut der Spekulationen zu verscheuchen, und schaute die enge, gewundene Straße hinauf. Dort stand ein viereckiges, bedrohlich wirkendes Schloß aus Granit. Trotz der vielen mittelalterlichen Dinge, welche er heute schon gesehen hatte, lief es ihm kalt über den Rücken. Das Schloß wirkte so verdammt militärisch, so _echt_... Die Eisenzähne des Fallgatters schienen ihn beißen zu wollen, als sie über die Zugbrücke rollten. Wehmütig wünschte Matt sich mit jeder Faser seines Herzens, wieder in seiner unaufgeräumten Küche in seiner winzigen Studentenbude zu sein und nirgendwo anders. _Daheim_... Er wurde durch eine Reihe zugiger, kalter Korridore geführt, von denen einige Schießscharten hatten. Ab und zu brannte eine Fackel. Manche wiesen weder das eine noch das andere auf. Die Steintreppe, die sie hinaufmarschierten, war breit genug für eine Armee. Dafür war sie wahrscheinlich auch gebaut worden. Hier war es ebenfalls dunkel und noch kälter. Die Wachen bogen plötzlich nach links ab und schoben ihn durch eine schwere Eichentür in ein Arbeitszimmer mit zwei großen Fenstern, die das Sonnenlicht durch echtes _Glas_ hereinließen. Warum keine Schießscharten? Matt wagte einen Blick nach unten und sah, wie im Hof Soldaten exerzierten. Der Raum war eigentlich nicht unfreundlich. An zwei Wänden hingen riesige Gobelins, auf einem war die Belagerung einer Burg dargestellt, auf dem anderen eine Hirschjagd. Den Boden bedeckte ein herrlicher roter arabischer Teppich. Dann _war_ Spanien also den Mauren in die Hände gefallen. Das bedeutete, daß dieses _Universum_ seinen Mohammed gehabt hatte, wahrscheinlich auch Karl Martell und Roland. Letzterer Held war hier eher denkbar als zu Hause. Die Möblierung war erstaunlich kärglich - ein hohes Schreibpult mit einem Hocker, ein großer, schwerer Tisch mit einem wie eine Sanduhr geformten Stuhl vor den Fenstern. Die Soldaten ketteten Matt an einen eisernen Fackelhalter und machten sich so schnell davon, daß man hätte annehmen können, die überhebliche Einstellung des Sergeanten Zauberern gegenüber sei entweder gespielt oder ein Einzelfall. Matt war allein und konnte nachdenken. Er schaute sich in dem Arbeitszimmer um. Es gefiel ihm überhaupt nicht. Nach den düsteren Gängen war hier alles viel zu freundlich. Es war eine Falle. Ein Mann trat herein. Er war über einen Meter achtzig groß, hatte einen Bauch und kleine, tiefliegende Augen in einem aufgeschwemmten Gesicht. Der Mund war zwei Größen zu klein, die Nase glich einem Schweinerüssel. Er trug rote, spitze Schuhe, hellgelbe Beinkleider, ein knielanges purpurrotes Gewand und eine Krone. Matt hätte sich am liebsten in der Wand verkrochen. Da klatschte ihm schon eine Hand ins Gesicht. "Zeige Respekt, Schwindler! Schau deinen König an, wenn du in seiner Gegenwart bist!" Matt schaute ihn an, wenn auch sein Blick etwas verschwommen war. Hinter dem König öffnete sich die Tür. Ein halbes Dutzend Wachen kamen herein. Trotz Schmerzen und Angst überlegte Matt, daß ihre Anwesenheit wohl die Großspurigkeit des Königs erklärte. Der König schritt vor Matt hin und her. "Das ist also der mächtige Zauberer aus der Fabelwelt westlich des Meeres! Die Männer dort sind offenbar schwach und klein. Welchen Zauber könnte so _einer_ schon ausführen? Bestimmt nichts, wovor man sich fürchten muß." Wieder schlug die Hand zu, daß Matts Kopf gegen die Mauer donnerte. "Antworte, Zauberer!" Matt blinzelte. "Äh... ich... es war mir nicht klar, daß ich gefragt wurde." "Machst du dich über mich lustig?" Der König ballte die Faust. "Nein, nein!" rief Matt in Panik. "Ich versichere Euch meines größten Respekts..." Da traf ihn die Faust in den Magen. Matt traten die Augen vor Schmerz heraus. Er konnte nur noch gurgeln. "Warum antwortest du nicht?" Der nächste Schlag erwischte ihn unterm Kinn. "Verdammte Unverschämtheit!" schrie der König und versetzte Matt eine Ohrfeige. Der Raum wurde dunkel. Lichtpunkte tanzten vor ihm. Im Hintergrund hörte Matt den König lachen. "Und das soll der furchteinflößende Zauberer sein, der mitten in der Stadt eine Armee herbeizauberte? Wo ist denn jetzt deine Macht? Verschwunden, weil du endlich einem richtigen Mann mit Fleisch auf den Knochen begegnet bist! Jetzt hat dich der Mut verlassen, und die Feigheit, die dich überhaupt zur Zauberei getrieben hat, ist wieder zum Vorschein gekommen. Verzaubere mich doch, du mieser Wurm! Wagst du es auch noch, wenn du einem starken Mann gegenüberstehst?" Der König schnaufte verächtlich. Dann schlug er Matt mit dem Handrücken übers Gesicht. Matt fühlte, wie Blut aus seiner Nase floß. Da geriet er in Wut und rief laut: "_Heftig hob er seine Keule, laut erklang sein Kampfgeschrei. Und das kleine Königlein auf der Stirne hat eine Beule!"_ Der Kopf des Königs fuhr zurück und riß den Körper gleich mit. Er segelte fünf Fuß nach hinten in seine Wache hinein. Sie beugten sich über ihn, um ihn aufzuheben, und tätschelten sein Gesicht. Einer rief nach Branntwein. Matt starrte ihn an. In seinem Hinterkopf sagte eine Stimme: "O Mann! Habe _ich_ das getan?" Einer schob dem König einen Weinschlauch in den Mund. Er würgte. Dann krümmte er sich und spuckte den Branntwein auf den Boden. Nachdem er längere Zeit gehustet hatte, schaute er Matt mit seinen kleinen, rotgeränderten Augen an. Darin stand das Todesurteil geschrieben. Matt wich zurück, als sich der König langsam und mordlüstern erhob. Er hatte einen Fehler gemacht. Das war ihm jetzt klar. Er hätte gleich einen anderen Zauberspruch sagen sollen, als der König noch bewußtlos war. Mein Gott, was dachte er da? Er war doch kein Zauberer! Vielleicht konnte er aber den König überrumpeln. Er beschwor jedes Iota von kalter Verachtung herauf, dessen er mächtig war. "Lerne deine Lektion, königlicher Herr, und sprich mich als Magier an, wie es mir zusteht. Ich bin kein Zauberer!" "Aber ich", ertönte eine Samtstimme von der Tür her. Es war äußerst lehrreich zu sehen, wie der König klein wurde. Ängstlich und überrascht blickte er zur Tür. Der arrogante Raufbold hatte sich in ein verängstigtes Kätzchen verwandelt, das sich bemühte, nicht zu vergessen, daß es ein Krieger war. Der Mann, der sich als Zauberer bekannt hatte, schwebte mit leisem Samtrauschen in den Raum. Er war ein großer, schlanker Kerl in einem bodenlangen schwarzen Gewand und einem spitzen schwarzen Hut, der ebenso wie das Gewand mit blutroten magischen Symbolen bestickt war - Pentagrammen, Runen und anderen Zeichen, die Matt nicht kannte. Er war ein dunkler Typ, mit schwarzen Brauen sowie einem Schnurrbart und schmalen Bart ums Kinn herum. Sein Haar war ebenfalls schwarz und wellig. Er lächelte - höflich und weltmännisch, und so hinterlistig wie ein Findling im kalifornischen Treibsand. Mitleidig betrachtete er den König und schnalzte dabei mit der Zunge. "So eine Schande, Astaulf - es hat zurückgebissen! Wirst du denn nie lernen, die magischen Sachen denen zu überlassen, die sie beherrschen?" Er warf einen Blick auf Matt."Eigentlich siehst du ganz harmlos aus - aber man soll immer auf Nummer Sicher gehen." Er richtete den Zeigefinger auf Matt und stimmte einen kurzen Zauberspruch in einer Geheimsprache an. Matt schrie auf, als sich glühendheiße Eisen in seinen Bauch bohrten. Er hätte weitergeschrien; aber sein Zwerchfell verkrampfte sich. Er bekam keine Luft mehr. König Astaulf zog sich an einem Wachposten hoch. "Ich kann kleine Zauberer sehr gut beherrschen, Malingo - sie fürchten sich vor einem starken Mann, auch wenn er nicht ihre Macht hat. Woher sollte ich wissen, daß dieser Fremde kein solcher Schwächling war?" "Du solltest Zauberer immer fürchten", tadelte ihn Malingo. "Bis du ihre Kräfte kennst. Du hättest ihn mir überlassen sollen, Astaulf." Astaulf wurde rot. Matt hatte das Gefühl, daß ihm einiges bei diesem Gespräch entging. Aber noch mehr fehlte es ihm an Luft. Panik überfiel ihn. Er kämpfte dagegen an. Das wäre doch wirklich eine beschissene Art zu sterben - gestrandet in einem alternativen Universum. Es mußte für diese plötzlichen Magenkrämpfe eine logische Erklärung geben. Na klar: Der Zauberer hatte ihn verhext! "Und was hast _du_ unternommen?" fragte der König. "Hättest du nicht wissen müssen, daß ein mächtiger neuer Zauberer zu uns kam?" Malingos Gesicht verdüsterte sich. Astaulf grinste und baute seinen Vorteil weiter aus. "Du hast keinerlei Warnung geschickt - zweifellos hieltest du den Mann für zu schwach. Aber das ist er offensichtlich nicht. Nun, Malingo, hat _deine_ Magie versagt?" Ein interessanter Punkt. Aber Matt war im Augenblick mehr daran interessiert, die Daumenschrauben von seinem Bauch zu entfernen. _Logik, Mann! Du bist verhext worden, also mußt du dich enthexen_! Er konnte nur flüstern und nahm den ersten Zauberspruch, der ihm einfiel. _Dreimal von mir, dreimal von dir, Und noch dreimal, um zu lösen. Friede! Hinweg mit dem Zauber, dem bösen!_ Die Luft entwich zischend, als sich die Bauchmuskeln lockerten. Dann schien sich der Raum um ihn zu drehen, als ihn Übelkeit überfiel. Ungeduldig warf Malingo den Kopf zurück. "Soll ich etwa Meldung machen über sämtliche unwichtige Ereignisse in deinem Reich? Wozu hast du Spione und Wachen?" "Wozu habe ich einen Zauberer?" Astaulf grinste und zeigte die Zähne. "Ich finde, deiner Aufmerksamkeit entgeht viel zuviel." Übelkeit war eine Sache; aber wenn der Fußboden sich anscheinend mit dem Ozean verbinden wollte, um Unterricht im Wellenschlagen zu nehmen, mußte Matt schleunigst etwas unternehmen. "Erklär dich", sagte Malingo, der deutlich etwas weiß um die Lippen aussah. "Was ist meiner Aufmerksamkeit entgangen?" Astaulfs Gesicht verzerrte sich vor Wut. "Aufrührerische Adlige im Westen zum Beispiel, die mich von meinem gerade erworbenen Thron stürzen wollen! Und dieses schwachsinnige Mädchen im Verlies, das immer noch meine Gunst zurückweist!" Jetzt wogte der Fußboden kräftig. Matt wünschte sich schon beinahe, daß ihn diese Wellen verschlingen mögen. Alles! Nur ein Ende mit diesem Elend! Er besann sich auf die alten Meister: _Obgleich verwandt mit einem Lord, leist' gute Arbeit ich an Bord. Kann Segel reffen und auch steuern. Niemals klagt' ich bei Sturmesbö, Und nie war krank ich je auf See._ Es war eine Lüge, wirkte aber. Der Boden wurde im Nu wieder eben, und die Übelkeit verschwand. "Das alles ist deiner Aufmerksamkeit entgangen!" schrie Astaulf. "Von dem fremden Zauberer mit unbekannter Macht ganz zu schweigen!" "Du hast recht. Von ihm wollen wir nicht reden", sagte Malingo mit zusammengebissenen Zähnen. "Und was das Mädchen betrifft: Vielleicht läßt es sich einfach nicht von einer Krone blenden, welche nicht auf dem Haupt des rechtmäßigen Königs ruht." Astaulf verschlug es die Sprache. Er starrte den Zauberer nur empört an. Dieser lächelte weltmännisch überlegen. Matt wurde klar, daß seine Anwesenheit einen lange schwelenden Konflikt zum Ausbruch gebracht hatte. Astaulf stieß einen Wutschrei aus und riß ein Schwert aus der Scheide, das in Größe einem Schneepflug glich. Er schwang es, als Malingos Finger auf ihn zeigte. Der Zauberer leierte einen Spruch in der Geheimsprache herunter. Die Klinge wand sich, als Astaulf sie herabbrachte. Dann bog sich der Kopf des Schwertes zurück, und Astaulf starrte voll Entsetzen in den aufgerissenen Rachen einer Python. Er warf sie Malingo zu und rief: "Da, nimm deine Schlange, du Kröte! Zu mir, Männer!" Er sprang Malingo an und packte ihn an der Gurgel. "Hilf mir, Fremder! Beseitige diesen widerlichen Zauberer. Ich gebe dir allen Reichtum und jede Macht!" Seine Finger umschlossen den Hals Malingos wie eine Rohrzange. Er riß den Zauberer hoch und hielt ihn in der Luft. Dabei schüttelte er ihn. "Hilf mir doch! Ich befehle es dir! Auch wenn er ein Zauberer der Schwarzen Magie ist, kann er gegen uns zwei nichts ausrichten! Widerrufe seinen Zauber, dann bringe ich ihn um!" Matt schaute von einem zum anderen, besann sich aber auf die alte Weisheit der Armee: Niemals freiwillig etwas tun! Malingo war zwar rot im Gesicht; aber er zeichnete mit den Fingern bestimmte Figuren um Astaulfs Arme. Seine Lippen bewegten sich. Nur Matt sah, wie die Python zu Füßen des Zauberers immer dicker und länger wurde. Drei Wachen versuchten, den Arm des Zauberers zu packen. Dann richtete sich die Riesenschlange plötzlich auf, schleuderte Astaulfs Wachen beiseite und legte sich wie eine Schlinge um den Hals des Königs. Astaulfs Augen traten vor Entsetzen heraus. Ein Röcheln drang aus seinem Mund. Malingo machte sich frei, während der König vergeblich versuchte, die lebende Henkerschlinge von seinem Hals zu lösen. Malingo richtete den Finger jetzt auf die Wachen, dabei sprach er wieder einen Zauber - sofort begann sich die Haut der Soldaten zu lösen. Offene, eiternde Wunden wurden schnell blauschwarz. Voll Grauen schrien sie auf. Malingo hielt sich nicht mit ihnen auf, sondern ging auf den erstickenden König zu, dabei wurde seine Stimme schrill. Dann machte er mit den Fingern eine Bewegung, als schneide er einen Faden ab - und der König war verschwunden! Langsam blickte Malingo auf den Fußboden. Matt sah zu Füßen des Zauberers eine häßliche Kröte sitzen. Sie blinzelte und schaute benommen um sich. Da sah sie die Schlange! Langsam schwang der Kopf der Python auf sie zu. Dann wurde die Schlange starr und fixierte die Kröte eine Zeitlang, ehe sie den Rachen aufriß. Die Kröte gab einen stöhnenden Rülpser von sich und hüpfte davon. Aber die Sprünge waren kurz. Das Tier fühlte sich offensichtlich nicht wohl. Der Fuß des Zauberers kam herab. Doch nicht ganz - nur so, daß er die Kröte festhielt. Sie wand sich unter dem Fuß, um der Schlange zu entkommen. Malingo hob die Hand. Aufmerksam blickte die Python ihn an. Der Zauberer rief etwas und zeigte auf die Schlange. Diese bewegte sich nicht, nur die Augen und die Haut wurden blasser, der Körper flacher - da lag wieder das Breitschwert auf dem Boden. Aus einer Ecke des Raumes drang verzweifeltes Röcheln. Als Matt hinschaute, wurde ihm wieder übel. Ein Haufen stinkenden Abfalls lag inmitten der Uniformen, welche die Wachen vorher getragen hatten. Der Verwesungsgestank der drei Soldaten, die Astaulf treu gedient hatten, füllte den Raum. Matt schluckte und murmelte noch mal den Zauber gegen Seekrankheit. Die anderen Wachen starrten auf den Haufen Aas. Plötzlich war es sehr still. "Ja", sagte Malingo. "Das ist das Schicksal der Narren. Jeder, der Prinzen dient, wenn ein Zauberer daneben steht, ist ein Narr. Beherzigt das, wackere Wachen, und erzählt es auch euren Gefährten. Eure Klugheit hat heute Leben gerettet - und vielleicht braucht ihr sie nochmals." Schweigend blickte er sie an. Sie wichen schnell den Augen des Zauberers aus. Der Zauberer nickte langsam. "Es reicht. Ihr habt es gesehen und werdet es euch merken. Geht jetzt!" Sie gingen zur Tür. Nur der letzte blieb stehen und fragte: "Lord Zauberer - der König..." "Was sagte ich über die Loyalität Prinzen gegenüber?" Der Soldat verließ schnell den Raum. Malingo stand still in den Strahlen der Nachmittagssonne da, welche durch die Fenster strömte. Ein Fuß stand noch auf der Kröte. Dann hob er den Fuß und schaute hinab auf die Kröte. "So, Majestät." Aus seinem Mund klang der Titel wie eine Beleidigung. "Dein Stolz wurde zu groß. Wird dich dies an die wahre Größe deiner Seele erinnern?" Die Kröte blinzelte verängstigt zu ihm empor. Malingo nickte. "Ich glaube schon. Aber, Astaulf, du hättest es nie wagen sollen, mich eine Kröte zu nennen." Dann richtete er sich auf und ging langsam um das Tier herum, das wie versteinert dahockte und ihm nur mit den Augen folgte. "Nein", sagte der Zauberer mit tiefem Bedauern. "Ich muß dich leben lassen." Die Kröte schien vor Erleichterung in sich zusammenzusinken. Malingo nickte. "Ja, ja. Das war wirklich knapp, Astaulf. Einen Moment lang hätte das heiße Blut beinahe über den kalten Verstand gesiegt. Einen Moment lang wollte ich zutreten. Aber es wäre so mühsam, einen neuen Adligen zu suchen, der so dümmlich und habgierig ist wie du. Und ich muß selbstverständlich einen Adligen haben. Oh, diese verfluchte Bande von törichten Aristokraten, die immer irgendeinen Tropfen blaues Blut bei dem sucht, der auf dem Thron sitzt! Als ob nicht einer regieren könnte, der nicht mit dem Herrscherhaus verwandt ist! Aber nein, diese edlen Herren verlangen blaues Blut, denn sonst würden sie _alle_ zu Rebellen werden. Sei dankbar, daß du wenigstens aus niedrigem Adel stammst - denn nur das rettet dich." Matt fiel auf, daß der Zauberer nichts über seine eigene Herkunft erwähnte. Offensichtlich war er als gemeiner Mann geboren worden. Malingo lächelte wieder breit. "Ich brauche mir doch auch keine Sorgen mehr zu machen, daß du mir nach dem Leben trachtest, oder, Astaulf?" Er wartete. Die Kröte zitterte. Malingo lachte. "Nein, ich glaube nicht! Schließlich weißt du ganz genau, daß du deinen neuerworbenen Thron gegen die Barone im Westen ohne meine Hilfe nie halten könntest! Zauberei hat dir den Thron gebracht. Daher kann auch nur Zauberei ihn dir erhalten. Du wagtest heute doch nur mich herauszufordern, weil ein neuer Zauberer aufgetaucht ist und du dachtest, er schlüge sich auf deine Seite. Törichter Baron! Du hättest wissen müssen, daß in diesem Land keine Macht der meinen gleichkommt!" Das saß! Matt hatte bis jetzt nicht an einen Machtkampf gedacht. Sein gesunder Menschenverstand hatte ihm geraten, keine Seite zu wählen, bis es unbedingt nötig war. Als er den bösen Blick der Kröte auffing, wußte er, daß dieser Zeitpunkt gekommen war. Auch Malingo dachte so. "Nein, du rührst ihn nicht an, Astaulf! Zumindest nicht, bis ich mit ihm fertig bin." Er nickte verständnisvoll. "Ja, ich glaube, daß du geschult bist. Vielleicht bringe ich dich in deine Heimat zurück. So schnell wirst du mich nicht wieder herausfordern." Er trat einen Schritt zurück und zeichnete mit der Hand ein unsichtbares Symbol in die Luft, dazu stimmte er einen langsamen, immer lauter werdenden Singsang an. Als er am Höhepunkt angelangt war, schnipste er mit den Fingern. Die Umrisse der Kröte verschwammen. Eine Rauchwolke hüllte sie völlig ein. Die Wolke wurde größer und größer, wie bei einem heraufziehenden Gewitter. Dann sank sie in sich zusammen - und Astaulf stand aufrecht vor dem Zauberer. Doch dann schwankte er und suchte an der Wand Halt. Er hielt die Augen geschlossen, Schweiß rann über das leichenblasse Gesicht. Er atmete schwer. Zufrieden nickte Malingo. "Ja, du hast deine Lektion gelernt. Vergiß sie nicht, Astaulf. Beim nächsten Mal verwandle ich dich in das Schwein, das du bist, und verspeise deine Schinken." Die Augen des Königs öffneten sich kurz, flackerten und schlossen sich wieder. Der Zauberer verzog verächtlich den Mund. "Welch ein Mann! Diese Ehrfurcht einflößende königliche Haltung! Aber nun verlasse uns - ich möchte ein paar Worte mit diesem neuen Zauberer wechseln. Los, verzieh dich!" Er gab dem König einen leichten Stoß. Astaulf lief schnell zur Tür und stolperte hinaus. Kopfschüttelnd blickte Malingo ihm nach. Dann wandte er sich Matt zu. Matt wäre am liebsten in die Mauer versunken; aber er hob das Kinn, versuchte aber nicht aufzustehen. Der Zauberer nickte anerkennend. "Du hast Weisheit bewiesen, Gauner. Oder wußtest du, daß du dich mit mir nicht messen könntest?" "Hm - ja." Malingo zog eine Braue hoch. "Ich spüre da leichtes Zögern. Könnte es sein, daß du glaubst, du verfügst über ebensoviel Macht wie ich?" "Na ja..." Blitzschnell streckte ihm der Zauberer den Zeigefinger entgegen und gab einen Zauberspruch von sich. Matt spürte plötzlich den dringlichen Wunsch, Malingo die Stiefel zu lecken. Automatisch neigte sich sein Körper nach vorn, während jede Zelle seines Gehirns wild protestierte. Sein Magen verkrampfte sich vor Wut. Schnell sprach er: "_Nicht sagen kann ich, was du oder die anderen Menschen Von diesem Leben halten. Jedoch für mich gilt: Lieber würde ich sterben als leben in Angst vor einem Wesen, wie ich es bin."_ Der Spruch war nicht gereimt, vielleicht funktionierte er deshalb nicht so ganz. Zumindest wich der Zwang von ihm. Matt konnte den Kopf wieder heben und dem Zauberer trotzig in die Augen blicken. Malingos Brauen fuhren nach oben. "Nun gut! Dann wollen wir mal stärkere Mittel einsetzen!" Er zog einen geschwungenen Dolch aus dem Ärmel und warf ihn neben Matt auf den Boden, wobei er einen Spruch murmelte. Plötzlich überfiel totale Verzweiflung Matt, schlimmer als jede Depression, die er je erlebt hatte - zehnmal so schlimm. Der Raum schien dunkel zu werden vor lauter Hoffnungslosigkeit. Es war alles eine Farce, diese Spielerei mit Sprüchen und Gesten - eigentlich war das ganze Spiel des Lebens eine Farce. Völlig absurd, völlig sinnlos. Warum überhaupt sich wehren? Matts Augen fielen auf den Dolch. Seine Hand kroch näher. Nehmen und sich ins Herz stoßen! Dann wäre alles vorüber! O wie süß war das Nichts! _Idiot_! rief die Stimme des Skeptikers in seinem Kopf. _Er hat dich verhext, du Schwachkopf_! Bei diesem Gedanken hielt Matt inne. Dann schob sich seine Hand ohne sein Zutun weiter auf den Dolch zu. Er _war_ verhext. Hartnäckiger Stolz bäumte sich in ihm auf. Matt suchte Halt bei einem Hamlet-Zitat: _Sein oder Nichtsein, das ist hier die Frage. Sterben - Schlafen - Schlafen! Vielleicht auch träumen! - Ja, da liegt's: Was in dem Schlaf für Träume kommen mögen? Daß wie die Übel, die wir haben, lieber ertragen, als zu unbekannten fliehn. So macht Gewissen Feige aus uns allen; Der angebornen Färbe der Entschließung Wird des Gedankens Blässe angekränkelt. Und Unternehmungen voll Mark und Nachdruck, Durch diese Rücksicht aus der Bahn gelenkt. Verlieren so der Handlung Namen."*_ Die Depression blieb. Na ja, Hamlet war nicht gerade übermäßig begeistert, als er am Ende des Stücks weiß, daß er sterben muß. Aber Matt konnte die Hand zurückziehen. Es war doch ziemlich _unsinnig_, sich umzubringen, wenn das einzige, dessen er sich sicher sein konnte, die Tatsache war, daß er existierte. Malingo machte ein finsteres Gesicht. Er machte mit der offenen Hand eine Bewegung, als wische er eine Tafel ab. Ruckartig verließ die Depression Matt. Gerade versuchte er, seine Gedanken zu ordnen, als Malingo wieder mit dem Finger auf ihn zeigte und einen Spruch losließ. Jetzt hatte Matt das Gefühl, als sinke etwas in seinem Bauch nach unten. Gingen seine Eingeweide auf Urlaub? Unmöglich! Dieser Zauberer würde doch nicht so einen billigen Trick anwenden, um ihm zu zeigen, wie es war, wenn einem das Herz in die Hosen rutschte. Er tat es! Matt hatte die Vision, wie seine Magensäure ungefiltert in die Nieren floß. Jetzt mußte er aber schnell etwas unternehmen. Bauchfellentzündung war vielleicht ohne einen Blinddarm, der platzen konnte, unmöglich; aber Matt hatte das sichere Gefühl, an etwas Gleichwertigem zu leiden. Grinsend betrachtete Malingo ihn. Dumpfe Wut brannte in Matt - oder war das die Magensäure? Wie dem auch sei - Matt suchte krampfhaft nach einem geeigneten Spruch, der ihm während der zwanzig Jahre Schule untergekommen sein mußte. Bestimmt war nie jemandem eingefallen, solche Sprüche für einen derartigen Zweck einzusetzen. In seiner Verzweiflung dichtete er selbst: "_Kein Gesetz, kein alter Brauch kann zerreißen ererbtes Gut, Vererbung legte in meinen Bauch mir die Eingeweide und auch Mut. Kehrt zurück zu mir! Ich befehle bei Chromosom und Gene!"_ Es war ein lausiges Gedicht, aber es funktionierte. Matt fühlte sich plötzlich wieder wohl. Erleichtert seufzte er. Malingos Gesicht war ausdruckslos. Jetzt war Matt hellwach. Er mußte den ersten Schritt tun, ehe der Zauberer einen neuen Versuch startete. Nun, ihm fielen gerade die Auguren ein. Er deklamierte: "_Was verkünden die Auguren ? Wenn sie herausreißen die Eingeweide des Opfertieres ? Keiner konnte finden ein Herz darinnen."_ Jetzt blickte Malingo ausgesprochen besorgt drein. Er schlug sich mit der Hand an die Brust, schluckte und sprach schnell einen Spruch. Dabei machte er mit der Hand ein Zeichen aufs Brustbein, ehe er sich entspannte. Auch Matt war sehr erleichtert - er konnte sich wirklich nicht in der Rolle des Mörders sehen. Malingo musterte Matt nachdenklich und strich sich durch den Bart. Überlegte er, wie viele Scheiben er aus Matts Leber als Fischköder schneiden konnte? Matt blickte ihn unerschrocken an. Viel mehr konnte er auch nicht tun. "Du hast einige Macht", gab Malingo zu. "Ausreichend, um mir nützlich zu sein. Aber das bedeutet leider auch, daß du mir Ärger machen kannst. Ich sollte dich hier auslöschen. Das würde ich auch bedenkenlos tun - wenn nicht die Möglichkeit bestünde, daß du mir mehr Hilfe als Last sein könntest." Matt spitzte die Ohren. Was war das? Eine Chance, in die örtliche Machtstruktur einzusteigen? Mit gespielter Gleichgültigkeit schlenderte Malingo im Zimmer auf und ab. "Du hast Astaulfs Angebot abgelehnt. Das könnte ein Zeichen von wünschenswerten Charaktereigenschaften sein." Na klar! Feigheit, Raffgier, Apathie oder ein gewisses Zögern anzugreifen, wenn jemand zuschaute. Matt betrachtete nachdenklich den Rücken des Zauberers - Natürlich! Darauf wartete Malingo ja nur! "Wir müssen dich natürlich noch mehr auf die Probe stellen um herauszufinden, welche Eigenschaften dies sind." Matt verzog das Gesicht. "Warum so viel Mühe? Es ist ganz einfach: Ich gehöre zur vorsichtigen Art. Ich denke nicht daran, Partei zu ergreifen, ehe ich nicht die Hintergründe kenne." "Wie?" fragte der Zauberer verblüfft. "Nun... Als der König dich angriff, konnte ich doch nicht wissen, wer gewinnen würde, oder?" "Verstehe." Malingo nickte. "Nun, das klingt vernünftig, allerdings nicht nach großem Glauben an Zauberei. Doch das ist nicht so wichtig. Ich verstehe deine Unsicherheit. Astaulf und ich haben sorgfältig darauf geachtet, daß wir in der Öffentlichkeit einträchtig wirkten. Wie konntest du wissen, wer stärker war, wenn du keine Ahnung von dem Zerwürfnis hattest?" Offensichtlich vergaß Malingo, daß Matt neu in der Stadt war. Wußte er das überhaupt? "Ich gratuliere dir zu deiner Klugheit", sagte der Zauberer. "Solche Zurückhaltung und Weisheit sind bei einem, der neu in der Materie ist, selten. Es ist weise, wenn du erst abwartest, welche Seite dir mehr nützt, ehe du dich entscheidest." Er schritt mit in die Seite gestemmten Armen auf Matt zu. "Nun! Jetzt hast du es gesehen. Der König kann gegen mich nichts ausrichten - aber ich kann ihn jederzeit beseitigen, wenn es mir der Mühe wert erscheint. Verbünde dich mit mir, und Astaulf kann dir nichts anhaben. Meine Macht ist im Aufsteigen begriffen, und du kannst mit aufsteigen, wenn du mir Treue schwörst." Matt starrte ihn nur ungläubig an. Vom Spielball zum Verbündeten in weniger als zwei Minuten...? Nein, vom Spielball zum Bauern! Malingo runzelte die Stirn. "Du zögerst? Vielleicht sollte ich dir nichts anbieten? Was denkst du?" "Nun... ja... wie gesagt, ich bin von Natur aus vorsichtig." In Matts Kopf überschlugen sich die Gedanken. Es mußte gut klingen; aber was würde dieser Halunke ihm abkaufen? "Ich bin wirklich neu in der Stadt und wüßte gern mehr über das Land, ehe ich mich für irgend etwas entscheide." "Aber wozu willst du das alles wissen? Astaulf ist ein Narr, und ich bin die Macht hinter ihm. Keine andere Macht in diesem Land kann es mit uns aufnehmen, das haben wir in den vergangenen sechs Monaten bewiesen. Sonst noch was?" "Nun, zum Beispiel - wer ist die Macht hinter dir?" Das war eine dämliche Bemerkung, wie Matt sofort klar war. Aber jetzt waren die Worte nun mal ausgesprochen. Der Zauberer wurde blaß. Dann fing er sich und lächelte. Matt wagte wieder zu atmen. "Weißt du das wirklich nicht?" "Nun... ich könnte raten." "Dann tu's!" Malingo legte den Kopf zur Seite und schaute Matt gespannt an. Matt schluckte. "Na ja... Astaulf nannte dich einen Zauberer." Malingo nickte. Ohne mit der Wimper zu zucken, fuhr Matt fort. "Das heißt, daß deine Macht aus der Hölle stammt." "Na also!" Malingo breitete die Arme aus. "Du hast es die ganze Zeit gewußt." Er zog eine Braue hoch. "Natürlich bist du _auch_ ein Zauberer." Matt schluckte. "Nun... das hängt von der Definition ab." "Wie dieses?" "Die hohe Definition", erklärte Matt. "In diesem Fall ist es ein heißes Medium, und ich gehe davon aus, daß ein Zauberer ein heißes Medium sein sollte. Am anderen Ende der Skala steht selbstverständlich die niedrige Definition, was ein kühles Medium bedeutet. Ich schmeichle mir, meist einen kühlen Kopf zu behalten. Damit stehe ich auf ziemlich niedriger Stufe." Jetzt ging ihm die Luft aus. Der Zauberer blickte ihn nur stumm an. Dann hob Malingo den Kopf. "In der Tat. Du scheinst ein bißchen verwirrt zu sein. Kennst du wirklich nicht den Unterschied zwischen einem Medium und einem Zauberer? Dann kannst du dich selbst unmöglich kennen." "Ja, das ist es!" Matt schnappte nach dieser Idee wie nach einem Rettungsring. "Die Identitätssuche, wer und was bin ich. Da stecke ich mitten drin. Vor allem gerade jetzt..." Malingo schüttelte traurig den Kopf. "Bis das nicht gelöst ist, nützt du mir gar nichts. Ich habe von solchen Fällen schon gehört - junge Männer entdeckten, daß sie die Macht hatten, wußten aber nicht, was sie damit tun sollten. Sie wußten nicht, ob sie für die Dunkelheit oder das Licht arbeiten sollten. Ja, dein Fall ist mir vertraut - einige meiner besten Zauberlehrlinge waren in diesem schwierigen Stadium. Jetzt sind sie hochgeschätzt - wie auch du zweifellos eines Tages hochgeschätzt sein wirst, sobald du deine Zweifel überwunden hast. Wir werden dich noch ein Weilchen hierbehalten." Er riß die Tür auf. "Wache! Reinkommen!" Zwei bewaffnete Wachtposten kamen mit Piken herein. "Führt ihn ins Verlies!" Malingo zeigte auf Matt. "Wir lassen dich eine Zeitlang dort. Du hast offenbar ein paar Zaubersprüche, die ich noch nicht kenne. Ich muß deine angeborene Macht genauer studieren - wenn ich Zeit habe. Erst mal kannst du in sicherem Gewahrsam darüber nachdenken, was du bist und was du sein willst. Wenn du dich für die Zauberei entscheidest, schwörst du mir den Treueid." Er winkte den Wachen. "Bringt ihn weg!" Sie zogen Matt auf die Füße. Er wandte sich noch einmal an den Zauberer. "Und... ich hasse es, dumme Fragen zu stellen... aber was passiert, wenn ich mich entscheide... zum Beispiel Magier zu sein?" Der Zauberer rang sich ein gequältes Lächeln ab. "Nun, dann habe ich ein paar ganz besonders üble Zaubersprüche, von denen ich gelesen, die ich aber noch nie ausprobiert habe. Ich bin auch sehr gespannt, wie sie in der Praxis wirken. Solltest du dich für das Licht entscheiden - was dir selbstverständlich völlig frei steht -, wirst du trotzdem zu meiner Macht beitragen." *Kapitel 3* Trotz der Dunkelheit und dem unheimlichen Scharren fühlte sich Matt im Verlies sicher. Allerdings war es wie jedes ordentliche Verlies kalt und feucht. Wie konnte man hier nur Nahrungsmittel aufbewahren! Matt konnte zwar nichts sehen, roch aber eindeutig den gesalzenen Speck in der Zelle nebenan. Warum würden sonst auch diese kleinen Pfoten herumhuschen? Er hatte den Eindruck, man hatte ihn zwischen dem Pökelfleisch und den Reservepfeilen untergebracht. Wenn das ein Hinweis auf seine Wichtigkeit war, hatte Matt nichts dagegen. Er fühlte sich beinahe heimisch. Es war wirklich herrlich, ein ruhiges Plätzchen zu haben, wo er alles überdenken konnte. Und er mußte über vieles nachdenken! Er lehnte den Kopf gegen die feuchte Mauer und schloß die Augen. Dann leerte er bewußt seinen Kopf. Nun denn! Er war nicht mehr in seiner eigenen Welt. Ja, wahrscheinlich befand er sich nicht einmal mehr in seinem Universum. Das hatte das Pergament mit der Zeile bewirkt: "Überspringe die Leere von Zeit und Raum!" Er hatte die Vision von Tausenden von Universen, die in geschlossener Reihe dastanden, jedes mit einem eigenen hellen Streifen der verflossenen Zeit über der lichtlosen, urzeitlichen Leere, jedes mit einer eigenen Vergangenheit und eigenen Naturgesetzen. Er hatte mal gelesen, daß es durchaus möglich sei, daß ein alternatives Universum völlig andere Gesetze haben könne. Was in seinem Universum als Aberglauben angesehen wurde, konnte dort Wissenschaft sein. Nun, Magie schien _tatsächlich_ zu funktionieren. Wie stand es aber mit der Wissenschaft? Matt holte ein Heft Streichhölzer aus der Tasche, nahm eins und rieb es an der rauhen Seite. Doch das brachte keinerlei Erleuchtung. Also... funktionierte Wissenschaft _nicht_! Aber Moment mal! Die Schwerter der Soldaten hatten wie Stahl ausgesehen, nicht wie geschmiedetes Eisen. Also mußte Wissenschaft hier irgendwie doch funktionieren. Matt fiel ein, daß die Schmiede im Mittelalter als eine Art Zauberer betrachtet wurden, die beim Schmieden des Eisens ihre Sprüche aufsagten. Matt riß noch ein Streichholz ab, rieb es und deklamierte: "_Feuer, Feuer, brenne hell mitten in der dunklen Nacht. Welch sterblich Hand und menschlich List hat je dich in Gewalt gebracht?"_ Eine fast fußhohe Flamme zischte vom Streichholzkopf empor. Vor Schreck ließ Matt das Hölzchen fallen und sprang auf. Dann trampelte er darauf herum. Das Licht wurde schwächer - und war verschwunden. Erleichtert ließ Matt sich wieder in der Dunkelheit nieder. Wissenschaft funktionierte, aber nur mit Hilfe von Magie. Und da war noch etwas. Er hatte es schon auf der Straße gefühlt, ehe die Bettler aufgetaucht waren. Jedes Mal, wenn er einen Zauber anwandte, hatte er das Gefühl gehabt, als sammelten sich um ihn riesige Kräfte, die sich an seinen Worten ausrichteten. Es konnte aber nicht allzu wichtig sein, da er sie kaum gespürt hatte, wenn er unter Druck stand. Ganz wichtig war, einige schnelle Regeln für die Anwendung von Magie herauszufinden. Trotz Malingos Gelassenheit hatte Matt eindeutig die Nervosität gespürt. Der Zauberer war keineswegs so Herr der Lage, wie er vorgab. Da er aber Astaulf mühelos beherrschte, mußte das heißen, daß es im Land oppositionelle Kräfte gab. Malingo behauptete, ein Diener der Dunkelheit zu sein. Dann mußten seine Gegner Diener des Lichtes sein. Matt hätte diese Leute liebend gern kennengelernt. Aber der Wunsch allein reichte nicht. Allerdings in diesem Universum... Nein! Er mußte erst herausbringen, wie man hier richtig wünschte. Vor allem mußte er schnell lernen, ehe Malingo ungeduldig wurde. Wie spricht man einen Zauber richtig? Bis jetzt wies alles darauf hin, daß man Dichtung - oder zumindest Verse benutzte. Auch Malingos Gesten gehörten wohl dazu. Hätte Matts Ruf nach den Bettlern Erfolg gehabt, wenn er nicht die Pose der Freiheitsstatue eingenommen hätte? Matt holte tief Luft. Als nächstes mußte er experimentieren, um die Theorie zu bestätigen. Okay. Er könnte etwas heraufbeschwören - ein Licht zum Beispiel. Es mußte ja nicht gleich ein riesiges Freudenfeuer sein. Aber diesmal ohne Streichholz. Da kam ihm eine prima Idee. Warum sollte er nicht einen Feueranzünder herbeirufen?... Nein, so wie das hier lief, würde ihm das einen Straßenjungen aus der Zeit Viktorias bescheren, welcher an einer langen Stange ein Streichholz hatte. Er wollte einen Einheimischen. Dann hatte er Gesellschaft und konnte sich auch gleich Informationen besorgen. Er spürte die vertraute Sammlung der Kräfte um ihn, als er mit seinem Spruch begann: "_Des Lichtes brauch' ich helle Quellen. Send schnell etwas, mich zu erhellen. Ob groß, ob klein, wie auch sein Name. Hauptsache - es ist eine Flamme."_ Ein durchdringender Schrei, dann gleißendes Licht. Matt fiel gegen die Wand und bedeckte die Augen, während ein riesiges, geschupptes Wesen an der Wand entlangschabte. _Idiot_! sagte der Monitor in Matts Kopf. "_Wann lernst du endlich, spezifische Angaben zu machen_?" Der Schrei ging in Worte über. Hitze versengte Matt mit abgehackten Silben. "_Wer_? Wer hat das mit mir gemacht?..._ Du _?" Matt starrte nach oben. Das Licht ging aus, aber es leuchteten noch zwei brennende Augen nach... Dann kam das Licht wieder, eine fünf Fuß hohe Flamme beleuchtete eine mit Schuppen bedeckte Schnauze mit geblähten Nasenlöchern über spitzen Zähnen und darüber von Schuppen eingesäumte Augen. "_Du_! Du gemeiner, jauchegetränkter Jäger von eben ausgeschlüpften Jungen! Du wagst es, einen ausgewachsenen Drachen in einen Hinterhalt zu locken! Du tollkühner Idiot! Wenn du glaubst, Stegomans Blut einem Zauberer verkaufen zu können, hast du dich geirrt! Gleich bist du tot, du Idiot!" Wieder schoß eine Flammengarbe hervor. Matt sprang mit einem. Angstschrei beiseite. Gerade noch rechtzeitig. Der Drache holte tief Luft und prallte gegen die Wand. "Wo bist du, elender Wurm? Du kannst dich auf so engem Raum nicht vor Stegoman verstecken. Du... du..." Wieder kam ein Flammenstoß, und Matt sprang. Aber er hätte sich keine Sorgen machen müssen. Der Drache verfehlte ihn um eineinhalb Meter. Die großen Augen waren von einem Film überzogen und trieften. Der Feuerschein zuckte wie ein Röhrenblitz durch die Dunkelheit. Da merkte Matt: _Das dämliche Vieh war besoffen und wurde immer noch betrunkener_! Offensichtlich gehörte er zu der Sorte Säufer, die mit zunehmendem Alkoholkonsum ekelhaft werden. Jetzt holte er wieder Luft. "Hör auf!" rief Matt. "Ich bin unschuldig." "Ach wirklich?" spottete das Ungeheuer. "Dann bist du der erste Mensch seit Adam. Warum hast du mich herbeigerufen, wenn du nicht Drachenblut saugen willst?" Die glühenden Augen zuckten etwas. "Nun... aus Neugier! Ich bin Forscher." "Quatsch!" erwiderte der Drache. "Und was forschst du so? Willst du die Grenzen der Ausdauer eines Drachen testen? Wieviel Schmerzen ich ertragen kann? Na?" Wieder spuckte der Feuerwerfer los - diesmal hinterließ er Zickzackspuren von Ruß auf der Wand. Doch Matt hatte im kurzen Lichtschein genau gesehen, daß der Drache blinzelte, als leide er große Schmerzen. Dann war es wieder stockdunkel, und Stegoman holte abermals Luft. _Aufschub_! dachte Matt hektisch und rief laut. "Was ist los?" Nach kurzem Schweigen fragte die Stimme mißtrauisch: "Was soll denn los sein? Wovon redest du?" "Von deinen Schmerzen!" _Bring ihn zum Sprechen! Beschäftige sein Maul so, daß er es nicht als Feuerspeier benutzen kann_! "Ich sah, wie deine Augen zuckten. Tut es sehr weh?" "Was geht das dich an?" "Nun... ich kann einfach nicht mitansehen, wenn jemand Schmerzen hat." Matt überkreuzte die Finger in der Dunkelheit und fuhr fort: "Ich bin Doktor." _Na ja, eigentlich noch nicht, und dann von der falschen Fakultät - aber es ist nicht sehr gelogen_. "Ein Doktor?" Der Drache schien hochbegeistert. Matt war erleichtert. "Hmm... wirklich?" Jetzt gab sich das Vieh Mühe, unbeteiligt zu klingen. "Und was geht mich das an?" "Nun, ich erkenne eben Schmerzen, und ich _hasse_ Schmerzen. Was fehlt dir denn? Vielleicht kann ich etwas für dich tun?" Der Drache grunzte erst. Dann erklärte er mit fester Stimme: "Ich habe einen Backenzahn, der mir weh tut, wenn du es schon wissen willst. Das hält mich aber nicht davon ab, gemeine Jäger von Jungen zu rösten!" "Zahnschmerzen, hm? Ja, das kann einem schwer zu schaffen machen", meinte Matt mitleidig. "Ich will dir ja nicht zu nahe treten - aber bist du nicht zu jung, um schon Ärger mit den Zähnen zu haben?" Das war eine wilde Vermutung. Bis jetzt hatte Matt nur das dicke, mit Schuppen bedeckte Haupt gesehen. Aber Stegoman fiel darauf rein. "Ein Drache ist nur ein oder zwei Jahrhunderte jung, du unwissender Sterblicher! Aber die ersten hundert Jahre reichen, daß Zähne faulig werden können und uns Schmerzen bereiten." "Wirklich?" Matt machte ein erstauntes Gesicht. "Ich dachte, daß euch alle paar Jahrzehnte neue nachwachsen." "Du hast wirklich keine Ahnung von uns!" Der Drache schien aber nüchtern zu werden. Seltsam, sehr seltsam. "Wir müssen die Zähne, mit denen wir geboren werden, für den Rest unseres Lebens behalten. Sie sind in unserem Maul, wenn wir aus dem Ei schlüpfen, und wachsen mit uns - wie die Haut." "Eure Haut wächst mit? Ihr müßt sie nicht jedes Jahr abstreifen?" Der Drache gab ein metallisches Klappern von sich, was wohl einem Lachen entsprach. "Nein, wirklich nicht! Wir sind doch keine Schlangen oder Eidechsen, Mensch! Allerdings sind wir mit ihnen so verwandt wie du mit Kobolden und Schneeaffen. Aber kriechst du etwa durch Erdhöhlen oder schwingst dich mit langen Armen von Ast zu Ast?" "Nein... jedenfalls nicht oft. Allerdings habe ich gehört... schon gut! Wie du siehst, weiß ich nicht viel über Drachen." "Du bist in der Tat ein komischer Sterblicher", meinte der Drache. "Was für eine Sorte Mensch bist du, daß du von unserer Rasse keine Ahnung hast? Kennst du etwa auch nicht unsere Bedeutung für euch?" "Nicht genau", gab Matt zu. "Ein Drache ist ein ziemlich seltener Anblick dort, von wo ich komme." "Ein Skandal!" Der Drache schnaubte. "Sind alle Menschen in deinem Land so ungebildet?" "Das könnte man sagen. Es gibt dort sogar viele, die nicht einmal an Magie glauben." Jetzt schwieg der Drache verblüfft. Matt hatte das dumpfe Gefühl, daß er wieder einmal das Falsche gesagt hatte. "Was für eine Sorte Mensch _bist_ du?" platzte der Drache heraus. Matt preßte sich gegen die Wand. "Na, die übliche Sorte. Du hast mich doch gesehen." "Nicht genau", erklärte der Drache. "Hast du Angst, dich zu zeigen?" Das klang irgendwie hinterhältig. "Natürlich nicht!" erklärte Matt schnell. "Möchtest du Licht haben? Ich meine damit etwas Kleineres und Beständigeres als die Spezialität deines Hauses." "Das wäre ratsam." "Na klar! Sofort!" Matt holte sein Streichholzheft heraus. Welchen Zauberspruch hatte er bloß verwendet? "Worauf wartest du?" grunzte Stegoman. "Alles braucht seine Zeit." Dann murmelte Matt wieder dieselben Worte, während er ein Streichholz rieb. Diesmal hielt er es aber auf Armeslänge entfernt. Als die Flamme herausschoß, fügte er schnell die frei erfundenen Zeilen hinzu: "_Laß dies Licht eine Kerze entflammen, damit die Funken das Dunkel verdammen. Durchdring die Finsternis und spende Licht, damit ich sehe, wer zu mir spricht!"_ Das Streichholz dehnte sich plötzlich gewaltig aus. Matt hielt eine fast zwei Meter hohe, dicke Kerze in der Hand, welche eine fußlange Flamme krönte. Er hatte etwas übertrieben; aber das konnte bei Improvisationen eben vorkommen. Die Drachenaugen starrten auf die Flamme. "Höchst interessant", murmelte er. Matt besichtigte nun sein Gegenüber. Es war ein neun Meter langer Drache in chinesischem Stil, mit einem gezackten Kamm auf dem Rücken. Doch fehlte auch das europäische Element nicht. Riesige Fledermausflügel lagen gefaltet zu beiden Seiten des Körpers. Die Lederhaut wies aber überall fast meterlange Risse auf, deren Ränder dicke Wundnarben hatten. Stegoman wandte den großen Kopf Matt zu. Dieser wußte, daß er jetzt auf Herz und Nieren geprüft wurde. Langsam nickte der Drache. "Du siehst nicht wie ein böser Mann aus - aber oft hat schon ein helles Gesicht ein lügnerisches Herz verborgen." "Ich bin ein verdammt schlechter Lügner! Immer wenn ich es versuche, kann ich mich nicht einmal selbst belügen." "Das ist allerdings für gutes Lügen nötig, ja." Der Drache nickte wieder. "Aber Menschen sind nicht so aufrichtig wie Drachen. Wenn wir jemanden nicht mögen oder uns über sein Benehmen ärgern, sagen wir das schnell und offen heraus." "Hm." Matt spitzte die Lippen. "Ich schätze, daß das zu 'ner Menge Kämpfe führt." "Nein, nicht so viele. Wir wissen ja, daß unsere Kameraden sehr hitzig sind. Und wir kennen ihre Macht. Wenn zwei Drachen kämpfen, gibt es nie einen wirklichen Sieger. Der Überlebende hat so schwere Wunden, daß es Monate dauert, bis sie heilen. Daher respektieren wir auch die, welche wir nicht mögen." "Verstehe." Matt kaute auf der Unterlippe. "Es gibt immer Möglichkeiten, jemandem die Meinung zu sagen, ohne es wie eine direkte Beleidigung klingen zu lassen." "Ganz genau." Stegoman sah ihn überrascht an. "Wenige Menschen kapieren das so schnell." Matt eigentlich auch nicht richtig. Er hatte in den ersten Semestern mal in Anthropologie hineingeschnuppert und kannte sich daher mit sehr individualistischen Gesellschaften etwas aus. Der Stolz in Stegomans Worten, die Offenheit, verbunden mit geringem Kampfgeist, wies auf ein System mit sehr strengen Konventionen hin. Ohne diese würden die Drachen sich ständig an die Kehlen gehen. Sie waren bestimmt reizbar, mußten aber schrecklich höflich zueinander sein. Matt räusperte sich. "Aber ist es nicht schwierig, irgendeine gemeinsame Aktion durchzuführen? Ich meine, Disziplin... "Die Disziplin liegt in jedem Drachen", unterbrach ihn Stegoman scharf. "Wenn wir uns zu einer Schlacht rüsten, wird die Ehre eines jeden Drachen respektiert. Derjenige, den wir als Anführer gewählt haben, weiß, daß wir uns entschieden haben, seinen Befehlen zu folgen, und vermeidet jede Beleidigung. Wir tun, was er anordnet, weil wir ihn wegen seiner Weisheit wählten." Diese Anführer mußten Generäle und Diplomaten sein. Eigentlich eine gute Gesellschaft - wenn einen das ständige Risiko nicht störte, in einem Duell getötet zu werden. "Ein Drache pro Hügel, was?" "Berg!" verbesserte Stegoman. "Unsere Heimat ist das Gebirge im Osten, welches das Land Merovence von dem Pfuhl der Zauberei, Allustria, trennt. Zwischen beiden Ländern kommt es oft zum Krieg. Da sie durch unser Gebirge müssen, greifen beide dann die Drachen an. Wir sind immer auf Krieg eingestellt und verteidigen unsere Berge mit unserem Leben." "Ich nehme an, daß Allustria und Merovence beide verlieren, wenn sie euch angreifen." Stegoman nickte. Drachen _konnten_ selbstzufrieden dreinschauen. "Seit Hardishane uns Zucht und Ordnung beibrachte, wurden wir nie erobert." "Sekunde mal - wer war Hardishane?" Stegoman war empört. "Woher kommst du ungebildeter Mensch, daß du nicht einmal Hardishane kennst?" Matt wich aus. "Das ist eine komplizierte Sache. Sagen wir mal - ich habe nicht Geschichte studiert. Wer war er?" "Na, der Kaiser, du Dummkopf! Der erste Kaiser. Er kam vor achthundert Jahren und vereinigte all diese christlichen Länder gegen die Mächte des Bösen! Aus diesem Grund schloß er auch mit uns ein Bündnis und brachte uns bei, wie man als Armee kämpft. Nur dadurch konnten wir uns gegen die Riesen behaupten." Matt wollte etwas sagen, schwieg aber. "Halt den Mund!" fuhr ihn der Drache an. "Du brauchst mir nicht zu sagen, daß du keine Ahnung von den Riesen hast." Matt nickte nur. Stegoman seufzte und legte den Schwanz um die Klauen. "Die Riesen kamen vor neunhundert Jahren, als _das mächtige Rem unterging. Rem, du ungebildeter_ Tropf, war eine Stadt im Süden, welche in den Ländern um das mittlere Meer fünfzehn Jahrhunderte vor dem Kommen Christi ein Imperium errichtete." Es _gab_ also ein Rom. Aber die Stadt hieß Rem. Offensichtlich hatte hier Remus und nicht Romulus gesiegt. Hatte sich damals dieses Universum von dem Matts getrennt? Aber Christus - der Name war derselbe. Warum nicht? Athen gab es schon, als Romulus und Remus noch Wolfsmilch tranken. In beiden Universen dürfte dasselbe Griechisch gesprochen worden sein, und Christos war ein griechisches Wort. "Ach ja. Also Rom - nein Rem - ging unter. Aber wo kamen die Riesen her?" Stegoman wurde ungeduldig. "Natürlich aus der Erde, unter den Felsen vor oder aus dem Höllenschlund, was weiß denn ich! Sie kamen - das reicht doch! Sie griffen uns an, und jeder Drache bekämpfte sie mit Feuer, Zähnen und Klauen. Nur wenige von uns überlebten. Das waren gigantische, widerliche Scheusale, so groß wie eine Fichte, aber nur so breit wie ein Zwerg, und überall von verfilztem Haar und Schmutz bedeckt. Hundert Jahre lang versuchten wir sie in den Bergen auszuräuchern. Dabei starben die meisten von uns. Dann kam Hardishane aus dem Norden herbeigeritten und mit ihm Moncaire, der mächtige Magier. Moncaire verwandelte einen Hügel in menschliche Gestalt und nannte ihn Colmain - ein Riese, der aber für die gerechte Sache kämpfte. Er tötete einen bösen Giganten. Wir feierten ihn als Held. Dann legte Hardishane seine Armeen in Garnison auf die freien Berge, die wir hatten. Er brachte uns Drachen bei, alle gemeinsam zu kämpfen, wobei aber kein Drache seinen Kopf niedriger als der Anführer tragen mußte. Und er lehrte unsere Vorfahren das Kriegshandwerk. Als dann die ekelhafte Horde der Riesen wieder unsere Berge mit ihrem Geschrei erfüllte, trafen sie auf eine Armee, die fünfzigmal so stark war wie sie. Dazu waren an der Spitze ein Kaiser und ein Magier und ein Riese, der größer war als der Größte von ihnen. Nach der Schlacht räucherten wir auch noch die letzten Scheusale aus ihren Verstecken aus und trieben sie Colmain in die Arme. So reinigten wir unsere Berge, und Hardishane zog mit seiner gesamten Armee hindurch. Colmain folgte ihm, um ihm bei der Reinigung Allustrias zu helfen. Wir haben sie nie vergessen." Matt schloß die Augen. "Ein Zeitalter der Heroen..." Der Drache nickte. "Wir, du und ich, wurden zu spät geboren, hinein in diese geschrumpfte Welt, wo es Königreiche statt Imperien gibt und Barone statt Riesen." "Und von diesen Heroen kam deine Nation?" Der Drache nickte wieder. "Unsere Nation, unser Gesetz und unser Volkstum. Erst dann begannen wir, unsere Geschichte und unsere Namen zu preisen, unsere Helden zu verehren und unsere Schwächlinge zu beklagen. Erst danach wurden wir ein Volk." Zitternd wandte er sich ab. Matt spitzte geistig die Ohren. Das war offenbar ein wunder Punkt, an dem er lieber nicht nachbohrte - aber er konnte es nicht lassen. "Mit euren Liedern und Sagas schuft ihr die Worte für eure Traditionen und formtet eure Gesetze." "Ja." Mit brennenden Augen schaute der Drache ihn an. "Unser Gesetz, welches besagt, daß der Stolz eines jeden Drachen heilig ist und das Leben unbezahlbar kostbar - aber daß beides im Schatten der Menschen stehen muß." "Doppeldeutig." Matt runzelte die Stirn. "Willst du damit sagen, daß jeder Drache geopfert werden muß, wenn er die Gesellschaft bedroht?" "Du hast seltsame Bezeichnungen - aber, ja! Seele und Person eines Drachen sind unantastbar - aber eben bei jedem Drachen! Wenn er einen anderen bedroht, können sie kämpfen oder den Konflikt mit Süßholzraspeln lösen, ganz wie sie wollen! Aber wenn ein Drache durch sein Benehmen oder allein durch seine Existenz drei oder mehr bedroht..." Stegoman sprach nicht zu Ende, sondern verfiel in dumpfes Brüten. Matt war aber im Bild. Stegoman war irgendwie zu einer Bedrohung der Drachengesellschaft geworden. Daher hatten sie ihm die Flügel beschnitten und ihn ins Exil verbannt. Aber warum? Stegoman schien doch ein netter Kerl zu sein, der niemandem etwas zuleide tun würde, wenn man ihn in Ruhe ließ. Das war jedenfalls Matts Eindruck. Was also hatte er verbrochen? Sich betrunken. Das ergab Sinn. Der Drache war mit einem Feuerstrahl gekommen, und gleich darauf war er angeheitert. Je mehr Feuer er spuckte, desto betrunkener war er geworden, bis er zum Schluß sich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Sobald er aber mit dem Feuerzauber aufgehört hatte, war er nüchtern geworden. Daraus schloß Matt, daß Feuerspeien ihn betrunken machte. Matt hatte die Vision, daß all die Drachen, die fröhlich durch die Lüfte segelten, irgendwann mal ausatmen mußten - ein Meter fünfzig lange Feuergarben. Danach waren sie beschwipst und flogen noch euphorischer, was noch mehr Feuer bedeutete und wieder mehr Trunkenheit und so weiter. Wenn Matt die Drachen nach Stegoman beurteilte, waren sie ein ziemlich realistischer, praktischer Haufen. Daher erkannten sie wohl schnell, daß Stegoman eine Bedrohung für den gesamten Luftverkehr darstellte - zumindest, als er den dritten Drachen zur Notlandung zwang. Daher hatte man ihn wegen Trunkenheit beim Fliegen zum Bodendienst verdonnert. Um ganz sicher zu gehen, hatte man in seine Flügel ein paar Schnitte gemacht. Und ihn verbannt. Stegoman seufzte schwer und fuhr mit seiner Geschichte fort. "Fünfhundert Jahre lang hielt der Frieden. Niemand tat uns etwas, bis Hardishanes Imperium untergegangen war. Inzwischen hatten wir aber selbst unsere Armee in Schuß. Wir hatten unsere Drachenstadt gebaut und die Blutrache abgeschafft. Es gab mehr Drachen als je zuvor. Alle lebten in Reichtum und Sicherheit. Doch dann marschierte nach dem Fall des Imperiums die erste Menschenarmee in unser Land." "Die habt ihr aber doch davongejagt, oder?" "Selbstverständlich. Aber alle hundert Jahre kommen sie wieder. So lang brauchen sie, um Mut zu schöpfen." "In der Zwischenzeit habt ihr keine Probleme mit den Menschen?" "Keiner wagt einen Angriff - abgesehen von einigen bösen Jägern, die unsere Jungen haben wollen, um ihr Blut an die Zauberer zu verkaufen." Stegoman klappte sein Maul hörbar zu und musterte Matt mit funkelnden Augen. Matt schluckte. Er hatte gedacht, Stegoman von _diesem_ Thema abgebracht zu haben. Der Drache erhob sich. "Das bringt uns nun zu dir. Bist du ein Jäger, ein Zauberer - oder beides?" "Weder noch", antwortete Matt schnell. "Ich bin ein Magier." Als er dies sagte, kam er sich wie ein Idiot vor. Doch Stegoman betrachtete ihn von der Seite und nickte. "Ich glaube, es könnte etwas Wahres dran sein." Erleichtert atmete Matt auf. "Was hat dich überzeugt? Scheint meine angeborene Gutmütigkeit durch?" "Nein, deine Unwissenheit! Da du so wenig weißt, hast du deine Macht erst kürzlich entdeckt und bist doch ein Magier. Doch laß dich nicht in Versuchung führen! Eins ist sicher - ich traue allen Menschen Verrat zu." "Ein tröstlicher Gedanke!" meinte Matt. "Es war nur ein _Versuch_, verstehst du? Ich wollte bei meinen Forschungen herausfinden, ob ich wirklich einen Zauber bewirken kann. Und du warst das erste, was mir einfiel. So habe ich dich heraufbeschworen." "Und so haben wir uns kennengelernt", sagte Stegoman trocken. "Sag mir - woher kommst du, aus welch finsterem Land, daß du so wenig über Drachen Bescheid weißt?" Matt wollte schon ehrlich antworten, bremste sich aber gerade noch. "Hm, ich glaube kaum, daß du mir glauben würdest." "Erzähl mir ruhig deine Geschichte", sagte der Drache. "Wenn sie wahr ist, bin ich sicher, daß ich wirklich mit einem Fremden gesprochen habe." "Na schön!" Matt schöpfte tief Luft. "Ich komme nicht aus dieser Welt. Nicht nur nicht aus diesem Land, sondern nicht von dieser Welt - ja, nicht einmal aus diesem Universum." Stegoman legte die Schnauze auf die Vorderbeine und schaute Matt aufmerksam an. "Du kommst also aus einer anderen Welt und einem anderen Universum. Wie ist das passiert?" "Das kann ich auch nicht genau sagen", gab Matt zu. "Ich las gerade ein altes Pergament in einem Cafe, und im nächsten Augenblick stand ich auf einer Straße mitten in Bordestang." "Zweifellos wünschte ein Magier deine Anwesenheit hier." "Das glaubst du auch?" Matt war ganz aufgeregt. "Das ist auch für mich die einzig mögliche Erklärung. Aber wer? Ich kenne hier keine Seele." "Welche Seele kennt dich? Das ist die wichtigere Frage." Der Drachenschwanz zuckte. "Malingo vielleicht - der böse Zauberer des Königs. Könntest du ihm überhaupt irgendwie helfen?" Er stellte die Frage wie beiläufig; aber seine Augen waren funkelnd auf Matt geheftet, so wie die Schlange ein Kaninchen betrachtet. "Nein", antwortete Matt. "Das heißt, wahrscheinlich könnte ich ihm nützlich sein - aber ich glaube kaum, daß ich dazu Lust habe." "Warum nicht? Malingo schwimmt ganz oben. Seine Flut steigt immer noch und trägt ihn zu Ruhm. Auch du könntest es zu Reichtum und Macht bringen." "Und zur Verdammnis meiner Seele." Wenn du in Rom bist, sprich Latein. Wenn die Leute hier mit mittelalterlichen Vorstellungen arbeiteten, konnte Matt das auch. "Malingo scheint mir die Art von Chef zu sein, dem ich nie trauen würde. Er könnte jeden Augenblick beschließen, mich zwei Meter unter die Erde zu stecken. Übrigens traf ich den Mann bereits. Er hat mich ziemlich übel behandelt." Stegoman verzog die Schnauze. "Man sieht aber gar nichts. Warum hat er die Wunden wieder geheilt, die er dir zufügte?" "Hat er nicht. Aber schließlich kann ich nicht dauernd ohne Eingeweide herumlaufen, oder?" Stegoman schwieg. Matt überlegte, ob der Drache in Panik sei oder er das Falsche gesagt habe. Als der Drache wieder redete, klang er beinahe respektvoll. "Du hast den Zauber abgewehrt, den Malingo auf dich warf?" "Na klar! Ich bin ein bißchen komisch, wenn es um mein Leben geht - es ist so ein netter Zeitvertreib." "Allerdings", stimmt der Drache bei. "Dann bist du aber kein Schwächling als Magier." "Moment mal! Mach mich nicht zu jemand, der ich nicht bin! Ich bin sicher, daß Malingo es bei mir nicht richtig versucht hat." "Trotzdem. Du lebst, und das zeugt von deiner Macht. Sehr viel Macht - er hätte dich zu einem Diener machen sollen oder zu einer Leiche." Es war eine dieser unglücklichen Situationen, in denen alles, was Matt sagen konnte, ihn nur noch tiefer in Schwierigkeiten bringen würde - alles, außer der Wahrheit. Er rechnete schon mit dem Schlimmsten. "Nun, ich habe ihm nicht direkt nein gesagt. Ich erklärte nur, daß ich etwas Zeit zum Überlegen brauche." "Und hast du dir's überlegt?" Matt holte tief Luft. "Etwas, aber ich brauche noch mehr Fakten." "Zum Beispiel?" Stegoman klang gefährlich. "Na ja. Malingo ist ein Schuft und Astaulf sein armes Opfer. Aber wer steht auf der anderen Seite? Und sind die überhaupt besser?" Das folgende Schweigen dauerte so lang, daß Matt das Gefühl hatte, Stegomans glühende Augen hatten sich auf seiner Netzhaut schon eingebrannt. Endlich sprach der Drache. "Du mußt wirklich neu in diesem Land sein, wenn du nichts über Astaulfs Gegner weißt." "Stimmt. Ich war nur zufällig anwesend, als Malingo und Astaulf sich in die Haare gerieten, und..." "Ach, wirklich?" Stegomans Augen funkelten vergnügt. "Hochinteressant, das kannst du mir glauben. Und was hast du diesem Streit entnommen?" "Daß Astaulf vor etwa sechs Monaten sich des Throns mit Malingos Hilfe bemächtigte. Und daß die Bevölkerung darüber nicht allzu glücklich ist. Sonst hätte Astaulf nicht überall Soldaten auf den Straßen. Dann kämpft offenbar ein Haufen Barone eine Art Partisanenkrieg, um Astaulf und Malingo zu stürzen." Stegoman nickte. "Du hast den Kern erfaßt. Aber wen wollen diese loyalen Barone auf den Thron setzen?" "Das Stück fehlt in dem Puzzle", sagte Matt mit Bedauern. "Über die andere Seite habe ich kein Wort gehört. Wer sind - ich meine, waren - sie?" "Sowohl >sind< als auch >waren<", erklärte der Drache. "Es >waren< der vierte König Kaprin. Sein Magier war in hohem Alter gestorben. Ehe er einen neuen suchen konnte, war Malingo schon mit Astaulf und dessen Soldaten über die Stadt Bordestang hergefallen. Der Kampf war kurz, aber sehr blutig. König Kaprin fiel." "Und wie steht's mit >sindgehext< ist etwas zu stark, finde ich..." "Welcher Zauberer brachte Euch hierher?" "Keiner - glaube ich. Bis jetzt habe ich nur Malingo kennengelernt, und er schien sehr überrascht, mich zu sehen." "Gut! Dann kann Euch nur ein guter und heiligmäßiger Magier hergeschafft haben." "Moment mal!" widersprach Matt. "Ich glaube, Ihr stellt da eine fragwürdige Behauptung auf, denn..." Sie schnitt ihm das Wort ab. "O nein! Wie seid Ihr Malingo entkommen?" "Ich erklärte ihm, daß ich mich noch nicht entscheiden könne, auf welcher Seite ich stehen wolle. Da gab er mir Bedenkzeit." Sie hob die Augenbrauen. "Dann braucht er Eure Macht. Es sieht ihm nicht ähnlich, einen Magier leben zu lassen, der ihm nicht dient. Hat er Euch eingeschlossen?" "Was?... Ach so, Ihr meint, ob er mich ins Verlies bringen ließ. Ja, direkt zwischen das Pökelfleisch und die Reservepfeile." "Aber diese Zelle birgt einen Zauber, damit niemand entkommen kann. Wie seid Ihr _dem_ entflohen?" "Was soll in der Zelle sein? Seid Ihr sicher?" "Ich hörte die Wachen vor meiner Tür darüber reden, als sie mich herbrachten. Der Zauberer belegte alle Zellen dieses Kerkers mit solchem Zauber." In Matts Kopf klickte es. "Deshalb spürte ich so viel mehr Kräfte um mich! Vielleicht habe ich mehr Einfluß, als ich dachte." "Ihr werdet ihn brauchen", sagte sie. "Warum kamt Ihr in meine Zelle?" "Was?" fragte Matt überrascht. "Aber das liegt doch auf der Hand. Wunderschöne Prinzessin hinter Schloß und Riegel... na ja." "Dann habt Ihr Euch also entschieden, auf meine Seite zu gehen?" Sie schaute ihn forschend an. "Ich warne Euch. Macht keinen Fehler. Wenn Ihr mir auch nur im geringsten helft, werden Euch der Zauberer und der König auf der Stelle umbringen, wenn sie die Möglichkeit dazu haben." Matt stand da und schaute die Prinzessin an. In seinem Kopf drehte sich alles. Aber irgendwo reifte in ihm Entschlossenheit. War das Selbstachtung? Matt war selbst überrascht. "Hoheit, es gibt nicht viel zu überlegen. Ich habe die andere Seite kennengelernt." In ihren Augen flammte Wildheit auf. "Dann seid Ihr wirklich auf meiner Seite?" Matt nickte. "Ja, zu Euren Diensten, Majestät." "Hoheit. Noch bin ich nicht gekrönt. Ich bin Prinzessin Alisande, nicht mehr." "Freut mich, Eure Bekanntschaft zu machen", sagte Matt trocken. "Ich bin Matthew Mantrell." "Angenehm, Magier Matthew!" Sie lachte und betastete seinen Bizeps mit beiden Händen. "Und jetzt flehe ich Euch an, schafft uns von hier fort." Matts Brust schwoll vor Stolz. Es war das erste Mal in seinem Leben, daß er _wirklich_ die Chance hatte, bei einem weiblichen Wesen Eindruck zu schinden. Doch dann erinnerte er sich an das alte Sprichwort: Stolz kommt vor dem Fall. "Na ja... wie gesagt, ich bin noch ziemlich neu im Magiergeschäft und kann für nichts garantieren." Alisande warf entrüstet den Kopf nach hinten. "So neu seid Ihr?" "Schlimmer", bekannte Matt. "Es ist das erste Mal in meinem Leben, daß ich überhaupt _irgendwelche_ Macht hatte." Er war selbst über seine Worte erstaunt. Doch dann wurde ihm klar, daß er es sein ganzes Leben gewußt hatte, aber es zum ersten Mal sich selbst gegenüber zugab. Das war eine bittere Pille! "Versteht Ihr - ich bin mir meines Könnens keineswegs sicher. Es wäre durchaus möglich, daß Ihr dabei sterbt." Einen Augenblick lang kämpfte sie mit sich, doch dann hob sie das Kinn und schaute ihm in die Augen. "Das ist durchaus möglich. Aber ich weiß, daß es nicht geschehen wird. Ihr, Magier, seid meine einzige Chance. Ich muß mein Leben und mein Königreich auf Euch setzen - und ich weiß, daß Ihr mich nicht im Stich lassen werdet." Ihre totale, hundertprozentige Sicherheit belastete Matt. Er holte tief Luft. "Ich hoffe, Ihr habt recht." "Ich habe." Das war eine klare Behauptung von Tatsachen. "Bringt uns von hier weg!" Matt überlegte kurz. Dann legte er den Arm um die Prinzessin. Das war weit angenehmer, als es eigentlich den Umständen angemessen war. Diesmal änderte er den Zauberspruch, den er bei dem Drachen verwendet hatte, etwas ab. "_Ein Ufer kenn' ich mit Thymian und mit wilden Rosen und Tausendschön, Taufrisches Gras dein Körper soll fühlen, und wilder Wein im Schatten dich kühlen."_ Das Gefühl war noch stärker als bisher. Immense Kräfte sammelten sich um ihn und suchten einen Weg zur Entladung. Der direkte Weg führte wohl durch ihn. Stolz und entschlossen stand die junge Frau neben ihm. Falls sie Angst hatte, zeigte sie es nicht. "_Dorthin wollen wir fliegen, bis uns die dunkle Nacht inmitten der Blumen, mit Tanz und Entzücken, ein Bett gemacht."_ Das Universum drehte sich um neunzig Grad und wieder zurück. Ein mittlerer Wirbelsturm blies Matt ins Gesicht. Licht blendete seine Augen. In seinen Ohren dröhnte es. Die Prinzessin klammerte sich an ihn. Jede ihrer Kurven fand die passende Nische bei ihm. Unglücklicherweise konnte Matt das nicht genießen. Auch er klammerte sich an sie, da sie das einzig Feste in dieser verrückten Welt war. So wartete er, daß er wieder sicheren Boden unter den Füßen hatte. Langsam verfestigte sich wieder alles. Matts Augen mußten sich erst an das helle Sonnenlicht gewöhnen, ehe er sich umschauen konnte. Er befand sich in einem Wäldchen neben einem Bach. Rechts lag eine weite Lichtung. Die Bachufer standen voller bunter Blumen. Veilchen und Thymian, Geißblatt über dem Kopf des Drachens... "Stegoman!" Der Drache funkelte ihn an. "Du schon wieder! Ich dachte, ich würde dich dümmsten aller Magier nie wiedersehen." Matt mußte jetzt das Gesicht wahren. "Dümmster? He, hab' ich dich schließlich nicht befreit?" "Auf eine weite Ebene, hast du versprochen. Und dann ende ich mitten im Wald." "Nun, Perfektion ist eben selten", sagte Matt ungerührt. "Außerdem ist es hier doch auch sehr hübsch." "In deinen Augen vielleicht. Sonst wärst du mir kaum hinterhergekommen. Oder hast du dich nach meiner Gesellschaft verzehrt?" Alisande löste sich aus Matts Griff. "Und nun, Sir Magier? Habt Ihr mich zu Eurem zahmen Drachensklaven gebracht?" "Sklave!" brüllte Stegoman und verbrannte zwei Büsche und Gras. "Ich, ein Sklave? Was für eine gemeine, unverschämte Lüge ist das?" Matt hatte Alisande mit beiseitegerissen. "Vorsicht! Er wird bösartig, wenn er sich aufregt. Stegoman, hör auf! Die Lady hat nur die falschen Schlüsse gezogen." Der Drache machte eine Pause. "Was sagst du?" "Ein Mißverständnis. Die Lady hat nur gemerkt, daß wir uns schon mal begegnet sind." "Entschuldige, ich habe mich wirklich geirrt", rief die Prinzessin schnell. "Du bist in der Tat ungezähmt und frei, wie alle in deinem Volk." Stegoman legte den Kopf auf die Seite und dachte nach. Matt schlug mit seiner Jacke das Feuer aus. Alisande schmeichelte Stegoman, der dies genoß. "...so stark und tapfer bist du. Das ist die Kraft eines Riesen, und so herrliche Muskeln unter dem Schuppenpanzer. Der glänzt wie polierter Stahl. Du würdest nie feige ein hilfloses Mädchen angreifen." Sie sprach mit leicht rauchiger Stimme, die bei Matt sämtliche Drüsen anschwellen ließ. Er riß sich zusammen. "Hoheit, darf ich Euch Stegoman vorstellen, ein Wanderer des Drachenvolks. Stegoman - dies ist Ihre königliche Hoheit, Prinzessin Alisande." Die Prinzessin richtete sich würdevoll auf und neigte voll Anmut den Kopf. "Entzückt, Eure Bekanntschaft zu machen, Master Stegoman, allerdings wünschte ich, es wäre unter angenehmeren Umständen." Matt sah, daß die Königliche Hoheit auf Stegoman ungeheuren Eindruck gemacht hatte, obwohl er doch Demokrat war. Der Drache neigte den Kopf ganz tief. "Welche Ehre, Hoheit!" Er wandte sich an Matt. "Dann hast du es wirklich getan! Offenbar bist du doch mächtiger, als du zugibst. Oder war das nur Anfängerglück?" Matt wollte gerade eine entsprechende Antwort geben, als die Prinzessin einen Schrei ausstieß. Sie hatte die Hände um den Hals gelegt und blickte mit großen Augen umher. "Welch ein Wunder! Luft, Bäume, Himmel! Sonnenlicht! Und Wasser!" Sie schöpfte mit der hohlen Hand Wasser aus dem Bach und trank. Matt sah sie bewundernd an. So zart und anmutig... Sie schien gleichsam zu schweben, als sie das Haar zurückwarf und auf Matt zuschritt. Dann gebot sie: "Meister Magier, ich bitte Euch, geht ein paar Schritte fort - Ihr auch, Meister Stegoman! Ich habe seit einem halben Jahr nicht mehr herrliches, frisches Wasser auf der Haut gespürt. Ich möchte jetzt ein Bad nehmen." Matt störte die Arroganz in ihrem Ton etwas, aber er konnte schlecht ablehnen. "Seid Ihr sicher, daß es ungefährlich ist?" "Komm schon", sagte Stegoman. "Laß die Lady baden, guter Magier! Wir bleiben in der Nähe, damit sie uns rufen kann, falls nötig. Was für Ungeheuer waren die Leute, die sie gefangenhielten und ihr ein halbes Jahr lang kein Wasser zum Waschen gönnten!" Er watschelte über die Wiese davon. Matt konnte nicht gut weniger Gentleman sein als diese Echse. "Meister Magier!" Matt schaute zurück. "Hoheit?" "Ich kann unmöglich nach dem Bad diese dreckigen Fetzen wieder anziehen. Könnt Ihr nicht etwas Passendes herbeizaubern, das nicht mit dem Schmutz von sechs Monaten behaftet ist?" "Hm... sicher." Matt nickte. "Ich werde Euch mit jedem Atemzug danken, den ich tun werde", rief sie und verschwand hinter einem Busch. Matt fand, daß sie doch leicht zu Übertreibungen neigte. Aber dann stellte er sich ein Hemd vor, das Tag und Nacht, sechs Monate lang getragen war... vielleicht übertrieb sie doch nicht. "Du bist also doch ein richtiger Magier, wie's aussieht!" Schwang da Respekt in Stegomans Stimme mit? "Nicht mehr als bei unserem letzten Beisammensein. Neues habe ich jedenfalls nicht gelernt." "Dann hast du mehr Wissen, als du glaubtest", erklärte der Drache. "Wie hast du Malingos Zauberband um das Gefängnis der Prinzessin durchbrochen? Das muß doch der kräftigste und schlimmste Bannzauber sein, den er kennt." Matt wurde im nachhinein fast schlecht bei dem Gedanken, daß er Malingo herausgefordert hatte. "Eigentlich habe ich nicht viel gemacht, nur ein Gedicht zitiert, das mir gerade einfiel. Und jetzt sind wir hier." "Du hattest keine Ahnung, welche Mächte du herausgefordert hast?" "Na ja... so weit würde ich nicht gehen." Matt dachte an die Hitze und das Gefühl, sich im Innern eines Dynamos zu befinden. "Aber was sollte ich sonst tun?" "Ich hatte schon erwartet, daß du Hitzkopf dich auf so ein Risiko einlassen würdest.": Der Drache sah ihn nachdenklich an. "Aber du bist jetzt hier und Malingos Zauber gebrochen. Du mußt einen ihm unbekannten Zauber angewendet haben." "Du meinst, einen Zauber, den Malingo nicht kennt?" Matt dachte nach. "Hm... durchaus möglich. Die Gedichte in meinem Kopf stammen aus meiner Heimat. Hier sind sie bestimmt völlig neu." "Neuer Zauber!" Stegoman wich etwas zurück. "Das ist äußerst gefährlich!" Jetzt war Matt ganz Ohr. "Wieso? Erkläre mir das!" "Selbstverständlich. Magie ist schwer faßbar. Bei ihr gelten keine festen Regeln. Sie ist eine Kunst, die sich nur in Augenblicken offenbart. Daher durchstöbern gute Magier die alten Bücher nach Zaubern, welche einst angewendet wurden, jetzt aber vergessen sind. Ihre ganze Welt besteht aus dem Lesen in staubigen Handschritten. Lernen ist für sie das höchste. Sie sind nur daran interessiert, altes Wissen wieder zu entdecken, nicht an der praktischen Anwendung." "Wahre Gelehrte", sagte Matt. "Gibt es davon viele?" "_Sie_ sind äußerst selten, aber Zauberer wachsen hinter jedem Busch." Matt runzelte die Stirn.. "Dann kann man Zauberei also leichter lernen?" "Allerdings braucht man ein Zauberbuch, aber die sind reichlich Vorhanden. Offensichtlich sorgen dafür die Mächte der Finsternis." Matt sah eine Druckerpresse vor sich, die sich wie wahnsinnig im Höllenschlund drehte. "Und mehr hat Malingo nicht getan? Nur ein Buch auswendig gelernt?" "Ein Buch - zwei Bücher - das spielt doch keine Rolle. Solang ihn kein Stärkerer herausfordert, macht er sich nicht die Mühe, nach neuen Zaubersprüchen zu suchen. Er ist voll und ganz beschäftigt, Reichtümer zu sammeln und neue Feinde zu bekämpfen, ehe diese so stark werden, daß sie eine Gefahr für ihn sein könnten. Ab und zu foltert er auch ein Opfer, so als Freizeitvergnügen. Ja, so ist das mit den Zauberern: Sie sehen in ihrer Macht nur das Mittel, sich jeden Wunsch zu erfüllen. Die nehmen sich die Zeit, neue Zaubersprüche zu lernen." "Und die Magier widmen sich nur der Forschung!" Matt schüttelte den Kopf. "Irgendwie stimmt da etwas nicht! Einer _muß_ doch ab und zu - sich einen neuen Zauber ausdenken -, sonst würde sich ja niemals etwas in der Machtstruktur ändern." Stegoman betrachtete ihn neugierig. "Ein seltsamer Gedanke! Doch hast du nicht ganz unrecht. So einmal pro Jahrhundert arbeitet angeblich einer einen neuen Zauber aus. Aber man sagt, daß das Schmieden eines neuen Zaubers wie das Gehen auf Messers Schneide ist, oder als ob man in einer Schlangengrube steckt." "Du hast so anschauliche Beispiele." Matt wurde ganz mulmig zumute, als ihm klar wurde, welches Risiko er eingegangen war, indem er nur neue Zaubersprüche benutzt hatte. Er kannte ja die alten gar nicht. Ihm lief es kalt über den Rücken, wenn er an die Kräfte dachte, die auf ihn eingedrungen waren, als er Malingos Kerkermauern überwand. Er konnte sich gut vorstellen, daß ein mächtiges Feuer ihn verzehrte und nur die verkohlte Hülle übrigließ. "Wenn man darüber richtig nachdenkt, kann man schnell die Lust an Zauber und Magie verlieren." "Allerdings", pflichtete ihm der Drache bei. "Aber du hast jetzt keine Wahl mehr, mein Lieber." "Was? Moment mal! Ich bin aus freien Stücken hier und kann tun und lassen, was mir gefällt." "Aber klar doch", sagte Stegoman. "Ich bin auch sicher, daß Malingo deine Freiheit absolut respektiert." Matt ließ den Kopf sinken. "Ich habe mich verpflichtet! Genau das habe ich bisher immer vermieden!" Er hörte das Echo seiner Worte und erstarrte. _Habe ich das gerade gesagt _? Warum war er sich darüber nie zuvor bewußt gewesen? Und noch erstaunlicher: Wieso konnte er es sich plötzlich eingestehen? Weil er sich jetzt verpflichtet _hatte_. *Kapitel 5* Geschwätzige Kobolde kletterten an Matts Rückgrat empor und suchten durch den Gehörgang Einlaß zu seinem Verstand. "Stegoman..." "Ja?" "Ich bringe uns alle um. Ich kann nichts dafür, aber es kann nur ein böses Ende nehmen. Jedesmal, wenn ich zaubere, bringe ich uns alle in Lebensgefahr - weil ich im Grunde _keinen blassen Schimmer habe, was ich tue_!" "Beruhige dich!" sagte der Drache. "Bist du etwa schon tot? Nein! Obwohl du einige Zauberstücke vollbracht hast." "Danke. Du hast recht." Matt holte tief Luft. "Es ist gut, wenn man ab und zu an die Realität erinnert wird. Aber jedesmal, wenn ich es mit Magie versuchte, spürte ich, wie sich um mich ein Kräftefeld sammelte - ein magisches Kräftefeld. Es muß sich um eine Form von Energie handeln. Eigentlich müßten dann auch feste Gesetze gelten, wie für Elektromagnetismus und Schwerkraft." "Gesetze? Dummes Gerede! Wie kann es für eine Kunst Gesetze geben?" Matt widersprach. "Meiner Meinung nach gelten auch für Kunst Gesetze und _bestimmt_ für Energiefelder. Und wenn ich diese Gesetze herausfinde, kann ich die Felder beeinflussen." "Willst du mir etwa weismachen, daß du für Magie feste Regeln aufstellen kannst?" fragte der Drache empört. "Genau! Allerdings muß ich zugeben, daß dies mehr eine Aufgabe für einen Poeten als für einen Wissenschaftler ist." "Ich weiß nicht, was ein Wissenschaftler ist; aber daß diese Aufgabe nur ein wahrer Poet lösen kann, verstehe ich - die größten Magier sind immer auch Poeten." "Das zeigt mir, auf welcher Stufe _ich_ stehe. Doch ist eins klar: Hier wird anscheinend jede Magie mittels Versen bewirkt. Nun kann dir aber jeder literarische Vollidiot sagen, daß das Wort _nicht_ das Ding ist, sondern nur ein _Symbol_ für das Ding. Ein Poet arrangiert seine Worte so, daß er seine dichterische Absicht am stärksten zum Ausdruck bringt." "Willst du damit sagen, daß ein Poet, der auch ein Magier ist, das gleiche mit dieser magischen Kraft macht, von der du sprachst?" "Genau!" Matt nickte kräftig. "Die Worte sind nur Modelle. Sie geben dem Poeten-Magier etwas, worauf er seine eigenen Energien richten kann. Das bißchen Energie vom Magier setzt die ungleich gewaltigere magische Energie in Gang, welche hier an allen Orten vorhanden ist." "In Gang setzen?" "Verändern. Verformen. Wenn er den Klang und die Formen der Worte nach seinem Willen schmiedet, formt er gleichzeitig das magische Kräftefeld in die Gestalt, die er ihm geben will. Ist sein Gedicht vollendet - man sehe und staune! -, tut auch das magische Feld alles, was er von ihm verlangt!" "Klingt ja nicht schlecht", meinte Stegoman - noch keineswegs überzeugt. "Aber hast du auch den Mut, das auszuprobieren?" "Ja! Mal sehen..." Matt blieb stehen, steckte die Hände in die Taschen und blickte umher. "Was wäre wohl ein guter Zauber?" "Du hast der Prinzessin neue Kleider versprochen", erinnerte der Drache. "O ja! Was könnte sie brauchen? Natürlich nichts zu Elegantes. Ich habe das Gefühl, daß wir eine lange und beschwerliche Reise vor uns haben. Was ist hier so das übliche Reitkostüm?" "Für eine Dame? Na, Bluse, Wams, Rock, Stiefel - und einen Umhang mit Kapuze, falls es regnet." "Mit dem Umhang können wir noch warten, bis Wolken aufziehen." Matt zog die Jacke aus und rollte die Ärmel hoch. "Mal sehen... Ja, der >Getreue ThomasMolestam, wer sonst könnte mit Zaubersprüchen um sich werfen, als wären es Knallfrösche< Da bin ich gekommen, um mal nachzusehen. Und tatsächlich: Da steht er, brennend vor Ehrgeiz, die arme alte Molestam zu verjagen und sich ihr Land anzueignen, um es mit Furcht und Terror zu überziehen und auszubluten! Wenn es etwas gibt, daß ich aus tiefstem Herzen verabscheue, dann ist es ein rücksichtsloser neuer Zauberer." "Madam!" Matt richtete sich auf und bemühte sich, wie die Verkörperung der beleidigten Unschuld auszusehen. "Ich versichere Ihnen, ich habe nicht..." "Als ob es nicht schon genug Konkurrenz im Zaubergeschäft gäbe!" klagte Molestam weiter. "Gerade wenn man denkt, daß man sich in Ruhe niederlassen kann, um über die eigenen eingeschüchterten Bauern friedlich zu herrschen, da muß man wieder so einen aufmüpfigen jungen Herausforderer zurechtstutzen, Es ist eben nicht so wie in den guten alten Zeiten, als man sich nur um seinen eigenen Kram kümmern und sei. ne Bauern in Ruhe ausnehmen konnte. Aber jetzt - seit dieser Emporkömmling Malingo sich breitmacht - ist man auf eigenem Grund und Boden völlig machtlos. Aber nicht in meinem Distrikt! Wenn hier so ein junger Wunderwirker mir die Hand in den Pudding steckt, hat er keine Hand mehr - und auch kein Fünkchen Leben!" Ihre Arme schnitten wie Sicheln durch die Luft. Sie hatte die Finger zu einem kunstvollen Symbol verschlungen, als sie kreischte. "_Laß Pest und Gelbsucht dich niedermähen. Laß Teufel und Geister dir..."_ "Nein!" brüllte Stegoman und sprang vor. Eine drei Meter lange Feuergabe schoß aus seinem Maul. Molestam schaute erschreckt auf... Dann verengten sich ihre Augen. Sie richtete die Symbolhand gegen ihn. "_Bei allen Dämonen, die beherrschen das Sein! laß dieses Monster erstarren zu Stein!"_ Stegoman erstarrte, als hätte man ihn in einen Block von schnelltrocknendem Plastik geworfen. Langsam wurden seine Schuppen zu stumpfem, schwarzem Gestein. "Runter!" Matt stieß die Prinzessin in eine Bodensenke und warf sich zum Schutz über sie. Wenn eine so große Menge auf Kohlenstoffbasis plötzlich zu Silikon verwandelt wurde, könnte verdammt viel Strahlung freigesetzt werden. Dies Risiko wollte er auf keinen Fall eingehen. So waren sie zumindest aus direkter Sicht. Matt hörte, wie die kreischende Stimme Molestams näher kam. "Vor mir kannst du dich nicht verstecken, du frecher Bengel! Ich finde dich, und dann wehe dir!" "Könnt Ihr sie nicht aufhalten?" fragte Alisande. "Ich will's versuchen." Grimmig entschlossen führte Matt mit den Fingern eine Bewegung aus, als setze er einen, Kreisel in Gang und rief: "_Schnell wie die Spindel, so dreht sich das Weib tief in den Boden. Dort sei ihr Verbleib!"_ Mit erschrockenem Schrei fing Molestam an, sich um die eigene Achse zu drehen. Sie heulte verzweifelt, als sie die Geschwindigkeit eines Derwisches erreichte. Ihre Zehen gruben sich in den Erdboden. Der ganze Körper bohrte sich hinein. Da tat es Matt leid, ihr ein so extrem hartes Ende zugeteilt zu haben. Sie war eine böse Hexe; aber er hatte keinen Beweis, daß sie die Todesstrafe verdiente. Er biß die Zähne zusammen und fügte die folgenden Zeilen hinzu: "_Doch mag sie auch dort unten enden, will ich ihr doch das Leben spenden. In Grabestiefe soll sie dienen, um dort ihr' Erdenschuld zu sühnen."_ Mit einem letzten, gellenden Wutschrei verschwand die Hexe aus der Sicht. Ermattet, aber mit einem Seufzer der Erleichterung, sank die Prinzessin nieder. Er stützte sie am Ellenbogen. "Schon gut. Alles in Ordnung. Sie ist weg, und wir leben." "Ja, wir leben." Alisande besann sich wieder auf ihren königlichen "Rang. Sie löste sich von ihm. Matt blickte auf die Statue, welche einmal Stegoman, gewesen war. Alisande folgte seinem Blick. "Oh, der Drache! Das arme Tier!" Matt trat auf das reglose Steinbild zu. "Nun, wenigstens kann er keinen Schmerz fühlen. Mal sehe in, was wir machen können. Hm - ich meine..." Die Prinzessin lief zu ihm. "Ja, Sir Magier, was? kann man tun?" "Ich weiß es auch nicht", gab Matt zu. Dann legte er die Hand auf den Nacken Stegomans. "Es ist warm - aber nicht heiß. Seht Euch die Details an! Wärt? dies wirklich eine Statue, dann in meinen Augen der größte Kitsch, den ich je sah!" "Es ist Euer Freund, keine Statue", wies Alisande ihn zurecht. "Wie wollt Ihr ihn auftauen?" "Auftauen? Nein, Hoheit. Das ist meiner Meinung nach weniger eine Sache des Auftauens als eine der die Ontogenie rekapitulierenden Phylogenie." "Was?" "Die Entwicklung eines Individuums als Summe der Geschichte der Spezies." Gefahr durch neue Zaubersprüche oder nicht - der Drache war sein Freund. Er mußte den Versuch wagen. "Manche Leute behaupten, daß Leben entstanden sei, als Chemikalien durch Regem aus dem Gestein ausgewaschen wurden." "Was ist denn das für ein Blödsinn?" fragte Alisande. "Alle wissen, daß Gott das Leben erschuf." "Stimmt; aber keiner der Berichte sagt - wie er das machte. Es wäre besser, Ihr trätet ein bißchen beiseite, Hoheit. Es könnte gefährlich werden." Die Prinzessin wollte erst antworten, ging dann aber weg und sagte dabei leise: "Ich bitte Euch, seid vorsichtig! Eure Gesundheit bedeutet mir viel." "Mir auch", meinte Matt und konzentrierte sich ganz auf das Problem. Er würde stimmliche und körperliche Symbole brauchen - Verse und Gesten. Wahrscheinlich sollte er Anspielungen auf die Evolution bringen und auf Gott. Dazu könnte er die Hand steif ausstrecken und ganz langsam Bewegungen einer Statue ausführen, die wieder zum Leben erwacht. Matt holte tief Luft und begann: "_Am Anfang, als der Herr sich gab die Mühe, tat er auch Stein in seine Lebensbrühe. Stein half, das Wasser zu beleben, sollst jetzt auch Stein den Atem wiedergeben."_ Seine Hand und sein Arm wanden sich wie eine Schlange. Er hielt den Atem an und hoffte. Mit einem Krachen wie von tausend Eisschollen drehte Stegoman langsam den Kopf. Die stumpfen Augen wurden milchig. In den Zentren erschienen schwarze Punkte, die sich zu Pupillen vergrößerten. Der ganze mächtige Körper bebte und färbte sich langsam dunkelgrün. Der Drache schloß die Augen und gähnte weit. "Was ist geschehen, Magier? Jeder Muskel ist wie Blei so schwer und tut weh." Matt stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. "Du warst versteinert, Stegoman. Total." "Ja, jetzt erinnere ich mich." Der Drache biß die Kiefer zusammen. "Diese widerliche Hexe hat mich verzaubert. Und du hast sie übertrumpft, was?" Er klang nicht besonders überrascht. "Erzähl mir, wie du's gemacht hast." "Ein andermal." Matts Knie wurden weich. Er setzte sich schnell ins Gras und beugte den Kopf zwischen die Beine. "Was ist mit dir?" fragte Stegoman besorgt. "Geht's ihm nicht gut?" Das war Alisande. "O mein Gott! Es ist ihm doch hoffentlich nichts zugestoßen! Das wäre einfach zu unfair, nachdem er so tapfer gegen die Hexe gekämpft und solche Wunder bewirkt hat." Matt zog sich an Stegoman hoch. "Nein, es ist nichts. Nur eine kleine Nachwirkung des Zaubers. Das nimmt einen schon ziemlich mit." "Ja, aber es ist immer noch viel von Euch übrig." Die Prinzessin hakte sich bei ihm ein und strahlte ihn mit ihren wunderschönen Augen an. "Ich versichere Euch: Ihr seid der tapferste und heldenhafteste Magier von allen! Wer sonst hätte unter Lebensgefahr einen neuen Zauberspruch gewagt, um den bösen Bann von seinem Gefährten zu nehmen? Ihr seid mit Sicherheit der wertvollste aller Magier!" Das machte beinahe alles wieder wett. Stegoman schaute ihn überrascht an. "Was? Du hast einen _neuen_ Zauber gewagt, um mich zu befreien?" "Ich mußte." Matt zuckte mit den Achseln. "Zufällig hatte ich keine alten mehr." "Von nun an bin ich dein treuester Gefährte", erklärte Stegoman entschlossen. "Du wirst nie wieder in Gefahr geraten, denn ich werde immer an deiner Seite sein! Wie hast du das aber fertiggebracht?" "Es war etwas ganz Neues, das beeindruckt die Leute immer", antwortete Matt. Dadurch, daß er aus einer ganz anderen Kultur kam, verfügte er natürlich über einen ungleich größeren Vorrat an Zaubersprüchen als der durchschnittliche Zauberer hier. "Allerdings", bestätigte Alisande. "Was war das für ein Unsinn, daß Ihr ein unerfahrener, grüner Magier seid? Kein ehrwürdiger Veteran hätte es besser machen können!" "Danke! Aber ich hatte ja keine Alternative." "Wäre Euch das lieber gewesen?" "In der Tat, ja! Ich bin keiner, der gern aus der Masse herausragt, müßt Ihr wissen." Drache und Prinzessin waren sprachlos. Empört, aber sprachlos. "Es ist Malingo", erklärte Matt. "Ihr hörtet, wie die alte Hexe ihn erwähnte. Ich überlege, ob sie mich aus eigenem Antrieb überfiel oder ob jemand sie dazu anstiftete. Ich habe keine Ahnung, wie gut Malingo mit Kristallkugeln und Tintenklecksen bestückt ist; aber ich wette, daß er uns jede Minute beobachtete." "Ja, jetzt hat er eine sehr viel richtigere Einschätzung von Euch", meinte Alisande ernst. "Genau das habe ich auch gerade gedacht", stimmte Matt ihr bedrückt zu. "Und ich bin sicher, daß er noch nicht fertig ist mit uns. Was schickt er wohl als nächstes? Einen kleinen Dämonen?" "Das spielt doch keine Rolle", sagte Alisande fröhlich. "Ihr werdet ihn besiegen." Sie klang absolut sicher. "Kommt her, Sir!" Alisande hob einen dürren Weidenzweig auf. Dann trat sie vor Matt. Den Zweig hielt sie wie ein Szepter. "Kniet nieder!" Verwirrt starrte Matt sie an. Er öffnete den Mund, um zu protestieren; aber Stegoman stieß ihn mit dem Maul an und murmelte: "Tu, was sie befiehlt, Zauberer! Einer Hoheit stellt man keine Fragen. Sie weiß bestimmt, was sie will und tut." Matt trat vor Alisande. Er war entschlossen, jeden ihrer Wünsche - auch wenn er noch so idiotisch sein sollte - innerhalb gewisser Grenzen zu erfüllen. "Kniet nieder!" befahl die Prinzessin noch mal, als er auf eineinhalb Meter herangekommen war. Matt ging auf ein Knie und stützte den Ellenbogen auf die Kniescheibe - plötzlich wurde ihm die Absurdität dieser Stellung bewußt. Wer war er? Sir Walter Raleigh? Er neigte den Kopf, um sein Grinsen zu verbergen. "Matthew Mantrell", begann Alisande. "Ihr habt am heutigen Tag Eure Kräfte und Fähigkeiten im Kampf gegen die Mächte des Bösen in Unseren Diensten bewiesen. Daher nehmen wir Euren Treue- und Lehenseid an, der Euch bis an das Ende Eurer Tage binden wird." Matt hatte Mühe, nicht empört aufzufahren. Eid! Sie. würde ihn annehmen! Ach ja? Und was, wenn er diese Eide nicht leisten wollte? Bleib ruhig, Junge! Erinnere dich daran, wo du dich befindest und welche Gesetze hier gelten! Irgend jemandem mußt du Treue schwören. Wenn nicht, bist du ein Gesetzloser, ein Ausgestoßener - oder ein König. "Seid nicht bange! Ich werde Euch die Worte vorsprechen. Ihr braucht sie nur zu wiederholen", flüsterte Alisande ihm zu, als seien sie in einer riesigen Kathedrale mit einer Menge von Zuhörern, was Matt irrsinnig komisch fand. Aber er unterdrückte das Lachen und schaute die Prinzessin ernst an. "Schwört Ihr, Uns alle Tage Eures Lebens zu dienen?" fragte Alisande. "Ich schwöre es." Was war das? Eine Heirat? "Werdet Ihr jederzeit, von diesem Augenblick an, sofort zu Uns eilen, ohne Euch von anderen Interessen oder Geschäften abhalten zu lassen, wenn Wir Euch rufen?" Das war stark! Aber im Grunde auch nicht mehr, als was man von einem Polizisten oder Feuerwehrmann verlangte. "Ich schwöre - ganz gleich welches Problem oder Vergnügen mich in Anspruch nimmt, sofort jegliches Interesse daran aufzugeben, wenn Eure Hoheit mich ruft." So ein bißchen Ausschmücken konnte nicht schaden. Das kam gut an. Alisande schaute ihn erfreut an. "Und werdet Ihr zur Verteidigung Unserer Ehre und rechtmäßigen Ansprüche niemals Mühe und Kräfte sparen, ohne Rücksicht auf Furcht oder Gefahren?" "Ich schwöre, für die Ehre und Rechte Eurer Hoheit zu arbeiten und zu kämpfen, ohne Rücksicht auf Müdigkeit, Angst, Zaudern oder Zweifel, wann auch immer Eure Hoheit mich ruft." Es war zwar nur eine Paraphrase ihrer Worte; aber Alisande strahlte. "Für meinen Teil schwöre ich Loyalität, Gerechtigkeit und Milde Euch, meinem Vasallen, gegenüber - jetzt und für den Rest meines Lebens. Als Dank für Eure Treue und in Anerkennung Eures Wertes gewähre ich Euch Ehre, Tapferkeit, Stärke des Armes und des Herzens, sowie jegliches Wissen und alle Fähigkeiten, welche Ihr brauchen werdet, um mit Herz und Hand für mich zu kämpfen - außerdem einen rechtmäßigen Platz unter den Edlen meines Reiches in meinem Rat. Ferner verleihe ich Euch die Besitztümer von Borvere, Angueleau und Poilene, welche Ihr und Eure leiblichen Erben bis ans Ende Eurer Blutlinie besitzen sollt." Sie beschrieb einen Bogen mit dem Weidenzweig und stellte ihn dann vor sich und Matt auf die Erde. "Als Zeichen der Gültigkeit dieses Gelöbnisses lege ich meine Hand auf diesen Stab. Seid auch Ihr willig, dies zu tun?" Von so vielen Ehren überhäuft - und von der Komik der Situation belustigt -, packte Matt leicht benommen den Zweig. Er hatte einen Platz unter den Edlen ihres Reiches - falls sie je dies Reich zurückgewann! Und er hatte einen Familienbesitz - falls er die gegenwärtigen Pfründeninhaber rausschmeißen konnte! Andererseits mußte er zugeben, daß es für Flüchtlinge mitten auf einer Wiese nicht übel war. "Nun sind unsere Hände mit und durch das Holz dieses Landes vereinigt", fuhr Alisande feierlich fort, "so wie es mit dem Land selbst vereinigt ist, von dem es entsprang. Erde, Luft und Wasser schufen den Stab. Erde, Luft und Wasser sind jetzt Zeugen unserer Eide. Ihr seid mein Vasall und ich Eure Oberlehensherrin." Sie hob den Zweig. "Erhebt Euch, Matthew Mantrell, Lord Magier von Merovence!" Langsam stand Matt auf, diesmal ohne die geringste Lust zu kichern. Die Prinzessin hatte als Zeugen drei der vier der alten griechischen Elemente angerufen, die Urmaterie, aus der das Universum geschaffen war. Das Land Merovence war Siegel und Band zwischen ihrem königlichen Haus und einem heimatlosen Vagabunden. Matt lief es kalt über den Rücken, als ihm wieder bewußt wurde, welche Macht Worte in diesem Land hatten und welche Macht infolgedessen einem Eid entsprechen würde. Alisande schlug ihm mit den Händen auf die Schultern und beugte sich vor, um ihm beide Wangen zu küssen. "Noch nie war ich stolzer, ein Bündnis zu beschwören. Nun seid Ihr mein persönlicher Magier, Matthew Mantrell - Magier der rechtmäßigen Königin, Lord Magier!" Jetzt kam es Matt: Er war ein Lord! Die wildesten Märchenträume seiner Kindheit hatten sich erfüllt! Er war jetzt ein Aristokrat! Benommen schaute er die Prinzessin mit großen Augen an. "Hoheit - Majestät - ich bin nicht wert..." "O doch, bist du!" grollte Stegoman hinter ihm. "Du bist ein guter Mensch, Matthew Mantrell, und ein äußerst mächtiger Magier." "Na ja", murmelte Matt und schaute immer noch Alisande an. "Hm, könnt Ihr mir sagen - diese Besitztümer, die Ihr erwähnt habt -, wer sitzt da eigentlich im Augenblick drauf?" Alisandes Augen wurden vor Erstaunen noch größer. "Na, der falsche Lord Magier natürlich - Malingo!" Matt spitzte langsam die Lippen. "Ja", sagte er und nickte. "Wie dumm von mir! Das hätte ich mir doch gleich denken müssen, oder?" "Kümmert Euch aber doch darum nicht!" Alisande lächelte ihn voll liebevollem Verständnis an und nahm seinen Arm. "Wenn Ihr erst unsere Art hier gelernt habt, wird alles für Euch so leicht und selbstverständlich sein wie atmen." "Ja, natürlich", sagte Matt und lächelte zynisch. "Bis dahin muß ich mich eben so durchschlagen, schätze ich." Er überlegte, daß in jeder Kultur einige Dinge immer vorkommen: zum Beispiel - ein abgekartetes Spiel! *Kapitel 6* "Ho!" rief eine Stimme aus der Ferne. Überrascht drehte Matt sich um. Und da war er: ein echter, authentischer Ritter in voller Rüstung! Langsam kam er über die Wiese auf sie zu. Die Rüstung war schwarz, das Roß ebenfalls. Der Ritter schwenkte einen übergroßen Zahnstocher mit einem Wimpel am Ende. Matt schloß schnell die Augen. "O nein! Sagt mir, daß ich das nicht sehe!" "Weshalb, Lord Magier?" Erstaunt blickte die Prinzessin ihn an. "Habt Ihr etwa Angst vor ihm?" "Nun, da Ihr es erwähnt - ja. Allerdings hatte ich daran eigentlich nicht gedacht. Vergebt meinen Zynismus, Prinzessin, aber so wie es um uns steht, müssen wir doch davon ausgehen, daß jeder Fremde für uns ein Feind ist, bis er uns eines Besseren belehrt." "Ihr braucht doch keinen Ritter zu fürchten", protestierte Alisande. "Sie sind alle bei ihrer Ehre gebunden, Sir - selbst diejenigen, welche nicht auf unserer Seite stehen." "Auch Malingos Ritter?" Die Prinzessin errötete und hob das Kinn höher. "Das sind ekelhafte, verräterische Schurken, welche niemals den Titel >Ritter< beanspruchen dürfen." "Oh! Natürlich nicht! Die Tatsache, daß sie Percherons reiten, eine Rüstung tragen und große, scharfe Schwerter haben, spielt dabei natürlich überhaupt keine Rolle." "Genau!" Sie strahlte. "Ihr lernt unsere Art schnell, Lord Magier." Matt brauchte eine Minute, um zu erkennen, daß sie das völlig ernst meinte. Er wandte sich wieder dem Reiter zu, der noch etwa fünfzig Meter entfernt war. "Und wie können wir sicher sein, daß dieser Typ nicht einer von Malingos Leuten ist?" "Aber, aber! Er trägt schließlich eine schwarze Rüstung!" Matt schaute sie schräg von unten an. "Ja dann! Aber heißt das nicht, daß er zu den Bösen gehört oder so?" "O keineswegs!" Alisande schien wirklich überrascht zu sein. "Um Himmels willen, Lord Matthew, wie kommt ihr auf einen solchen Gedanken? Seine Rüstung zeigt lediglich an, daß er ein freier Ritter ist, der keinem Lord die Treue schwur - das ist alles." Matt hielt ihrem Blick stand und sagte langsam: "Ja, logisch - keine ökonomische Sicherheit. Er hat nicht das Geld oder die Möglichkeiten, seine Rüstung zu polieren. Ist das richtig?" "Genau! Daher malt er sie schwarz an." "Sehr praktisch." Matt blickte wieder zum Reiter. "Und was hindert einen von Malingos Kerlen daran, _seine_ Rüstung auch schwarz zu bemalen?" "Aber, Sir! Das wäre unehrlich!" Matt schluckte die Antwort hinunter, die ihm auf der Zunge lag. Der Schwarze Ritter blieb kurz vor ihnen stehen und schwang grüßend die Lanze. "Heil, schönste Lady! Heil, Sir! Heil, Euch der am meisten Freien!" "Seid gegrüßt, edler Ritter", erwiderte Stegoman. Matt nickte. Alisande sagte: "Seid gegrüßt, edler Ritter! Euren Namen und den Eures Wappens?" Der Ritter lachte und holte einen leeren, schwarz bemalten Schild hervor. "Das ist mein Wappen, Lady. Alles andere darf ich erst enthüllen, wenn ich einen Eid erfüllt habe. Was meinen Namen betrifft: Ich bin als Sir Guy Losobal bekannt." _Warum nicht_? dachte Matt mißmutig. >Losobal< war dem französischen >Le Sable< so ähnlich, daß es auch in diesem Universum dasselbe bedeutete. In anderen Worten: Sir Guy, der Schwarze Ritter. Äußerst aufschlußreich. Doch konnte er sich an Höflichkeit nicht ausstechen lassen. "Seid gegrüßt, Sir Guy. Ich bin Matthew Mantrell, Lehnsmann dieser Lady." "Ach, ein Lehnsmann!" Aus Sir Guys Stimme hörte man förmlich, wie er sich schon die Lippen leckte. "Nun denn! Wollt ihr nicht eine Lanze mit mir brechen?" Matts Augen wurden groß. Schließlich gelang ihm ein gequältes Lächeln. "Danke für die Einladung, Sir Guy! Aber ich glaube nicht, daß ich hart genug bin. Die Lanze würde mich glatt durchbohren." Sir Guy lachte. "Wie amüsant, Sir! Aber im Ernst - wollt ihr nicht mit der Lanze in der Hand einen Gang gegen mich reiten?" "Ich würde Euch liebend gern den Gefallen tun", antwortete Matt. "Doch leider habe ich keine Lanze, von anderen Nichtigkeiten wie Roß oder Rüstung ganz abgesehen." "Aber, wie das?" Sir Guy ließ die Lanze sinken. "Ein Ritter ohne Rüstung und Waffen?" "Ihr unterliegt einem Mißverständnis", schaltete Alisande sich ein. "Lord Matthew ist mein Lehnsmann, aber kein Ritter." Sir Guy saß einen Augenblick ganz still. Matt stöhnte innerlich. Wußte die Prinzessin denn nicht, daß man niemals einem Gegner freiwillig Informationen preisgab? Wenn er ein Lord war und ihr Lehnsmann, was war sie dann? Sir Guy fragte Matt in recht kühlem Ton: "Wie könnt Ihr ein Lord sein ohne Ritterschlag?" Doch ehe Matt antworten konnte, nickte er. "Aber natürlich! Ihr seid ein Zauberer!" "Schlaues Köpfchen!" stimmte Matt ihm bei. Vielleicht sogar zu schlau! "Dann versteht Ihr auch, daß ich für ein Turnier nicht richtig ausgestattet bin." "Nein, natürlich! Man kann doch nicht erwarten, daß ein Zauberer mit Schwert und Lanze kämpft!" Sir Guys Stimme war wie Samt. "Dann müssen wir wohl Waffen finden, welche wir beide mit gutem Gewissen benutzen können." Matt zuckte mit den Schultern. "Habt Ihr welche bei Euch?" "Diese!" Sir Guy streifte die Streithandschuhe ab und hielt die Fäuste hoch. "Die Waffen der Bauern! Diese besitzen alle Männer." Matts Lächeln verschwand. Als Junge hatte er natürlich wie alle anderen herumgeboxt. Danach hatte er sogar einen Boxkursus beim CVJM mitgemacht. Aber das lag über zehn Jahre zurück. Vielleicht war ein Ritter zwar hervorragend ausgebildet, mit Schwert, Speer, Lanze, Streitkolben und Streitaxt umzugehen, verstand aber nichts vom Faustkampf der Bauern. Matt erinnerte sich an keine Stelle in der mittelalterlichen Literatur, wo von einem Boxkampf die Rede war. Langsam nickte er. "Klingt gut, Sir Guy! Ich versuche ein paar Runden." Dann ging er, ohne die schockierten Blicke der Prinzessin zu beachten, auf Sir Guy zu und zog sein Jackett aus. Der Ritter schwang sich vom Pferd und begann seine Rüstung abzulegen. "Bist du wahnsinnig?" zischte Stegoman ihn an. "Dieser Ritter ist in allen Formen des Kriegshandwerks ausgebildet." "_Allen_?" Matt zog skeptisch eine Augenbraue hoch. "Ich hatte keine Ahnung, daß hier auch Faustkampf zu diesen Künsten gehört." "Sicher ist das mehr ein Herumprügeln und wird nicht durch systematische Ausbildung gelehrt; aber er ist ein Krieger - und du?" "Ich", antwortete Matt, "hatte zumindest _etwas_ systematisches Training im Gebrauch meiner Fäuste, auch wenn du über die Methode vielleicht lachst. Das sollte mir zumindest einen _kleinen_ Vorteil bringen - auch in einem so niedrigen Sport." "Sport? O nein, mein lieber Lord Matthew! Du kannst sicher sein, daß dieser Ritter nicht zum Spaß mit dir kämpft." "Ein Punkt, den man bedenken sollte", sagte Matt und nickte. "Auch wenn dies eher eine gesellschaftliche Veranstaltung ist, kämpft er für alles. Danke, daß du mich gewarnt hast." "Seid Ihr bereit?" fragte Sir Guy und hob die Fäuste. Er trug nur noch ein weites Leinenhemd und eine Hose. Matt sah, daß er die wattierte Weste auf die Rüstung gelegt hatte, und fand, daß dieser Mann durchaus ethische Prinzipien haben könnte. "Jederzeit, Sir Guy!" Er trat vor und hob seinerseits die Fäuste. Er hatte tatsächlich einen Vorteil. Sir Guy hatte zwar die richtige Haltung; aber seine Fäuste waren nur in Brusthöhe und in gleichem Abstand vom Körper. Wie wollte er einen Schlag abblocken? Gute Frage - aber Matt erinnerte sich, wie Sir Guy die Lanze mit der rechten Hand geschwungen hatte. Das war kein zartes Händchen gewesen. Wachsam begann Matt zu tänzeln. Sir Guy folgte ihm im Kreis und belauerte ihn aufmerksam. Der Ritter war kleiner als Matt - etwa einen Meter siebzig. Allerdings war das für hier mehr als die übliche Größe. Er war muskelbepackt und hatte Schultern, die jedem Ochsen zur Ehre gereicht hätten. Seine Bewegungen waren so geschmeidig wie geölt und verrieten Schnelligkeit und Präzision. Er hatte glänzendes schwarzes Haar, das auf der Stirn gerade geschnitten war, an den Schläfen bis zu den Ohren reichte und hinten den Nacken bedeckte. Sehr militärisch! Kein Haar konnte in die Augen fallen, aber der Nacken war geschützt, falls Rüstung und wattierte Weste nicht ausreichten. Ein schmaler schwarzer Schnurrbart führte an den Mundecken vorbei zu dem viereckigen Kinn. Große, weit auseinander liegende Augen und eine Nase, die zumindest einmal gebrochen war. Im großen und ganzen wirkte Sir Guy freundlich, fröhlich - und völlig ohne Deckung. Plötzlich bewegte sich Sir Guy - so abrupt und schnell wie ein Drehkreuz zur Stoßzeit. Die rechte Körperseite nahm er bei diesem gewaltigen Schlag mit. Matt sprang beiseite - aber zu spät. Steinharte Knöchel trafen sein Jochbein. Sterne tanzten ihm vor den Augen, als er kopfschüttelnd zurücktaumelte. Sir Guy war nicht der Typ, der ihm Zeit ließ, sich zu erholen. Als er wieder klar sehen konnte, sprang Sir Guy erneut auf ihn los, diesmal mit einem Schlag von oben. Matt brachte seine Linke hoch. Der Schmerz im Unterarm war fast unerträglich. Ein kleiner Stein bohrte sich in seinen Schädel. Wieder wurde alles schwarz um ihn, als er auf dem Gras ausrutschte. Eine Sekunde später berührte es seine Schultern. _Ich bin hingefallen_! stellte er überrascht fest und rollte schnell ab. Doch niemand trat nach ihm. Sobald er auf den Knien war, konnte er wieder klar sehen. Lächelnd stand Sir Guy da und wartete. Also, das war eine peinliche Situation - halb aufgestanden und ein Muskelpaket keinen halben Meter entfernt, das nur darauf wartete, daß er sich ganz erhob. Matt war mehr als versucht, einfach auf den Knien zu bleiben. Doch dann sah er aus dem Augenwinkel Alisande. Mit großen Augen stand sie blaß da und starrte angestrengt auf Matt. Ihr Gesicht war schmerzgezeichnet. Irgendwie konnte er nicht einfach aufgeben, solange sie ihn so anschaute. Er kam auf die Beine. Sofort holte Sir Guy zu einem gewaltigen unteren Haken aus. Jetzt konnte Matt seinen Stil einordnen - Breitschwert. Auch die Stärke Sir Guys war einfach phänomenal. Völlig sinnlos, diesen Schlag abzublocken. Sir Guy würde seinen Arm voll mit zurückschlagen. Matt lehnte sich zurück. Der Schlag ging an ihm vorüber. Er spürte nur den Luftzug im Gesicht. Da erinnerte er sich an den schwachen Punkt des Gegners bei einem solchen Schlag - die Lunge. Sir Guy war an Schlagen gewöhnt, nicht ans Stechen. Während Sir Guys Faust noch durch die Luft sauste, stach Matt mit den Fingern zu - hart! Sir Guy sah den Angriff kommen und riß den Arm hoch. Dadurch landete Matts Hand höher als beabsichtigt. Er erwischte den Ritter direkt am Jochbein - und hätte beinahe vor Schmerz losgebrüllt. Dieser Mann _war_ ein harter Brocken! Doch Sir Guys Kopf wackelte. Er schaute Matt überrascht an. Dann aber kam die Faust mit dem Rücken zuerst herab. Matt sprang zurück, aber nicht rechtzeitig. Knöchel sausten auf seine Brust herab. Er konnte jedoch die Hand etwas ablenken und landete einen rechten Haken mit der vollen Wucht der Schulter dahinter. Da ging Sir Guys Linke hoch und sandte Matts Arm himmelwärts. Matt verlor das Gleichgewicht. Er warf sich vor und prallte gegen Sir Guys Schulter. Der Ritter schwankte leicht, blieb aber stehen. Matt erhaschte einen Blick in sein Gesicht. Sir Guy lächelte mit hochgezogenen Brauen. "Wir werden ein bißchen zu vertraut, Lord Magier." "O nein! Ich fange erst an, Euch kennenzulernen." Matt preßte gegen die massige Gestalt des Ritters, warf sich nach hinten und riß die Fäuste hoch. Es hätte ihm klar sein müssen, daß Sir Guy mit der Linken hervorragend abwehrte, da diese sonst den Schild führte. Der Ritter folgte ihm und schlug mit der Rechten vor und zurück. Matt tänzelte zurück und wartete auf den richtigen Augenblick. Dann ließ er sich in die Hocke sinken und stieß mit aller Kraft nach Sir Guys Bauch. Wie erwartet, senkte sich die Linke, um abzuwehren - und Matt zielte aus der Hüfte aufs Kinn. Seine Faust knallte gegen Sir Guys Kinn, daß der Kopf des Ritters nach hinten flog. Matt ging wieder in die Hocke - doch Sir Guy schwankte nach hinten und fiel zu Boden. Ungläubig starrte Matt auf den schlaffen, bewußtlosen Körper. Dann erhob er sich langsam und senkte vorsichtig die Fäuste. Immer noch erwartete er, daß Sir Guy aufsprang und wieder zuschlug. Aber der Schwarze Ritter war tatsächlich bewußtlos. Langsam glaubte auch Matt daran. Ein Kleiderrascheln, dann Alisandes Stimme, ebenso verblüfft wie er. "Ihr habt ihn geschlagen, Magier!" Matt starrte auf den liegenden Ritter. "Dem Himmel sei Dank für kleine Geschenke!" "O nein, danke deinem Können!" dröhnte Stegoman neben ihm. "Du hast einen richtigen Ritter mit der Kraft deiner Arme und deiner Körperbeherrschung besiegt, Matthew Mantrell!" Langsam drehte sich Matt um und meinte stirnrunzelnd: "Danke - aber ich habe den unschönen Verdacht, daß ich es nicht geschafft habe." "Wieso?" Ein Rauchwölkchen stieg aus Stegomans Maul auf. "Ich glaube, ich gewann durch eine Entscheidung." "Du hast ihn doch flachgelegt! Wo ist da die Entscheidung?" "Bei ihm", meinte Matt mürrisch. Alisande kniete über Sir Guy und tätschelte ihm die Wangen, massierte seine Handgelenke und murmelte beruhigende Worte. Der Schwarze Ritter blinzelte. Dann blickte er die Prinzessin entsetzt an. "Sapperlot! Dann bin ich besiegt worden!" "Ich fürchte - ja." Matt trat zu ihm. "Doch reines Glück, edler Ritter. Ihr wußtet jedenfalls, was Ihr tatet, ich nicht." "O nein! Das war kein Schicksalsschlag, mit dem Ihr mich zu Boden strecktet. Das war geplant - und äußerst gut!" Sir Guy erhob sich auf ein Knie. "Ich muß jetzt vor Euch niederknien, Lord Magier. Da Ihr der Sieger seid und mich doch verschont habt, muß ich Euch nun in aller Ehre die Treue schwören und Euch als rechte Hand dienen. Mein Körper soll Euer Schild sein, und Eure Feinde sollen die meinen sein, bis ich die schlimmsten darunter besiegt habe! Und das schwöre ich, Matthew Mantrell, Lord Magier!" "Hm - das ist das beste Angebot, das ich erhalten habe, seit ich hierherkam", sagte Matt lahm. Er ging zu Alisande. "Kann ich ablehnen?" "Ihr könnt. Jedoch wäre das eine sehr schwere Beleidigung", flüsterte sie zurück. "Er hat sich ein bißchen übernommen, der Gute, nicht wahr?" "Ein bißchen", stimmte sie ihm zu. "Nach allen höfischen Regeln hätte es durchaus genügt, wenn er seine Ehrerbietung und seinen tiefen Respekt ausgedrückt hätte. Jedoch ist sein Benehmen kein Einzelfall." Das war der springende Punkt, dachte Matt. Wenn es nach den ungeschriebenen höfischen Gesetzen erlaubt war, bedeutete das für ihn beinahe die Verpflichtung, es anzunehmen. Sir Guy wartete und betrachtete ihn dabei mit fröhlichen Augen. _Der weiß ganz genau, was er getan hat_! In Matt stieg langsam heiße Wut hoch. "Ihr solltet ihn akzeptieren", erklärte die Prinzessin ganz sicher. Das traf Matt ins Mark. Nicht so sehr, daß sie dafür war, daß er Sir Guy akzeptierte, sondern die absolute Sicherheit, mit der sie es gesagt hatte. Sah sie etwas in dem Schwarzen Ritter, das er nicht erkennen konnte? Klar - Muskeln. Aber wenn er so darüber nachdachte - Sir Guy sah nicht schlecht aus - eigentlich sogar ziemlich gut. "Seid Ihr sicher, Hoheit?" flüsterte er. "Denkt daran, wenn ich zustimme, ist er ein offizielles Mitglied unserer Gruppe - und zwar auf ewig!" "Natürlich habe ich das bedacht." Die Prinzessin musterte den Ritter lange. "Und ich finde, daß wir nur wenige sind und jedes Schwert brauchen, dem wir trauen können." "Trauen? Wir kennen kaum seinen Namen! Tatsache ist, daß wir ihn nicht kennen - jedenfalls nicht den vollständigen." "Und dennoch! Wir können ihm trauen. Dessen bin ich ganz sicher." Ja, sie war ganz sicher. Das konnte man an ihrer Stimme hören. Einen Augenblick flackerte Eifersucht in Matt auf. Matt konnte nichts dagegen tun. Aber er zwang sich, dies Gefühl zu unterdrücken, und wandte sich wieder an Sir Guy. "Ich akzeptiere Euer Angebot der Loyalität, edler Ritter, und danke Euch von ganzem Herzen." Erwartungsvoll schaute Alisande ihn an. Matt seufzte. Er hatte genug über höfisches Benehmen gelesen, um zu wissen, was sie von ihm erwartete. "Und im Gegenzug schwöre ich Euch Loyalität, bis dieser Konflikt beendet ist oder einer von uns beiden stirbt." Sir Guys Schnurrbart wölbte sich über einem Lächeln. "Gemacht!" Dann sprang er auf und packte Matts Hand. "Ich bin Euer Schwert und Euer Schild, bis daß der Tod uns scheidet oder der schlimmste Eurer Feinde! Wohin werden wir ziehen, Lord Magier?" Matt wünschte, er würde das Gefühl los, daß man ihn reingelegt hatte. "Wohin Ihre Hoheit wünscht", antwortete er. Dann erinnerte er sich an seine Manieren. "Hm, Hoheit, Prinzessin Alisande - darf ich Euch Sir Guy Losobal vorstellen." Sir Guy zog die Brauen hoch. "Prinzessin Alisande?" "Dann habt Ihr also von mir gehört?" Alisande reichte ihm die Hand. Sir Guy sank auf ein Knie, um sie zu küssen. Die Prinzessin nickte huldvoll und war von Sir Guys höfischer Art sehr angetan, während Matt vor Wut schäumte. "Nun, da Ihr wißt, wer ich bin, Sir Guy - habt Ihr vielleicht doch Bedenken, sich uns anzuschließen." "Aber weshalb denn?" fragte Sir Guy überrascht. "Was ich geschworen habe, habe ich geschworen - und wenn ich mich einer noblen Sache verschrieb, um so besser!" Das ging ihm so locker über die Lippen, daß Matt jetzt ganz sicher war, daß Sir Guy ihnen nicht zufällig begegnet war - aber die Prinzessin wirkte in der Tat sehr zufrieden. "Nun denn, edle Herren!" sagte sie und schaute von Sir Guy zu Matt und wieder zurück. "Wie lautet Euer Rat? Wohin sollen wir marschieren?" "Weg von Euren Feinden", meinte Sir Guy mit vollem Ernst. "Wir sind viel zu wenige, um es mit ihnen erfolgreich aufnehmen zu können." "Hm, ja zu Euren Freunden." Matt schlug in dieselbe Kerbe. "Ich fürchte, wir brauchen noch ein paar Leute mehr." "Der größte meiner Freunde ist der Titan Colmain", erklärte die Prinzessin. "Er half Deloman, dem Begründer meiner Familie, vor dreihundert Jahren, den Thron zu gewinnen." "Ja, und er erschlug die widerlichen Riesen, die unser Land ausplünderten", fügte Stegoman hinzu. "Er hielt den verfluchten Titanen Ballspear im Kampf so lange fest, bis der gesegnete Magier Moncaire ihn zu Stein verwandeln konnte." "Der Verfluchte?" Matt zog eine Braue hoch. "Ballspear? Was war an dem so böse?" "Was nicht?" fuhr Stegoman empört auf und spuckte Funken. "Er führte diese schreckliche Horde bei ihren Plünderungen und fing die Jungen auf der Flucht in der Luft. Mit seinen riesigen Füßen zerquetschte er Mütter und eben ausgeschlüpfte Brut! Über ihn gibt es bei uns noch mehr als tausend böse Geschichten!" Jetzt züngelten schon Flammen aus seinem Maul. Matt bemerkte die Gefühlsaufwallung. "Ja, ich verstehe, daß das Drachenvolk ihn verflucht. Und wenn Colmain ihn besiegen oder auch nur festhalten konnte, verstehe ich, daß wir ihn aufsuchen sollten." "Doch ist selbst er jetzt zu Stein geworden", erklärte Sir Guy. "Das war der letzte gemeine Vergeltungsschlag des Zauberers Dimethtus, als Deloman mit Colmain und dem Magier Conor gegen ihn vorging und seine Truppen des Bösen besiegte." "Das weiß ich alles ebensogut wie meinen Namen." Alisande war ungerührt. "Aber ich weiß auch, daß mich jetzt ein Magier begleitet." Sie wandte sich an Matt. "Was sagt Ihr, Lord Magier? Könnt Ihr einen steinernen Riesen ebenso zurück in Fleisch verwandeln, wie Ihr es mit Meister Stegoman tatet?" Matt war klar, daß er jetzt ein großer Magier sein sollte. Er spreizte die Finger und zuckte mit den Schultern. "Was kann ich sagen, Hoheit? Ich werde mein Bestes geben." "Mehr verlange ich auch nicht." Sie schien ihm viel zu zufrieden zu sein. "Ihr könntet eine Armee brauchen", riet Sir Guy. "Im Westen findet Ihr eine. Dort war ich erst kürzlich. Die Leute dort sind stark, Hoheit, in allem außer in der Hoffnung. Barone ohne Land sah ich, welche Scharen von Rittern führen, deren Oberlehnsherren tot sind. Sie verstecken sich in den Wäldern und Tälern, machen Überfälle, um den Feind zu ärgern. Die meisten jedoch versammeln sich in Klöstern, in Gotteshäusern, wo die Kräfte des Bösen geschwächt und gebannt sind. Dort treffen sich auch die Bauern, deren Heimstätten zerstört wurden, sowie auch die guten Kirchenmänner, die Astaulfs Schwert entrannen. Das sind starke Kämpfer, gewappnet mit Mut!" "Dennoch sagt Ihr, daß sie keine Hoffnung haben?" fragte die Prinzessin mit gerunzelter Stirn. "Ja, Hoheit. Unter ihrem Mut und ihrem Glauben zerbröckeln die Grundmauern. Wer - so fragen sie sich - könnte sie wohl anführen? König Kaprin ist tot, seine Tochter gefangen. Wer denn könnte den Thron von Astaulf zurückerobern? Und wie könnten sie triumphieren, wenn niemand da ist, der gewinnen könnte? So kämpfen sie denn gegen das Böse, das mit ihnen zugrunde gehen soll - aber sie sind überzeugt, daß sich danach nichts erheben wird." "Ich muß zu ihnen", rief Alisande mit flammender Leidenschaft. "Sie müssen mich sehen und wissen, daß ihre Prinzessin frei ist." "Aber sie sind im Westen", erinnerte Matt. "Wo ist Colmain?" "Natürlich auch im Westen", rief Alisande. "Er steht in den Bergen im entferntesten Westen und bewacht unser Land lange und schweigend." "Aha." "O ja." Sir Guy nickte. "Es gibt gar keine andere Wahl. Bordestang mit den Feinden der Prinzessin liegt im Osten. Colmain und ihre Freunde sind im Westen. Wohin könnte sie sonst gehen?" "Unglücklicherweise habe ich das Gefühl, daß Malingo das ebenfalls denkt", meinte Matt. "Ihr glaubt doch nicht ernsthaft, daß er uns hier friedlich wegreiten läßt - in die Arme einer Streitmacht, die nur auf Euch wartet, oder?" Sir Guy zuckte mit den Achseln. "Das ist nun mal das Risiko, Lord Magier. Kein Krieg ohne Risiko. Damit muß man sich abfinden." "Vielleicht könnten wir eine etwas listige Route nehmen..." "Nein!" Alisandes Stimme war wie eine Glocke. "Wenn wir uns auf List einlassen, Lord Matthew, werden wir verlieren - denn Malingo ist mit den Mächten des Bösen, der List und Verschlagenheit im Bunde. Wenn wir über ihn triumphieren wollen, müssen wir offen, ehrlich und direkt vorgehen. Wir müssen nach Westen ziehen. Ich _weiß_, daß dies unsere beste Route ist." "Bei allem Respekt, Hoheit, das mag ja moralisch hervorragend sein, aber es ist eine lausige Strategie." "Was?" schrie Sir Guy entsetzt. "Ihr zieht das Wort eines Mitglieds der königlichen Familie in Zweifel?" Matt lächelte gequält. "Titel bedeuten nicht so viel, wo ich herkomme, Sir Guy." "Aber du bist jetzt nicht in deiner Heimat", grollte Stegoman neben Matts Schulter. "Jetzt musst du dich nach den Spielregeln dieser Welt richten, nicht nach deinen." Matt war das Lächeln vergangen. "Hier oder daheim, Stegoman, ein Titel allein bedeutet überhaupt nichts." "Aber königliches Blut schon", erklärte Sir Guy. "Eine Königin oder ein König kann sich nicht irren!" "O Mann! Jetzt reicht's aber!" rief Matt. "Es gibt kein menschliches Wesen - lebend oder tot -, daß nie einen Fehler begeht." "Doch, so was gibt es! Das sind die Könige und Königinnen", sagte Stegoman. "Das gilt für alle politischen Angelegenheiten, für das Wohl der Öffentlichkeit oder des Staates und in der Kriegsführung." "In diesen Angelegenheiten haben die Königlichen Hoheiten immer recht." Sir Guy sprach jetzt freundlicher, geduldiger. "Es gibt unter den Menschen solche mit besonderer Begabung, Lord Magier - Ihr solltet doch vor allem wissen, daß dies so ist. Und es gibt viele Arten von Begabungen, so wie es viele Typen von Menschen gibt. Derjenige, der in allen öffentlichen Angelegenheiten immer recht hat, wird zum König gemacht - zum Wohle aller. Und ihm folgen seine Nachkommen, da sie mit dem Blut auch diese Gabe erben." Er ergab irgendwie Sinn, allerdings auf eine merkwürdige Art. Matt konnte das nicht abstreiten, ebensowenig wie die Tatsache, daß hier Zauberei funktionierte. Das hatte er zu oft ausprobiert. Und wenn er die Gabe der Magie besaß, konnte Alisande doch auch durch göttliches Recht die Gabe der Unfehlbarkeit besitzen. Ihm fiel kein Grund ein, der wirklich dagegen sprach. Leicht dümmlich schaute er Alisande an. "Na ja - Hoheit denkt also, wir sollten nach Westen gehen, ja?" "Allerdings", erklärte sie ernst. "Das ist unsere größte Chance." Matt nickte. "In Ordnung." Dann wandte er sich an Stegoman. "Hast du Lust mitzukommen? Wäre doch schade, den alten Haufen jetzt aufzulösen." "Das wäre allerdings eine Schande", meinte der Drache. "Ich würde mich in Grund und Boden schämen, würde ich jetzt eine Prinzessin bei der Rückeroberung ihrer rechtmäßigen Krone im Stich lassen." "Ich kann aber nicht garantieren, daß es ungefährlich ist", warnte Matt. "Zumindest dürfte es interessant werden. Das Leben kann so langweilig sein, Magier!" _Wie gern würde ich mich jetzt richtig langweilen_! dachte Matt. Aber er verstand Stegoman. Ohne jeden Artgenossen, ohne Aussicht, wieder bei seinem Volk zu sein, konnte der Drache nur das seltsame Verhalten dieser komischen Zweibeiner betrachten. "Schön, daß du mitkommst, Stegoman!" Der Drache fixierte ihn mit einem glitzernden Auge. "Wie schön?" Matt spürte, daß jetzt irgendein Handel kam. "Worum geht's denn?" Stegoman blickte zur Prinzessin und Sir Guy. "Komm mit! Das geht nur Magier und Drachen an." Der Drache ging etwa fünfzehn Meter beiseite. Dann stieß er aus einem Winkel seines Maules hervor: "Da ist... ein bestimmtes Problem... Wenn ein Magier nichts machen kann, dann niemand... das ist für mich eine sehr intime Sache... Na ja, kein Doktor der Physik konnte das beseitigen... und da..." Der Drache versuchte offenbar, über etwas für ihn äußerst Peinliches zu sprechen, fand aber die Worte nicht. "Es geht um gewisse Anhängsel", half ihm Matt. "Um gewisse Körperteile, welche für dein Volk so wichtig sind wie Hände für mich?" "Ja, das könnte man sagen", dröhnte der Drache. Doch die Erleichterung, es nicht aussprechen zu müssen, war unüberhörbar. "Kannst du das in Ordnung bringen?" "Ich weiß nicht... Auf alle Fälle habe ich keinen Zauberspruch abrufbereit. Aber, laß mir ein bißchen Zeit. Vielleicht kann ich etwas ausarbeiten." "Danke, Matt. Mehr kann ich nicht verlangen", sagte der Drache und bewegte seine Schultern, als spüre er bereits, wie seine Flügel heilten. "Eins versichere ich dir: Ich werde dir mit dem letzten Körnchen Kraft und all meinen Fähigkeiten dienen." "He, warte! Ich kann nichts _fest versprechen_." "Wofür hältst du mich!" Stegoman funkelte ihn entrüstet an. "Das ist kein Geschäft, Sterblicher, sondern ein Band der Ehre zwischen uns. Ich werde alles tun, was in meiner Macht steht, um dir und deinen Leuten zu helfen, und vertraue deiner Ehre, daß du dein Bestes für mich tun wirst." "Dein Tadel ist berechtigt." Matt fühlte sich sehr beschämt. "Und ich danke dir aus ganzem Herzen, Stegoman." "Dann wollen wir hoffen, daß ich _dir_ später ebenfalls danken kann." Der Drache hob den Kopf. "Gehen wir zu den beiden zurück?" Matt folgte dem Drachen. Er hatte ein flaues Gefühl im Magen, weil er gerade etwas versprochen hatte und nicht den leisesten Schimmer hatte, wie er dies Versprechen halten könne. Es war doch auch sinnlos, Stegomans Flügel zu heilen, solange dieser nicht von seiner Trunksucht geheilt wurde. So würde Stegoman hochbeglückt heimfliegen, sich an seinen eigenen Dämpfen berauschen und wieder zu einer Gefahr für alle Flieger werden. Zweifellos würden die anderen Drachen ihm wieder die Flügel beschneiden und ihn erneut ins Exil schicken. Nein, als erstes mußte Matt die Trunksucht heilen. Aber wie? Matt hatte keine Ahnung von der Biochemie bei Reptilien, außer daß sie Kaltblüter waren - und er war sich nicht mal dessen sicher, wenn es einen feuerspeienden Drachen betraf. Moment mal! Vielleicht hatte es überhaupt nichts mit Biochemie zu tun! Matt erinnerte sich an Stegomans Hetzreden gegen die Räuber der gerade ausgeschlüpften Jungen, als Matt ihn zum ersten Mal ins Verlies versetzt hatte. Warum hatte er auf diesem Punkt herumgeritten, statt an Zauberei zu denken, was viel logischer gewesen wäre? Beweis eines Kindheitstraumas? Matt wußte etwas über die Grundzüge der Psychologie und hatte ein hervorragendes Einfühlvermögen in andere Wesen. Je länger er darüber nachdachte, desto wahrscheinlicher erschien es ihm: Stegomans Trunksucht war psychosomatisch bedingt! Aber wie konnte ein Trauma, das Drachenjäger betraf, die Neigung zur Trunksucht fördern? Stop! Stegoman kam aus einer militärischen Kultur. Er konnte Angst nie zugeben, nicht einmal sich selbst gegenüber. So wie er sich auf die Hexe Molestam gestürzt hatte, war das eine Überreaktion, um seine Angst zu verdecken. War das _echte_ Problem vielleicht die Angst vorm Fliegen? Das könnte er natürlich nie zugeben - daher wurde er betrunken, wenn er Feuer spuckte. In diesem Zustand durfte er natürlich nicht fliegen, und so war er aus dem Luftverkehr genommen, ohne eigene Schuld! Wenn aber Stegomans Wunsch nun erfüllt wurde, war die Heilung eine mörderische Aufgabe! Und Matt war sich bewußt, daß er mit einem Psychiater soviel Ähnlichkeit hatte wie ein Photon mit der Sonne. Aber er hatte versprochen, es zu versuchen. Allerdings hatte er keinen Termin genannt. Bis ins Gebirge blieb ihnen noch Zeit, vielleicht fiel ihm inzwischen etwas ein. "Seid Ihr bereit?" fragte Alisande. Sir Guy trug wieder seine Rüstung und hatte die Hand am Sattel. "Bereiter könnten wir gar nicht sein." "Kommt, Sir! Seid fröhlich!" rief Sir Guy. "Wir brechen zu einer glorreichen Eroberungsreise auf! Seid frohen Mutes!" Er nahm den Arm der Prinzessin. "Steigt auf, und weg sind wir!" Die Prinzessin schwang sich im Damensitz hinter ihn. Einen Arm legte sie um seine Mitte. Sir Guy trieb sein Roß zu einem weit ausholenden Trab. So ritten sie in die Abendsonne. "Los, Magier, steig auf!" Stegoman beugte den Kopf vor Matts Knie. Matt musterte den dicken Nacken und die fußhohen, spitzen Zacken auf dem Rückgrat. "Hm - bist du sicher?" "Keine Angst - du wirst nicht fallen und ich nicht zusammenbrechen. Ich kann die Last leicht tragen." "Na ja - wenn du es sagst!" Matt schwang sich direkt hinter den dicken Kopf. Alles schwankte, als Stegoman aufstand. Dann kletterte Matt vorsichtig zwischen den Zacken weiter nach hinten und suchte sich einen passenden Sitzplatz. "Aber bleib ja nicht plötzlich stehen." "Keine Angst." Der Drache watschelte erst langsam los, dann aber ging er in Galopp über. Matt hielt sich in Todesangst fest, um dem auf- und niedertanzenden spitzen Zacken in seinem Rücken auszuweichen. Doch dann merkte er, daß das unnötig war. Der große Zacken wölbte sich in seinem Rücken wie ein Schalensitz, während die Spitze über seinem Kopf wippte. Eigentlich gar nicht übel. "Stegoman?" "Was piekst dich jetzt?" Matt runzelte die Stirn und beugte sich vor. "Warum bist du auf einmal so sauer?" "Mein Zahn tut wieder weh. Was willst du?" "Hm." Matt lehnte sich zurück. "Wir sollten bei der nächsten Rast etwas dagegen tun - den Zahn ziehen." "Ziehen?" Matt hörte die Angst in der Stimme des Drachen. "Ja - rausholen. Magische Zahnarztkunst wäre etwas zu kompliziert." "Aber - aber mich von einem Stück meines Körpers trennen, meines Seins! Das ist Gotteslästerung, Magier!" "Gotteslästerung?" Doch dann erinnerte sich Matt, daß in einigen Kulturen, welche an Magie glaubten, auch die Körperteile wie Haare oder abgeschnittene Nägel sorgfältig gehütet wurden. Falls nämlich eine Hexe diese in die Hand bekam, konnte sie damit den Eigentümer mit einem bösen Bann belegen. "Keine Angst! Ich tu den Zahn in ein Ledersäckchen und hänge es dir um den Hals. Dann behältst du ihn." "Trotzdem klingt das scheußlich. Darüber muß ich erst mal nachdenken." Matt seufzte. "Na schön! Aber nicht zu lang. Dein ganzer Kiefer könnte vergiftet werden." Das war zwar leicht übertrieben, aber es war die einfachste Erklärung. Stegoman zitterte. "Laß uns nicht länger darüber reden. Worüber wolltest du mit mir sprechen? Bestimmt nicht über meine Schmerzen - eher über deine." "Schmerzen? O ja." Matts Gesicht verdüsterte sich. Er dachte wieder an seine Wut. "Hattest du je das Gefühl, daß man dich reingelegt hat?" "Reingelegt?" "Ja, du weißt schon - überfahren. Jemand hat dich in eine Lage manövriert, wo du tun mußtest, was er wollte. Ich reite jetzt nach Westen, um einem Mädchen wieder zu seinem Thron zu verhelfen, obwohl ich in Wirklichkeit nur den Weg nach Hause finden wollte!" "Wenn ich mich nicht irre", grollte der Drache, "hast du doch den ganzen Schlamassel selbst angefangen, als du ihr geholfen hast, aus Astaulfs Verlies zu entkommen, oder?" "Ach, hör doch auf! Da hat man mich doch auch hineinmanövriert! Sobald ich herausfand, daß Malingo mich nicht hergebracht hatte, war es doch nur logisch, daß ich zur Opposition gehe, damit sie mir hilft. Vielleicht bin ich sogar auf der richtigen Spur. Welcher Magier auch immer mich herbrachte, _steht_ hinter Alisande. Aber er läßt mich nicht heimgehen, ehe sie nicht wieder auf ihrem Thron sitzt! Habe ich wirklich eine Wahl? Nein! Ich _muß_ ihr helfen." "Du hast andere Möglichkeiten", fuhr Stegoman ihn an. "Das weißt du genau! Malingo hat dir bereits eine geboten, aber du hast abgelehnt. Nein, auch ohne dich mit ihm zu verbünden, hast du so viel Zaubermacht gezeigt, daß du dir ein Vermögen und die Herrschaft über deine Mitbürger erwerben kannst. Du könntest in der Tat ein König sein, falls du das wünschst! Hast du nie daran gedacht?" "Na ja, es ist mir schon mal durch den Kopf gegangen - aber ich bin ein kreativer Typ. Verwaltung langweilt mich zu Tode." "Ach ja? Warum verbringst du dann nicht deine Zeit damit, einen Weg zu finden, der dich nach Hause bringt?" Matt saß wie erstarrt da und ließ diesen schrecklichen Gedanken erst mal einsinken und dann wieder wegspülen. "Das würde sehr lang dauern..." "Und dieses Unternehmen nicht?" "Ja, könnte sein", räumte Matt zögernd ein. "Aber ich kann damit leben." "Natürlich, weil es für dich ein Abenteuer ist. Du bist von dem Traum von großem Ruhm ganz geblendet! Du fühlst, als würdest du richtig leben - wahrscheinlich zum ersten Mal in deinem Leben hast du dieses Gefühl. O nein! Widersprich mir nicht! Du hast diesen Weg selbst gewählt. Jetzt tust du, wovon du immer schon geträumt hast. Gib's zu - zumindest dir selbst gegenüber! Oder sei still!" Matt war still. Diese Leute hielten offensichtlich nicht viel davon, ab und zu mal eine Rast einzulegen - zumindest nicht, wenn nur noch vier Stunden Tageslicht übrig waren. Matt kletterte bei Sonnenuntergang von Stegoman herab. Er hatte das Gefühl, niemals mehr sitzen zu können. Jetzt verstand er auch, warum man Sättel erfunden hatte. Sir Guy machte alles noch schlimmer. Er schlug mit so widerlicher Fröhlichkeit das Lager auf, daß Matt ganz schlecht wurde. Alisande ließ sich auch nicht ruhig nieder, sondern sammelte eifrig Zweige für ein Feuer. Obwohl Matt alles weh tat, schämte er sich, nicht zu helfen. Er humpelte zur Prinzessin und fragte: "Kann ich helfen?" Sie drückte ihm einen Haufen Zweige in die Arme und sagte strahlend: "Allerdings! Macht bitte ein Feuer. Dann kümmere ich mich auch um Eure Lagerstätte." Wie ein Wirbelwind war sie schon wieder dabei, von einer Tanne Äste abzuhacken. Das Messer hatte sie wohl von Sir Guy geliehen. Matt versuchte sich an seine Pfadfinderkünste zu erinnern und suchte nach einem flachen Stein. Da er keinen fand, ließ er sich nieder und zerpflückte die Äste zu Zunder. Er hatte schon einen kleinen Scheiterhaufen errichtet, als Sir Guy kam. Er hatte zwei große Hasen auf das Schwert gespießt. "Ah, hervorragend! Wir werden gleich ein Feuerchen haben. Dann gibt es auch bald Abendessen!" Matt holte seine Streichhölzer heraus und versuchte sich an den Zauberspruch zu erinnern, mit dem er sie zum Brennen gebracht hatte. Doch Sir Guy legte die Hand auf den Streichholzbrief. "Aber, aber - ihr wollt Euch doch nicht etwa der Magie bedienen, um ein Feuerchen zu entfachen!" "Warum denn nicht?" Matt schaute mürrisch auf. Doch dann entsann er sich. "Ach ja... die Sache, daß man Zauberei nicht für alltägliche Arbeiten einsetzen soll." "Wie zum Beispiel ein Feuer entzünden." Sir Guy nickte strahlend und nahm die Hand weg. "Das weiß sogar ich, Lord Matthew. Diese Kraft muß respektiert werden, sonst wird ihr Gebrauch den Benutzer verderben." Der Schwarze Ritter kniete nieder und holte ein kleines Eisenkästchen aus seinem Gürtel. Dann entnahm er ihm etwas Werg und einen kleinen Stein. "Die mit der Gabe Gesegneten verschreiben sich nie gleich zu Anfang dem Bösen, Lord Magier. Sie wollen in der Tat ihre Kraft nur zum Wohl ihrer Mitmenschen einsetzen." Er schlug den Stein gegen das Kästchen. Funken schlugen heraus. Einer landete im Werg. Sir Guy blies vorsichtig, bis es glühte. Dann steckte er das Büschel in Matts Scheiterhaufen. "Aber dann geraten sie zufällig an ein Zauberbuch und versuchen es mit ein paar Zaubersprüchen daraus. Erst nur gelegentlich, dann immer häufiger. Zum Schluß können sie ohne Zauber praktisch überhaupt nichts mehr machen." "Süchtig", murmelte Matt und schaute zu, wie sich die Flämmchen um die dünnen Zweige ringelten. "Süchtig nach Magie." "Genau! Sie werden machttrunken. Je mehr Macht sie erwerben, desto mehr wollen sie. Dann bleibt ihnen nur die Wahl zwischen zwei Möglichkeiten: Ihr ganzes Leben Gott und dem Guten zu weihen, was eine lange, beschwerliche Pflicht sein kann, - oder einen Blutspakt mit dem Teufel zu schließen. Die Entscheidung muß gefällt werden - denn wieviel Macht kann ein Magier gewinnen, ohne die Hilfe Gottes oder des Bösen?" "Das kommt darauf an, wie gut er als Magier ist", meinte Matt. "Wenn er die Gesetze der Magie herausfindet, braucht er womöglich keine Hilfe." "Gesetze?" Sir Guy starrte ihn ungläubig an. "Aber Magie hat keine Gesetze oder Regeln!" Matt rollte die Augen nach oben. "Noch so ein voll informierter Laie! Habt Ihr es schon ausprobiert?" Sir Guy überlegte kurz, schüttelte die Schultern. "Wie Ihr meint, Lord Magier! Doch bitte ich Euch dies zu bedenken: Für einen Mann mit Macht führen alle Versuchungen zu _einem_ Ziel - dem Teufel!" Er blickte Matt noch einmal in die Augen, dann ging er zu Alisande hinüber. Matt schaute wieder aufs Feuer. Seine Augen weiteten sich: Die beiden Hasen lagen gehäutet und ausgenommen da. Offensichtlich hatte Sir Guy diese Arbeit erledigt, während er sich mit Matt unterhalten hatte. Er war ein fähiger Bursche - vielleicht etwas zu fähig! Matt spießte die beiden Hasen auf. Was hatte Sir Guy ihm eigentlich wirklich sagen wollen? Matt holte zwei Astgabeln und trieb sie in den Boden, dann legte er den Spieß darüber. Sir Guy hatte nicht direkt ausgesprochen, daß Matt für ihn die moralische Stärke einer nassen Nudel hatte, aber das war doch wohl der Kern des Gesprächs gewesen, oder? *Kapitel 7* Das Lager lag still da. Der Schein der Mondsichel versilberte es. Das glimmende Feuer verbreitete wohlige Wärme. Stegoman hatte sich unter den Bäumen zusammengerollt, den Schwanz über dem Kopf. Sir Guy, Matt und die Prinzessin schliefen unter ihren Umhängen beim Feuer. Plötzlich wachte Matt auf. Sofort hellwach, starrte er durch eine Lücke in den Bäumen auf die Ebene dahinter. Was hatte ihn geweckt? Da war es wieder - ein langer, verzweifelter Klageschrei. Eine Frau in Not! Matt sprang auf und schüttelte den Schwarzen Ritter an der Schulter. "Sir Guy! Aufwachen! Eine Dame braucht Hilfe!" Sir Guy schnarchte weiter, der Schwarze Ritter rührte sich nicht. "Aufwachen!" rief Matt. "Feuer! Erdbeben! Ragnarök!" Keine Reaktion. "Typisch Ritter!" fluchte Matt und griff sich einen Dolch aus dem Besitz Sir Guys. Lieber wäre es ihm gewesen, der Ritter hätte nicht auf seinem Schwert geschlafen. Dann lief er schnell auf die Ebene hinaus. Wieder dieser furchtbare Schrei - diesmal schon viel näher. Matt sah ein Mädchen mit schreckverzerrtem Gesicht keuchend auf sich zulaufen. Langes, schwarzes Haar wehte hinter einem feinen, wie aus Elfenbein gemeißelten Gesicht. Über den vollen Brüsten spannte das Mieder. Der Rock umflog lange, schlanke Beine und die Kurven der Hüften. Selbst in ihrer Panik hatte sie etwas an sich, das einem Mann unaussprechliche Freuden verhieß, wenn er das Glück haben sollte, diese Frau zu besitzen. Matt rannte schneller. Sie mußte auf der Flucht um ihr Leben seine Bahn kreuzen. Hinter ihr sprang ein zweieinhalb Meter hohes und ein Meter zwanzig breites Untier auf dicken Stummelbeinen daher. Es lachte und streckte vier Stahlkabelfangarme nach dem armen Geschöpf aus. Riesige Augenteller reflektierten das Mondlicht. In dem dreißig Zentimeter breiten Maul blitzten Zähne, so spitz wie die eines Haies. _Ein Troll_! Matts Körper schaltete auf Höchstgeschwindigkeit, als er auf die junge Frau zurannte. Aber er wußte, daß er nicht schnell genug war. Der Troll machte einen gewaltigen Satz und landete eineinhalb Meter hinter ihr. Sie war durch ihre Kleidung behindert. Da riß ihr ein Fangarm den Umhang ab. Sie fiel nach vorn, wobei ihr Gewand zerriß. Aufschreiend lief sie weiter. Der Troll lachte hämisch und verfolgte sie aufs neue. Wieder schlug er zu und erwischte ihren Rock. Zwei andere Fangarme rissen ihr Bluse und Wams entzwei. Einen Augenblick lang stand sie mit hoch erhobenen Armen nur im Hemd im silbrigen Mondlicht. Dann schlug wieder ein Fangarm zu. Sie warf sich zu Boden, um dem Schlag zu entgehen. Der Troll brüllte vor Lachen und sprang. Doch sie war schneller und rollte beiseite. Im nächsten Augenblick war sie schon wieder auf den Beinen und lief blindlings weiter. Der Troll hinterher. Als er wieder zum Sprung ansetzte, rannte sie in einen Dornenbusch. Ihr Hemd verfing sich und riß direkt unter den Hüften. Mit einem Jubelschrei packte der Troll sie an beiden Armen und hob sie empor, direkt auf das Haifischmaul zu. Jetzt hatte Matt den Troll erreicht und traf mit dem Dolch einen Fangarm. Der Troll schrie auf und ließ die junge Frau fallen. Matt wurde sich plötzlich darüber klar, wie idiotisch es war, dieses Ungeheuer nur mit einem Dolch anzugreifen. Er sprang beiseite und schrie: "_Wachse, stählerne Klinge! Werde größer und schärfer! Mit deiner Hilfe werd' ich siegen, Und das Monster mir zu Füßen liegen!"_ Der Dolch wuchs wie ein lebendiges Wesen in seiner Hand. Im Nu war die Klinge dreimal so lang. Die Waffe schimmerte im Mondschein. Mit der Lautstärke einer heulenden Dampfpfeife griff der Troll ihn an. Matt wich den Fangarmen aus und traf einen davon mit der Klinge genau in der Mitte. Funken sprühten, als das Schwert abglitt. Das Biest war _hart_! Der Troll schob jetzt seinen riesigen Körper vor. Dabei kicherte er albern. Als die Schwertklinge seinen Leib traf, glitt sie wieder funkenschlagend seitlich ab. Der harte Aufprall jagte den Schmerz durch Matts ganzen Unterarm. Wieder sprang er zurück. Da dämmerte es ihm: _Trolle waren aus Stein_! Gegen Stein nützte Stahl überhaupt nichts. Er brauchte etwas Härteres. Diamant! Wieder rannte er los und stieß dabei keuchend die Verse aus, während der Troll ihn verfolgte. "_O stählerner Freund, jetzt bitt' ich dich, werd' zu Diamant. Tu das für mich! Und dann, mit ungeahnter Kraft wird dieses Monster hingerafft!"_ Jetzt glänzte das Schwert in seiner Hand schwarz. Matt wirbelte herum und schwang das Schwert mit beiden Händen. Die Klinge versank tief im Leib des Monsters. Mit einem so gellenden Schrei, daß Matt Angst hatte, seine Trommelfelle würden platzen, blieb der Troll stehen. Aus dem breiten Schlitz im Bauch quoll ekliger Eiter. Matt griff wiederum an. Doch das Ungeheuer hatte die Gefahr erkannt. Blitzschnell senkte es den Kopf und streifte mit den scharfen Zähnen Matts Brust. Dabei zerrten die Fangarme an seinen Beinen und Armen. Er schaffte einen Satz nach hinten und holte wieder mit dem Diamantschwert aus. Diesmal traf er die Stelle zwischen Kopf und Schultern, wo eigentlich ein Genick sein sollte. Die Fangarme tanzten vor seinem Gesicht, aber ihre Finger bewegten sich völlig ziellos. Der Troll taumelte. Matt trat auf die Seite und führte noch einen mächtigen Schlag. Wieder erwischte er den Troll an derselben Stelle. Die Klinge schnitt halb in den Schädel hinein. Ein gewaltiges Zucken ging durch den riesigen Körper, dann fiel das Monster zuckend zu Boden. Es war bereits tot. Das Rückgrat war durchtrennt. Die Zuckungen wurden langsamer und hörten schließlich auf. Matt betrachtete das tote Ungetüm. Irgendwie wirkte der Kadaver geschrumpft - wie ein seltsam geformter Findling mitten auf der Ebene. "Ihr habt ihn erschlagen!" Die junge Frau stand ganz nahe. Das Mondlicht in ihrem Rücken ließ die Silhouette ihres Körpers durch das dünne Hemd deutlich erkennen. Mehrere Risse enthüllten noch mehr von den gefälligen Kurven. "Ihr habt mich gerettet! Oh, Ihr seid mein wahrer Ritter!" Sie trat noch näher. Doch dann wich sie erschreckt zurück. "Aber Ihr seid ja verwundet!" Die Risse bluteten wieder und brannten höllisch, aber Matt schüttelte den Kopf. "Ach was! Das sind nur Kratzer!" "Aber sie müssen versorgt werden!" Sie nahm den unteren Saum ihres Hemdes und wischte damit das Blut von seiner Brust, wobei sie noch mehr Kurven entblößte. "Ihr müßt mit mir kommen, damit ich mich darum kümmern kann." "Milady!" Eine Schar Bewaffneter eilte mit gezückten Schwertern herbei. "Milady Sayeesa! Seid Ihr..." "Unversehrt! Aber nicht dank Eurer Hilfe!" Ihr Ton war streng. "Aber das spielt jetzt keine Rolle. Dieser tapfere Ritter rettete mich. Führt uns nun in mein Heim, damit ich mich um seine Wunden kümmern kann." "Hm..." Matt schüttelte den Kopf und versuchte den Schleier zu zerreißen, der ihn umnebelte, seit er diese Frau zum ersten Mal erblickt hatte. "Danke! Aber ich komme nicht mit. Ich habe Freunde dort drüben. Die machen sich sonst Sorgen." "Dann werde ich ihnen Nachricht senden und sie ebenfalls einladen. Hauptmann, kümmert Euch darum!" Der Hauptmann ging zu seinen Leuten und schickte sechs davon hinüber zum Lager. Der Rest steckte die Schwerter in die Scheiden und stellte sich auf. Matt stand da, mit dem bloßen Schwert in der Hand. Wo sollte er es hinstecken? Er runzelte kurz die Stirn und rief dann: "_Zu einem Schwert gehört die Scheide, zu dieser Klinge ein Geschmeide. An meiner Seite will ich's tragen, um es mit schnellem Griff zu haben."_ Plötzlich hing eine Scheide an seinem Gürtel. Schnell barg er sein Schwert darin, als Sayeesa wieder an seine Seite trat. Sie trug jetzt den Umhang des Hauptmanns um die Schultern. Allerdings schien sie nicht zu bemerken, daß dieser vorne ziemlich weit auseinanderfiel. Mit verführerischem Lächeln legte sie die Hand auf Matts Arm. "Kommt, gehen wir!" Matt beachtete nicht, in welche Richtung sie gingen, mit dieser Frau so eng neben ihm. Er hatte keine Ahnung, wie lange sie schon marschiert waren, als die Soldaten stehenblieben. Vor seinen staunenden Augen erhob sich ein Palast. Die hohen Mauern und schlanken Türme blitzten. Alles schien aus Jade gemacht. Durch das Tor kam eine Prozession von Sayeesas Gesinde. Es mußten an die hundert sein. Alle hießen sie fröhlich willkommen. Alle waren jung und schön - bis auf zwei. Die Wachtposten am Tor waren mindestens zwei Meter zehn groß und halb so breit. Die Haut dieser häßlichen, bulligen Typen war walnußbraun. "Gefällt Euch mein Heim?" fragte Sayeesa. Als er wie verzaubert nickte, winkte sie mit der Hand. "Dann tretet ein, damit wir uns an seinen Freuden ergötzen können." Im Innern leuchteten überall Kerzen. Die Luft war mit schwerem Duft erfüllt, der Matt sofort zu Kopf stieg. Die Korridore waren von Statuen gesäumt, meist Darstellungen junger Männer, aber auch einiger junger Frauen. Mit ihren verzückten Gesichtern wirkten sie beinahe lebendig. "Phantastisch!" rief Matt. "Welch großer Bildhauer schuf diese Statuen?" Sayeesa zögerte kurz, gab dann aber zu: "Sie sind mein Werk." "Eures, Lady? Ihr seid erstaunlich." Matt stand sehr nahe vor ihr. Seine Augen wanderten abwärts, wo der Umhang offen stand. "Beinahe unglaublich." Sie lachte und ging mit einem verschämten Blick weiter. "Ihr kommt sehr schnell wieder zu Kräften, edler Ritter. Doch folgt mir hierher, damit ich mich um Eure Wunden kümmern kann." >Hierher< war ein römisches Bad, saphirblau gekachelt, mit einem tiefen, versenkten Becken. Sayeesa übergab Matt zwei Dienerinnen und zog sich mit der Entschuldigung, etwas anderes anziehen zu wollen, zurück. Matt nahm auf einer Bank Platz. Eine der Dienerinnen zog ihm die Jacke aus, während die andere Schuhe und Socken abstreifte. Doch als eine sich an Matts Gürtel zu schaffen machte, wehrte er ab. "Das mache ich lieber selbst." Die Dienerin war erstaunt, wenn nicht sogar erschrocken. "Aber, Sir, das ist bei uns so Sitte." "Aber nicht bei mir." Matt schob die beiden Mädchen entschieden zur Tür. "Raus!" Sie gingen, aber ehe die Tür geschlossen war, hörte er noch ein paar Gesprächsfetzen. "Keine Angst! Der Priester war auch so." "Genau das macht mir ja Sorge." Matt zog sich ganz aus und watete die Stufen hinab ins Becken. Er setzte sich auf die zweite Stufe und lehnte sich genüßlich gegen die warmen Kacheln im Rücken. Das schwere Parfüm schien hier noch stärker zu sein. Das Aroma füllte seinen Kopf ganz aus und rief allerlei Visionen hervor. Hinter ihm raschelte Seide. Sayeesa hatte ein tiefausgeschnittenes, blaues, fast durchsichtiges Seidengewand angelegt. "Entspannt Euch nur, lieber Ritter", gurrte sie. Dann massierte sie ihm Schultern und Rücken. "Mein Bad enthält wundersame Mineralien, um Eure Wunden zu heilen." Matt wollte protestieren; aber Sayeesa strich ihm eine kalte, duftende Salbe über die Schultern und Bizeps, wobei sie ein leises, beruhigendes Lied in einer seltsamen Sprache sang. Das Streicheln ihrer sanften Hände, die Salbe, das Lied vertrieben alle anderen Gedanken aus Matts Kopf. Ein lautes Pochen. Die Tür flog auf. Der Hauptmann stand da. Plötzlich war Sayeesas Stimme barsch. "Was fällt dir ein, mich hier zu stören? Hinaus!" Der Hauptmann zuckte zusammen, meldete aber trotzdem: "Der Mann und die Frau sind eingetroffen." "Du weißt, wo sie hingehen!" fuhr Sayeesa ihn an. "Aber... Ihr habt die Schlüssel." Einen Augenblick war Sayeesa unschlüssig. Dann nickte sie. "Schon gut, ich komme. Verzeiht mir, lieber Ritter! Wichtige Angelegenheiten rufen mich fort. Meine Dienerinnen werden Euch in Euer Gemach geleiten." Sie verließ das Bad. Gleich darauf kamen die Dienerinnen wieder herein. Eine brachte Handtücher, die andere legte ein prächtiges Gewand auf die Bank. Sie schauten Matt noch unsicher an, gingen aber, als er sie fortscheuchte. Schnell legte er das Gewand an. Dann kamen sie wieder und führten ihn zu zwei riesigen goldenen Türen, welche andere Diener aufrissen. Matt betrat das Schlafzimmer seiner keineswegs druckfähigen Träume. Gobelins an den Wänden, ein Teppich, in dem er zu versinken schien. Die Vorhänge am Baldachinbett waren zurückgeschlagen, so daß man die schwere golddurchwirkte Bettdecke sah. Das Bett war so groß, daß eine Schwadron leicht Platz gehabt hätte. "Neben dem Bett steht Branntwein und Obst", erklärte eines der Mädchen, während das andere ihm die Bettdecke zurückschlug und das Kissen aufschüttelte. "Wenn Ihr noch einen Wunsch habt, braucht Ihr nur zu rufen." Matt ging zum Bett und setzte sich. Doch dann rollte er auf die Seite. Das Kissen schmiegte sich um seinen Kopf. Sein Körper war von herrlichem Luxus umschmeichelt. Er gähnte und schloß die Augen. Eine Berührung der Schulter ließ ihn hellwach werden. Da stand Sayeesa in einem durchsichtigen Seidengewand. Als sie sich über ihn beugte, fiel das Gewand vorn auseinander. Sie schlüpfte ins Bett und reckte sich genüßlich. "Euch fehlt es an höfischem Benehmen, edler Ritter", beschwerte sie sich und streichelte ihm die Wange. "Wollt Ihr eine Lady nicht willkommen heißen?" Matt machte sich sofort ans Werk, doch da erklangen verführerische Liebeslieder. Die Vorhänge am anderen Ende des Raumes bewegten sich. Eine Blondine und eine Brünette traten ein. Jede trug eine Art Kristallvase mit einer Flüssigkeit. Sayeesa setzte sich auf. Ihr Gesichtsausdruck versetzte die beiden Mädchen beinahe in Panik. Die Brünette stieß hervor. "Milady, hier sind die Öle. Wollt Ihr uns nicht helfen..." Sie beendete den Satz nicht. Mit tiefen Verbeugungen verschwanden beide schnell hinter dem Vorhang. "Wie konnte ich so die Beherrschung verlieren?" murmelte Sayeesa vor sich hin. "Ist dieser so viel mehr, daß ich nicht abwarten kann?" "Verzeihung, was sagtet Ihr?" "Ach, nichts!" Sie wandte Matt das Gesicht zu und lächelte einladend. "Oder wollt Ihr wirklich eine lange Erklärung, Sir?" "Ich hasse Erklärungen", Matt streckte die Hand nach ihr aus. "Praktische Vorführungen sind mir lieber." Das Liebesspiel hatte kaum begonnen, da spürte Matt, wie ihr Körper sich verkrampfte. Mit wutverzerrtem Gesicht setzte sie sich auf. "Was willst _du_ denn hier?" Einer der walnußbraunen Torwächter stand neben dem Bett, die Arme voll Eisenzeug. Matt erkannte Handschellen und mehrere Peitschen. "Milady hatte mir befohlen, das zu bringen", verteidigte sich der Mann. "Hab' ich nicht!" Das war beinahe ein Schrei. "Wozu sollte ich solch abscheuliches Zeug brauchen? Fort mit dir, oder du machst mit dem Henkersbeil Bekanntschaft!" Der Wächter zitterte vor Furcht. Er verbeugte sich steif und schob sich rücklings zur Tür. Langsam ließ Sayeesa sich zurücksinken. Ihr Gesicht war noch verstimmt. Wieder griff Matt nach ihr, jedoch diesmal mit leichter Unsicherheit. Seine Zweifel waren berechtigt. Ein Gongschlag ertönte laut. Der Hauptmann kam wieder herein. "Was ist es diesmal?" fuhr Sayeesa ihn an. "Ich hoffe, du hast einen triftigen Grund für diese Störung!" "Madam", sagte der Hauptmann und verneigte sich. "Vor dem Tor ist ein Drache und will den Palast zerstören. Er verlangt..." "Ich kann mir schon vorstellen, was er verlangt", unterbrach sie ihn. "Besetzt die Mauern. Ich werde ihn unten empfangen." Blitzschnell rauschte sie hinaus, der Hauptmann hinterher. Matt lag da und überlegte, welcher Wahnsinn hier wohl ausgebrochen sein könnte. Ein Drache? Aber warum griff ein Drache den Palast der Lady an? Seine Gedanken verloren sich in Phantasien, in denen Sayeesa nicht weglief. Dann schienen sich Worte in seinen Verstand hineinzubrennen. _Lord Matthew, ich rufe Euch bei Erde, Luft und Wasser. Helft mir jetzt! Mir droht große Gefahr_! Das war Alisandes Stimme! Matt sprang auf und betrachtete verwirrt die prunkvolle Umgebung, in der er sich befand. Welch teuflischer Zauber hatte ihn befallen? Doch jetzt hatte er keine Zeit, darüber nachzudenken. Er preschte durch die Tür und den Korridor hinunter. Doch dann wußte er nicht, welchen Seitengang er nehmen sollte. Aus beiden Richtungen kam ein Höllenlärm. Rechts war mehr Tumult. Matt rannte los. Da kam ein Gebrüll, als würde ein überhitzter Dampfkessel platzen. Am Eingang zur Haupthalle versperrte eine Kette aus Soldaten ihm den Weg, mit dem Rücken zu ihm. Er senkte den Kopf und griff an. Dann brach er durch, daß sie wie Kegel rechts und links zu Boden stürzten. Matt griff sich eine Streitaxt - und stand vor dem Drachen. Dieser hatte sich auf die Hinterbeine erhoben, den Kopf vorgestreckt, und spuckte wie ein Flammenwerfer. Matt sprang beiseite, so daß die Flammen die Soldaten hinter ihm erwischten. "Stegoman!" brüllte er. Der riesige Kopf wandte sich ihm zu. Dies bösartige Funkeln in den Augen hatte Matt schon früher gesehen. "Stegoman! Ich bin's, Matt - Lord Magier - dein Freund!" "Lord M-m-ag..." Die Augen des Drachen blinzelten verwirrt. Matt sprang, stemmte einen Fuß auf Stegomans Schulter und schwang sich dann zwischen die Zacken. "Du bist hergekommen, um die Prinzessin, Sir Guy und mich zu suchen! Erinnerst du dich? _Mich_ hast du jetzt gefunden!" "Dann s-schuchen w-wir die annern!" Stegoman ließ sich auf alle vier Beine und schickte einen Flammenstrahl rundum. "Du verschwendest Zeit, du verrückte Echse!" brüllte Matt. Mit zunehmend klarer werdendem Kopf konnte er sich einiges zusammenreimen. "Sie müssen im Verlies sein. Vielleicht werden sie schon gefoltert." "Folter? _Die_ werde ich foltern, diese gemeinen Jäger von gerade ausschlüpfenden Jungen!" Stegoman legte den Kopf zurück und stieß Flammen aus, daß der Marmor barst. Nach einem weiteren Feuerstoß brach der Fußboden ein. Ein schwerer Stoß rüttelte Matt. Schützend hielt er die Streitaxt mit der Breitseite nach oben wie einen Schirm über den Kopf, um so einige Marmorbrocken abzuwehren. Dann war es wieder still. Das von oben einfallende Licht zeigte kahle Steinmauern. Sie waren mindestens zehn Meter tief gefallen. "Wir sind im Keller", bemerkte Matt. "Alles in Ordnung, Stegoman?" Ehe der Drache antworten konnte, erscholl von rechts lautes Kriegsgeschrei. Sayeesas Truppen wollten anscheinend die letzte Festung verteidigen. Feuerspeiend drehte Stegoman sich in diese Richtung um. Rüstungen blitzten auf. Der Drache lief los. Seine Flammen züngelten sechs Meter voraus. Schreiend wichen die Soldaten in vergoldeten Rüstungen zurück. Gleich darauf herrschte in der Halle ein schreckliches Durcheinander. Alle drängten zum Ausgang. Matt schaute zur Decke empor und rief: "Rauf und rüber, Stegoman! Rauf und rüber!" Der Drache grunzte und sprang. Matt hielt sich an den Zacken fest. Gellende Schmerzensschreie drangen an seine Ohren, als die Klauen des Drachen die Leiber zerfleischten. Sie gelangten in einen großen Raum, der durch Fackeln und eine offene Feuerstelle erleuchtet wurde. Da standen ein mit spitzen Nägeln besetzter Sarg und daneben eine Folterbank. An den Wänden hingen Daumenschrauben und Peitschen. Alisande und Sir Guy waren an die linke Wand gekettet, die Arme hoch über den Köpfen. Sir Guy trug nur Hemd und Hose, Alisande auch nur ihr Hemd. Einer der großen Wächter ging mit einem fast zwei Meter langen Brandeisen auf sie zu. Bis jetzt schienen sie aber unversehrt zu sein. Sayeesa stand daneben, wirbelte aber herum, als Matt und Stegoman hereinbrachen. Ihre Augen wurden vor Schrecken riesengroß, dennoch wollte sie das Brandeisen ergreifen. "Jetzt, Lady!" schrie sie Alisande an. "Befehlt ihnen stehenzubleiben, oder Ihr werdet Bekanntschaft mit dem glühenden Eisen machen." "Ich gehorche keiner widerlichen Dienerin des Bösen!" rief Alisande zurück. Sayeesa schwang das Eisen. Auf einen Schrei Matts hin griff Stegoman an und spuckte Flammen. Sayeesa ließ das Eisen fallen und sprang zurück, als die Feuergarbe die Wachtposten verbrannte. Matt schwang sich von Stegomans Rücken und lief schnell zur Prinzessin. "Ihr kommt sehr spät, Sir", warf ihm die Prinzessin vor, als Matt mit einem kräftigen Axthieb die Ketten über ihrem Kopf durchtrennte. "Ja, tut mir leid. Ich wurde durch eine dringende Angelegenheit aufgehalten." "Ich weiß genau, was so dringend war", zischte Alisande mit zusammengebissenen Zähnen. Sayeesa rief nach ihren Soldaten, als Matt auch Sir Guy befreite. "Spät kommt Ihr, doch Ihr kommt!" sagte der Schwarze Ritter. "Was machen wir jetzt mit der Hexe?" Er nickte mit dem Kopf zu Sayeesa hinüber. "_Hexe_?" "Natürlich! Was habt Ihr denn geglaubt?" Alisande hatte das Brandeisen aufgehoben und schwang es versuchsweise. "Eine widerliche Lusthexe, welche in Männern Begierde entflammt - die sie vernichtet. Bisher hat sie schon über fünfzig umgebracht, indem sie ihnen die Lebenskraft bis zum letzten Tropfen herauspreßte." Sie funkelte Sayeesa an. Diese erwiderte den Blick mit Bitterkeit. Dann rief sie laut: "Wachen! Ergreift sie!" Die Wachen wollten vorgehen. Sir Guy hatte einen Feuerhaken gepackt. "Halt!" donnerte Stegoman und verbrannte den Steinboden vor den Füßen der Soldaten. "Los!" schrie Sayeesa. "Auf sie! Oder wollt ihr, daß sie uns ruinieren?" Da begann Matt den Zauberspruch: "_Eisenstangen in guter Menschen Hand sind schnell zu Schwertern umgewandt. Mit scharfen Damaszenerklingen, in zaubrischer Werkstatt soll es gelingen."_ Feuerhaken und Eisenstangen schlängelten sich, wurden zu glänzenden Klingen. Sir Guy lächelte grimmig und hieb durch die Luft. Alisande warf einen Blick auf Matt, dann wandte sie sich an Sayeesa. Die Hexe wich zurück und schrie: "Bringt sie auf der Stelle um! Greift an, oder ich mache euch wieder zum Nichts!" Verzweiflung huschte über die Gesichter der Soldaten. Stegoman schickte ihnen eine Feuergarbe entgegen. Als er Luft holte, griffen sie mit Piken und Schwertern an. Alisande und Sir Guy kämpften Rücken an Rücken. Sie verteilten tödliche Streiche rechts und links. Aber Sayeesas Drohung, die Männer ins Nichts zurückzuverwandeln, löste bei Matt eine Erinnerung aus. Er stieß einen Soldaten beiseite und gesellte sich zur Prinzessin und dem Schwarzen Ritter. Während er mit der Streitaxt um sich schlug, rief er: "Das sind nur Truggebilde. Sie wirken wie echt, sind aber aus dem Nichts gemacht!" "Dann holt sich dies Trugbild jetzt deinen Kopf!" brüllte ein Soldat. "Laß mich doch verschwinden, wenn du kannst." "Nichts leichter als das!" schrie Matt und wehrte den Schlag ab. "_Schluß mit dem Trugspiel und allen, die darin verwoben waren. Entschwindet ins Nichts, ihr Türme, ihr Paläste und Tempelscharen. Kein Zeugnis soll je mehr von euerm Dasein künden."_ Sayeesa stieß einen herzzerreißenden Klageschrei aus. Die anderen stimmten ein. Alles um sie her begann Wellen zu schlagen und zu wabern. Farben verblaßten, Formen lösten sich auf. Das Wabbern wurde schwächer, bis schließlich nur noch ein Nebel vorhanden war, der sich aber auch noch vollständig verzog. Matt fiel die Streitaxt aus den tauben Fingern. Er stand in einem leeren Krater. Nur ein Fußweg führte zum Rand hinauf. Dort oben standen in Doppelreihe junge Männer und einige Mädchen. Sie zitterten und schauten verwirrt hinab. Einige lagen auch still auf dem Boden, sehr still sogar. Um den Krater herum erstreckte sich verbrannte Heide. Dort kniete Sayeesa in einfacher Tunika und Umhang. Sie war schmerzgebeugt und weinte laut. Plötzlich stieß sie einen Schrei aus, riß ein Messer aus dem Gewand, hob es hoch und wollte es sich ins Herz stechen. Matt sprang hinzu und packte ihr Handgelenk, als die Klinge gerade die Haut ritzte. Sir Guy hielt sie von hinten fest, so daß Matt ihr das Messer entwinden konnte. Mit einem gellenden, durch Mark und Bein dringenden Schrei sank sie in Sir Guys Armen zusammen und schluchzte hemmungslos. "Laßt mich sterben! Ich bin verdammt. Meine Sünden sind zu schrecklich, als daß sie je vergeben werden könnten. Laßt mich sterben!" "O nein! Du hast noch eine Rolle zu spielen!" Alisande kam wütend näher. "Du mußt büßen für deine Sünden!" Sie riß Matts Schärpe herunter. Mit einem überraschten Schrei hielt dieser vorn sein Gewand zusammen. "Ach was! Verschont mich mit Eurer gespielten Scham!" fuhr ihn die Prinzessin an. "Bindet ihr die Hände!" Sir Guy hielt Sayeesas Arme, und Matt band ihr die Hände auf dem Rücken. Die Prinzessin riß ein Stück von Sayeesas Umhang und fesselte die Füße der Hexe. Behutsam legte Sir Guy sie auf die versengte Erde. Alisande schaute zu der Gruppe der jungen Leute hinüber. Matt folgte ihrem Blick. "Wo kommen die da her?" "Das sind ihre Opfer. Angelockt und verführt durch lustvolle Vergnügungen, für die Worte nicht ausreichen. Man erzählt sich schaurige Geschichten über die scheußlichen Erniedrigungen, welche sie ihnen auferlegte, bis sie ausgelaugt und ihr nicht länger dienen konnten. Dann verwandelte sie sie in Statuen aus Stein - Monumente für ihre >Macht der Weiblichkeit<" Die Lippen der Prinzessin waren schmal. "Und jetzt erwachen sie wieder zum Leben - jedenfalls die meisten", meinte Matt und runzelte sie Stirn. "Es ist aber kaum möglich, daß ich so viele Zauberbanne mit nur einem Spruch brechen konnte." "Ihr habt den Hauptzauber der Hexe gebrochen", erklärte Sir Guy. "Der, welcher auf ihr lag." "Ein Zauber auf _ihr_?" Matt zog die Brauen hoch. "Das erzählt man sich jedenfalls." Alisande betrachtete die schluchzende Frau voll Verachtung. "Sie war nichts als ein einfaches Bauernmädchen, allerdings sehr schön - und mit viel zuviel Sinnlichkeit." Sir Guy nickte. "Sie war ein Mädchen für alle Männer. Allerdings sagt man auch, daß sie ein gutes Herz hatte und immer mehr geben als nehmen wollte - bis sie aufhörte, sie selbst zu sein." "Ihr wollt doch nicht etwa behaupten, daß Ausschweifung ihre Identität zerstörte, oder?" fragte Matt. "Vielleicht _war das_ ihre Identität." "Die Identität, welche lüsterne Männer sich bei ihr wünschten!" fuhr Alisande dazwischen. "Sie wollte das sein, was die Männer von ihr wollten. Und dabei verlor sie, was sie war. Durch ihre Sünden errang das Böse Gewalt über sie, so daß ein uralter, lasterhafter Zauberer sie mit einem Spruch in die Lusthexe verwandeln konnte, die Ihr kennenlerntet - zweifellos zu seinem eigenen Vergnügen. Er starb kurz danach in den Flammen; aber sie hatte immer noch die Macht über Männer und die Macht, Blendwerke herbeizuzaubern, die der Lust entstiegen waren." "Dann waren ihr Feenpalast und die Dienerinnen nur Illusionen - nur Auswüchse des Banns dieses Zauberers?" Sir Guy nickte. "Und diese Torwächter?" "Alraunen", erklärte Alisande abfällig. "Habt Ihr das denn nicht erkannt, _Magier_?" "Nein, ich sah diese Pflanzen noch nie vorher." Matt dachte nach. "Dann ist sie also keine Lusthexe mehr, sondern wieder eine normale junge Frau." "Stimmt!" Alisandes Blicke durchbohrten ihn. "Aber seid auf der Hut, Magier! Sie verfügt immer noch über die Macht, mit welcher sie geboren wurde - und diese war ausreichend, um die stärksten Männer zu ruinieren." Sayeesa hob den Kopf. "Gebt mir das Messer, und löst die Fesseln von den Händen! Laßt mich sterben! Ich bin zu verdorben, um zu leben." "Bist du nicht, wenn du noch so denken kannst." Jetzt betrachtete Alisande die Frau beinahe mitleidig. Dann wurde ihr Gesicht wieder hart. "Das haben Männer aus ihr gemacht!" sagte sie zu Matt. "Mein Zauber war's jedenfalls nicht!" Matt wußte nicht, warum die Prinzessin verärgert war, wollte aber ihre Launen nicht länger hinnehmen. "Ich bitte mir einen anderen Ton aus, Lady!" Sir Guys Augen wurden groß. Alisande war blaß geworden. Dann sagte sie leise, mit vor Wut bebender Stimme. "Darüber sprechen wir noch, Sir, wenn Eure Dienste hier erledigt sind." "Dienste? Ich habe keinen Befehl gehört." "Wirklich nicht?" Alisande zeigte gebieterisch auf die verwirrten, nackten jungen Leute. "Die armen Opfer stehen dort völlig unbedeckt in der kalten Nachtluft. Falls Ihr irgendeinen Anspruch auf Moral erhebt, Magier, so müßt Ihr sie bekleiden. Mir ist ebenfalls kalt, und Sir Guy steht ohne Rüstung da." "Ja, nachdem sie uns im Zauberschlaf gefesselt und hergebracht hatten, nahmen sie uns alles weg." Sir Guy wandte sich ab. "Aber vielleicht finde ich meine Sachen wieder." Er ging davon. Matt und Alisande starrten sich an. Dann seufzte Matt. "Na schön, ich will's versuchen. Aber erwartet keine Wunder, Lady. Ich bin ziemlich kaputt." Er dachte nach, aber sein Gedächtnis ließ ihn im Stich. Er mußte ein Original schaffen, gut oder nicht. "_Um diese Zeit, der Wind bläst kalt, und Krankheit lauert hier im Wald. Gib allen hier in unsrer Runde Gewänder noch zu dieser Stunde!"_ Ein Rauschen. Dann spürte er seine Kleidung unter dem Gewand. Auch Alisande trug wieder die Sachen, die er ihr vorher verschafft hatte. Da kam auch Sir Guy in voller Rüstung zurück. Auch die Jugendlichen waren alle bekleidet. Sein Zauberspruch hatte nicht nur die Kleider herbeigeschafft, sondern alle im Nu bekleidet. "Zufrieden?" fragte er Alisande. Sie gab keine Antwort. Dann trat sie an den Kraterrand, hielt die Arme hoch und rief: "Lauscht meinen Worten!" Die Jugendlichen blickten überrascht auf sie. Offenbar hatten sie die Anwesenheit der Prinzessin nicht bemerkt. "Ich bin Prinzessin Alisande", rief sie. Stolz und ernst stand sie würdevoll im Mondschein. Offenbar war ein hohes Selbstwertgefühl Familientradition. "Ich und meine Vasallen haben euch gerettet. Wir haben den Bann gebrochen, unter dem ihr standet. Ihr seid bekleidet, und die meisten von euch leben. Dankt Gott dafür! Nun steht hier nicht herum und staunt, sondern geht in eine Kirche und beichtet, damit euch neue Hoffnung auf Rettung eurer Seelen gegeben wird. Danach kehrt nach Hause zurück. Geht jetzt!" Während Matt noch zu den abziehenden Jugendlichen hinüberschaute, berührte ihn Sir Guy am Arm. Er hielt seinen silbernen Kugelschreiber in der Hand. "So etwas habe ich noch nie gesehen. Sicher gehört es Euch. Womöglich Euer Zauberstab?" "Mein was?" fragte Matt automatisch. "Äh - nein, nicht direkt. Danke, Sir Guy." "Und dies?" Sir Guy hielt das schwarze Schwert samt der Scheide hoch. "Eine seltsame Klinge. Gehört sie ebenfalls Euch?" Matt nickte unsicher. "Nun, zum Teil. Ich machte das Schwert aus Eurem Dolch. Eigentlich ist es rechtmäßig Eures." "O nein! Es gehört Euch." Sir Guy lächelte. "Ich besitze bereits zwei Schwerter - mein eigenes und das, welches Ihr für mich herbeigezaubert habt." Alisande hatte noch gewartet, bis die letzten Jugendlichen weggegangen waren, dann trat sie zu Matt. Ihre Augen blitzten vor Verachtung. "Nun, Magier, habt Ihr Euch von den Lustbarkeiten dieser Nacht erholt?" "Was für Lustbarkeiten?" fragte Matt. "Wir hatten kaum angefangen!" "Angefangen auf der Straße zu Eurem Tod!" fuhr Alisande ihn an. "Wäre nicht Euer Eid gewesen, wärt Ihr bis zum letzten Tropfen ausgesaugt worden." "Eid? Was redet Ihr da?" fragte Matt. "Der Eid, den Ihr mir leistetet, als ich Euch zum Lord Magier machte. Wäre dieser nicht gewesen, hätte ich den bösen Bann nie brechen können, unter welchem Ihr befangen wart. Seid versichert: Die Worte, welche Ihr spracht, gaben mir die Macht über Euch." "Und mir gewisse Macht über Euch! Ich erinnere mich, daß Ihr auch so das eine oder andere Wort sagtet." "Gewiß! Mein Eid band mich an Euch, ebenso an Sir Guy. Dadurch wurden wir in die Gefahr mit hineingerissen. Wißt Ihr denn nicht, teurer Sir, daß Eure sinnliche Begierde uns alle in Gefahr brachte?" "Moment mal! Mit sinnlicher Begierde fing's nun wirklich nicht an! Eine Frau war in höchster Gefahr." "Eine durchaus anziehende Frau, zweifellos, und nicht allzusehr bekleidet." "Nun ja. Aber Ihr könnt nicht annehmen, daß ich gegen Trolle kämpfte, weil ich Appetit auf ihren Körper hatte." "Sagen wir lieber: Ihr kämpftet unter ihrer völligen Herrschaft gegen eine ihrer Illusionen", korrigierte Alisande ihn. "Sie war nie in Gefahr." "Aber das konnte ich nicht wissen!" Aber es mußte so gewesen sein. Hätte er kein Schwert gehabt, hätte sie ihn bestimmt durch ihre Soldaten retten lassen und dann voll größtem Mitgefühl seine Wunden versorgt. "Wäre in Eurem Herzen keine Sünde gewesen, hätte sie Euch nie verführen können", erklärte Alisande zornig. "Die Diener des Bösen haben keine Macht über Euch, wenn Ihr frei von Sünde seid!" "Soll ich etwa als Heiliger herumlaufen?" rief Matt wütend. "Und was die Gefahr betrifft - warum habt Ihr mich denn nicht gewarnt, daß es hier eine Lusthexe gibt?" "Weil nach unserem Wissen ihr Nest einen Tagesritt weiter nördlich lag", antwortete Sir Guy. "Es hätte auch keine Rolle gespielt, wenn Ihr ein echter Ritter wärt und nicht so ein windiger Landzauberer", erklärte Alisande. "Und was hätte ein echter Ritter tun können, das ich nicht tat?" fragte Matt empört. "Er hätte das Böse auf den ersten Blick erkannt - und hätte der Versuchung widerstanden!" Matt warf den Kopf in den Nacken und blickte Alisande wütend an. "Sicher doch, Lady! Ritter erliegen niemals einer Versuchung. Nein, nie! Ich nehme an, Astaulf war auch kein Ritter, ehe er sich des Thrones bemächtigte." Alisande wollte antworten, doch dann schloß sie den Mund. Sie war blaß geworden. Entschlossen machte sie kehrt und marschierte in die Nacht hinaus. "Was ist eigentlich los mit ihr?" fragte Matt den Schwarzen Ritter. "Glaubt sie, ich sollte aus Marmor sein?" "Vielleicht ist sie verzweifelt, weil sie herausfand, daß Ihr es nicht seid." Sir Guy klang etwas belustigt. "Wenn Euch ein Frauenkörper zur Sünde verführen kann, ist die Sache der Prinzessin vielleicht gefährdet, Lord Magier." Matt zog die Brauen hoch. "Wieso gefährden meine Fehltritte diese Sache?" "Weil Ihr und ich ihre einzigen Trümpfe im Kampf um den Thron sind, Lord Magier. Und von uns beiden seid Ihr der Wichtigere!" "Anscheinend dreht es sich bei Kämpfen nur darum, welche Seite die stärksten Streiter hat", widersprach Matt. "O nein! Hier geht es im Grunde um den Kampf zwischen Gut und Böse. Und da sind Zauberer und Magier die mächtigsten Krieger. Zauberer müssen im Zölibat leben - keine menschlichen Gefühle dürfen sie ablenken. Magier müssen noch tugendhafter sein, da die kleinste Sünde ihre Kraft für das Gute schwächt. Deshalb muß sich Prinzessin Alisande um Eure Seele sorgen." "Hm, verstehe", gab Matt widerstrebend zu. "Aber ich empfinde es trotzdem als Eindringen in meine Privatsphäre." "In der Tat. Sie drang in Eure Privatsphäre ein, als sie Euch kraft des Eides vor der Hexe rettete." Sir Guy lächelte spöttisch, wurde aber sogleich wieder ernst. "Euer Eid war ein Band, Sir Magier, und ein Schutz gegen den stärksten Zauber. Ganz gleich, welchen Zauber die Hexe auch einsetzte, dies Band würde einen Weg finden, Euch dagegen zu schützen - zumindest eine Zeitlang." Also deshalb war jemand immer hereingestürzt, wenn die Sache für ihn und Sayeesa gerade anfing, interessant zu werden! Dann kam Matt ein anderer Gedanke. "Wenn ich so wichtig bin - könnte es sein, daß Malingo vielleicht die beiden Hexen gegen mich ansetzte?" Sir Guy runzelte die Stirn und dachte nach. "Unmöglich ist es nicht! Das würde bedeuten, daß noch mehr Fallen für Eure Seele aufgestellt sein könnten. Wäre ich an Eurer Stelle, Lord Magier, würde ich mehr Zeit im Gebet verbringen! Doch nun kommt! Die Prinzessin will weiter. Ruft Euren Freund Stegoman. Ich will mein gutes Roß suchen, das hier zurückgelassen wurde, nachdem es unsere gefesselten Körper herschaffte." *Kapitel 8* Matt rollte auf seinem Bett aus Tannenzweigen hin und her. Er konnte nicht schlafen, weil Sayeesa so herzzerreißend schluchzte. Sie hatte nicht aufgehört zu weinen, seit ihr Traumschloß verschwunden war. Sie waren zum Lager zurückgeritten. Die Hexe vor ihm auf Stegoman und Alisande hinter Sir Guy auf seinem Pferd. Dann hatte Alisande noch Zweige geschnitten, und sie hatten sich hingelegt, um noch etwas Schlaf zu finden. Die Prinzessin und Sir Guy schliefen fest. Es muß schön sein, ein so reines Gewissen zu haben, dachte Matt, allerdings schien ihm Alisandes etwas zu rein zu sein. Er drehte sich auf die andere Seite und versuchte, das Schluchzen zu überhören und seine Gedanken zu ordnen. Aber es gelang ihm nicht. War Sünde real oder nicht? Dort, wo er herkam, war Sünde eher eine Wahnvorstellung, die man gefahrlos ignorieren konnte. Aber jetzt war er nicht in seiner, sondern in dieser Welt. Mußte er sich nach ihren Spielregeln richten? Nicht unbedingt, fand er. Einige Regeln der Magie hatte er schon herausgefunden. Bisher hatte alles so funktioniert, wie er gedacht hatte. Keine seine Theorien erforderte eine mystische Persönlichkeit, sondern bestätigten sich, indem er Magie als unpersönliche Kraft annahm. Mit diesem Gedanken konnte er leichter leben. Verstand und Logik _funktionierten_ in diesem Universum. Das bedeutete, daß dieser ganze Unsinn über Gut und Böse lediglich Ausgeburten menschlicher Phantasie und Sünde und Hölle auch hier nur abergläubische Ammenmärchen waren. Er hatte sich nur von einer neuen Umwelt verwirren lassen. Alle fundamentalen Dinge waren in der Tat so, wie sie immer gewesen waren. Mit dieser beruhigenden Vorstellung schaute er in die warme Glut des Lagerfeuers. Da erschien zwischen ihm und dem Feuer ein kleines Loch im Boden, das schnell größer wurde. Wie aus einem Rachen schlugen Flammen empor. Ein grinsender Teufel kroch aus dem Loch - ganz vorschriftsmäßig mit scharlachroter Haut und Hörnern, einem langen Gesicht mit Spitzbart und einer Gabel in der Hand. "Ich möchte dir zu deiner Skepsis gratulieren", sagte der Teufel. "Rationalisten brennen so hervorragend." Dann spießte er mit der Gabel Matt in den Bauch, stemmte ihn wie einen Ballen Heu in die Luft und warf ihn in die Flammen. Matt schrie. Jede Nervenfaser seines Körpers meldete den grauenvollen Schmerz. Das Feuer wurde immer heißer, der Schmerz immer größer. Matt schrie, bis er heiser war, aber die Schmerzen wurden immer unerträglicher... Dann stieß die Gabel wieder zu und warf ihn in Trockeneis, welches seinen Körper mit Kälte ebenfalls verbrannte. Doch die Nerven wurden nicht taub. "Zerbrich dir nicht den Kopf! Es wird nicht besser." Matt schaute auf. Eine schwarze Amöbe mit Adern aus Feuer pulsierte neben ihm und sprach mit Teufelsstimme: "Aber natürlich bin ich das. _Nichts_ in diesem Reich hat eine reale Gestalt." Die _Hölle_! Er war in der _Hölle_! "Was hast du von einem Teufel erwartet? Nun ja, es entspricht nicht deinen kindischen Vorstellungen von Pech und Schwefel. Weißt du, was Hölle ist? Das völlige Fehlen der... der Quelle." _Gott_, dachte Matt benommen. Der Klumpen zuckte und schrumpfte zum Nichts. "Ich danke dir; daß du diesen _Namen_ hier nicht benutzt hast. Jetzt kannst du ihn nicht mehr aussprechen. Ich habe das Neuron, welches mir solchen Schmerz bereitet, verknotet." Matt gab sich Mühe, den Namen zu finden, aber er konnte nicht - die bohrende, schmerzende Leere der Isolation schlug über ihm zusammen. Es war nicht die Einsamkeit, welche er kannte und überwunden hatte, wenn er in einer neuen Stadt war. Dies hier war schlimmer, tausendmal schlimmer. Verzweiflung verstärkte die Einsamkeit noch, da es keinen Weg aus ihr gab - nicht einmal durch den Tod. Die Kälte von Kiplings Wind zwischen den Welten drang bis zur äußeren Protoplasmaschicht. Übelkeit befiel ihn und wollte die Seele umkrempeln, zusammenfalten, verschwinden lassen - um von der Einsamkeit in Vergessenheit überzugehen. Aber sie konnte nicht aufhören, sondern war gefangen, eingebettet in so totaler Verzweiflung, daß sie keine andere Seite hatte. "Ja", höhnte der Teufel. "Ja - auf ewig, auf ewig!" In der Ferne tanzten Lichtpunkte. Sie schwollen an, wurden zu Scheiben, dann zu Kugeln. Sie flogen auf Matt zu. Er erkannte in einer Kugel eine Seele, welche vor Schmerz nicht hörbare Schreie mit dem Munde formte, während weiße Flammen sie einhüllten und wie mit glühenden Nadeln durchbohrten. "Das ist die Hölle eines Hedonisten", erklärte der Teufel. "Hedonisten behaupten, der Sinn des Lebens sei das Vergnügen. Aber Sterbliche sind schnell satt, die Vergnügen werden schal. Sie enden, indem sie immer weiter nach neuen Sensationen suchen, die sie daran erinnern sollen, daß sie leben. Was aber als Suche nach Vergnügen begann, endet mit der Suche nach dem anderen Extrem, dem Schmerz. Sie streben danach hierherzukommen, obwohl sie sich dessen nicht bewußt sind. Hier finden sie für immer die Eindrücke, denen sie nachjagten." Die Hölle machte eine Wendung nach rechts. Dort sah Matt noch viel mehr orange leuchtende Blasen. Oben, unten, überall schwammen sie herum. "Ja, das sind viele", frohlockte der Teufel. "Aber es ist Platz für millionenmal mehr. Die Hölle ist recht geräumig. Jeder Sünder ist allein in seiner persönlichen Hölle - hier unten gibt es keine Kameradschaft. Wir haben keinerlei Problem, jeden Sünder mit der passenden Hölle auszustaffieren, da jeder sich seine bereits mitbringt. Du kommst hier in die Hölle, welche du dir dein ganzes Leben lang aufgebaut hast." Matt betrachtete die Kugel vor ihm. Die Luft um die Seele war voll heller Lichtpunkte, welche auf die Seele zuflogen. Diese hatte den Kopf zurückgelegt. Aus dem offenen Mund wurde ein steter Strom der Substanz hinaus in den Raum gezogen. "Ganz gleich, wieviel herausgezogen wird, es bleibt immer etwas übrig", erklärte der Teufel. "Die hellen Punkte sind mikroskopisch kleine Dolche. Jeder schneidet ein winziges Stück der Seele ab. Dieses Wesen behauptete, daß es an seinen Sünden nicht schuldig sei - daß alles vorherbestimmt sei oder alles von der Erziehung oder der sozio-kulturellen Matrix abhinge, die ihn von Geburt an geprägt hat. Resultat: Diese Seele lehnte jegliche Selbstverantwortung ab und sündigte nach Herzenslust drauflos, ohne sich auch nur im geringsten darum zu kümmern, welchen Schaden sie anderen zufügte. Aber jede Sünde war ein Bruch der Integrität, des Ganzen. Sie lebte dahin, sich ständig verlierend - und so lebt sie auch hier fort: ewig Stück um Stück verlierend." In der nächsten Kugel war die Seele mitten im Gehen gefroren. "Diese Seele wird ewig gefroren bleiben", vertraute ihm der Teufel an. "Sie kann sich nie entscheiden. Im Leben war sie ein Mitläufer. Wenn sie nicht wußte, was richtig war, fragte sie den Priester oder den Minister oder den Arbeitgeber oder schaute in einem Buch nach. Nie dachte sie eigenständig. Nie entschied sie sich. Jetzt steht sie hier, wie sie lebte: Aber niemand ist da, der ihr die nächste Bewegung befiehlt. Du hast von der >Agonie der Entschlußlosigkeit< gehört? Da ist sie - vor deinen Augen!" In Matt wallte wieder Übelkeit auf. Dann kam eine andere Kugel. Die Seele lag auf dem Boden und blickte voll Entsetzen nach oben, wo ein riesiger Klumpen stinkenden Abfalls sich herabsenkte. "Er weiß, daß der Mist ihn eines Tages erreichen wird", erklärte der Teufel. "Das haben wir ihm gesagt. Eines Tages - morgen oder nächstes Jahr oder in einer Million Jahre. Das spielt keine Rolle." Der Klumpen fiel. Die Seele bäumte sich auf. Doch der Klumpen blieb kurz vor ihrer Nase stehen und zog sich wieder zurück. Warum war diese Seele in solcher Panik? "Das sind ihre eigenen Worte und Gedanken. Diese Person hielt sich für besser als ihre Mitmenschen - rechtschaffener, rassisch überlegen. Aber jeder abwertende Gedanke, jede beleidigende Bemerkung fiel hierher und wurde bis zu ihrer Ankunft gesammelt. Sie wartet jetzt darauf, von ihrem eigenen geistigen Dreck begraben zu werden. Jetzt ist sie in Angst und Schrecken, weil sie weiß, was sie denen antat, welche sie verachtete." Auch diese Kugel entschwebte. Matt war ganz übel. Wieder kam eine Kugel herbei. Die Seele darin grinste verzweifelt, Schweiß auf der Stirn. Immer, wenn sie den bunten Gegenstand vor sich packte, verblaßten die Farben, und er löste sich auf. Doch gleich erschien er wieder an anderer Stelle, und die Seele griff wieder danach. "Das ist ein Materialist", frohlockte der Teufel. "Er glaubte, nur was er fühlen oder sehen konnte, sei real. Jetzt sieht er das Ding, kann es aber nie packen. Es ist eine Illusion. Selbst wenn er den eigenen Körper berührt, findet er dort keine Substanz. Er hat seine Realität verloren. Trotzdem greift er nach jedem Phantom, immer weiter hoffend, daß er etwas Reales findet. Jede Seele verdammt sich selbst. Alle haben dies gewählt. Niemand wird hierher geschickt, der es nicht so wollte." _Wahnsinn_! dachte Matt. _Alle werden wahnsinnig - aber sie können nie dort hinkommen_. "Sehr richtig", freute sich der Teufel. "Das gehört zur Hölle." Eine dunkle, leere Kugel schwebte heran. "Das ist die deine", erklärte der Teufel. "Jetzt ist sie leer; aber bald schon wird sie bewohnt sein. _Du_ wirst sie füllen mit deinen nicht beherrschbaren Phantasien. Im Grunde bist du nämlich ein Solipsist, und dein Unterbewußtsein ist außer Kontrolle. Gut, mit langem, hartem Training kann ein Mensch lernen, es zu beherrschen - aber eine solche Anstrengung ist nicht nach deinem Geschmack. Kein Wunder! Die ganze Hölle ist für solche Solipsisten, für die die Welt nur in ihren Vorstellungen besteht. Doch du hast deine Form nicht gewählt. Von all den Sündern, welche du gesehen hast, steckt auch in dir etwas. Aber keine Form der Sünde ist bei dir vorherrschend. Du bist gestaltlos. Man kann nur sagen, daß du überzeugt bist, das Zentrum des Universums zu sein - du bist _nie_ erwachsen geworden, stimmt's? Du bist in deinen eigenen Illusionen verloren." "_Dann sollen sie mich haben_!" Die dunkle, leere Kugel prallte auf Matt. Mit dem Kopf zuerst stieß er gegen die Oberfläche. Sie gab wie eine Plastikhaut nach, zerriß - und er war im Innern. Plötzlich konnte er sich wieder frei bewegen - und konnte sprechen! Schreiend warf er sich gegen die unsichtbare Wand. Sie gab nach, zerriß aber nicht. Auf der anderen Seite jauchzte der Teufel vor Freude. "Ja, ja! Kämpfe! Wehre dich! Du wirst niemals entkommen! Die Hölle ist ewig!" Eine letzte verzweifelte Hoffnung wurde in Matt wach. "Aber meine Hölle ist die der unbeherrschten Illusionen! Wenn ich diese unter Kontrolle bekomme, hat die Hölle ein Ende!" "Hölle ist Hölle!" spottete der Teufel. "Wirklich?" schrie Matt. "Oder ist es das Fegefeuer? Das soll doch wie die Hölle sein, nur daß es endet! Und wenn dies hier vielleicht endet, kann es das Fegefeuer sein!" "Kann", meinte der Teufel ruhig. "Also - was ist es?" "Die Hölle ist - nicht wissen!" sagte der Teufel leise. Dann traf Matt die volle Wucht der Verzweiflung. Der Teufel hatte recht. Wenn man im Fegefeuer war, wußte man das. Man wußte, daß es enden würde. Nicht zu wissen - das war die Hölle! Jetzt hüpfte der Teufel förmlich vor Freude. "Verzweiflung! Das machst du hervorragend! Ha, Hoffnung! Es ist so herrlich - wenn sie weg ist!" Matt erkannte, daß der Teufel ihn absichtlich geködert und das letzte Fünkchen Hoffnung noch angefacht hatte, um es ihm dann wegzunehmen. Wut verdrängte die Verzweiflung. Matt stürzte mit ausgestreckten Händen auf die unsichtbare Wand zu, um dem Teufel theoretisch an die Kehle zu gehen. "Wut!" schrie der Teufel entzückt. "Es ist herrlich, dir zuzusehen. Wie gern würde ich noch bleiben!" Jetzt geriet Matt in Panik. Dieser Teufel war zumindest ein empfindungsfähiges Wesen. "Nein, bitte! Auch wenn du widerlich bist, laß mich nicht allein!" "Allein", spottete der Teufel. "Das ist im Grund die wahre Natur der Hölle! Leb wohl, du vorletzter Skeptiker. Leb wo-o-o-ohl!" Die Stimme verklang, als er zu einem Punkt schrumpfte und verschwand... Weg war er. Matt war von undurchdringlicher, totaler Finsternis umgeben, ohne auch nur ein Iota Licht. Nicht einmal die Lichtpunkte der anderen Höllen waren zu sehen. Verzweiflung legte sich schwer auf seine Seele. In Panik suchte er nach einem Dolch, einer Rasierklinge oder einem anderen Gegenstand, um sein Leben zu beenden. Dann fiel es ihm wieder ein - das Leben _war_ beendet! Die Einsamkeit bahnte sich einen Weg durch die Verzweiflung, bis Matt hätte schwören können, daß von ihm nur noch das Bewußtsein der brennenden Pein der Isolation übrig war, schlimmere Schmerzen als das Brennen in jedem Kubikmillimeter. Sein ganzes Sein flehte um Wahnsinn. Ein tiefes Knurren füllte die Leere. Voll Panik wirbelte Matt herum. Da schoß es auf ihn zu - schwarz, mit buschigem Fell und stumpfer Schnauze, die so scharfe und spitze , Zähne zeigte, wie sie kein Hund haben konnte. "Nein!" schrie Matt, ging in die Hocke und barg das Gesicht in den Armen. "Nein! Ich liebte dich! Du warst mein _Freund_!" Doch der Hund kam mit blutunterlaufenen Augen und wütendem Bellen näher. Es war sein Lieblingshund aus der Kinderzeit, der gestorben war, als er im Ferienlager war. Das Bellen und Knurren formte Worte: "Ich starb ohne dich!" "Das war nicht meine Schuld, Malemute! Ich war ein Kind und konnte nicht heimfahren! Sie haben mir nichts gesagt!" Sein Verstand kannte die Wahrheit der Worte, aber sein Unterbewußtsein glaubte sie nicht. Malemute ebenfalls nicht. Die messerscharfen Zähne schlugen zu. Matt schrie auf, als sie sein Bein zerfetzten. Er krümmte sich und griff nach der Schnauze, um die Kiefer auseinanderzustemmen. Doch der Hund war kräftiger. Knochen knackten. "Gib ihn mir!" Der Hund schaute auf und ließ Matt fahren. Langes Blondhaar, ein rundes Gesicht, große, mit dichten Wimpern besetzte Augen, volle, rubinrote Lippen, lange Beine, üppige Hüften und riesige Brüste - lächelnd kam sie näher. Doch Matt verspürte auch nicht das geringste sexuelle Interesse. Furcht und Schrecken beherrschten ihn. Er kannte sie. Sie war zu Beginn der Pubertät bei Tag und Nacht in seinen Träumen gewesen. In den Tagträumen war sie sehr willig und extrem kooperativ gewesen - aber schließlich hatten ihr diese nicht viel abverlangt. Aber in den Nächten... Mit schweißbedeckter Stirn preßte Matt sich mit dem Rücken gegen die Wand. "Ja", sagte sie schläfrig. "Das ist eine Frau. Sie berührt dich _hier_... sie berührt dich _dort_..." Matts Schrei erstarb. Ihre Berührung war, als würden glühende Zangen heiße Drähte aus seinem Körper ziehen. Feuerströme rasten durch ihn hindurch, von den Knien bis zur Brust. "Der Schmerz ist Sache des Priesters", keuchte sie. "Die Lust deine." Ihr Gesicht kam näher, die riesigen Brüste legten sich auf sein Gesicht und erstickten ihn beinahe. Er rang nach Luft und wehrte sich. Aber nichts konnte dieses Gewicht bewegen... "Geh beiseite! Laß mich durch!" Von der Last befreit, sprang Matt auf und holte tief Luft. Ein Ritter in voller Rüstung näherte sich mit dem Breitschwert in der Hand. Er warf einen Blick auf das Fruchtbarkeitssymbol und schlug die Augen nieder. "Bekleide dich! Kennst du das Gesetz nicht?" "Gesetz!" Matt griff nach diesem Strohhalm. "Hier? Welches Gesetz?" "Das Gesetz in deinem Kopf", antwortete der Ritter ernst. "Das Gesetz, welches dort in den Tiefen begraben liegt - die prüde Moral, daß nichts gut sein kann, was nackt ist." Ein _Freund_, dachte Matt mit neuer Hoffnung. "Ja, gib mir etwas anzuziehen!" "Ich bin deine Kleidung." Der Ritter stand jetzt einen Meter vor Matt. Zu seinem Schrecken sah dieser, daß hinter den Schlitzen des Visiers nur Schwärze lag. "Ich bin deine Kleidung oder was du dafür hieltest - nur eine Rüstung, nur ein Schild. Die trugst du immer, weil du dich vor anderen Menschen fürchtetest." Die Stimme klang hohl. Er bekam es wieder mit der Angst zu tun, als der Namenlose das Schwert hob. "Verteidigungsmechanismus", donnerte der Ritter. "Du hieltest die Kleidung für eine Rüstung, doch du hast vergessen, was zu Rüstung und Schild gehört." Er riß den Schild hoch. Fünf scharfe Messerklingen waren daraufgeschmiedet und zeigten jetzt auf Matt. "Deine Verteidigung führte zu Angriffen. Mit deinem Schild stießest du diejenigen fort, welche sich dir als Freunde näherten. Bei diesen Stößen fügtest du ihnen auch Wunden zu." Der Schild stieß zu und bohrte sich an fünf Stellen in Matts Brust und Bauch. Er wollte schreien; aber das Blut in seinem Hals ließ ihn nur gurgeln. Alles drehte sich um ihn - Hund, Ritter und Fruchtbarkeitssymbol. Das Schwert! Matt wollte ihm ausweichen, aber die fünf Messer hielten ihn fest. Sein Mund öffnete sich zu einem Schrei, als die Klinge wie eine Guillotine herabsauste, doch kein Ton kam. Er spürte, wie sein Kopf sich drehte und herabfiel. Dann rollte er weg und blickte zu seinem kopflosen Körper empor, den der Schild aufrecht hielt. Aus dem Hals schoß ein Blutstrom. Der Ritter ließ das Schwert fallen und preßte mit dem eisernen Handschuh auf Matts Kopf. Er fühlte sich emporgehoben, bis er direkt vor dem offenen Visier war. "Betrachte jetzt die Wahrheit einer Seele, welche sich vor allen anderen zu verstecken sucht!" befahl ihm die Stimme. Der Helm war leer, hohl. Wieder wollte Matt schreien, aber es kam kein Ton. Wie konnte ein Mensch mit Verstand das Wissen fassen, daß alles Illusion war - und den Folgesatz, den die Vernunft aufdrängte: Daß er selbst nicht existierte? Dann tauchte vor ihm ein Gedanke auf - gleich einem Rettungsring. Es gab eine Antwort, die Zahllosen anderen geholfen hatte, nicht den Verstand zu verlieren. Diese Antwort war - Glaube! Bei diesem Gedanken blitzte ein bleistiftdünner Lichtstrahl in der Leere auf, traf sein Ohr und füllte seinen Kopf mit glockenhellem Klang, der zu Worten wurde: _Du wurdest hierher verschleppt, ehe deine wahre Zeit gekommen war. Die Hölle kann dich nicht halten, wenn du Gott anrufst_. "Schneid ihm die Lippen ab!" schrie die Frau. Der Ritter klappte das Visier herunter und griff nach dem Schwert. Doch Matts Lippen formten die alten lateinischen Worte: _De profundis clamo ad Te, Domine! Domine_! Aus der Tiefe schrei' ich zu Dir, o Herr! Atem kam, wo eigentlich keine Lunge war. Die Hölle hatte zwar den Namen Gottes von seiner Zunge verbannt, nicht aber das Wort >Herr<. Matts Stimme krächzte, wurde aber kräftiger. "_Auribus percipe, Domine, orationem meam; et intende voci deprecationis meae..."_ Herr, neige Deine Ohren und erhöre mich, denn ich bin elend und arm. Die Frau schrie, der Ritter heulte. Dann verschwanden Stimmen und Gestalten immer mehr in der Ferne, wurden zu Punkten... Dann waren sie ganz verschwunden. Matt war wieder heil. Der Kopf auf den Schultern, die Haut unversehrt. Aber er zitterte am ganzen Leib. Der Psalm hatte zwar die Trugbilder vertrieben, ihn aber auf ewig in einen lichtlosen Block eingefroren. Worte waren ihm genommen, nicht aber Gefühle. Sein ganzes Sein bäumte sich zu einem wortlosen, verzweifelten Hilfeschrei auf. Im Augenblick der Auslöschung rief die Seele nach ihrem Gott. Ein infraroter Lichtpunkt antwortete, der schon bald zu einem schwachen, rubinroten Schein des Heils wurde! Andere Punkte tauchten auf. Ihr Schein wurde stärker und leuchtete in der Dunkelheit, zeigte ihm... Asche, verkohlte Äste und die Glut des Lagerfeuers. Fahles Licht drang durch die Baumkronen. Matt sah Sterne, und ihm wurde klar, daß er auf dem Rücken lag. Da lagen auch Sir Guy, die Prinzessin, Sayeesa und Stegoman. Aus dem Erdinnern drang ein schwächer werdendes Wutgeheul zu ihm herauf - es verebbte, als sei es das Ende eines Traumes. Dann war alles still. Vorbei der Spuk. Matt war zu Hause. Er holte tief Luft. Sein Körper wurde schlaff, als die Seele sich zu einem kurzen Stoßgebet des Danks emporschwang. Dann erstarrte er. Für Sekundenbruchteile hatte er das Gefühl, daß eine gütige Hand seine Seele umfing. Das hätte er beschwören können. Kopfschüttelnd setzte er sich auf. Eine Illusion! Was hätte es sonst sein können? Nein, nicht hier! Aber alles konnte ein Alptraum gewesen sein! Spielte das eine Rolle? Matt zog die Beine hoch und legte das Kinn auf die Knie. Nein, es spielte keine Rolle, denn selbst wenn es ein Alptraum gewesen war, hatte dieser ihm gezeigt, was er im Grunde seiner Seele wirklich glaubte. Man konnte es Gehirnwäsche nennen. Es lief doch auf dasselbe hinaus - in tiefstem Herzen glaubte er an Sünde und Hölle. Und wenn er an Sünde und Hölle glaubte, dann auch an Tugend und Himmel. Hier jedenfalls. Er war nicht bereit, die Gerichtsbarkeit mittelalterlichen Christentums über sein rationales heimatliches Universum anzuerkennen - aber hier gewannen die Theorien der Theologen des Mittelalters an Gewicht und Substanz und wurden zu Fakten. Er war jetzt in der Welt Sir Guys und hatte nach den Regeln der höfischen Etikette zu leben. Er mußte mit jemandem sprechen! Vorsichtig stand er auf und ging leise zu Stegoman hinüber. Dann setzte er sich neben den großen Kopf und berührte die Nase des Drachen. Grunzend hob sich der Kopf. "Ich bin's nur", sagte Matt leise. Der Drache schaute ihn verschlafen an. "Auf deiner Seele liegt eine Last?" Matt schaute zu Boden und zupfte sich am Ohr. "Es tut mir leid, daß ich dich geweckt habe, aber..." "Schon gut", unterbrach ihn Stegoman. "Es ist dir ein Bedürfnis. Also sprich!" Matt schaute ihn an und versuchte, seine Gedanken zu ordnen. "Hier ist doch alles real, oder?" Stegoman dachte kurz nach, dann nickte er. "Ja, alles - du, der Ritter, die Hexe und die Prinzessin." "Und die Hölle", sagte Matt leise. Wieder nickte Stegoman. "Ja." Matt nickte ebenfalls. "Ich hatte gerade einen Traum. Der hat mich auf den Gedanken gebracht, daß ich eine moralische Verantwortung habe, welche ich nie zuvor anerkennen wollte. Verstehst du das?" "Besser als du denkst." Ein Lächeln lag auf dem riesigen Maul. >"Moral< ist ein Wort, das mehr bezeichnet als nur Laster und Taten." "Ja, eher ein Seelenzustand, nehme ich an. Wenn du deine eigene Moral nicht akzeptierst, versuchst du dich zu halbieren. Jede Hälfte lebt nach verschiedenen Regeln. Dann bist du kein Ganzes. Du hast deine Integrität verloren." "Seltsam ausgedrückt", meinte der Drache. "Ich hätte gesagt, daß ein Mensch, der sich selbst nicht treu ist, nicht vollständig ist. Richtig ist gut und Schlecht ist böse. Wer sich nicht festlegen will, verrät das Richtige und wählt das Falsche." "Hm. Und hier scheint mir Richtig und Falsch real zu sein." "Ohne jeden Zweifel", versicherte ihm Stegoman. Matt überdachte das eine Weile lang. Dann seufzte er. "Noch etwas - in meinem Traum trugen alle Kleidung aus diesem Universum, nicht aus meiner Welt. Mein Unterbewußtsein bevölkerte meinen Traum mit mittelalterlichen Illusionen. Das zeigt anscheinend, daß ich in diesem Universum sein will. Mein geheimes Ich wollte immer ein Magier im Mittelalter sein. Und wenn ich diese Welt wählte, bin ich auch irgendwie dafür verantwortlich, was sich hier tut." "Du sagst es überdeutlich", stimmte der Drache bei. "Sag, hast du noch immer vor, in deine andere Welt zurückzukehren?" Matts Lippen wurden schmal. "Diese Idee war irgendwo immer da." "Vergiß es!" riet Stegoman. "Gib alle Gedanken an eine Rückkehr auf, Matthew Mantrell!" "Ja", sagte Matt ganz leise. Noch einmal überflutete ihn eine Welle von Heimweh. Seine Wohnung, seine Freunde, das Leben, das er geführt hatte... Dann blieb nur ein dumpfer Schmerz. Der würde immer bleiben, aber meist würde er zu beschäftigt sein, um ihn zu bemerken. Dann beschrieb er Stegoman in groben Zügen seinen Traum. "Ich hatte noch nie so einen Traum, Stegoman. Ich hätte schwören können, daß alles echt war. Ich konnte mich auch nicht aufwecken. Mir kam nicht einmal der Gedanke, es zu versuchen." Er schüttelte den Kopf. "Ich glaube, ich hatte bei diesem Traum ein bißchen Hilfe." "Diesen sehr mächtigen Magier, den du schon mal erwähntest?" "Ja. Ich glaube, er schickte mir diesen Traum, um mich zu überzeugen, daß das Böse wirklich existiert." "Wie konntest du das anzweifeln", grollte der Drache. "In meiner Welt war das nicht schwer." "Dann hast du vielleicht schwere Sünden, begangen. Von diesen mußt du dich befreien, sonst gefährdest du uns alle. Du hast von der Prinzessin den Titel >Lord Magier< angenommen. Erzeig dich seiner würdig!" Matt seufzte, stand auf und reckte sich. "Ich nehme an, das bedeutet, ich muß bei der nächsten Kirche zur Beichte gehen." "Irgendein Priester reicht schon", beschwichtigte ihn der Drache. "Und warte nicht, bis du einen findest. Suche nach einem - und zwar schnell!" Matt nickte. "Danke fürs Zuhören. Ich glaube, das hat mir sehr geholfen." "Dir vielleicht, nicht aber deiner Seele." Wieder flog ein Lächeln über Stegomans Maul. "Ich habe nur zugehört. Das würde jeder Freund tun." Er legte den Kopf auf die Vorderbeine. "Und jetzt - gute Nacht." "Gute Nacht, mein Freund", sagte Matt leise. Er blieb noch einen Moment stehen und sah zu, wie der Drache die Augen schloß. Dann ging er zurück zu seiner Lagerstätte. Er legte sich hin und zog den Umhang fester um sich. Ihm war kalt. Morgen muß ich dagegen etwas unternehmen, dachte er. Vielleicht ein langes, blaues Gewand mit allerlei Symbolen bestickt... Nein, das würde ihn beim Gehen stören, und sein Leben würde in der nächsten Zeit ziemlich turbulent werden. Er brauchte eine für diese Welt geeignete Kleidung. Vielleicht nur ein Wams und Beinkleider, nichts Extravagantes - Purpurrot und Gold würden ausreichen... _Eitelkeit_, sagte der Monitor in seinem Kopf. Matt zuckte zusammen. Eitelkeit war ein Laster, und er mußte sich vor Lastern hüten, wenn das auch unangenehm war. Und natürlich mußte er beichten. Morgen. Oder nächste Woche... Doch Stegoman hatte keinerlei Verständnis, als er ihm den Aufschub am nächsten Morgen erklären wollte. "Du hast Angst vor dem Priester", schimpfte der Drache. "Ist immer noch so viel Lasterhaftigkeit in dir?" "Moment mal! Warum sollte ich Angst haben, einem Typen meine Sünden aufzuzählen, den ich nicht mal sehe? Es ist nur nicht fair _denen_ gegenüber!" Er zeigte auf Alisande und Sir Guy, die etwa fünfzehn Meter vor ihnen ritten. Alisande und Sayeesa saßen auf kleinen, struppigen Stuten. Die Sache mit den Stuten war komisch. Matt war bereit, Pferde herbeizuzaubern; aber Sir Guy hatte gegrinst und war auf die Ebene hinausmarschiert. Dort hatte er eine seltsame Melodie gepfiffen, immer einen Ton daneben. Da waren die beiden Stuten mit angstvollen Augen aus dem Gebüsch herbeigetrabt und hatten ihre Schnauzen unter Sir Guys ausgestreckte Handflächen gekuschelt. Sie waren ziemlich scheu, als die Frauen aufstiegen; aber Sir Guy hatte ihre Hälse gestreichelt und beruhigend auf sie eingeredet. Matt hegte schon den Verdacht, daß Sir Guy auch über ein gewisses Maß an Zauberkunst verfügte. Aber dann fiel ihm ein, daß Sir Guy ein Ritter war, auf französisch ein _chevalier_, was wörtlich Pferdemann hieß. Offenbar bestand zwischen Pferden und Pferdemännern eine feste Bindung. Das erklärte zwar nicht, warum Matt immer noch auf einem Drachen ritt - aber er hatte keine Lust, sich darüber zu streiten. Unglücklicherweise war Stegoman durchaus streitlustig. "Hör mal!" Matt gab sich Mühe, überzeugend zu klingen. "Um eine Kirche zu finden, müßten wir die Marschroute ändern. Wir würden einen ganzen Tag verlieren, vielleicht sogar mehr. Ich kann von den anderen nicht verlangen, daß sie das tun, bloß weil ich mit einem Priester plaudern will." "Deine Seele zu reinigen ist mehr als plaudern", grollte der Drache. "Und deine Gefährten wissen, wie wichtig das ist." "Nein, wirklich! So wichtig kann es doch nicht sein!" "Das denkst _du_!" fuhr ihn der Drache an. "Was ist dir denn über die Leber gelaufen?" "Mein Zahn! Und erzähl mir ja nicht, daß ich ihn von meinem Körper trennen soll! Von mir aus kann er im Kiefer verfaulen. Ich trenne mich nicht von ihm!" "Schon gut, schon gut! Es sind deine Schmerzen!" Seufzend lehnte Matt sich zurück. "Ich kann dir keinen Vorwurf machen. Mir geht es mit der Beichte genauso." Erschrocken machte er den Mund zu. Doch Stegoman legte den Kopf zurück und schaute Matt mit seinen listigen Äuglein an. "Du hast dir eben die Wahrheit eingestanden. Warum sprichst du jetzt nicht auch mit der Prinzessin?" "Worüber? Sie möchte doch bitte ihren Krieg für einen Tag einstellen, damit ich mit einem Priester reden kann? Überlege mal! So wichtig kann es doch nicht sein!" "Der hypothetische Magier, der dir den Alptraum schickte, hielt es doch für so wichtig. Oder die Diener der Hölle, als sie dich abholten." Matt schüttelte widerspenstig den Kopf. "Nein, das nehme ich dir nicht ab. Es war ein Alptraum! Ein Ausflug in die Hölle wäre leicht überzogen. Warum sollte ich so wichtig sein?" "Du _bist_ so wichtig! Was hast du bisher getan, _ohne_ wahre Hingabe an das Gute? Du hast die Prinzessin aus dem Verlies befreit und Beschützer für sie gefunden. Du hast die widerliche Hexe in den Erdboden versenkt. Du hast den Zauberbann der Lusthexe gebrochen. Viermal hast du das Böse besiegt. Dreimal hast du das Gute gestärkt. Vor deinem Kommen waren sie gleich verteilt. Dieses Gleichgewicht hast du verändert. Du mußt das Zentrum im bevorstehenden Kampf sein." Matt lief es kalt über den Rücken. "Also diese Aussicht mißfällt mir ausgesprochen." "Warum? Zuviel Wahrheit? Akzeptiere es, Magier! Du hast nämlich nicht viel Zeit, dich daran zu gewöhnen. Diese Spirale der Macht wächst seit achthundert Jahren. Sie wird nicht warten, bis es dir in den Kram paßt." "Achthundert Jahre! Was redest du? Malingo und Astaulf kamen vor knapp einem Jahr an die Macht." "Das ist nur das letzte Kapitel eines ziemlich langen Buches", erwiderte der Drache kühl. "Ich erzählte dir doch, wie das mächtige Rem vor achthundert Jahren unterging und welches Chaos folgte." "Und wie der heilige Moncaire genug von der Misere hatte und König Hardishane überredete, den Kontinent zu übernehmen. Ja." "Genau, weil Hardishane die nördliche Insel der Doktoren und Heiligen erlangte und durch Geburt König einer Insel der Seeräuber wurde. Und durch seine Mutter wurde er Erbe des größten Teils von Merovence." "Also diese winzigen Einzelheiten hast du glatt ausgelassen", protestierte Matt. "Hab' ich? Na, auch kein Wunder! Jeder gerade Ausgeschlüpfte weiß das schließlich... Um Merovence und die Nachbarn zu nehmen, versammelte Hardishane die ruhmreichsten Ritter der Welt um sich: die Ritter des Berges. Sie und der Riese Colmain waren sein Stoßtrupp, Moncaire war seine Festung. Hardishane herrschte vom hohen Norden, den Inseln und Gebieten der Seeräuber, bis ans Ufer des Zentralmeeres und im Westen bis an die Küste Ibiles im Osten bis an die äußere Grenze Allustrias." Matt verdrehte die Augen und seufzte. "Und was hat das mit der gegenwärtigen Weltkrise zu tun?" "Das ist meine Geschichte." Matt war überrascht, daß Sir Guy neben ihm stand. Der Schwarze Ritter war zurückgefallen, um an dem Gespräch teilzunehmen. "Ihr seid wohl der hiesige Experte für Hardishanes Reich." "Und sein Nachspiel." Sir Guy nickte. "Diese Geschichte betrifft Menschen mehr als Drachen, Lord Magier." "Nachspiel?" Matt runzelte die Stirn. "Na schön - ich höre. Wie endete Hardishanes Geschichte?" "Na, er starb." Sir Guy trug sein übliches leichtes Lächeln zur Schau. Seine Augen funkelten. "Er starb, und der heilige Moncaire barg seinen Leichnam in einer Höhle, von der kein Sterblicher wußte, wo sie lag. Dann folgten ihm auch seine Ritter einer nach dem anderen in den Tod. Der heilige Moncaire brachte sie ebenfalls alle in die Höhle. Schließlich starb auch der Heilige; aber niemand weiß, wo sein Leichnam ist. Man hatte ihn in der Kirche zur Totenwache aufgebahrt. Doch die Ehrenwache schlief ein. Als es Tag wurde, war der Leichnam des Heiligen verschwunden. Man erzählt sich, daß Moncaire auch in die Höhle zu Hardishane und den Rittern ging." "Laßt mich raten!" Matt hob die Hand. "Sie alle sind nicht wirklich tot, aber auch nicht richtig lebendig, sondern schlafen nur, stimmt's?" Sir Guy nickte. "Ihr habt also die Geschichte gehört?" "Na ja, die Handlung jedenfalls. Und wenn Merovence _wirklich_ von einem Feind bedroht wird, den es nicht besiegen kann, werden Hardishane und seine Ritter erwachen, um das Land zu retten. Richtig?" "So ungefähr", sagte Sir Guy langsam. "Aber es geht nicht allein um Merovence, sondern um alle Länder im Norden. Der Kaiser wird nicht aufwachen, ehe alle unter der Macht des Bösen zusammenzubrechen drohen oder wieder ein Imperium geworden sind." "Aha!" Matt zog die Brauen hoch. "So drastisch! Entweder Chaos oder totalitäres System, Anarchie oder Imperium? Kein Bereich dazwischen." "Nein, Lord Magier! Wir befinden uns jetzt in dem >Bereich dazwischen<. Ibile im Westen und Allustria im Osten sind bereits der Herrschaft der Sünde und des Bösen anheimgefallen. Allein Merovence ist noch nicht in den Abgrund gestürzt. Das wird auch meiner Meinung nach nicht geschehen, solange wir leben." "Wer seid Ihr? Chamberlain?" Sir Guy schaute ihn verwirrt, beinahe schockiert an. Matt überlegte, welchen wunden Punkt er getroffen hatte. Doch dann schüttelte Sir Guy den Kopf. "Ich bin der, den Ihr vor Euch seht, oder? Euer und der Prinzessin Gefährte, um ihr zum Thron zu verhelfen. Und wir werden gewinnen. Der Kaiser mag noch eine Zeitlang schlafen." Matt blickte zu Alisande hinüber. "Was geschah nach dem Tod Hardishanes?" "Oh, seine Erben regierten gut und weise. Niemand empörte sich gegen sie, da der unsterbliche Riese Colmain die Sippschaft Hardishanes beschützte. Es bestand auch nie ein Zweifel, wer der wahre Herrscher war, da Colmain es immer wußte und nur vor dem Ältesten aus dem Hause Hardishanes niederkniete." Das war besser als ein Polygraph. "Wie konnte das Imperium bei diesem todsicheren System fallen?" "Weil der Erbe fehlte! Das Blut wurde dünner im Laufe der Zeit. Nach fünfhundert Jahren starb der letzte aus Hardishanes Sippe - es gab allerdings Gerüchte..." "Über ein Kind, welches bei einem niederen Ritter aufwuchs?" "Ja, bei einem unbekannten Ritter. Niemand wußte, wo. Das Kind stammte von der weiblichen Linie, von Hardishanes Tochter, nicht seinem Sohn. Aber dennoch war es von seinem Blut. Ferner munkelte man noch über ein Kind, das von schlichten Bauersleuten aufgezogen wurde. Dies war ein Knabe und ebenfalls von königlichem Geblüt, sogar von der männlichen Linie, allerdings von einem jüngeren Sohn. Doch fand man diesen Knaben nie. Colmain gehorchte niemandem und durchstreifte das Land auf der Suche nach einem leiblichen Nachkommen Hardishanes." Matt sah den Riesen direkt vor sich, wie er durch Felder und Dörfer stampfte, gleich einem unprogrammierten Roboter. "Gehe ich recht in der Annahme, daß das Land nicht in hervorragendem Zustand war?" "Allerdings. Es war die reinste Anarchie - jeder kämpfte gegen jeden! Die Barone waren außer Rand und Band. Jeder wollte seinen Besitz vergrößern. Ibile und Allustria fielen in die Hände skrupelloser Männer, in denen wenig Gutes steckte." "Aber jede Menge Böses, was?" "Ja. Doch von diesen war keiner ein wirklicher Handlanger der Hölle. _Das_ war erst derjenige, welcher Merovence zu erobern suchte. Er war ein Zauberer, ein gewisser Dimethtus, welcher aus dem Westen mit einer kleinen Armee und weniger mächtigen Zauberern aus dem Westen kam. Mit ihrer Hilfe und viel böser Magie besiegte er einen Baron nach dem anderen, so daß ihm schließlich das ganze Land zufiel. Doch dann entdeckte Colmain einen König." "Über welchen Zeitraum sprechen wir?" "An die fünfzehn Jahre. Der Knabe war in seinem Versteck zum Mann herangewachsen. Sein Name lautete Kaprin. Er stammte aus der Linie der Tochter Hardishanes. Colmain traf ihn in einem Schloß im östlichen Gebirge und erkannte ihn auf der Stelle. Sogleich kniete er nieder, und auch Kaprin wußte vom ersten Moment an, wer er in Wirklichkeit war und was von ihm verlangt wurde. Er befahl dem Riesen, den bösen Zauberer zu töten. Daraufhin rief Colmain alle Geschöpfe zusammen, welche von Steinen leben. Gnome und Zwerge, ja sogar Trolle gehorchten seinem Aufruf. Mit dieser Armee marschierte er mit König Kaprin gegen Dimethtus. Auf jeder Meile gesellten sich weitere Männer, die ebenfalls guten Herzens waren, zu König Kaprin. Von den nördlichen Inseln stieß auch ein noch junger Gelehrter, ein Doktor der Schönen Künste, zu ihm. Dieser hieß Conor." "Ein Heiliger?" fragte Matt. "Ja, wie sich im Laufe der Zeit erwies. Doch damals hielt man ihn nur für einen sehr mächtigen Magier." "Ja, klar", meinte Matt. "Wenn sie gegen einen Zauberer kämpften, brauchten sie einen Magier auf ihrer Seite." Sir Guy nickte. "Der Himmel wahrt das Gleichgewicht, Lord Magier - damals, heute und in allen Zeiten." Matt lief es kalt über den Rücken. "Ich hoffe, Ihr wollt mir nicht einreden, daß ich die Rolle Conors bei Malingos Dimethtus spielen soll." Sir Guys Augen glitzerten noch fröhlicher. Aber er ging nicht auf die Unterbrechung ein. "Der größte Teil des östlichen Merovence schwur schnell König Kaprin die Treue. Dann marschierte er weiter nach Westen. Es kam zu einer großen Schlacht. Doch Conor wehrte jeglichen Zauber Dimethtus' ab. Kaprin jagte mit Hilfe des Riesen Colmain die Armee des Zauberers in die Flucht. So fing auch Dimethtus an, der alten Maxime zu glauben: Daß niemand einem rechtmäßigen König Widerstand leisten kann." "Er _fing an_ zu glauben?" "Ja. Wenn jemand starke Überzeugungen hat, kann er diese nicht schnell ändern. Dimethtus wagte noch zweimal eine Schlacht gegen Kaprin - und verlor beide Male. Schließlich war der Zauberer tief in die westlichen Berge vertrieben. Jetzt ging es für Dimethtus um Sieg oder Tod." Sir Guy seufzte. "Es war eine große Schlacht. König Kaprin und seine Ritter vollbrachten zahllose Heldentaten. Doch dann, kurz vor dem Sieg, gelang es Dimethtus, mit seinem Zauber Colmain in Stein zu verwandeln. Doch achtete er dabei nicht auf Conor. Der Magier ließ ihn erstarren, während Kaprin das Heer Dimethtus' vernichtete. Bei Sonnenuntergang löste Conor den Bann. Der Zauberer flehte, daß seine Seele gerettet werde. Sogleich fielen die Dämonen über ihn her, um ihr Recht auf seine Seele zu fordern, welche er kraft des Blutpaktes ihnen überschrieben hatte. Doch der heilige Conor hielt sie in Schach, während ein Priester die lange, schreckliche Aufzählung der Sünden des Zauberers vortrug. Als der Priester die Worte der Absolution sprach, heulten die Dämonen vor Wut und Enttäuschung und zogen sich zurück. Danach konnte Kaprin Dimethtus hängen lassen." "Also,,. also eine wirklich interessante Geschichte, Sir Guy", meinte Matt leicht verwirrt. "Aber was hat sie mit uns zu tun?" "Nun, denkt an unsere Prinzessin." "Wollt Ihr damit sagen, daß _sie_... ?" Matt schluckte und schaute zu Alisande, dann wieder zu Sir Guy. "Also... König Kaprins Dynastie hat sich lang gehalten." "An die dreihundert Jahre. Der Vater unserer Prinzessin war..." "Ho!" Das war Alisandes Stimme. Sie hatte angehalten und winkte ihnen zu kommen. Sie deutete mit zusammengebissenen Zähnen nach vorn. "Seht! Die Früchte der bösen Könige!" Verkohlte Ruinen! Vielleicht war es vorige Woche noch ein Dorf gewesen. "Es ist, wie sie sagt", erklärte Sir Guy. "Das ist das Ergebnis von Astaulfs Herrschaft. Der König ist das Symbol der Nation, stellvertretend für sein Volk." Matt kannte die Macht der Symbole in diesem Universum. Er nickte. "Was der König tut, tut auch das Volk." Alisande nickte. "Er hat sich dieses Land durch Diebstahl angeeignet, und jetzt leben viele meiner Untertanen von Diebstahl." "Letztes Jahr hat das Räuberunwesen sehr zugenommen", erklärte Sir Guy. "Banditen ziehen durchs Land. Wenn ein Dorf den Tribut an Lebensmitteln, Gold oder Jungfrauen verweigert, rasen diese Schurken wie Sturmwind durch die Häuser und brennen schließlich alles nieder." Matt versuchte, nicht zu genau auf einige der niedrigen Aschenhügel zu blicken, die zwischen den verkohlten Balken lagen. Aber er wußte, daß es Leichen waren. Dann fiel ihm ein größeres Gebäude auf. "Stegoman, nach links!" "Was siehst du dort, Magier?"fragte die Prinzessin. "Die Kirche", erklärte Sir Guy. "Wieso steht sie noch?" fragte Matt. "Die Macht, der sie diente, hat sie geschützt, Lord Magier. Dies war heiliger Boden." Die Mauern standen noch, auch wenn die Fenster anklagend leer waren. In Matt rührte sich das Gewissen. Er _hatte_ sich entschlossen, in der ersten Kirche oder beim ersten Priester, auf den er stoßen würde, zu beichten. Hier war also die Kirche - aber kein Priester. Der war - wenn er Glück hatte - entkommen oder - wenn er keins hatte - geröstet. Wenn die Räuber nicht zugeschlagen hätten... "Was meint Ihr, Sir Guy, wann waren die Banditen hier?" Der Ritter runzelte die Stirn. "Nun, so vor etwa zwei oder drei Tagen. Warum?" "Könnte es sein..." Matts Magen verkrampfte sich."Könnte es sein, daß. man uns damit einen passenden Empfang bereiten wollte? Oder zumindest mir? Wenn Malingo gleich nach unserer Flucht in die Zukunft schaute, könnte er gesehen haben, daß ich auf diesem Weg kommen würde - falls ich so weit gelange - und daß ich nach einem Priester suche..." Sir Guy pfiff durch die Zähne. Alisande rief: "Ei, gewiß, Lord Magier! Ihr habt recht. Das ist das Werk des Zauberers." In Matt stieg Ärger und Wut empor. Na schön, sie hatten ihm die Tour vermasselt. Trotzdem konnte er noch eine trotzige Geste machen! Er schwang sich von Stegoman herab. "Was habt Ihr vor?" fragte Alisande. "Da drinnen kann niemand sein! Das Dach könnte einstürzen! Ich flehe Euch an, Lord Magier! Laßt diese Torheit!" "Ja, laßt ab!" bat auch Sayeesa voll Angst. "Ich spüre, wie böse Mächte hier herabsinken!" Jetzt, da sie es erwähnte, spürte Matt es ebenfalls. Als ob eine Schneewächte gleich herabstürzen wollte, ein Fangnetz jede Sekunde zugezogen würde. Aber etwas zog an ihm. Diese Kraft kam aus der Kirche. Da war er ganz sicher, daß es richtig sei hineinzugehen. "Nur einen Blick", erklärte er und ging los. "Das ist nicht nötig!" rief Alisande. Doch Sir Guy hob die Hand. "Laßt es gut sein, Hoheit! Er muß tun, was nötig ist." Matt betrat die Kirche, nachdem er sich gegen die verkohlte Tür geworfen hatte. Vorsichtig probierte er, ob die Fußbodenbretter ihn noch trugen. Doch sie waren nicht verbrannt. Das Innere der Kirche war erstaunlich gut erhalten. Nur über dem Allerheiligsten fehlte das Dach. Die einfallenden Sonnenstrahlen auf den weiß gekalkten Wänden und dem Altar verliehen dem Ort eine gewisse Heiligkeit. Der Beichtstuhl war unbeschädigt. Die durchbrochene Holzwand zwischen Priester und Beichtkind zeigte keine Brandspuren. Auch der grobe Vorhang auf der Seite des Reuigen war fleckenlos. Matt stellten sich die Haare im Nacken auf. Er spürte, wie die magischen Kräfte immer stärker wurden und an seinen Nerven knabberten. Er spannte die Muskeln an, um auf jede Gefahr vorbereitet zu sein. Dies alles war nicht nur erstaunlich - nein, es war unmöglich! "Was ist Euer Begehr, guter Mann?" Matt wirbelte herum, die Hand am Schwertgriff. Vor ihm stand ein Mönch. Alt und gebeugt, in brauner Kutte mit Kapuze und weißem Strick als Gürtel. Haar und langer Bart waren schlohweiß. Einst war er ein großer Mann gewesen. Auch jetzt wirkte er noch kräftig. Sein Gesicht hatte eine gesunde Farbe, die Augen waren klar, die Stimme tief und voll. "Es ist nicht Sitte, die Kirche mit Waffen zu betreten, edler Ritter." "Ja, nun, ich bin kein Ritter." Krampfhaft versuchte Matt in seinem Kopf alle seltsamen Eindrücke zu ordnen. Der alte Mönch sah eigentlich ganz normal aus, aber... er wirkte erstaunlich fröhlich für einen Priester, dessen Gemeinde gerade ausgelöscht worden war. Aber da war noch mehr... "Was sucht Ihr in dieser Kirche?" fragte der Mönch freundlich. _Geh fort_! sagte eine Stimme in Matt. _Hier ist es gefährlich_. Matt wehrte sich. Auch wenn einiges seltsam war, schien dieser Priester ein guter Mensch zu sein. "Meine Seele ist schwer, Vater. Ich muß beichten." "Aha." Der Mönch nickte verstehend. Er ging auf den Beichtstuhl zu und sagte: "Dann kommt! Bekennt Eure Sünden. Ich werde zuhören." Er verschwand in seiner Hälfte des Beichtstuhls. Matts Kehle war wie zugeschnürt. Alles in ihm rief: _Weg_! Doch wild entschlossen betrat auch er den Beichtstuhl und kniete nieder. Dann schlug er das Kreuz, als der Priester ihm den Segen erteilte. "In Demut und Reue bekenne ich meine Sünden. Ich habe..." Sein Mund war wie ausgetrocknet. Die Zunge klebte am Gaumen. Die Worten kamen nicht. "Ja?" spornte ihn die gütige Stimme auf der anderen Seite des Gitters an. "Wann warst du zum letztenmal bei der heiligen Beichte, mein Sohn?" Die Frage löste Matts Zunge. "Vor vier Jahren." Er schluckte, senkte den Kopf und sprach ganz schnell weiter. "Viermal bin ich meiner Osterverpflichtung nicht nachgekommen, zweihundertachtmal habe ich die heilige Messe versäumt, sechsmal habe ich meinen Vater verspottet..." Er ging die zehn Gebote so blitzschnell durch, daß er selbst kaum mitkam. Irgendwie stiegen die Sünden erbarmungslos vor ihm auf. Er hatte das Gefühl, jemand quetschte sie aus ihm heraus wie Zahnpasta aus einer Tube. Er konnte nicht aufhören. Doch dann endlich. "DieseundalleSündendieichvergessenhabetunmirvonHerzenleid. IchbitteumBußeundLossprechung!" Erschöpft hielt er inne. "Ist das alles?" bohrte der Mönch nach. Matt erstarrte. Er hatte die Sache mit Sayeesa vergessen! "Na ja... also... das war so, Vater..." Er berichtete die ganze Geschichte, bis zum Einsturz des Palastes. Dann holte er tief Luft. "Und?" Konnte der alte Priester Gedanken lesen? Wieder beugte er sich vor. "Schon gut, Vater. Danach gerieten die Prinzessin und ich uns etwas in die Haare. Ich setzte mich aufs hohe Roß und leugnete die Existenz von Gut, Böse, Gott, Satan und Sünde. Und das ist wirklich alles." "Was führte dazu, daß du deine Meinung geändert hast und hergekommen bist, mein Sohn?" Mann, dieser Typ verstand sein Handwerk! "Also schön, Vater. Das war ein Traum. Ich..." Er gab eine Kurzfassung seines Alptraumes, wobei er seine Verzweiflung und seine Illusionen besonders betonte, die auch nicht alle unbedingt ohne Sünde gewesen waren. Dann wartete er etwas ängstlich, was der Priester sagen würde. "Du hattest in der Tat großes Glück, daß du bei den Heerscharen des Guten einen Fürsprecher hast", sagte der alte Mönch sanft. Matt nickte. "Ja, ich hörte, daß Träume auch töten können." "Du warst bereits tot." Der Ton war jetzt schärfer. "Das ist sicher. Du _warst_ in der Hölle! Dies war mit Sicherheit eine Buße... aber keine irdische." Er seufzte. "Als Buße erlege ich dir fünf Rosenkränze und zehn Glorias auf." Matt war erstaunt über die Abwertung der Sünden seit dem Mittelalter. "Ich danke Euch, Vater." Matt stand auf. "Da ist noch etwas." Jetzt kam der Hammer! "Für deine letzten Sünden beauftrage ich dich mit einer Aufgabe." "Ja, aber, im Augenblick bin ich sehr in Eile und..." "Es ist kein Umweg damit verbunden, da ihr nach Westen reitet. Die Hexe Sayeesa muß zu einem bestimmten Ort, um dort für ihre zahlenlosen Sünden zu büßen. Ich trage dir die Sorge für diese unglückliche Hexe auf, bis sie an ihrem Ziel angelangt ist." "Wie Ihr befehlt, Vater." "Und nun gehe hin, und sündige fortan nicht mehr. _In nomine Patris, et Filii, et Spiritus Sancti. Amen_. Gelobt sei Jesus Christus." "In Ewigkeit. Amen", antwortete Matt und verließ auf etwas wackligen Beinen den Beichtstuhl. "Einen Augenblick noch, mein. Sohn!" Matt blieb wie angewurzelt stehen. _Wann_ würde er lernen, sich _schnell_ zu bewegen! "Bring mir die Hexe!" Matt starrte ihn ungläubig an. "Na ja, Vater, seid Ihr sicher? - Ich meine... sie ist schließlich eine Hexe..." "Ihre Macht ist gebrochen, und du hast mir erzählt, daß ihr Gewissen sie so quält, daß sie sich am liebsten umbringen möchte, was eine der schwersten Sünden wäre. Bring sie zu mir!" "Ich weiß nicht, ob sie will." "Habe ich danach gefragt?" Für einen demütigen Mönch klang das sehr bestimmend. "Bring sie her!" "Na ja." Matt machte sich auf den Weg. An der Tür drehte er sich noch einmal um. Der alte Mann kniete an der Kommunionbank vor dem Tabernakel. Das Sonnenlicht verlieh ihm eine Art Aura... Matt schüttelte den Kopf. Das war doch Einbildung. In letzter Zeit hatte seine Phantasie wirklich Überstunden gemacht. Alisande stand neben ihrem Pferd und sah bedrückt aus. Doch als sie Matt erblickte, wurde sie wütend. "Ihr wart mehr als lang in der Kirche, Magier!" "Tut mir leid." Matt lächelte. "Die Sünden von vier Jahren brauchen eben Zeit." "Vier Jahre?" Sir Guy zog die Brauen hoch. "Aber nicht doch, Lord Magier! Wollt Ihr etwa behaupten, daß ein Priester dort war?" "Immer noch ist", verbesserte ihn Matt. "Fragt mich nicht, wieso und weshalb - aber er ist da und..." Er nickte zu Sayeesa. "Er will sie." "Will?" Sayeesa war wie vom Blitz getroffen. "Ich bitte Euch, Sir. Ihr scherzt. Ich zu einem Priester? Eine Hexe? Wie könnte ich das wagen?" Matt zog den Dolch und ging zu ihr hinüber. Dann schnitt er die Fesseln entzwei. "Halt still! Du _gehst_ zu dem Priester, verstanden?" "Nein!" schrie sie. "Ihr könnt mich nicht gegen meinen Willen hinschaffen. Was würde das nützen? Helft mir doch, Sir Guy!" Zögernd trat der Schwarze Ritter zu ihr. Aber da hatte Matt schon den Dolch weggesteckt und sie mit beiden Armen umschlungen. "Kommt, Lady! Der alte Mönch duldet keinen Widerspruch." "Nehmt Eure Hände von ihr, Lord Magier!" rief Alisande wütend. "Ich befehle es Euch!" "Aber mit Freuden", antwortete Matt. "Sobald wir drin sind. Gehen wir, Sir Guy." Sayeesa sah von Matt zum Ritter. "Aber Ihr habt den Verstand verloren! Ich besudle allein durch meine Anwesenheit die Kirche! Eine _Hexe_ in die Kirche schaffen! Überlegt doch..." Sie brach ab und starrte auf die Kirche. Der alte Mönch stand direkt hinter dem Eingang und schaute sie ernst an. Sayeesa schrie auf. Ihr Körper bäumte sich in wilden Zuckungen auf. Die Worte, welche über ihre Lippen drangen, waren so, daß Matt sie schnell wieder vergessen wollte. Er hielt sie nur mit aller Kraft fest, ohne sich von den unsichtbaren Kräften, die in ihr tobten, beirren zu lassen. Das ernste Gesicht des Mönchs verdüsterte sich noch mehr. Er holte aus seiner Kutte eine kleine silberne Kapsel. Diese öffnete er. Es war eine geweihte Hostie. Sayeesa erstarrte. Ihr Atem ging keuchend. Die Augen traten hervor. Dann stieß sie eine heiseren, krächzenden Schrei aus und verfiel wieder in wilde Zuckungen. Matt hatte das Gefühl, als kämpften zwei Sturmwellen gegeneinander. Eine brandete gegen die Kirche, die andere wollte hinaus. Sie trafen in Sayeesas Körper aufeinander und zerrten sie hin und her. Jetzt drang noch eine andere Stimme durch ihr Schreien. Stark und gleichmäßig sang der Mönch den lateinischen Text. Diesen starken Rhythmus kannte Matt nicht aus seinen Ministrantentagen. Je schwächer Sayeesas Schreie wurden, desto lauter wurde die Stimme des Alten. Langsam bewegte Sayeesa sich immer mehr im Takt seines Gesanges. Die Kräfte um sie herum preßten stärker; aber es war eine Pattsituation. Der Gesang des Mönchs erreichte den Höhepunkt, als er die Hostie hoch emporhielt, gen Himmel. Da stieß Sayeesa einen langgezogenen Schrei größter Qual aus, welcher aus dem tiefsten Innern von Seele und Körper kam. Dann erschlaffte sie und verstummte. Die Kräfte waren verschwunden. Zitternd, mit Schweiß auf der Stirn, schloß der Mönch wieder das Viaticum, nachdem er die Hostie dort geborgen hatte, und steckte die Kapsel wieder in seine Kutte. Er nickte Matt zu. "Bringt sie hinein." Sir Guy schwang Sayeesas Arm über die Schulter und trat vor. Doch der Priester wehrte ab. "Nein, nur der Magier." Erstaunt übergab der Ritter Sayeesa Matt und trat zurück. Dieser nahm die Bewußtlose auf die Arme und trug sie vorsichtig in die Kirche. Wie konnte eine so zarte Frau so schwer sein? "Leg sie nieder!" befahl der Mönch. Langsam kniete Matt nieder und legte sie behutsam auf den Boden. "Tritt zurück!" Jetzt klang die Stimme des Priesters ganz sanft. Der alte Mann kniete sich neben Sayeesa hin und streichelte liebevoll ihre Wange, dazu sprach er ganz leise. Matt konnte nichts verstehen. Die Frau bewegte sich und schlug die Augen auf. Ihr Blick war verängstigt. Der Mönch legte ihr beruhigend die Hand auf die Stirn und sprach weiter. Da entspannte sich ihr Gesicht. Langsam setzte sie sich auf und blickte benommen umher. "Du bist in einer Kirche, meine Tochter", erklärte der alte Mann ernst. "Komm!" Er geleitete sie zum Beichtstuhl. Ihre Augen wurden groß, aber sie nickte und ging mit. "Warte auf sie!" befahl er Matt. "Du kannst ja in der Zwischenzeit deine Buße beten." Dann verschwand er im Beichtstuhl. Matt hatte reichlich Zeit zum Beten, während rechts von ihm in leisem Ton sehr viel gesprochen wurde. Ab und zu hörte er auch die tiefe Stimme in der anderen Hälfte des Beichtstuhls. Schließlich sprach die tiefe Stimme sehr lang. Dann waren beide Stimmen endlich still, und Sayeesa trat heraus. Sie war blaß und zitterte etwas, wirkte aber trotzdem entschlossen. Ohne Matt eines Blickes zu würdigen, ging sie zum Tabernakel und kniete nieder. Es umgab sie jetzt eine gewisse Würde, die vorher nicht vorhanden gewesen war. "Hüte sie gut!" Matt fuhr zusammen und schaute den alten Mönch an. "Ja, denkt immer an Euer Wort, Sir Magier! Sorgt für ihre Sicherheit, bis sie den Ort erreicht, an den ich sie geschickt habe. Hütet sie vor Gefahren - und Euch auch!" "Dank für Eure Fürsorge, Vater... aber ich finde, Ihr macht aus einer kleinen Sache eine Staatsaffäre." "Über solche Gedanken stolpern die Unvorsichtigen, Magier. Auf euch beide warten noch wichtige Rollen in diesem grausamen Spiel." Der alte Mann lächelte geheimnisvoll. "Dieses arme Land braucht große Taten, wenn die Kräfte aufeinanderprallen. Du und diese ehemalige Hexe, ihr vollbringt vielleicht einige. Ihr seid wichtiger, als ihr glaubt." Das war nicht direkt ein beruhigender Gedanke. "Aber nicht doch, Vater! Meine angeborene Bescheidenheit..." "Eure angeborene Gabe, nur das zu sehen, was Ihr wollt", verbesserte ihn der Mönch mit belustigtem Lächeln. "Denkt immer an meine Worte, und schwört mir, daß Ihr die Frau schützen werdet, bis sie an den für sie bestimmten Ort gelangt ist." Matt schwor. "Gut, das reicht!" Der Priester nickte, immer noch lächelnd. "Ich vertraue Euch, da ich Euch für einen Ehrenmann halte, ganz gleich was Ihr denkt. So, hier ist Euer Pflegling." Matt war erstaunt, daß Sayeesa schon aufgestanden war und zu ihm kam. "So schnell mit der Buße fertig?" "Ihre Gebete waren nur das Präludium", erklärte der Mönch ernst. "_Sie_ muß mit ihrem ganzen Leben büßen. Geleitet sie jetzt hinaus. Sie ist sehr geschwächt." Matt bot der Ex-Hexe den Arm. Sie schaute ihn hocherhobenen Hauptes an und ging allein hinaus ins Sonnenlicht. Matt schüttelte den Kopf. Sie sah so blaß und schwach aus. Dann wollte er dem alten Priester danken... Da war das Innere der Kirche verwüstet, verkohlte Balken lagen überall zwischen Aschenhaufen. Einen Augenblick lang war er wie erstarrt. Dann stieß er einen lauten Schrei aus. Sofort waren Sir Guy und Alisande an seiner Seite. "Was ist los? Was habt Ihr gesehen?" Matt deutete auf die Kirche. Die beiden schauten hinein. Alisande wurde weiß wie Hermelin an einem Krönungsmantel. Sir Guy trat vor. Der Fußboden knarzte und knackte, so daß er schnell wieder zurückging. Auch er war blaß geworden. Keiner sprach ein Wort. Sie gingen zu den Pferden. "He, wartet!" rief Matt. "Was ist los? Wer _war_ der Mann?" "Es ist besser, keine Fragen zu stellen", antwortete Sir Guy und wendete sein Pferd nach Westen. "Aber ich glaube, Freund Matthew, daß wir einen Freund haben, wo wir ihn am meisten nötig haben." Dann ritt er langsam die Dorfstraße hinab. Alisande und Sayeesa folgten ihm. "Steig auf, Lord Magier", brummte Stegoman "Willst du nicht bei deinen Gefährten bleiben?" "Hm, was? O ja, natürlich!" Matt schwang sich zwischen die Rückenzacken des Drachen. "Warum bist du so verstört? Stell keine Fragen! Akzeptiere alles, und sei dankbar!" "Nein", entgegnete Matt. "Das entspricht nicht meiner Art. Ich muß Antworten haben." Er leckte sich die trockenen Lippen. "Aber ich glaube, ich muß mich mit der Teilantwort bescheiden, die ich erhielt." "Welche Antwort ist das?" "Irgend jemand da unten mag uns", sagte Matt. *Kapitel 9* Die Sonne senkte sich schon am Firmament, als sie die Menschenansammlung erblickten. Noch waren sie auf der offenen Ebene ein gutes Stück entfernt; aber Matt konnte einen grünen und gelben Rock bei der Frau in der ersten Reihe ausmachen. "Bleib stehen, Stegoman! Hoheit, Sir Guy!" "Was ist los?" fragte Alisande, zügelte das Pferd und drehte sich im Sattel zur Seite. "Diese Leute, die auf uns zukommen..." "Gute Bauern, zweifellos. Was soll damit sein?" "Bei allem Respekt, Hoheit", mischte sich Sir Guy ein. "Ganz gleich, wer es ist. Wir sollten Vorsicht walten lassen." "Ja", pflichtete Matt bei. "Vor allem, weil ich bei einigen die Kleidung erkenne, die ich den Flüchtlingen aus Sayeesas Freudenhaus verpaßte." Sayeesa wurde blaß. Auch Alisande machte ein ernstes Gesicht. "Wenn das so ist, wollen wir sie lieber hier erwarten." " _Was _? Hm... wenn Ihr die Meinung eines Zivilisten hören wollt, Hoheit, wäre es besser für uns, so schnell wie möglich nach einem Loch zu suchen, in dem wir uns verkriechen können." "Das klingt keineswegs unvernünftig", meinte Sir Guy. "Ach was!" Alisande saß so aufrecht im Sattel, daß man hätte glauben können, sie habe Wurzeln geschlagen. "Dies ist mein Volk, Sirs! Ich kenne die Leute. Sie werden ihrer Prinzessin nichts tun." Es muß schön sein, über eine so unerschütterliche Sicherheit zu verfügen, dachte Matt. "Hm, seht es einmal von der anderen Seite, Hoheit. Angenommen es gibt Ärger - das ist natürlich keineswegs sicher, aber nur für den Fall, daß -, dann hat Sir Guy Rüstung und Schwert, vom Roß nicht zu sprechen. Ich reite auf einem Drachen und verfüge auch über eine ziemlich bissige Klinge." "Ihr habt die Klinge, aber könnt Ihr auch damit umgehen?" "Nun, vielleicht nicht ganz nach höfischem Zeremoniell. Aber ich _habe_ ein Schwert, während die anderen höchstens mit Sensen ausgerüstet sind. Habt Ihr bedacht, welchen Schaden _sie_ nehmen könnten?" "Gar keinen!" Alisande saß ganz ruhig da. "Keine Angst, Sir Magier, es wird zu keinem Schlagabtausch kommen." Sir Guy atmete erleichtert auf. Matt sank das Herz in die Hose. Wieder diese Göttliches-Recht-Klausel! Doch vielleicht traf sie zu. Vielleicht wußte die Prinzessin, was sie tat. Schließlich ging es nicht um eine persönliche Angelegenheit. Trotzdem behielt er die Hand nahe am Schwertgriff. Kaum sahen die Bauern die Rüstung, blieben sie überrascht stehen. Sie hatten nicht erwartet, daß der Adel zu einem Vergnügungsritt unterwegs war. Dann erkannte das Mädchen im gelbgrünen Rock Sayeesa. Als die Ex-Hexe ihrem Blick begegnete, verzog sie angstvoll das Gesicht. Voll abgrundtiefem Haß deutete das Bauernmädchen auf Sayeesa und schrie: "Da ist die Hexe, die uns alle gestohlen hat!" Die Bauern standen einen Augenblick stumm da. Dann erhob sich ein großes Geschrei. "Die hat meinen Sohn verdorben!" "Die Hexe hat unsere Kinder verführt!" "Schlagt sie tot!" "_Erschlagt sie!" "Tötet sie_!" Mit Stöcken und Heugabeln stürzte die blutrünstige Menge vor. "Halt!" rief Alisande mit der Stimme eines alten Feldwebels. Verblüfft blieb der Haufen stehen. "Ich bin diejenige, welche eure Kinder befreite", erklärte Alisande. "Und jetzt sage ich euch: Wahrt den Frieden!" "_Mein_ Kind habt Ihr nicht gerettet!" schrie eine Frau. "Ihn haben sie als Leichnam zurückgebracht." Wieder wurde es laut. Kein Geschrei, aber vereinzelte Wutausbrüche. Alisande saß ungerührt auf ihrem Pferd und blickte den aufgebrachten Mob ruhig an. "Sie sehen, daß ich keine Macht mehr habe, und wollen Rache." Die Angst war aus Sayeesas Gesicht gewichen. "Ich kann es ihnen nicht verdenken. Schließlich habe ich ihnen die Jungen genommen und einen nach dem anderen ruiniert." Sie neigte den Kopf und schloß die Augen. "O mein Gott! Wenn ich doch nur..." "Wir sprechen wohl besser darüber, wie wir uns hier aus der Affäre ziehen können", unterbrach sie die Prinzessin. "Ich möchte den Leuten nichts tun. Es sind gute und ehrenwerte Bauern, daran zweifle ich nicht. Aber ihr Groll ist berechtigt. Was sollen wir mit ihnen machen, Sir Guy?" "Liefert mich ihnen aus!" rief Sayeesa. "Niemand darf noch mehr für meine Sünden leiden!" "Bist du wahnsinnig! Die reißen dich in Stücke!" fuhr Matt sie an. "Tut mir leid, Lady; aber so leicht kommst du nicht davon! Du hast noch einiges in dieser Welt zu erledigen, sonst hätte der gute Mönch dich nicht in meine Obhut gegeben." "Obhut?" Alisande drehte sich empört um. "Was ist das nun wieder für ein Trick?" "Es geht nur um einen Schwur", erklärte Matt. "Der Mönch fügte meiner Buße noch einen winzigen Zusatz bei: Ich muß dafür sorgen, daß Sayeesa sicher dorthin gelangt, wohin er sie schickte." "Und wohin ist das?" In Alisandes Stimme schwang ein bedrohlicher Unterton mit. Sayeesa antwortete der Prinzessin. "Ich gehe in das Konvent der heiligen Cynestria, um dort mein Leben mit Fasten und Gebet zu beschließen." "Cynestria - das Kloster für Frauen, die schwer sündigten, aber bereuen. Du wirst dort sehr feine Gesellschaft haben, Weib." Sie klang fast zufrieden. Sayeesa nickte. "Ja, Herzoginnen und andere Aristokratinnen. Aber kaum welche aus dem Bauernstand. Ist das nicht gerecht?" "Zumindest passend." Alisande schaute wieder auf die meuternden Bauern und nickte. "Nun - es scheint gerecht zu sein. Das denkt Lord Matthew ja auch." Sie verzog den Mund. "Ich kann es nicht abstreiten. Wir müssen dafür sorgen, daß du heil dorthin gelangst, Sayeesa." Matt war erleichtert. "Und was machen wir jetzt, Hoheit? Die Schwerter zücken? Oder Stegoman befehlen, ein bißchen Napalm zu spucken?" "Ich habe vor Bauern keine Angst, Lord Matthew. Ich bin ihre Beschützerin." "He, Lady!" rief ein junger Bursche. "Das ist doch der Drache, der uns geholfen hat, die Hexe zu besiegen, und Ihr seid die vornehme Dame, die uns nach Hause schickte. Wie könnt Ihr Euch jetzt zwischen uns und die Zauberin stellen?" "Und warum sollte ich sie euch übergeben?" rief Alisande zurück. "Warum?" Ein wohlbeleibter Mann schob sich durch die Menge und baute sich vor Alisandes Pferd auf. "Warum? Weil vier Jugendliche aus diesem Dorf zur Hexe gingen, aber nur drei zurückkehrten! Sie verdient, verbrannt zu werden, Lady. Das ist die richtige Strafe für eine Hexe." "Gott wird ihr die gebührende Strafe zuerteilen", antwortete Alisande. "Sie hat ihre Sünden gebeichtet und bereut. Der Priester hat ihr die Absolution erteilt." Wütendes Geschrei erhob sich, aber Alisande musterte den Haufen eisig. "Absolution!" rief der Anführer. "Für eine Hexe, die so schwere Sünden auf sich geladen hat?" "Allerdings!" Die Stimme der Prinzessin war wie ein Peitschenhieb. Die Leute verstummten. "Gibt es eine Sünde, die so schwer ist, daß sie nicht vergeben werden kann? Ich kenne keine. Hat nicht auch so unser Heiland gesprochen?" Der Anführer zog die Schultern hoch. "Und welche Buße hat ihr der Priester für ihre Sünden auferlegt?" "Sie geht ins Kloster der heiligen Cynestria, um den Rest ihres Lebens im Gebet zu verbringen." Wieder erhob sich Gemurmel, diesmal aber waren die Leute eher überrascht als wütend. "Wenn das so ist, haben wir kein Recht auf sie", erklärte der Anführer. "Dann gehört sie Gott." "_Wenn_ es so ist!" schrie ein altes Weib. "Zweifelst du etwa an meinem Wort?" fragte Alisande, ganz Königin. Die Alte duckte sich. Aber jemand rief von hinten. "In die Kirche mit ihr!" "Ja", sagte der Anführer. "Wenn sie gebeichtet hat, wie Ihr sagt, soll sie zur Kirche gehen und die heilige Kommunion empfangen! Hat sie nicht gebeichtet, wird sie den heiligen Ort nicht ertragen können." Mit Freudengeschrei rannte die Menge zu Sayeesas Pferd, um sie herunterzuziehen. Matt griff zum Schwert, doch hielt ihn eine Hand zurück. Sir Guy schüttelte den Kopf. Alisande schrie wütend: "_Halt_! Ich befehle es euch!" Die Leute hielten sofort inne und zogen sich mit mißmutigen Blicken langsam zurück. "Die Hexe soll kommen!" befahl Alisande. Blaß und zitternd trat Sayeesa vor. Dann sagte sie mit klarer Stimme: "Übergebt mich ruhig den Leuten. Sollen sie mich in Stücke reißen. Wenn ich sterbe, ist es gerecht." "_Ich_ bestimme, was mit dir geschehen soll, ob du leben oder sterben sollst!" erklärte die Prinzessin. Matt betrachtete sie mit neuem Respekt. Königswürde war hier mehr als ein Wort. Nachdenklich musterte Alisande die Menge. "So unsinnig ist diese Probe eigentlich nicht. Wir würden auch nicht lang aufgehalten." Dann schaute sie Sayeesa an. "Was sagst du? Gehst du in die Kirche?" "O ja! Ich würde sehr gern die heilige Kommunion empfangen." Schockiert blickte der Mob sie an. Dann erhob sich wieder Gemurmel. "Ruhe!" rief Alisande. "Wir gehen jetzt zur Kirche, wie ihr verlangtet." Alle setzten sich in Bewegung. Die Leute drängten sich wieder um Sayeesas Pferd. "Du, Stegoman..." "Ja?" "Ich glaube zwar nicht, daß etwas passiert - aber wir sollten doch in Sayeesas Nähe bleiben - für alle Fälle." "Klingt gut", meinte der Drache und watschelte dicht neben den Bauern um die Ex-Hexe herum. Eine der Frauen sagte zu ihrer Nachbarin: "Wunderst du dich nicht, daß der Priester nicht gekommen ist, Joanna?" "Allerdings", antwortete Joanna. "Vor allem, wo doch eine solche Mission durch einen Mann im Talar viel mehr Gewicht hätte. Warum ist er nicht gekommen?" "Ach, einen Haufen Unsinn!" meinte die erste Frau. "Bauern sollten die Gerechtigkeit nicht in die eigene Hand nehmen, sondern sie dem Vogt überlassen. Als ob es an der Schuld der Hexe Zweifel gäbe!" "Ja, ja. Den wahren Grund verschweigt er. Weißt du noch? Im schönen Maienmonat ließ er uns eine Woche allein. Es ist zwar nur Klatsch, aber vielleicht hat er..." Sie blickte auf und sah, daß Matt zuhörte. "Psst!" Beide Frauen ging schweigend weiter. Es waren nur wenige Meilen bis zum Dorf, das wie üblich aus nur einer Straße mit strohgedeckten Hütten bestand. Am Ende der Straße stand eine Hütte mit Türmchen. Als die Menge die Treppe zur Kirche hinaufmarschierte, wurde die große Doppeltür aufgerissen. Ein Priester mit Tonsur und Soutane stand da, die Fäuste in die Hüften gestemmt. Sein schwarzes Haar hatte schon mehrere Tage keinen Kamm mehr gesehen. Das Gesicht hätte auch eine Rasur vertragen, die Augen waren stark gerötet. Er war nicht sehr groß, aber recht muskulös, mit leichtem Bauchansatz. Der Gottesmann musterte wütend die Bauern. Da trat der Anführer vor. Doch der Priester gab ihm keine Chance. "Was soll das heißen, Arvide? Wieso kommt ihr hier zur Kirche marschiert wie eine Räuberbande? Keiner kommt durch diese Tür, wenn er nicht Ehrfurcht im Herzen hat." "Ehrfurcht!" Arvide schnaubte verächtlich. "Ihr nehmt das Wort >Ehrfurcht< in den Mund! Ihr könnt doch die Glocken zur Morgenmesse nicht vertragen, weil Euer Kopf noch so voll Wein ist und dröhnt. Ihr, ein Raufbold und Hurenbock..." "Schon gut", wehrte der Priester ab. "Aber ich habe niemals die Messe gelesen, wenn ich nicht wieder nüchtern und reuig war." "Und wie viele Morgen hatten wir keine Messe, hm?" rief einer hinten in der Menge. Beifall brandete auf. Doch der Priester funkelte seine Schäfchen an, bis sie verstummten. Dann rief er: "Genau das ist der Punkt! Ich komme eben nicht in die Kirche, wenn ich nicht ehrfürchtig sein kann! _Ich_ verlange daher von euch nichts, was ich nicht auch von mir verlange." Kurze Pause. "Ist hier einer, der glaubt, er käme an mir vorbei in die Kirche?" Seine Stimme klang gefährlich. Die Männer traten verlegen von einem Fuß auf den anderen, aber keiner wagte sich vor. "Deshalb sind wir nicht hier, Vater", sagte Arvide. "Und warum dann?" "Die Hexe!" rief Arvide. Die Augen des Priesters wurden groß. "Eine Hexe? In _meiner_ Gemeinde?" "Nur als Wolf, den die Jäger herbrachten, Vater", erklärte Arvide. "Schaut sie Euch an!" Die Menge trat auseinander, so daß er Sayeesa sehen konnte. Der Blick des Priesters wurde für Sekunden sanft. Er hatte sie erkannt. Sayeesa schaute ihn mit großen, erschreckten Augen an. Dann entspannte sie sich. Nichts in ihrem Gesicht veränderte sich, doch leuchteten ihre Augen jetzt irgendwie einladend. Matt war sich jetzt ihres Körpers unter dem Wollumhang sehr bewußt. Dann richtete sie sich entschlossen auf. Die Aura der Verlockung war verschwunden. Niemand außer Matt hatte dies anscheinend beobachtet, denn Arvide trompetete: "Dies ist die gemeine Hexe Sayeesa, herabgeholt von ihrem Thron der bösen Macht und vor Euch demütig im Staub." Die Augen des Priesters hingen wie gebannt an Sayeesa. Er murmelte leise etwas vor sich hin. Vielleicht war es: "Möge Gott, der Herr, mir vergeben!" Dann wandte er sich an Arvide: "Also das ist die Hexe?" "Allerdings, und ich glaube, daß Ihr sie kennt", antwortete Arvide. "Schaut einmal in Eure Seele, Vater Brunel." "Das werde ich mit Sicherheit tun! Warum bringt ihr sie hierher?" "Das werde ich erklären!" Alisande ritt nach vorn. Vater Brunel runzelte die Stirn, neigte aber dann das Haupt zum Gruß. "Milady! Wie darf ich Euch nennen?" "Ich bin eine Lady aus hohem Stand. Mehr braucht Ihr nicht zu wissen. Was die Hexe betrifft - sie hat bereut und reitet unter meinem Schutz." Der Priester blickte sie entgeistert an. "Sie hat gebeichtet, Vater", erklärt Alisande. "Und ist auf dem Weg zum Konvent der heiligen Cynestria im Westen." Brunel schluckte mehrmals heftig. "Eine wunderschöne Geschichte, Milady - doch schwer zu glauben." "Das denkt Eure Gemeinde auch. Deshalb sind wir hier: Um zu beweisen, daß sie ohne Furcht die Kirche Gottes betreten und das heilige Sakrament in Frieden empfangen kann. Dann werden Eure Schäflein zufrieden sein, daß sie in der Tat gebeichtet und bereut hat und wieder unter Gottes Schutz steht." Ungläubig hob der Priester den Kopf. Dann nickte er langsam. "Dann tretet ein! Das Haus Gottes steht allen offen, welche ihn suchen." Schnell verschwand er in der Kirche. Alisande wandte sich an die Bauern. "Nun denn! Das ist es doch, was ihr wolltet, oder?" Die Menge starrte sie stumm an. Dann sagte Arvide: "Ja, bringt die Hexe!" Hände streckten sich nach Sayeesa aus. Doch sie schüttelte sie ab und ging ohne fremde Hilfe in die Kirche. Auch Alisande stieg ab und übergab dem nächsten Bauern die Zügel. Dann ging sie zur Kirche. Sir Guy folgte ihrem Beispiel. Matt raunte Stegoman zu: "Sei auf Ärger gefaßt! Vielleicht müssen wir sehr plötzlich aufbrechen." "Keine Angst", brummte der Drache. Hinter Matt drängten auch die Bauern in die Kirche. Sayeesa ging mit gefalteten Händen und gebeugtem Haupt zum Altar. Vater Brunel kam aus der Sakristei, wo er sich in aller Eile notdürftig rasiert und gekämmt hatte. Er trug die Stola. Würdevoll ging er zum Tabernakel und beugte das Knie. Dann betrachtete er Sayeesa. Wenn man ein Gefühl von seinem Gesicht ablesen konnte, dann trauriges Mitleid. Er betete lange. Die Bauern wurden unruhig. "Nun macht schon, Vater! Das Sakrament!" verlangte Arvide. Vater Brunel warf ihm einen unwirschen Blick zu. Dann schloß er den Tabernakel auf, entnahm das Ziborium und hielt der Gemeinde den Kelch entgegen. Als er die weiße Hostie hochhielt, war es ganz still in der Kirche. Alle knieten ehrfürchtig. "_Ecce Agnus Dei, ecce qui tollis peccata mundi_." Sehet das Lamm Gottes, das hinwegnimmt die Sünden der Welt! "_Domine_", antwortete die Gemeinde, "_non sum dignus, ut intres sub tectum meum: sed tantum dic verbo, et sanabitur anima mea_." Herr, ich bin nicht würdig, daß Du eingehest unter mein Dach; aber sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund. "_Domine, non sum dignus_", wiederholte Sayeesa leise und hob den Kopf. Erschreckt sah Matt, daß ihr Gesicht tränenüberströmt war. Mein Gott, diese Leute hier nahmen diese floskelhaften Gebete wirklich ernst! Vater Brunels Gesicht war beinahe liebevoll, als er zu Sayeesa trat und ihr die Hostie auf die Zunge legte. Sie schloß den Mund und beugte mit bebenden Schultern das Haupt. Ungläubig glotzten die Bauern sie an. Vater Brunel schloß die Augen, neigte den Kopf und verschloß den Kelch wieder im Tabernakel. Da brach der Unmut los. "Das ist ein Trick!" "Die Hostie war nicht geweiht!" "Diese Kirche auch nicht!" "Stimmt! Vater Brunel hat sie durch seine Sünden entweiht." Jetzt loderte Zorn auf dem Gesicht des Priesters. "Wer wagt es, mir das ins Gesicht zu wiederholen?" rief er donnernd. Arvide schrie zurück: "Könnt Ihr es abstreiten, Vater?" "Ich kann es, und ich tue es entschieden! Niemals habe ich mich eines Sakrilegs in dieser Kirche schuldig gemacht. Gott ist mein Zeuge!" Das Gemurmel klang unsicherer. Vater Brunel senkte die Stimme. Sein Ärger war verflogen, geblieben war stahlharte Überzeugung. "Ja, ich habe gesündigt, oft und schwer. Gott vergebe mir! Ich bin ein Mann mit schwachem Willen und starken Gelüsten." Seine Augen streiften kurz Sayeesa. "Aber wenn ich gesündigt hatte, setzte ich keinen Fuß in diese Kirche, bis ich barfuß zu einem anderen Priester ging und beichtete. Ich? Diese Kirche entweihen? Niemals!" Wie Donner rollte seine Stimme über die Köpfe seiner Gemeinde. Viele zogen den Kopf ein. Nur Arvide trat vor. "Das sagt Ihr, Vater! Aber wir können nicht sicher sein. Wir können auch nicht sicher sein, daß diese Hexe _nicht_ den Tod auf dem Scheiterhaufen verdient." "Er könnte aber die Wahrheit sagen", rief eine Frau. "Ich habe ihn oft barfuß, mit verängstigtem Gesicht aus dem Dorf laufen sehen, als seien die Höllenreiter hinter ihm her." "Ja, aber er war öfters länger weg, als man zur Beichte braucht!" rief ein anderer. "Wo war er da, Nachbarn? Und warum hat er uns nicht bei der Jagd auf die Hexe geholfen?" Die Menge verstand die Andeutung. "Ja!" Arvides Augen blitzten. "Er war einer ihrer Besucher!" Brunel rang heftig um Selbstbeherrschung. "Ich streite es nicht ab. Ich suchte das Schloß der Hexe auf - bin aber hinterher immer sofort zu einem Priester zur Beichte gegangen und habe die Absolution erhalten. An der Buße bete ich immer noch." "Aber wie ist er ihrer Macht entronnen?" schrie eine Großmutter und zeigte mit ausgestrecktem Arm auf den Priester. "Sag die Wahrheit! Bist du auch ein Hexer? Warum wurdest du nicht auch zu Stein wie mein Sohn?" "Weil ich kaum Macht über ihn hatte!" rief jetzt Sayeesa. "Er ist ein guter Mensch, trotz seiner Schwäche. Er tut niemandem etwas zuleide, sondern will allen helfen! Er ist gottgeweiht, deshalb konnte ich ihn nicht halten. Trotz meiner stärksten Zaubersprüche überfiel ihn die Reue." "Aber wie kann ein Mann Priester sein und zugleich eine Lusthexe besuchen?" schrie die Alte wieder. "Nein! Er hat unsere Kirche besudelt! Diese Hexenprobe war keine echte Probe!" "Halt!" rief Matt, ehe die Menge reagieren konnte. "Er hat zugegeben, immer gebeichtet zu haben. Wie könnte er dann die Kirche entweiht haben?" Die Bauern lachten und wurden wieder laut. "Nein, haltet ein, ihr guten Leute!" rief Sir Guy. Verblüfft schwieg die Meute. "Wie konnte er diese Kirche entweihen, wenn er jedesmal zur Beichte ging?" fragte Sir Guy ernsthaft. Jetzt waren die Bauern verunsichert und murmelten nur leise. Matt schlug diese offenbare Ungerechtigkeit auf den Magen. Er ging zu Sir Guy. "He, Ihr habt das gleiche gesagt wie ich." "Ja, und ich danke Euch für diese Worte. Mir wären sie nie eingefallen", antwortete der Ritter ruhig. "Aber..." Matt kämpfte gegen einen Wutausbruch. "Warum hatten sie keine Wirkung, als _ich_ sie sagte?" "Aber, Lord Magier", sagte Sir Guy baß erstaunt. "Ihr seid doch kein _Ritter_!" Wütend wandte Matt sich ab. Wenn er je den Kerl fand, der die Regeln für dieses Universum erdacht hatte, würde er ihn zurück ans Zeichenbrett schicken! Erleichtert nickte Vater Brunel. "Es ist genauso, wie der Ritter sagte. Die Kirche ist nicht durch mich entweiht worden, und die Probe mit der Hexe war echt. Sie kam in dieses Gotteshaus und empfing vor euren Augen die geweihte Hostie! Ich erkläre hiermit, daß sie keine Hexe mehr ist, sondern eine Sünderin..." Seine Stimme wurde leiser. "...wie auch ich ein Sünder bin." Dann hob er den Kopf wieder. "Und wie die meisten hier! Oder gibt es einen unter euch, der wahrheitsgemäß behaupten kann, nicht in jeder Woche seines Lebens gesündigt zu haben? Dennoch seid ihr dafür nicht verdammt worden, weil ihr gebeichtet habt und durch die Gnade des Herrn die Absolution erhieltet. Nun, das trifft auch auf sie zu!" Jetzt blickte er die Menge herausfordernd an. Die Leute sahen sich verstohlen an; aber keiner wagte offen zu widersprechen. "Na schön!" rief plötzlich Arvide mit wutverzerrtem Gesicht. "Sie ist jetzt wieder im Zustand der Gnade. Aber sie hat viele getötet und verführt kraft ihres üblen Zaubers. Soll sie dafür nicht bestraft werden?" "Verbrennt sie!" schrie die Großmutter. "Ja, verbrennt sie!" johlte die Menge. "Nein, ich sage: _Nein_!" rief Vater Brunel. "Die Todesstrafe des Verbrennens ist nur für Ketzer und Hexen. Sie ist keines von beiden. Wenn ihr wollt, daß sie nach dem Gesetz des Königs verurteilt werden soll, übergebt sie den Männern des Königs. Aber ihr werdet sie nicht wegen Vergehen gegen den Glauben verbrennen, solange _ich_ hier Priester bin!" "Das kann geändert werden, Vater!" schrie Arvide. "Ja!" Eine Frauenstimme. "Verbrennt sie beide! Laßt sie sterben, die durch ihre Sünden sowieso vereint sind. Dann können sie auch gemeinsam durch die Flammen gereinigt werden." Vater Brunel riß sich die Stola ab und legte sie auf den Altar. Dann warf er sich in die Menge und packte Sayeesa am Arm. Mit ihr bahnte er sich unaufhaltsam wie eine Kanonenkugel einen Weg zur Tür und dann ins Freie. Einen Augenblick verharrte die Menge reglos, dann liefen sie mit Geheul hinterher. Matt und Sir Guy benutzten ebenfalls die Ellbogen, um mit der Prinzessin so schnell wie möglich hinauszukommen. Draußen stand der Priester schützend vor Sayeesa und rief: "Jetzt befinden wir uns nicht mehr im Haus des Herrn! Wer glaubt, er könne die Hexe wegschleppen, soll es ruhig versuchen!" Arvide nickte ein paar Männern neben sich zu. Dann gingen sie auf Vater Brunel zu, der wie aus Beton gegossen wartete. Matt erinnerte sich, wie Polizisten mit einer aufgebrachten Menge umgingen, und rief: "Halt! Keinen Schritt weiter!" Verblüfft schauten Arvide und Kumpane ihn an. Matt ging mit der Hand am Schwert auf sie zu. "Wenn ihr zu mehreren kommt, stehe ich auf der Seite des Priesters." "Auch ich!" Strahlend stellte sich Sir Guy mit gezücktem Schwert auf. "Nun, wie belieben! Zwei Schwerter gegen den Mob? Gut so! Ein ausgewogener Kampf, Lord Matthew!" Alisande reichte es. "Halt!" Sie trat in die Mitte. "Beiseite, Sir Guy! Aufgabe eines Ritters ist es, Bauern zu verteidigen, nicht sie niederzuhauen! Und ihr!" Jetzt funkelte sie die aufgebrachte Meute an. "Der Priester übt nur sein Amt aus, wenn er diese Frau verteidigt! Sie ist eine reuige Sünderin und wieder in der Gnade Gottes!" Arvides Augen wurden groß. "Das sagt auch _Ihr_, Lady?" "Allerdings", erklärte Alisande. "Und ich stamme aus einem edlen Geschlechte. Mein Urteil lautet: Sie ist keine Hexe mehr und damit frei!" Arvide wußte Matts Meinung nach genau, was die Lady eigentlich dachte; aber es war ein passabler Weg, aus diesem Dilemma herauszukommen, bei dem keine der beiden Seiten Gesicht verlor. Edles Geschlecht hatte sie gesagt: _de facto_ stimmte das. Vielleicht war Aristokratie doch ganz nützlich. Arvide stand kleinlaut da. Dann flüsterte ihm einer der Dörfler etwas ins Ohr und nickte mit dem Kopf zu Alisande. Arvide fielen fast die Augen aus dem Kopf. Er starrte sie an, als sähe er sie zum erstenmal. Dann nickte er langsam und stammelte: "Ja, ja! Sie ist es in der Tat!" Dann trat er näher und beugte ein Knie. "Milady, meine..." ">Milady< ist zur Zeit durchaus ausreichend", wehrte Alisande freundlich, aber bestimmt ab. Sie reichte ihm die Hand. Arvide küßte ihren Ring und schaute voll Ehrfurcht zu ihr auf. Dann stand er mühsam wieder auf, verneigte sich noch einmal tief und verschwand in der Menge. Die Bauern folgten ihm betreten. Sie warfen beinah verängstigte Blicke zurück auf die Prinzessin. Als alle weg waren, sagte Matt zu Alisande: "Ich vergaß, daß Ihr, Hoheit, Eure eigene Magie ausübt." Alisande lächelte belustigt. "Seid frohen Mutes, Lord Magier. Ihr werdet unsere Art schon noch kennenlernen. Doch heute fand ich keinerlei Tadel bei Eurem Benehmen. Ich... gebe zu, daß ich nur wenig Männer kenne, die ich bei derartigen Zwistigkeiten lieber an meiner Seite wissen möchte." Verblüfft schaute Matt sie an. Das war eine unerwartete Kehrtwendung! Dann wurde ihm klar, daß es sich um ein Friedensangebot handelte, und er lächelte sie an, ehe er zu Vater Brunel ging. "Nun, Vater, die Krise ist vorbei." "Ja, obwohl Ihr ja keine große Hilfe wart!" fuhr Sayeesa den Priester an. "Mit jedem anderen Priester wäre es auch nicht zu einem solchen Tumult gekommen." "Stimmt", sagte der Priester ohne mit der Wimper zu zucken. "Aber ich habe nicht dich schützen wollen, sondern meine arme Gemeinde - vor den Schwertern der Ritter." "Ach, wirklich! Ihr wart darin großartig, vor allem, da Ihr den ganzen Wirbel verursacht habt!" "Ich habe die Lords nicht gebeten, sich einzumischen", erklärte Brunel verärgert. "Ich wäre mit meinen Leuten auch allein fertig geworden." "Nun, alles ist ja gut ausgegangen", warf Matt beschwichtigend ein. "Sayeesa ist nicht angesengt, und Eure Schäflein sind auch in Sicherheit." "Ja." Der Priester runzelte die Stirn. "Aber es ist noch nicht vorüber. Solange Ihr erlauchte Herrschaften hier seid, besteht keine Gefahr; aber es gibt da ein paar Heißsporne, die vom Teufel und den üblen Kräften getrieben werden, welche jetzt im Königreich entfesselt sind. Diese werden keine Ruhe geben und sticheln, bis alle wieder so in Wut sind, daß sie gegen Abend zurückkommen, um sie doch zu verbrennen. Daher gebe ich Euch den guten Rat: Reitet so schnell wie möglich von dannen." Alisande verzog leicht säuerlich den Mund. "Ich versichere Euch, Vater, wir hatten nicht einmal vor, so lange hier zu verweilen." Sie wandte sich an die Gefährten. "Kommt, laßt uns reiten!" Damit ging sie zu ihrem Pferd, gefolgt von Sir Guy und Sayeesa. "Und was ist mit Euch, Vater? Wenn die Hexenjagd losgeht und keiner die Hexe findet, wird die Meute vielleicht Euch als zweitbestes Opfer nehmen." Der Priester zögerte erst, nickte aber dann. "So ganz unrecht habt Ihr sicher nicht. Falls sie mich töten, wäre das jedoch auch gerecht." Matt war kurz vor dem Explodieren. Warum war _jeder_ in diesem verrückten Land ein wandelnder Todeswunsch? "Verzeiht, Vater, aber ich halte Euch keineswegs für einen hoffnungslosen Fall." "Solltet Ihr nach einer geeigneten Buße für Eure Sünden suchen, könnt Ihr Euch uns anschließen", sagte Alisande, die zurückgeritten war. "Unser Unterfangen ist sehr löblich, verlangt aber auch große Opfer." Der Priester überlegte. "Ich bedarf allerdings der Buße." "Ja, auch ich", erklärte Sayeesa. Brunel schaute sie an. Als ihre Augen sich trafen, stand auf dem Gesicht des Priesters nur nacktes Verlangen. Sayeesa war plötzlich zu einem Magnet für Männeraugen geworden. Brunel riß den Blick los. "Nein! Wenn sie mich hängen oder verbrennen, wäre das besser für mich. Ich habe dieses Gewand lange genug besudelt." "Nichts da!" rief Alisande. "Ich halte Euch trotz Eurer Laster für einen guten Menschen, und die gibt es in diesen dunklen Zeiten nur selten. Ihr kommt mit uns!" Brunel seufzte. "Ich bin kein guter Mensch, Majestät..." "Hoheit, zur Zeit noch", verbesserte Alisande ihn. "Hoheit", fuhr der Priester fort. "Aber man sagt, daß königliche Augen immer klar sehen. Euer Befehl kann daher kein Irrtum sein. Wenn Ihr es befehlt, werde ich mit Euch gehen." *Kapitel 10* "Bei allem Respekt, Hoheit, Ihr habt den Verstand verloren", sagte Matt. Sie ritten schon mehrere Stunden über die Ebene. "Den Verstand verloren?" Ton und Ausdruck verrieten nichts; aber Matt hätte schwören können, daß ihr Pferd um einige Handbreit höher geworden war. "Betet, daß das nicht geschehen ist, Lord Magier, denn dann wären wir alle dem sicheren Tod geweiht." "Prinzessin, ich glaube ja auch, daß Vater Brunel im Grund ein anständiger Mensch ist und Sayeesa eine aufrichtige Büßerin; aber habt Ihr nicht gesehen, wie die beiden sich anschauen? Ich will damit sagen: Das ist eine eingebaute Schwachstelle für unser Unternehmen. Genau richtig, daß Malingo dort Ärger einspritzen kann." "Der Zauberer?" Alisandes Gesicht verdüsterte sich. "Wie spielt er hier mit?" Matt blickte sie nachsichtig an. "Glaubt Ihr etwa, die Bauern sind von ganz allein auf die Idee gekommen, den Priester zu verbrennen? Das sind kleine Leute, gewohnt, der schwarzen Soutane zu gehorchen, Lady! Sie hätten sich Vater Brunel nicht widersetzt, als er ihnen befahl, Sayeesa in Ruhe zu lassen, wenn nicht etwas oder jemand sie aufgehetzt hätte. Oder gehen Eure Bauern normalerweise aus eigenem Antrieb auf Hexenjagd?" Alisande wurde nachdenklich. "Ich habe mich schon gewundert, daß sie ohne Priester gegen eine gebrochene Hexe auszogen, auch ohne einen Adligen..." "Malingo ist hinter uns her, Prinzessin. Er machte uns Ärger mit der Hexe Molestam, dann mir mit Sayeesa und jetzt durch den Aufruhr bei den Bauern. Und Ihr wollt ihm eine Schwachstelle bieten, indem Ihr den Priester mitnehmt, obwohl zwischen ihm und Sayeesa eine solche Spannung knistert?" "Euer Rat ist gut, dennoch werde ich ihn mitnehmen." Jetzt steckte sie wieder in ihrem Stahlkorsett. "Wir werden die beiden genau im Auge behalten." Matt seufzte. "Na, das ist wenigstens etwas! Aber _eins_ verstehe ich nicht: Warum gibt Malingo sich mit diesen kindischen Störungen zufrieden? Warum kommt er nicht einfach mit einer Armee und vernichtet uns?" "Weil ich - dem Himmel sei Dank! - loyale Barone und Äbte im Westen habe, welche sofort ausrücken und das Land zurückerobern würden, wenn Astaulf auch nur eine kleine Armee von ihnen abzöge." Alisande schien erleichtert, daß das Gespräch sich wieder um Themen drehte, wo sie auf sicherem Boden stand. "Außerdem scheut sich der Zauberer vor einer Schlacht im Angesicht der rechtmäßigen Königin des Landes, auch wenn ich bisher noch nicht gekrönt wurde." Matt ließ nicht locker. "Warum sollte er Angst haben, uns fünf mit etwa tausend seiner Anhänger anzugreifen?" "Weil ein rechtmäßig gekrönter Monarch nicht besiegt werden kann." Alisande lächelte stolz. "Als mein Ahnherr Kaprin um seine Krone kämpfte, verlor seine Armee nur, wenn er nicht bei ihr war. Und das ist seitdem immer so gewesen. Daher kann auch Malingo nicht das Risiko eingehen." "Wieder das Göttliche Recht", bemerkte Matt leicht sarkastisch. "Die Krone verleiht dem Monarchen automatisch den sicheren Instinkt für Taktik, stimmt's?" "Nein, das Blut kann eine Krone aus dem Chaos gewinnen - eine Kraft spürt, was siegen und was verlieren wird. Wenn ein König weiß, daß die Schlacht nicht zu gewinnen ist, wird er einen Weg finden, die Schlacht zu vermeiden. _Führt_ er aber einen Schlacht, könnt Ihr sicher sein, daß er siegt, auch wenn er mit einer Handvoll Rittern einem mächtigen Heer gegenübersteht." Matt kratzte sich hinterm Ohr. "Wo ich aufwuchs, halten wir es für durchaus menschlich, Fehler zu machen." "Ihr glaubt, daß ich behaupte, übermenschlich zu sein?" fragte Alisande ungerührt. "Nein, Lord Magier - ich bin durchaus sterblich. In meinem persönlichen Leben mache ich viele Fehler. Doch in Sachen des öffentlichen Wohls sollte ein Monarch sofort abtreten, wenn er merkt, daß seine Interessen denen seines Volkes zuwiderlaufen." "Hervorragend", sagte Matt. "Aber ich hege so meine Zweifel, daß Astaulf freiwillig abtritt." "Gewiß. Da er aber so verdorben wurde, kann er nicht länger königliche Rechte beanspruchen und kann daher vertrieben werden. So war es auch in Ibile und Allustria. Könige kamen an die Macht, deren Nachkommen korrupt wurden. Steuern drückten die Bauern nieder, die Barone empörten sich. Dann wurden diese Könige von anderen gestürzt, welche aber ebenfalls korrupt waren. Die jetzigen Herrscher verschrieben sich der Zauberei und der Ausschweifung. Allein Merovence blieb das Bollwerk gegen Zauberei, bis Malingo kam." "Ist das die Bedrohung, welche Eure Familie sauberhielt?" erkundigte sich Matt. Alisande nickte. "Wir wuchsen mit dem Wissen auf, daß wir jederzeit von einer Armee gemeinster Zauberkunst besetzt werden könnten. Wie meine Ahnen wurde ich mit Bibel und Schwert und den zahllosen Möglichkeiten erzogen, mit denen unsere Vorfahren unser Land frei hielten. Mit zwölf zog ich in der Armee meines Vaters gegen den Zauberer Bakwrog. Mit fünfzehn erhielt ich das Kommando über tausend Fuß- und hundert Reitersoldaten gegen den Baron von Carpaise. Als mein Vater starb..." Alisande schluckte, fuhr aber dann mit hartem Ton fort. "Das war bei Tisch und ganz überraschend. Ich war zu verzweifelt, um das Essen untersuchen zu lassen; aber jetzt bin ich sicher, daß er vergiftet wurde. Dadurch wurde ich rechtmäßig Königin. Doch war das Land nie zuvor von einer Frau regiert worden, daher waren viele Barone unwillig, mir zu gehorchen. Selbst der Erzbischof zögerte, mich zu krönen." "Und während er zögerte, marschierten Astaulf und Malingo ein?" Alisande nickte. "Sie rasten wie ein Sturmwind, der alles einebnet, durchs Land. Sie mobilisierten gegen die Leute Vampire, Incubi und Succubi. Harpyien stürzten vom Himmel und verbreiteten Panik und Chaos. Blitzschnell waren sie aus dem Süden gekommen." Sie schloß die Augen und senkte den Kopf. "So fiel mein Land in ihre Hände." Matt schwieg wie betäubt. Gleichzeitig hatte er auch Angst. "Also Ihr _glaubt_, Ihr könnt nicht in der Schlacht geschlagen werden, aber _wissen_ könnt Ihr das nicht. Und wir haben es mit einer riesigen Armee von erstaunlicher Schlagkraft zu tun, einer Fünften Kolonne diverser Monster und einer Luftwaffe." "So ist es", gab Alisande zu. "Welche magischen Kräfte könnt Ihr gegen sie aufbieten, Lord Magier?" "Hm... da muß ich erst gründlich nachdenken. Aber irgend etwas wird mir schon einfallen. Vielleicht haben wir auch ein Nachschublager, auf das wir zurückgreifen können." "Nachschublager?" Alisande verstand nicht. "Wovon sprecht Ihr?" "Nun, vielleicht wollte ich in meinen unbewußten Träumen hierherkommen; aber ich glaube nicht, daß ich es aus eigener Kraft schaffte." Sie dachte kurz nach und nickte. "Ihr glaubt, daß Euch ein noch mächtigerer Magier half? Und Ihr glaubt, daß dieser meine Sache dadurch unterstützen wollte?" Sie schüttelte bedauernd den Kopf. "Aber ich kenne keinen solchen Magier. Nein, Ihr spekuliert nur, und Spekulationen nützen uns nichts. Wir müssen uns auf unsere erprobten Kräfte verlassen." "Und welche sind das?" "Die Barone im Westen. Seit hundert Jahren schützten sie unsere Grenzen vor frechen Eindringlingen. Und dann sind da noch die Soldatenmönche." "Soldatenmönche?" Matt spitzte die Ohren und dachte an die Ordensritter in seiner Welt. "Von denen habe ich noch nichts gehört." "Das sind Diakone und Priester, deren Dienst Gott gegenüber darin besteht, mit Schwert und Schild gegen die Diener des Bösen zu kämpfen. Immer sind sie bereit, die Sache der Gerechten zu verteidigen. Das sind die Ritter des heiligen Moncaire und drei niedrigere Orden - die Lehnsleute Conors, die Hospizritter und der Orden vom Blauen Kreuz. Ihre Treue zur Krone steht außer Frage, da sie direkt aus ihrer Gottesverehrung stammt." "Auf wen könnt Ihr sonst noch zählen?"" "Leider nur auf Sir Guy und Euch. Falls Ihr aber den Riesen Colmain weckt, reichen mir die Verbündeten." Das würde keine leichte Aufgabe sein, dachte Matt. Schließlich war der Riese von einem mächtigen Magier verhext worden. Automatisch griff er nach seinem silbernen Kugelschreiber. Viel war es nicht; aber doch irgendwie eine Verbindung mit allem, was er in seiner Heimatwelt gekannt hatte. Jetzt wurde ihm klar, was ein Talisman war. Am späten Nachmittag ritten sie in ein weites Ödland. Ohne Busch oder Baum erstreckte sich die unermeßliche Weite. Selbst das Gras wuchs hier nicht sehr hoch - wahrscheinlich wegen des geringen Regens. Die Öde und Einsamkeit legten sich beklemmend auf Matt. Auch Sayeesa spürte es. Sie erschauderte und zog den Umhang fester um sich. Die anderen blickten ebenfalls ernst drein. Doch hinüber mußten sie! Bei Sonnenuntergang befanden sie sich ungefähr in der Mitte. Sir Guy hielt an und lächelte aufmunternd. "Ich schlage vor, daß wir heute hier lagern und Verteidigungen errichten, so gut wir können, gegen die, welche sich hier nachts herumtreiben." Matt hatte das dumpfe Gefühl, daß der Ritter nicht die wilden Tiere der Gegend meinte. Wenig begeistert schaute er in die Weite. "Wo stellen wir denn diese Verteidigungen auf? Ich sehe keinen geeigneten Lagerplatz zwischen hier und dem Horizont - jedem Horizont." Sir Guy zuckte mit den Schultern. "Desto leichter die Entscheidung. Ein Platz ist so gut wie der andere. Was meint Ihr, Hoheit?" "Ich habe schon früher von diesem Ödland gehört", sagte Alisande. "Den Berichten nach stoßen wir weder heute noch morgen auf einen Ort, der sich einigermaßen verteidigen läßt. Ja, laßt uns hier lagern." Matt stieg ab und suchte nach etwas, mit dem man ein Feuer machen könnte. "Ihr seid zu empfindlich." Sayeesa hob neben ihm etwas aus dem Gras auf. "Wenn man nicht findet, was man sucht, muß man nehmen, was man findet. Und hier, Lord Magier, haben wir nur trockenen Schafsdünger." Matt fiel ein, daß amerikanische Pioniere Büffeldung verbrannt hatten. Seufzend betrachtete er die Böhnchen, welche die Heidschafe hinterlassen hatten. "Na ja, wenn du in Rom bist - ich meine Rem -, dann benimm dich wie ein Remer." "Ja, wir müssen tun, was zu tun ist", sagte eine tiefe Stimme neben ihm. Vater Brunel kniete in der Nähe der Ex-Hexe und sammelte ebenfalls Brennmaterial. "Geh nur", sagte er zu Sayeesa. "Überlaß mir diese ekelhafte Arbeit. Die Hände einer schönen Frau sind dafür nicht geschaffen." Dabei schaute er sie mit brennenden Augen an. "Eure auch nicht", erwiderte sie kurz. "Sind das nicht die Hände, welche die Hostie halten?" Der Priester lächelte traurig. "Ein armer Gemeindepriester muß sein Haus und den Garten selbst instand halten, Sayeesa. Da gibt es auch schmutzige Arbeiten." "Mir wäre es lieber, Ihr würdet nicht meinen Namen benutzen, sondern mich Hexe nennen wie Eure Bauern", wies sie ihn ernst zurecht. "Warum? Du solltest diese Bezeichnung nicht länger wünschen, da du keine solche mehr bist. Das wäre nicht ganz ehrlich." "Und Ihr?" fuhr Sayeesa auf. "Wie ehrlich seid Ihr, wenn Ihr immer noch die Soutane tragt?" Sie lief davon und brachte ihren Dung zu Sir Guy, der aus Feldsteinen eine Art Herd aufgebaut hatte. Matt sah ihr hinterher. Dann wandte er sich an den Priester. Er war nicht überrascht, daß das Gesicht des Mannes wutverzerrt war. "Ruhig, Vater - Ihr könnt nicht abstreiten, daß Ihr das verdient habt." "Das ist wahr, ja. Aber deshalb ist es nicht leichter zu ertragen." "Dann gebt ihr keine weitere Gelegenheit. Geht ihr aus dem Weg." "Ja, das wäre das weiseste Tun." Der Priester stand auf. "Doch wißt Ihr auch, was Ihr da von mir verlangt?" "Ich glaube schon. Ihr seid nicht der erste Mann, der mit heißem Blut geboren wurde." "Das sagt sich so leicht." Der Priester warf ihm einen düsteren Blick zu. "Aber was soll ich tun, wenn mir solche Versuchungen aufgezwungen werden?" "Beten", antwortete Matt. "Genau wie ich." Das Abendessen verlief in gespannter Atmosphäre. Vater Brunel versuchte immer wieder, Sayeesa ein Gespräch aufzudrängen, das sie aber stets nach zwei knappen Sätzen beendete. Wenn sie sich aus Höflichkeit einen dritten Satz abrang, schickte sie damit eine geheime Nachricht aus, welche jeder Mann entschlüsseln konnte. Ihre Lider senkten sich, der Mund lächelte leicht. Matt wurde beim Gedanken an ihren Körper äußerst unbehaglich zumute. In Brunels Augen flammte Hoffnung auf. Beinahe unmerklich schob er sich näher an sie heran. Sayeesa wurde starr. Ihre Verführungskünste fielen von ihr ab, als habe man den Deckel einer Schachtel plötzlich zugeklappt. Brunels Gesicht loderte vor Wut. Schnell rettete Alisande die Situation, indem sie den Priester in eine theologische Diskussion verwickelte. Sir Guy redete sogleich auf Sayeesa ein. Sobald Brunel versuchte, Sayeesas Aufmerksamkeit zu erhaschen, stellten sich ihm die Prinzessin und der Ritter in den Weg. Matt fand diesen geistigen Slalom furchtbar anstrengend. Schließlich würgte er den letzten Bissen des gebratenen Heidehuhns hinunter, wischte sich die Hände an einem Grasbüschel ab und stand auf. "Lord Matthew, wohin geht Ihr?" Alisandes Stimme klang wie eine Herausforderung. "Ein Stück spazieren", erwiderte Matt über die Schulter. "Keine Angst. Ich mache schon keine Dummheit, Hoheit." "Vorsicht, Lord Magier! Euch mangelt es noch an Wissen über diese Welt." "Ach ja? Gibt es hier denn etwas besonders Gefährliches?" "Nicht daß ich wüßte", antwortete Alisande. "Dennoch - seid vorsichtig! Wir werden von allen Seiten belagert. Jeder unserer Schritte wird vom Feind beobachtet. Und sollte er einen von uns allein erwischen, dürfte er ihn zweifellos töten." "Das soll er mal versuchen", sagte Matt ruhig und wunderte sich gleichzeitig über seine Forschheit. "Aber ich befinde mich ja jetzt im Stand der Gnade, Hoheit. Trotzdem, sobald sich mehr als ein Grashalm regt, werde ich laut und schnell rufen." "Ihr könntet aber so weit sein, daß wir nicht mehr rechtzeitig zu Euch gelangen." Alisande warf noch einen verzweifelten Blick auf Sayeesa und Vater Brunel. Dann stand sie entschlossen auf. "Leiht mir Euer Schwert, Sir Guy! Wenn er schon durch die Nacht streifen will, ohne sich um die Gefahr zu kümmern, werde ich ihn begleiten." "O verd... noch mal!" rief Matt. "Wofür haltet Ihr mich? Vielleicht ein Kind, das noch so dumm ist und mit Fremden redet?... Schon gut! Schon gut! Wenn Ihr mir nicht zutraut, allein Spazierengehen zu können, nehme ich einen Leibwächter mit. Stegoman! Was ist?" Der Drache erhob sich grinsend. Er versicherte der Prinzessin: "Ich werde schon auf ihn aufpassen. Obgleich ich nicht glaube, daß er mich braucht. Regt Euch nicht auf, Hoheit." "Doch!" sagte sie. Matt wunderte sich, weil es irgendwie verletzt klang. Was erwartete sie eigentlich von ihm? Was wollte sie? Konnte es sein, daß sie... ? Sein Herz machte einen Hoffnungssprung. _Nein, Illusion_! rief ihn der Monitor in seinem Gehirn sofort zur Ordnung. _Glaub doch das nicht_! Er hatte plötzlich einen gallebitteren Geschmack im Mund. Wer war er schon? Ein Mann aus dem Volk, Alisande aber aus königlichem Geschlecht. Dem Namen nach war er jetzt Lord, aber es kam auf die Geburt an. Prinzessinnen ließen sich nicht ernsthaft mit jemandem ein, der weniger als ein Herzog war. "Was bereitet dir Kummer?" fragte Stegoman. "Ich gehe zurück, wenn du lieber allein bist." "Nein! Ich bin froh über deine Gesellschaft", sagte Matt schnell. "Stegoman, warum wurden wir als männliche und weibliche Wesen erschaffen? Das schafft doch nur Probleme." Der Drache stieß Laute aus, die einem Kichern ähnelten. "Probleme? Dann warte erst mal, bis du dich gepaart hast und mit einem Nest voll Brut dasitzt!" Überrascht schaute Matt ihn an. "_Du_? Nun... ich meine..." "Du hast mich nicht als Familienvater gesehen? Da hast du auch recht." Die Augen des Drachen glänzten. "Aber als ältester Sohn habe ich die Plagen der Eltern miterlebt und sie mit meinen verglichen. Es ist ein elendes Leben: ungebunden und voll Sehnsucht - oder gebunden und voll Verantwortung. In beiden Fällen sehe ich keinen Sinn." "Ja! Wie man in meiner Welt zu sagen pflegt: Du kannst ohne sie nicht leben, aber mit ihnen auch nicht. Man bekommt sein eigenes Leben nie in den Griff. Seit ich hierherkam, bin ich herumgestoßen worden, ohne die leiseste Ahnung, wohin ich gehe oder warum. Jetzt marschiere ich über eine seltsame Öde mit einem Ritter, den ich nicht kenne, mit einer Prinzessin ohne Thron, mit einem Priester, der besser keiner wäre, und einer Ex-Hexe. Langsam habe ich das alles satt. Es wird Zeit, daß ich wieder alles unter Kontrolle bekomme." Stegoman blickte ihn neugierig an. "Du strebst nach Macht?" "Nicht um das Leben eines anderen zu beherrschen - nur mein eigenes. Ich weiß doch kaum noch, was ich tue oder warum. Es wäre doch möglich, daß ich Alisande auf den Thron verhelfe, um dann zu sehen, wie sie genau die Art Regierung schafft, die ich verabscheue." "Und welche Art würdest du nicht verabscheuen?" "Nun - das größtmögliche Gute für die größtmögliche Zahl von Menschen." "Aha, du sprichst von den Bauern. Und wie ist ihr Schicksal jetzt unter Astaulf?" Matt dachte an das verbrannte Dorf und schauderte. "Okay, in dem Punkt hast du gewonnen. Aber wäre Alisande besser?" "Ihr Blut ist nicht verdorben", antwortete der Drache. "Daher wird sie wie ihr Vater herrschen. Ich bin unter seiner Regierung fünf Jahre durchs Land gezogen, und es gab immer zu essen. Die Barone kannten ihre Rechte und Pflichten. Jedes Jahr hatten sie etwas mehr, als sie brauchten. Aber jetzt? Hunger, Raubzüge und wenig bestellte Felder. Es wird ein langer Hungerwinter." Matt seufzte. "Ja, ja. Ich schätze, ich bleibe bei der Prinzessin." "Deiner Zustimmung mangelt es an Begeisterung." Der Drache musterte ihn mißtrauisch. "Vielleicht mußt du das >Warum< entscheiden." "Warum?" Matt wollte sofort antworten. Aber der Grund erschien ihm plötzlich nicht mehr so klar. "Du hast recht. Warum _tue ich_ es? Vielleicht weil..." "Ja?" "Nun, in meiner Welt habe ich es mit vielen Jobs probiert, aber es nie weit gebracht. Doch hier scheinen die Dinge zu funktionieren. Nimm einen mittelmäßigen Wissenschaftler, einen So-so-Dichter, einen zweifelhaften Logiker und einen leidlichen Fechter zusammen - dann hast du einen Magier. Ich habe jetzt das Gefühl, etwas zu bewirken, und die Chance auf Erfolg. Hier summieren sich alle meine Halbtalente zu einer großen Begabung." "Aber ein Talent muß auch ausgebildet werden", gab der Drache zu bedenken. "Gehörte zu deinen Studien auch eine Ausbildung in Magie?" "Nein", gab Matt zu. "Aber warte! Vielleicht doch. Ich beschäftigte mich mit Logik und wissenschaftlicher Methodologie. Damit kann man überall die Regeln herausfinden." "Regeln? Aber in der Magie gibt es keine Regeln oder Gesetze! Das hab' ich dir doch schon erklärt." "Es muß Regeln und Gesetze geben! Man muß sie nur finden. Beobachte mehrere Ereignisse, und suche den gemeinsamen Nenner. Dann kann man auch sehen, woher sie entspringen. Wenn man weiß, wie eine Proportion sich verändert, hat man einen guten Anhaltspunkt für die Veränderung der anderen." Stegoman beschrieb mit seinem Kopf Kreise. "Ich höre deine Worte; aber ihre Bedeutung ist zu hoch für mich. Meinst du vielleicht: Wenn ich zwei Goldstücke habe und mir zehn wünsche, dann schreibe ich >zwei< auf ein Pergament, verändere das dann in >zehn< und habe zehn Goldstücke?" "Nein, nein! Das Symbol ist _nicht_ das Ding! Zumindest nicht... in meiner Welt..." Matt beendete den Satz nicht. Hier _war_ das Symbol das Ding - oder war zumindest ganz eng damit verbunden. Und Worte waren gesprochene Symbole. Daraus folgte, daß die richtigen gesprochenen Worte möglicherweise die Dinge beeinflußten. Das Problem war, diese Wort-Symbole effektiv einzusetzen. Poesie schien zu funktionieren. Reime halfen offenbar. Vielleicht löste der Klang der Stimme, wenn er verstärkt wurde, eine Art magischer Reaktion aus. Was hatte sein Professor immer über Poesie gesagt? Dicht - das war gut. Poesie hatte eine viel größere Dichte als Prosa. Sie enthielt viele Bilder, welche mehr als eine Deutung zuließen. Daraus müßte folgen, daß bessere Poesie auch bessere Magie bewirkte. Wahrscheinlich würde es noch besser sein, wenn man sie sang. Zu schade, daß er keine gute Singstimme hatte. Die wirkungsvollste Kombination von Melodie und Text würde die sein, welche so geschrieben wurden, daß Melodie und Text einander und die Auslegungen verstärkten. Alles paßte so hervorragend, daß Matt sich wunderte, warum niemand hier bis jetzt kapiert hatte, wie Magie funktionierte. Dann gab ihm ein Gedankenblitz die Antwort. Er hatte für seine Analyse lineares Denken benutzt, aber in dieser Welt dachte man nicht linear, sondern sah alles als >Gestalt<. Die Leute betrachteten Dinge nicht in Einzelteilen, sondern als Ganzes, als Konzept oder als Ahnungen. Für sie war Magie ein Ding, nicht eine Serie von Handlungsabläufen. Matt mußte alles noch genauer durchdenken; aber er hatte das Gefühl, daß ihm seine lineare Denkweise hier einen großen Vorsprung verschaffte. Ein sanfter Stoß in den Rücken erinnerte ihn daran, daß er nicht allein war. Überrascht schaute er auf. Sie waren weit marschiert, während er seinen Gedanken nachhing. Stegoman lauschte angestrengt in Richtung Lager. "Hörst du das?" fragte der Drache. In dieser Sekunde hörte es Matt auch - einen Schrei, leise und sehr entfernt. "Die Prinzessin!" Stegomans Kopf fuhr hoch. "Oder Sayeesa." Mit einem Satz war Matt auf dem Rücken des Drachen. "Was könnte das bedeuten?" In der Ferne heulte ein Wolf. Er mußte ganz in der Nähe des Lagerplatzes sein. *Kapitel 11* Mit Donnergebrüll stürmte Stegoman ins Lager. Sayeesa kauerte vor einem der Feldsteine des provisorischen Herdes. Sir Guy stand mit gezücktem Schwert und Schild davor, hatte aber keine Zeit gehabt, die Rüstung anzulegen. Neben ihm stand die Prinzessin ebenfalls mit einem Schwert und deckte ihm den Rücken. Von Vater Brunel nichts zu sehen. Vor dem Ritter tanzte ein grauer Wolf. Mit aufgerissenem Rachen versuchte er durch hohe Sprünge Sir Guy seitlich zu packen, wurde aber von den beiden Schwertern abgehalten. Er heulte schauerlich. Da machte der Wolf einen riesigen Satz, um über Sir Guys Kopf hinwegzuspringen. Doch der Schwarze Ritter riß den Schild hoch und traf das Tier gegen die Brust, daß es zurückgeschleudert wurde. Ein blitzschneller Schwertstreich riß eine lange Wunde in die Seite. Blut schoß heraus - hörte aber sogleich auf zu fließen, und die Wunde schloß sich wieder. Matt standen die Haare zu Berge. Er hatte genug Horrorgeschichten gelesen, um einen Werwolf zu erkennen. "Ich sage euch, Schwerter nützen nichts!" rief Sayeesa. "Ein silbernes Kruzifix, Sir Guy! Nichts anderes kann uns schützen!" "Wir haben keines." Diesmal klang der Schwarze Ritter überhaupt nicht fröhlich. Der Wolf machte sich zum nächsten Sprung bereit. Stegoman brüllte. Der Wolf wirbelte herum. Dann sprang er in die Luft, direkt auf Matts Gesicht zu. Stegoman legte den Kopf zurück und stieß einen Feuerstrahl aus. Flammen hüllten den Wolf ein. Sein Schrei klang beinahe menschlich. Dann wurde der Flammenwerfer unterbrochen, weil Stegoman Schluckauf bekommen hatte. Der Wolf lag verschmort, stöhnend und heulend am Boden. Matt schwang sich von Stegomans Rücken. "Bleibt weg vom dem Monster!" schrie Sayeesa. Doch da stand Matt schon vor dem sich windenden Wolf. Vor seinen Augen löste sich das verkohlte Fell von dem Körper. Frische, rosige Haut kam zum Vorschein, auf der blitzschnell neues Fell nachwuchs. Das Stöhnen des Wolfes ging in Knurren über. Jetzt hob das Tier den Kopf und blickte Matt an. Die Augen kamen ihm irgendwie bekannt vor... Dann sprang der Wolf auf. Matt machte einen Satz nach hinten. Stegoman schwang den Kopf mit aufgesperrtem Maul dazwischen. Der Wolf fing wieder an zu tanzen. Plötzlich schnellte er in einem mächtigen Satz auf Sayeesa zu. Sir Guy wollte ihn aufhalten und erwischte ihn wieder mit der Klinge in der Seite. Erneut schoß ein Blutbach hervor; aber wieder heilte die Wunde im Nu. Matt sollte das nächste Opfer werden. Doch dieser wich dem Sprung aus, bekam aber ein Bein des Wolfes zu packen. Er machte eine schnelle Drehung. Der Wolf flog über zehn Fuß durch die Luft und landete auf dem Rücken. Etwas knackte wie ein dürrer Ast. Der Wolf schrie vor Schmerzen laut auf. "Laßt Euch nicht täuschen", rief Sayeesa. "Sein Rücken heilt gleich wieder. Sagt jetzt Euren Zauberspruch oder nie!" Matt nickte und verdrängte das mitleiderregende Schmerzensgeheul des Wolfs. Er holte seinen silbernen Kugelschreiber heraus und überlegte sich schnell ein Gedicht. Dann rief er: "_Silbergriffel! Schriebst einst vom Leben, Wandle dich, um jetzt Tod zu geben! Aus dir die scharfe Klinge sprieße, damit ich dies Dämonenblut vergieße."_ Der Kugelschreiber drehte sich in seiner Hand; aber Matt wagte keinen. Blick, weil der Wolf wieder au£ die Beine gekommen war und knurrend auf ihn zuhinkte. Matt zog den Dolch. Die Klinge glänzte im Mondlicht. Mit tödlichem Wutgeheul warf sich der Wolf auf Matt. Dieser ging in die Knie und führte mit dem Dolch einen Stoß gegen den Bauch des Tieres. Der Wolf drehte sich in der Luft, schnappte nach Matts Hand und fiel auf ihn drauf. Matt bedeckte das Gesicht mit dem Arm. Dann rissen Klauen an seinem Arm, scharfe Zähne gruben sich in die Hand, welche den Dolch hielt. Matt schrie vor Schmerzen. Dann stach er zu. Die Zähne hinterließen eine feurige Spur auf dem Arm, aber der Wolf sank mit einem Röcheln zurück. Etwas stieß ihn beiseite. Matt öffnete die Augen. Stegoman schubste den Wolf wie eine Abrißbirne mit der Schnauze vor sich her. "L-läßt du jetzt meine F-f-freunde in Ruhe!" Er lallte ein wenig. Der Wolf kam auf die Beine. Dann sah er den Rachen, als Stegoman kräftig einatmete, und machte einen Satz auf die Seite, als die nächste Feuergarbe kam. Doch da stellte sich schon Matt ihm mit gezückter Klinge in den Weg. "Warum zögert Ihr?" rief Sayeesa. "Tötet ihn, ehe er Euch die Kehle durchbeißt." Beim Klang von Sayeesas Stimme warf der Wolf den Kopf herum. Dann blickte er auf Matt und rannte davon - doch da versperrte ihm Alisande den Weg. "Geht weg!" schrie Matt in Panik. Der Wolf sprang und zielte auf die Kehle der Prinzessin. Aber Matt erwischte ihn mit dem Dolch von hinten, und die Prinzessin schlitzte ihm mit ihrem Schwert den Bauch auf. Der Wolf heulte laut auf und rannte auf drei Beinen hinaus in die Nacht. Matt starrte ihm hinterher. "Gut gemacht, Lord Matthew!" Sir Guy schlug ihm auf die Schulter. "Ja", meinte auch Alisande. "Aber... was... ?" Wie der Blitz lief Matt dem Wolf hinterher. Er hörte noch Stegoman und Sir Guy etwa rufen, rannte aber weiter. Irgendwie hatte er das sichere Gefühl, er dürfe den Wolf nicht entkommen lassen. Die Nacht war für ein Wettrennen wie geschaffen. Der helle Vollmond und weit offenes Gelände. Mit Ausnahme von gelegentlichen Findlingen gab es kein Versteck für den Wolf. Obwohl der Wolf nur auf drei Beinen lief, wurde er nicht schwächer. Werwölfe hatten angeblich die erstaunliche Fähigkeit, sich schnell zu erholen. Müdigkeit spielte für sie keine Rolle. Matt war dieses Glück nicht beschieden. Er war jetzt schon müde. Als er stehenblieb, um Atem zu schöpfen, kam ihm eine glänzende Idee. Er hatte doch diese Stadtleute fünfzehn Meter weit verrückt. Wenn er das gleich nach seiner Ankunft geschafft hatte, müßte er sich doch auch verrücken können. Schnell wälzte er geistig das Reimlexikon. Dann rief er: "_Schnell eilt der Wolf, doch schneller muß ich sein! Muß ihn erwarten dort im Mondenschein, weit vor ihm der Ort soll sein!"_ Matt spürte eine leichten Ruck, dann befand er sich an einer anderen Stelle dieses Ödlandes. Als er sich umdrehte, sah er weit hinter sich einen hinkenden dunklen Punkt. Zu weit! Nun, er hatte auch keine genauen Angaben gemacht. Vielleicht klappte es beim nächsten Versuch besser. "_Des Wolfs Geschwindigkeit ist jetzt der Punkt zum Aufbau meiner Verteidigung. Um meine Taktik richtig zu erwägen, zehn Meter mußt du mir Vorsprung geben."_ Es klappte. In einer Entfernung von zehn Metern trat der Wolf auf die Bremsen. Knurrend kam er zwei Meter vor Matt zum Halten. Matt ging mit kampfbereitem Dolch in die Hocke. Wütend sprang der Wolf, doch schlug er eine Finte. Matt warf sich nach links und verfehlte das Tier um Fingersbreite. Zähnefletschend und außer sich vor Wut umkreiste der Wolf ihn. Matt hatte ein Riesenproblem. Er war sich ziemlich sicher, wer der Wolf wirklich war, und wollte ihn nicht umbringen. Aber entkommen wollte er ihn auch nicht lassen. Mit einigen schnellen Sprüngen schnellte der Wolf auf Matt zu. Dieser warf sich wieder zur Seite, aber das Biest erwischte seine Hand. Krallen rissen an seinen Armen und Beinen. Dann zog sich das Tier zurück, um blitzschnell erneut anzugreifen. Matt fluchte. Er hatte den Mann im Pelz unterschätzt. Sobald er die Klinge auf ihn richtete, hatte sich der Wolf schon verzogen. Und das auf drei Beinen! So konnte es nicht die ganze Nacht weitergehen. Matt war schließlich ein sterblicher Mensch. Er mußte dem Spuk ein Ende bereiten. Aus dem Augenwinkel sah er mehrere Findlinge, die tintenschwarze Schatten auf das silbrige Gras warfen. Bei jedem wütenden Angriff des Wolfs wich Matt einen Fuß zurück. Als er den Schatten erreicht hatte, war auch sein Zauberspruch fertig. Als der Wolf aus dem Mondlicht heraus ihm in die Finsternis nachsprang, rief er: "_Werde, was du bist gewesen! Laß vom Zauber ihn genesen! Sei der Mensch, den wir einst hatten, Helles Mondlicht, werd' zu Schatten!"_ Laut aufheulend brach der Wolf zusammen und wälzte sich im Sand. Seine Gestalt wurde verschwommen, schien sich zu dehnen, dann zu schrumpfen - und dann lag ein nackter Mann da und wand sich. Er sah den Arm vor seinem Gesicht und erstarrte. Voll Scham und Angst blickte er zu Matt empor. "Guten Abend, Vater", sagte Matt. Der Priester schlug die Hände vors Gesicht und senkte den Kopf. "Wendet Euch ab! Schaut mich nicht an! Ich bin ein so widerwärtiges Wesen, kein Anblick für menschliche Augen." Matt drehte ein wenig den Kopf beiseite, um dem Priester möglichst viel Peinlichkeit zu ersparen. "_Laß ihn seine Scham bedecken, seinen Namen wiederfinden. Seine Würde neu entdecken, Aus dem Mann das Biest entschwinden!"_ Verblüfft ließ Vater Brunel die Hände sinken. Ein Lendentuch schlang sich um seine Mitte. "Ich danke Euch", sagte er langsam. "Aber ich kann meine Scham nur bedecken, nicht entfernen." Matt war erstaunt. "Wenn Ihr Euch schämt - warum schützt Ihr Euch dann nicht dagegen?" Der Priester erhob sich und schüttelte den Kopf. "Das ist nicht so leicht. Es sei denn, ich verbarrikadiere mich bei aufgehendem Mond in meiner Kammer. Und das war heute ja nicht möglich." "Nein, ich meine überhaupt gegen die Verwandlung in einen Werwolf. Oder könnt Ihr das nicht aufhalten?" Der Priester lächelte gequält, aber ironisch. "O doch! Wenn ich mich von allen fleischlichen Gelüsten freimache. Aber wenn auch nur die Spur eines Begehrens da ist, werde ich zum Werwolf." "Na schön! Aber konntet Ihr als Werwolf nicht einfach durchs Gelände rennen und die ganze Nacht Hasen jagen?" Brunel schüttelte den Kopf. "Wenn ich Werwolf bin, habe ich keinerlei Gewissen oder Mitleid in mir. Dann gibt es nur den Hunger." Matt leckte sich die Lippen. Das mußte er erst mal verdauen. "Unter diesen Umständen... ist vielleicht... Euer Beruf... ein wenig..." "Der falsche?" Brunel schüttelte den Kopf. "Ich floh in den Schoß der Kirche, um mich zu reinigen, Lord Magier. Ich wollte diese verborgene Natur vertreiben, da es ein Ding des Bösen ist, ein solches wildes Tier ohne Gewissen zu sein. Ich hielt mich für rein - solange ich mein Herz sauber bewahrte, würde ich nicht zum Wolf. Was hätte ich sonst tun können? Selbstmord ist eine Sünde. Nein, als ich herausfand, was ich war, floh ich zur Kirche." "Herausfand?" Matt musterte ihn scharf. "Ihr seid nicht mit diesem Wissen aufgewachsen?" Der Priester runzelte die Stirn, lächelte dann aber reumütig. "Ihr dachtet wohl, ich wurde so geboren? Nein! Jedenfalls zeigte es sich in meiner Kindheit nicht. Ich war ein Bauernsohn wie alle anderen. Erst als ich zum Manne wurde, begann ich den Vollmond zu fürchten." "Etwa mit dreizehn?" fragte Matt. "Zwölf. Damals schlug mein Herz zum erstenmal schneller, als ich die Tochter unseres Nachbarn sah, und Hitze schoß in meine Lenden. Aber ich war mit Kirche und Bibel groß geworden. Daher kämpfte ich sogleich gegen die Gedanken an, wie sie wohl unter der Bluse aussähe. Doch dieser Kampf wurde immer schwieriger. Und so gab ich schließlich nach und lag nachts da und träumte von Antworten auf, diese Frage und von allerlei Handlungen." "Und das war eine Vollmondnacht?" meinte Matt. Brunel nickte. "Der Mondschein weckte mich. Das Haus kam mir seltsam und angsteinflößend vor. Ich schoß aus meinem Bett und sprang aus dem Fenster. Da bemerkte ich, daß ich dicht behaart war und vier Füße hatte. Aber das erschien mir überhaupt nicht befremdlich. Ich konnte außerdem an nichts andres denken, als das Mädchen zu packen, ihren Körper zu berühren und meine Zunge über diese weiche Haut gleiten zu lassen und... _nein_!" Er vergrub das Gesicht wieder in den Händen. "Ihr seid jetzt im Schatten." Matt packte den Priester an den Schultern. "Ohne Mondlicht könnt Ihr Euch nicht verwandeln, oder?" Brunel schüttelte den Kopf. "Und die Morgendämmerung verwandelt mich auch zurück. Als mich damals die ersten Sonnenstrahlen mit ihren gesegneten, heilenden Fingern berührten, wurde ich wieder ich und war entsetzt über das, was ich hatte tun wollen." "Wollen?" Matt bohrte nach. "Kein Glück, was?" Brunel schüttelte den Kopf. "Ihr Vater - Gott segne ihn - hielt das Haus und die Fenster verriegelt. Ich kroch zurück ins Haus meines Vaters, kniete vor meinem Bett nieder und vergoß die Tränen eines Mannes. Dabei gelobte ich, nie wieder ein grausames, lüsternes wildes Tier zu werden." Matt nickte nachdenklich. "Und seid Ihr zur Kirche gegangen, um Euch von der Sünde auf Eurer Seele zu reinigen?" "Das und noch mehr. Ich gelobte, mein ganzes Leben dem Guten zu weihen, im strahlenden Mantel der Gnade Gottes zu leben, alle meine Gedanken auf die Sehnsucht nach dem Himmel zu konzentrieren, auch die im Tiefsten meines Herzens, und niemals mehr nach Sünde zu trachten." Matt überlegte, ob er jetzt das Herz hätte, das silberne Messer zu benutzen. "Ich nehme an, Ihr erhieltet eine Eins für Euren Eifer; aber trotzdem hat es nicht geklappt." "O doch!" widersprach Brunel scharf. "Im Kloster wurde ich willkommen geheißen. Dort waren alle streng und gottesfürchtig. Sie widmeten jede Minute des Tages dem Gebet und der körperlichen Arbeit, damit sie zu essen hatten und um den Körper zu ermüden, damit er weniger forderte. Ich fastete und betete. Ich sang Hymnen zum Preis Gottes. So lebte ich gottgefällig und wurde zum Mann. Jede Sünde und jeden unkeuschen Gedanken beichtete ich sofort. In fünfzehn Jahren verriet mich nicht ein einzigesmal mein Herz. Nicht einmal wurde ich zum Wolf." "Nur fünfzehn Jahre?" Matt schaute ihn überrascht an. "Aber das heißt... Moment mal! Wie lang ist das her?" "Keine fünf Jahre", antwortete Brunel. "Ich bin schnell und stark gealtert. Wie gern wäre ich für den Rest meines Lebens im Kloster geblieben, doch unser Abt starb, und ein neuer, jüngerer nahm seinen Platz ein. Kaum war er gewählt, berief er das Konklave ein und erklärte uns, daß die Mächte des Bösen das Land wieder einmal niederdrückten. Er sagte, daß nun in jedem Dorf ein Priester sein müsse, um die Gemeinde mit nimmermüder Wachsamkeit zu schützen. Uns schauderte, wußten wir doch, daß wir hinaus mußten in die Welt der Sünder - und als Priester unter ihnen leben." Wieder schlug er die Hände vors Gesicht. "Ihr könnt Euch meine Seelenqualen nicht vorstellen, als der Abt dies befahl. Ich - hinaus in die Welt, ohne die Geborgenheit meiner heiligen Mitbrüder, um eine Gemeinde zu hüten. Ich zitterte bis ins Herz bei dem Gedanken an diese Prüfung." "Warum gingt Ihr dann?" fragte Matt erstaunt. Jetzt war der Priester verblüfft. "Aber - ich hatte doch Gehorsam gelobt! Und wenn es Gott gefiel, mich in eine so große Versuchung zu schicken, dann tat Er das nicht nur um meiner Mitmenschen willen, sondern auch damit ich mich vervollkommnen möge." "Euer Glauben ehrt Euch." Matt gab sich Mühe, nicht zynisch zu klingen. Er meinte, was er gesagt hatte. "Aber meine Willenstärke nicht." Der Priester senkte den Kopf. "Doch solange der alte König lebte, hielt ich meine Seele sicher. Jede freie Minute sang ich Psalmen oder betete. Ich arbeitete inmitten meiner Gemeinde im Garten. Ich lernte, nur die Gesichter zu sehen, wenn ich Frauen begegnete. Ich war standhaft! Solange der alte König lebte, waren meine Sünden klein und hatten nichts mit Fleischeslust zu tun! Ich ging schon damals immer zu einem Mitbruder in einem entfernten Dorf, um zu beichten. Vier lange Jahre wurde ich nicht zum Wolf!" "Aber dann starb der alte König", sagte Matt sehr leise. Brunel nickte. Sein Gesicht wurde hart. "Und der Usurpator bemächtigte sich des Thrones! Mit diesem bösen Zauberer Malingo dicht hinter sich! Wir wurden geschwächt, die Versuchungen größer. Die Gesichter der Frauen in meiner Gemeinde schienen zu verblassen, die Umrisse ihrer Leiber immer stärker unter den einfachen Kitteln hervorzuschwellen. Ich kämpfte mit aller Kraft, das könnt Ihr mir glauben. Aber ein Mädchen schwänzelte dauernd um mich herum. Stets paßte sie den Augenblick ab, wenn ich mal allein war. Ich wies sie ab, tadelte sie; aber sie drängte sich mir weiterhin auf. Aus Angst vor meiner möglichen Schwäche floh ich aus dem Dorf und schwor mir, daß ich - wenn ich schon sündigte - es nie mit einer meiner Sorge Anvertrauten tun würde. Und..." Die Stimme versagte ihm. Mit feuchten Augen starrte er vor sich hin. "Und dann seid Ihr zur Lusthexe gegangen", beendete Matt den Satz für ihn. Brunel schloß gequält die Augen und nickte. "So verlor ich den Zustand der Gnade - und wurde zum Wolf. Wieder und wieder sündigte ich. Wieder und wieder lief ich zu meinem Mitbruder, um zu beichten. Und wieder und wieder wurde ich zum Wolf." Das war nur ein Jahr. Wie oft war >wieder und wiederJetzt hab' ich dich! Komm in mein Bett, Waldweib, oder du verlierst deine Freiheit!< Woher sollte ich wissen, daß seine Macht gewachsen war? Ich verlachte und verspottete ihn wie früher. Da überschüttete er mich mit einer scheußlichen Verwünschung und bat den Baum, mich zu verschlucken. Er benutzte für seine Gesänge eine uralte Sprache, welcher ich nicht mächtig bin. Aber sein Zauber wirkte." "Ja", sagte Matt. "Das Gleichgewicht der Macht in diesem Land hat sich verändert. Der alte König wurde getötet, ein Usurpator hat sich des Throns bemächtigt. Der große Zauberer Malingo steht hinter diesem und sorgt dafür, daß seine Befehle ausgeführt werden." "Malingo?" Ihr Augen wurden vor Entsetzen groß. "Von dem hörte ich schon! Er ist schrecklich böse und vergiftet die Flüsse mit den schädlichen Abfällen seines üblen Gebräus. Er füllt die Luft mit schädlichen Dämpfen. Ein ganz Schlimmer ist das. Er zieht Macht aus dem Land und gibt nur Gift zurück! Dann steckt er hinter all dem Unheil?" "Allerdings. Und ist der Zauberer, welcher dich verhexte, noch im Wald?" "Nein", piepste ein Elflein. "Er ist geflohen. Wir wissen nicht wohin. Eine Ranke hörte ihn noch Verwünschungen gegen den Herrn ausstoßen, welcher ihn hierher schickte." Matt nickte. "Klingt wieder nach Malingo. Er rief alle kleinen Zauberer zusammen, um daraus eine Art Zauberschwadron zu bilden." Er wandte sich wieder der Dryade zu. "Lady des Waldes, der Wolf, welcher uns verfolgt, hat den gleichen Haß auf Malingo wie Ihr. Im normalen Leben ist er Priester." Schockiert blickte die Dryade ihn an. "Aber wie _macht_ dieser Malingo das?" "Er eignete sich den Thron für seine Strohpuppe Astaulf an. Das stärkte die Kräfte des Bösen im Land. Und so wie Euer Zauberer hier im Wald stärker wurde, wurde Vater Brunel immer schwächer - moralisch, meine ich. Alles kommt daher, daß Malingo den Thron des Königs stahl. Der Mann, welcher jetzt das Land regiert, ist korrupt und böse, und die Leute machen es ihrem König nach." "Gewiß", sagte die Dryade. "Aber es geht noch tiefer. Denn der König ist das Symbol des Landes." "Meint Ihr nicht, daß es zu weit geht zu behaupten, der König sei das Symbol des _Landes _? Er ist das Symbol der Nation, der Menschen, welche im Land leben." "Könnt Ihr die Menschen vom Land trennen?" fragte die Dryade. Matt wollte schon antworten, ließ es aber. Diese Leute hatten von Industrie keine Ahnung. Für sie war die gesamte Erde, der Wind, die Bäume und Flüsse - alle Elemente - so eng mit ihnen verknüpft, daß ihre Harmonie gebrochen war, wenn die des Landes gestört war. "Nein", sagte er leise. "Nein, natürlich nicht. Hier sind die Menschen nicht vom Land getrennt. Sie sind die Knochen und das Fleisch des Landes." "Das sind sie", pflichtete ihm die Dryade bei. "Und wenn sie sterben, geben sie ihre Körper zurück, wie es ihre Ahnen seit mehr als tausend Generationen taten. Die Menschen _sind_ das Land - und wenn der König ihr Symbol ist, dann ist er auch das Symbol des Landes." "Dann ist das ganze Land besudelt, weil ein falscher König auf dem Thron sitzt." "Ja." Die Dryade nickte. Ein kaltes Feuer flackerte in ihren Augen auf. "Ja, er ist ein Schandfleck und eine Verunglimpfung auf dem Thron." Matt war von ihrer Heftigkeit überrascht. Die Dryade schüttelte sich. Dann schaute sie nach oben. "Es wird bald hell. Das Sonnenlicht streift schon das Land jenseits der Grenze, und wir haben kaum die Mitte des Waldes erreicht." Verblüfft schaute Matt nach oben. Alles dunkel über den Wipfeln. "Woher wißt Ihr das? Hier sieht's aus wie Mitternacht." "Die obersten Blätter spüren das Sonnenlicht - und wir daher auch. Kommt schnell!" Sie lief voraus. Die Prinzessin ritt neben Matt. "Gut gemacht, Lord Magier. Heute nacht habt Ihr tüchtig für mich gearbeitet." "Was?" fragte Matt überrascht. "Malingo dürfte kaum mit einer Armee durch diesen Wald marschieren." "Stimmt; aber er marschiert durchs Land. Und es ist, wie die Dryade sagte: Der gesamte Wald ist eine Einheit - und, Lord Magier, das _Land_ ebenfalls. Der Wald ist mit ihm aufs engste verbunden, da seine Wurzeln sich mit den Wurzeln des Grases der Wiesen und Weiden mischen. Alles, was der Wald weiß, wissen auch die Weiden und die Fichten im Gebirge. Indem Ihr den Wald für mich aufgewiegelt habt, habt Ihr das ganze Land wachgerufen. Der Erdboden wird Malingos Armee für unsere Sache in den Sumpf ziehen." Die Dryade stritt mit dem Elfenherzog. Matt konnte nichts verstehen, hatte aber den Eindruck, daß sie die Debatte gewonnen hatte. Danach kamen sie unglaublich schnell voran. Die Dryade führte. Die Bäume schienen ihnen eine breite Allee zu eröffnen. Irgendwie hatte Matt den Verdacht, daß etwas Zauber mitspielte. Beim Morgengrauen traten sie auf die Wiesen hinaus. "Ich danke Euch, Lady des Waldes, und wünschte, ich wäre schon früher gekommen, um Euch aus Eurem Gefängnis zu befreien." "Aber, Sir!" Die Dryade errötete. "Euer Kommen war auch so sehr lieb. Sollten Eure Angelegenheiten einmal nicht mehr so dringlich sein, könntet Ihr doch wieder vorbeikommen." Matt spürte, wie sein Gesicht heiß wurde. "Ja, vielen Dank", sagte er schnell und reichte ihr die Hand. "Es war auch mir ein Vergnügen." Die Dryade blickte stirnrunzelnd auf die Hand. "Welch neue Sitte ist denn das?" "Oh, nur eine Eigenheit meines Volkes. Offene Hand - keine Waffe. Bei uns ist es Sitte, mit Freunden die Hände zu verschränken." "Aha... nun, ich möchte ganz sicher Euer Freund sein." Ihre Hand fühlte sich wie trockenes, poliertes Holz an. Sie bewegte die Fingerspitzen ganz leicht, trotzdem schoß Hitze seinen Arm hinauf bis in den drüsenanregenden Teil des Gehirns. "Kommt wieder!" sagte sie leise. Dann tanzte sie lachend zurück in den Wald und vermengte sich dort mit den im Morgenlüftchen rauschenden Blättern. Matt schüttelte den Kopf, um wieder klar zu werden. "Nun! Eine sehr... interessante Begegnung!" "In der Tat", sagte Alisande. Es klang bedrohlich nach Ärger. "Ich hoffe, _eine_ war ausreichend. Denkt daran, Lord Magier, was über das Kreuzen gegen die Natur gesagt wurde." Matt schaute sie vorwurfsvoll an. "Ihr traut mir immer noch nicht. Soll ich das als Kompliment auffassen?" Alisande trieb ihr Pferd an und ritt mit hochrotem Gesicht davon. Sir Guy lachte leise. "Kommt, Lord Magier. Reiten wir!" Der Morgennebel wurde dichter, färbte sich golden. Ein Sonnenstrahl fiel auf das wogende Gras einer Weide. Ihr Anfang war so deutlich durch Schatten wie mit einem Messer abgeschnitten. Da blieb Matt abrupt stehen. "Was bedrückt Euch?" erkundigte sich Sir Guy. "Mir ist gerade wieder eingefallen, worum es bei dem ganzen Schlamassel eigentlich ging." Matt schwang sich vom Drachen. "Ihr reitet langsam mit den Damen weiter. Behalte den Kopf oben, Stegoman, damit niemand sehen kann, daß ich nicht auf deinem Rücken sitze." "Was hast du vor?" fragte der Drache mißtrauisch. "Kannst du dir doch denken! Versuche, den Waldrand im Auge zu behalten. Wenn du Lärm hörst, komm so schnell du kannst zurück." Stegoman schüttelte den Kopf. "Und was ist mit Euch?" fragte Sir Guy. "Ich bleibe hier." "Und wenn der Wolf dich anfällt?" Stegoman klang besorgt. Matt hielt das silberne Messer hoch. "Ich bin gerüstet - allerdings hoffe ich, daß ich das nicht brauche." Sir Guy musterte ihn noch mit gerunzelter Stirn, zuckte aber dann mit den Schultern. "Komm, Drache! Es ist sein Kampf!" Stegoman watschelte los, schien aber nicht glücklich zu sein. Matt legte sich ins hohe Gras, wo er den Blicken seiner Gefährten verborgen war, aber auch vom Wald aus nicht gesehen werden konnte. Er wartete. Lange brauchte er nicht zu warten. Lautes Heulen erklang vom Waldrand. Dann schoß eine dunkle Gestalt keine zwei Meter neben ihm durchs Gras. Er sprang auf und sah, wie der große Wolf aus dem Schatten ins Sonnenlicht stürmte. Sobald er die Wärme spürte, bäumte er sich auf und schlug laut heulend wild um sich. Hufschlag wurde laut. Sir Guy kam mit den Frauen in gestrecktem Galopp zurück. Das Ding erhob sich aus dem Gras. Es war halb Mensch, halb Tier und wollte wieder zurück in den Schatten. Matt lief mit dem Silbermesser in der Hand hinzu. Das Ding mit dem Menschengesicht und der Wolfsschnauze sah ihn und machte einen verzweifelten Satz. Doch da hatte Matt ihn schon erreicht. Jämmerlich heulend rollte es auf die Seite, um sich vor der Silberklinge in Sicherheit zu bringen. Dabei wurde es immer länger und blasser - bis Vater Brunel nackt im Gras herumkroch. Schluchzend rollte er auf den Bauch und barg das Gesicht in den Händen. Matt kniete nieder und legte ihm den Arm um die Schulter. "Beruhigt Euch, Vater. Ihr seid wieder ein Mensch." "Tötet mich!" bat der Priester. "Ich beschwöre Euch! Beendet meine Schande!" "Nein." Matts Gesicht wurde zu Stein. "Ich werde Eure Seele nicht in die Hölle schicken!" Dann stand er auf und starrte Alisande trotzig an. Doch die Prinzessin nickte nur. Überrascht und erleichtert wandte Matt sich wieder dem Priester zu. "Ihr werdet nur durch die Reue geheilt, Vater, nicht durch den Tod." Der Priester senkte den Kopf. "Aber, aber!" sagte Sir Guy beschwichtigend. "Noch ist nicht alle Hoffnung verloren. Steht auf und seid wieder ein Mann!" "Nein, Vater, wir geben Euch nicht auf", sagte Matt mitfühlend. "Nehmt die Bürde des Menschseins wieder auf Euch." Der Priester blieb noch einen Augenblick liegen, dann stöhnte er auf und wollte aufstehen. Bis zu den Knien kam er, dann wurde ihm sein Zustand bewußt, und er ließ sich blitzschnell wieder fallen. "Du lieber Himmel!" rief Sayeesa; sie riß ein Stück ihrer Tunika ab und warf es dem Priester zu. "Bindet Euch das um die Lenden. Keine Angst - die Prinzessin und ich werden uns umdrehen!" Vater Brunel starrte nur auf den Stoffstreifen und sagte: "Ich sollte Euer Gewand nicht berühren!" "Das ist nicht mehr mein Gewand!" rief Sayeesa wütend. "Das ist von mir so weit entfernt, wie Ihr auch! Nun bindet es endlich um!" Überrascht schaute Alisande sie an. Dann runzelte sie nachdenklich die Stirn. Auch Matt war überrascht. Inzwischen hatte der Priester seine Blöße bedeckt und war aufgestanden. Ernst blickte er Matt in die Augen. "Das paßt auch besser. Ich bin nicht würdig, eine Soutane zu tragen." "Hört endlich auf, in Selbstmitleid zu baden!" fuhr Matt ihn an. "Reißt Euch zusammen! Glaubt Ihr vielleicht, die Soutane macht Euch zum Neutrum?" "Ich wünschte, es wäre so", antwortete der Priester. "Ja, ja! Wir wären verdammt gute Männer, wenn wir nur nicht mit Frauen zu tun hätten! Sie würden uns ja auch nicht ablenken, wenn wir keine Drüsen hätten! Ruhm kommt vom Immer-wieder-Versuchen, wenn man verloren hat, nicht vom Aufgeben!" Jetzt riß Brunel wütend den Kopf hoch. Einen Augenblick lang schien er seinen Mannesstolz wiedergewonnen zu haben. Doch dann senkte er erneut den Blick. "Ihr habt recht. Als Priester sollte ich wissen, daß es immer Hoffnung gibt, ganz gleich wie schwer man gesündigt hat. Welch eine Schande, daß ein Laie mir das sagen muß." Matt nickte. "Dann seid ein Priester und damit auch ein Mann!" Vater Brunel stemmte die Arme in die Hüften. "Ich danke Euch, Magier. Doch nun geht mir aus dem Weg, ich muß fort." Matt zog die Brauen hoch. "Wohin wollt Ihr?" "Zur nächsten Kirche. Wohin sollte ich sonst gehen?" "Natürlich mit uns, guter Vater", sagte Sir Guy fröhlich. "Laßt uns gemeinsam eine Kirche suchen." "Nein." Brunel schüttelte den Kopf. "Ihr müßt nach Westen reiten - und zwar schnell. Ich würde Euch nur aufhalten, das habe ich bereits getan." "Nun, darüber läßt sich streiten", meinte Matt und blickte zurück zum Wald. "Ich finde, wir haben letzte Nacht eine ziemliche Strecke geschafft - etwa sechzig Meilen." "Ihr müßt aber zugeben, nicht durch meine Hilfe." Der Priester lächelte verhalten. "Nein, ich gehe meinen Weg. Ich wäre nur eine Last für Euch." Sein Blick streifte Sayeesa. "Und Ihr für mich." Sayeesa wandte tief verletzt das Gesicht zur Seite. Matt biß sich auf die Lippe. "Ihr habt nicht ganz unrecht, Vater - aber jetzt seid Ihr nun mal dabei. Ihr könnt Euch nicht bequem zurücklehnen und zusehen, wie die anderen den Kampf ausfechten." "Kann man das je im Leben?" fragte Brunel. "Ihr vergeßt, Lord Magier, daß Ritter vielleicht die Attacke anführen, doch der größte Teil des Krieges ist Sache des Fußvolks. Und das Schlachtfeld ist das zertrampelte Korn des Bauern." "Wie wahr", sagte Alisande. "Welche Soldaten könnt Ihr uns als Hilfe bringen?" Der Priester schaute überrascht zu ihr auf. "Darüber habe ich noch nicht nachgedacht; aber könnt Ihr Euch in diesem scheußlichen Krieg bessere Truppen vorstellen als eine oder zwei Abteilungen Mönche?" Die Prinzessin nickte bedächtig. "In der Tat, eine hervorragende Truppe." "Hm..." Matt zupfte sich am Ohrläppchen. "Ist das nicht ein bißchen paradox? Ich meine, Gottesmänner mit Schwertern und Piken?" Vater Brunel lächelte nachsichtig. "Das schwebte mir auch nicht vor. Ich würde sie mit Waffen wie Rosenkränzen, Weihwasser und Reliquien ausrüsten." Matt hielt seine Antwort zurück. Die Waffen, welche der Priester erwähnt hatte, waren allesamt mächtige Symbole. Nach den Regeln dieses Universums dürften sie ebensoviel ausrichten wie Armbrüste und Katapulte. "Ja, das kann ich tun, und ich sehe ein, daß ich es tun muß. Ich muß mir in der nächsten Kirche eine Soutane besorgen und dann alle Klöster auf dem Weg nach Westen aufsuchen." Kämpferisch blickte er zu Alisande auf. "Wo soll ich Euch treffen, Hoheit?" "In den westlichen Bergen." Kriegslust funkelte in Alisandes Augen. "In den Ausläufern nördlich vom Berg Monglore, dicht bei der Ebene von Grellig." "Dorthin ist es noch weit und Ihr müßt Euch beeilen." Matt schaute Stegoman an. "Macht es dir etwas aus, dich auf kurze Zeit von uns zu trennen? Er muß sich beeilen." "Das stimmt schon", sagte der Drache langsam. "Aber ich fürchte um deine Sicherheit, Magier." "Ich mache mir um Brunels noch mehr Sorgen. Er braucht einen Gefährten, den er nicht verletzen kann, wenn er zum Werwolf wird - und einen, der ihn davon abhalten kann, einem anderen ein Leid anzutun." "Seid beruhigt! Ich werde nicht wieder zum Wolf", versicherte der Priester. Matt nickte. "Bei allem Respekt, Vater. Ich habe so meine Erfahrungen mit guten Vorsätzen! Stegoman, es ist bestimmt besser, wenn ich mir um den guten Priester keine Sorgen machen muß." "Wie du meinst." Der Drache watschelte zum Priester. Brunel zögerte und schaute fragend zur Prinzessin. Sie nickte. Dann stieg er auf. "Bei Grellig dann! Ich kann nicht versprechen, wie viele ich bringe. Aber so an die hundert werden Euer Banner aufnehmen." "Ich brauche jeden einzelnen. Dankt ihnen im Namen der Prinzessin. Gebt uns noch Euren Segen, Vater." "Erst nachdem ich gebeichtet habe", antwortete Brunel. "Nun denn, du gutes Tier! Auf, auf!" Stegoman warf Matt noch einen Blick zu. Der Magier winkte. Dann verschwanden der Drache und der Priester im Dunst auf dem Weg nach Südwesten. "Gebe Gott, daß ihm nichts zustößt", sagte Sir Guy. "Um seiner und um unser willen." "Seid guten Mutes", sagte die Prinzessin. "Ich glaube nicht, daß er vor Grellig stirbt. Aber wer weiß?" "Dem Himmel sei Dank, daß wir ihn los sind", sagte Sayeesa. "Jetzt sind wir sicher." Aber der Blick, den sie nach Südwesten richtete, verriet Sehnsucht. Matt wandte sich an Alisande. "Der Zauberer macht nicht viel Heu, solange die Sonne scheint, oder?" Die Prinzessin verstand ihn erst nicht. Dann schüttelte sie den Kopf. "Während des Tages muß er mit Menschen arbeiten, was die Gefahr für uns mindert. Vor der Nacht müssen wir uns fürchten, denn dann kann er die widerwärtigen Verkörperungen des Bösen heraufbeschwören." Matt nickte. "Dann machen wir uns möglichst schnell auf den Weg. Wir haben noch über vierzehn Stunden Tageslicht. Da können wir viele Meilen zurücklegen." "Das können wir _nicht_, Lord Magier", widersprach Sir Guy. "Unsere armen Pferde sind schon zu lange unterwegs. Ich sprach mit dem Elfenherzog. Er sagte, daß in etwa sechs Meilen eine Quelle kommt und eine Gruppe von Findlingen. Wir können im Schatten der Felsen rasten und die armen Tiere weiden lassen." "In Ordnung", sagte Matt widerstrebend. Schließlich waren Pferde keine Autos oder Motorräder. Mit denen kannte er sich aus. "Aufsteigen und los geht's!" rief Sir Guy und schwang sich in den Sattel. Doch sogleich blickte er verlegen auf Matt. "Oh, Verzeihung, Lord Magier. Ich vergaß." Matt grinste. "Ich brauche in der Tat ein Reittier. Nun, zum Glück gibt es hier Äste." "Äste?" fragte Alisande. "Wie wollt Ihr auf Ästen reiten?" Matt antwortete nicht. Er nahm einen langen Ast, band mit Grashalmen vier kürzere daran als Beine und fertigte aus Grasbüscheln eine Art Kopf und Schweif. Dann rief er: "_Aus diesem Gras und diesem Holz, ein Roß soll werden, groß und stolz! Wir kämpfen für die Königin und dieses Roß soll mit uns geh 'n."_ Um das Steckenpferd bildete sich dichter Nebel. Die Wolke wurde so groß, daß ein Elefant mit Leichtigkeit darin Platz gehabt hätte. Matt runzelte die Stirn. Doch dann löste sich der Nebel auf. Ein prachtvoller kastanienbrauner Hengst stand da. Stolz hob er den Kopf und blickte Matt an. Doch noch fehlten Sattel und Zaumzeug. Matt mußte noch einen Vers anfügen: "_Sättel und Zaumzeug zum Reiten wir brauchen, soll uns der tägliche Ritt nicht stauchen."_ Zu Matts Erleichterung trug das Pferd jetzt einen Westernsattel. Endlich würde er bequem reiten! Der Braune kam zu Matt, schnaubte und rieb den Kopf gegen seine Brust. "Ja, mein Guter!" Matt streichelte den Hals und fühlte sich zu dem herrlichen Tier sehr hingezogen. Sie würden gut miteinander auskommen. Er schwang sich in den Sattel, dann ritten sie los. Sie fanden die Felsen und die Quelle, von welcher der Elfenherzog gesprochen hatte. Hier erteilte Sir Guy Matt einen Schnellkursus in Pferdepflege. Zuerst das Tier, dann der Mensch. Der Hengst war willig und freundlich, aber Stegoman hatte schon für sich selbst gesorgt. "Ihr könnt jetzt schlafen." Sayeesa war zu ihm gekommen. Matt schüttelte den Kopf. "Danke, Lady - aber ich übernehme die erste Wache. Schlaft ruhig, solange Ihr könnt." Sie schüttelte den Kopf. "Mir ist nicht nach Schlaf. Es wäre töricht, wenn zwei wachen. Versucht, etwas zu ruhen." "Ich danke Euch, aber ich bin auch nicht müde", erwiderte Matt. Dann schwiegen beide. "Irre ich mich, oder habt Ihr und die Prinzessin Euch etwas angefreundet?" fragte Matt. Sayeesa blickte beiseite. "Die Abneigung wird schwächer... Ich dachte, sie verabscheut mich, doch das war falsch. Auf irgendeine merkwürdige Art sieht sie sich selbst ein wenig in mir und denkt, sie habe kein Recht mich zu verachten. Aber echte Freundschaft kann es nie geben. Schließlich ist sie eine Prinzessin und ich nur eine Bauerntochter." "Klassenschranken!" Matt unterdrückte den Ärger. "Warum sollte dieser Blödsinn eine Freundschaft verhindern?" "Ihr sprecht mit mehr Anteilnahme, als die Sache erfordert." Sayeesa lächelte. "Wollt _Ihr_ mit ihr befreundet sein?" Matt schluckte. "Aber natürlich! Wir müssen zusammen kämpfen. Da müssen wir doch freundlich miteinander umgehen, oder?" "Wie Feinde kommt ihr mir nicht vor." "Nun, ich würde uns nicht gerade Busenfreunde nennen. Ihr wart nicht da, als ich sie aus dem Verlies befreit hatte. Da war sie direkt herzlich. Ich glaube, sie schätzte mich damals sogar sehr." Er verdrehte die Augen nach oben. " Warum können Frauen uns nicht so akzeptieren, wie wir sind - als Menschen mit normalen Schwächen?" "Wann änderte sich ihr Verhalten?" "Gleich nach - nun..." "Ihr braucht mich nicht zu schonen. War _es_ nicht, nachdem sie Euch in meinem Palast gesehen hatte?" "Ja! Wofür hielt sie mich? Für einen Gipsheiligen?" "Nein." Sayeesa schaute Matt in die Augen. "Aber hat nicht Eure Schwäche das Verhältnis abkühlen lassen? Oder meine Anwesenheit?" Verblüfft hob Matt den Kopf und schaute über die Ebene hinaus. "Das ist doch ziemlich weit hergeholt." "Ach, wirklich?" Matts Gesicht wurde hart. "In meinen Adern fließt kein edles Blut. Sie darf sich nicht für jemanden interessieren, der niemals ein Mitglied der königlichen Familie werden kann." "Das nicht." Sayeesa lächelte verstehend. "Sie kann sich vielleicht kein solches Ende erlauben - aber Interesse? Keine Frau kann dagegen etwas tun." Matt nickte langsam. "Verstehe. So, wie Ihr das erklärt, _muß sie_ mich eigentlich kühl behandeln." Sayeesa lächelte noch mehr, als sie aufstand. "Vielleicht seid Ihr doch kein kompletter Esel." Matt grübelte noch lange über dieses Gespräch nach. Dann wurde es Zeit, Sir Guy für die nächste Wache zu wecken. Als die Prinzessin an die Reihe kam, war er wieder wach und beschloß, die Hypothese auszuprobieren. Er ging zu ihr und sagte mit fester Stimme - obwohl die keineswegs seinem Gemütszustand entsprach: "Hoheit, ich glaube, ich mache Fortschritte auf dem Weg, Eure Art mehr zu verstehen." "Wirklich?" Ihre Stimme klang hochmütiger als je zuvor. Doch die anderen schliefen, und er war ganz allein mit Alisande. Das war der Grund für ihr Benehmen, redete er sich ein. "Die Dryade war nicht gerade abstoßend häßlich", fuhr er fort. "Aber meiner Meinung habe ich mich bei ihr gut gehalten." "So, meint Ihr?" fragte sie erbost. "Dann erklärt mir eines: Wieso versteht Ihr den Priester denn so gut?" *Kapitel 13* Sir Guy schüttelte Matt an der Schulter. Er wachte auf. Seine Augenlider fühlten sich schwer wie Blei an, sein Mund war trocken. Jeder Muskel schmerzte, als er aufstand, um mit den anderen noch schnell etwas zu essen, ehe sie weiterritten. Ein paar Schluck Wein waren doch kein Ersatz für eine Tasse Kaffee, fand er. Die Nachmittagssonne war schon nahe dem Horizont. Das Gelände erstreckte sich völlig flach und leer. Er spürte ein seltsames Prickeln. "Ich habe ein ungutes Gefühl, Sir Guy." Der Ritter nickte ernst. "Ich ebenso. Wir müssen so schnell wie möglich reiten, bis wir wieder einen Unterschlupf finden." Mit wechselndem Tempo, um die Pferde zu schonen, ritten sie dahin. Die Schatten des Spätnachmittags wurden länger. Dann glitt die Sonne unter den Horizont und färbte die Wolken mit ihren Strahlen zu letzter Pracht. Dann wurde der Himmel dunkel. Sterne erschienen am Firmament. "Was machen wir, wenn wir keine geschützte Stelle finden?" rief Matt Sir Guy zu, als sie im Schritt ritten. "Betet, daß wir sie nicht brauchen", lautete die Antwort. Da ertönte im lauen Abendwind ein leises Heulen hinter ihnen. Viele Stimmen mischten sich darin. Es klang so unheimlich, daß Angst Matt bis ins Mark schoß. Er biß die Zähne zusammen. "Das ist mit Sicherheit etwas Böses." Sir Guy schwang den Arm nach vorn und rief den Frauen zu: "Reitet! Rettet Eure Seelen!" Sie gaben den Pferden die Fersen und galoppierten davon. Der Ritter hatte recht. Wer auch immer sie verfolgte, tat dies bestimmt nicht aus Nächstenliebe. Der Lärm wurde deutlicher. "Es muß doch hier irgendwo Deckung geben", schrie Matt. "Wir werden wohl ohne solche auskommen müssen", antwortete der Ritter. "Wir sollten anhalten und uns, so gut es geht, auf den Kampf mit dem Bösen vorbereiten." "Das klingt nicht nach einer guten Taktik, Sir Guy." "Aber weit und breit ist nichts als Gras, Lord Magier. Und unsere Pferde sind zu erschöpft, um die ganze Nacht weiterzulaufen." Matt schüttelte verstockt den Kopf. "Ich bin aber nicht in Stimmung für einen Kampf." "Der wird Euch aber möglicherweise aufgezwungen", sagte Alisande eisig. "Irgendwann in der Nacht müssen wir uns stellen und kämpfen, Lord Magier", erklärte Sir Guy. "Warum nicht hier, während wir noch halbwegs frisch sind?" "Das ist ein gutes Argument", gab Matt zu. "Aber ich möchte es auf keinen Fall ohne eine Art Verteidigung mit diesen Verfolgern aufnehmen. Reiten wir doch noch ein Stück. Vielleicht finden wir ein paar Felsen, hinter denen wir uns verschanzen können." "Oder den Steinring", sagte Sir Guy. "Steinring? Große Steinplatten, senkrecht aufgestellt, mit Decksteinen und einem kleineren inneren Ring?" "Genau! Aber ohne inneren Ring." Der Ritter schaute Matt überrascht an. "Seid Ihr schon dort gewesen?" "Nein, aber ich habe darüber gelesen." Eigentlich war Matt nicht sehr erstaunt, daß es in dieser Welt auch ein Stonehenge gab. Das gehörte irgendwie zur Magie dazu. "Aber welches Gefühl herrscht an diesem Ort, Sir Guy? Das Böse?" Sir Guy runzelte die Stirn. "Das kann man so nicht sagen. Es wohnen dort ungeheuer starke Mächte. Sie sind sowohl gut wie auch böse. Einst war es ein Tempel für Menschen, welche die Sonne als Quelle alles Guten anbeteten. Ihre Opfergaben bestanden aus Gerste und Weizen. So hat es uns die Sage überliefert." "Das klingt nach gesundem Hausbrot. Aber ich nehme an, daß dies nicht die einzigen Benutzer waren." "Nein. Einige Jahrhunderte später sollen Menschen gekommen sein, welche den Hundsstern als die Quelle alles Bösen anbeteten. Sie brachten Menschenopfer. Danach kamen andere..." "Schon verstanden", unterbrach ihn Matt. "_Weiß_ man, wie viele Kultgemeinschaften diesen Tempel benutzen?" "Nein! Niemand zählte sie. Es gibt nur Legenden. Es ist ein wirklich _alter_ Ort, Lord Magier." "Dann hat man dort abwechselnd das Gute und das Böse verehrt?" "Ja. Doch jahrhundertelang war es auch eine Stätte der Gelehrsamkeit. Magier kamen von den Inseln der Doktoren und Heiligen, sagt man, als Hardishanes Reich neu war. Diese guten und weisen Männer wohnten inmitten der Steine und lehrten alle, die dorthin kamen und wünschten, tiefer in den Sinn der Dinge einzudringen." "Echte Gelehrte." Matt nickte. "Lehre und reine Forschung - Wissen aus Freude daran, sich in etwas zu vertiefen und Neues zu lernen." "Ja, aber ihre Geister herrschen dort nicht. Man sagt, der Ort sei von sich aus weder gut noch böse. Es kommt ganz darauf an, was man daraus macht." Alisande hatte interessiert zugehört. "Auf alle Fälle ist der Ort sehr tückisch, Lord Matthew. Hunderttausende haben dort durch die Jahrhunderte ihre Inbrunst verströmt. Mächtige, böse Zauber wurden dort bewirkt." "Aber auch gute", erinnerte Sir Guy. "Dieser Ring ist also ein riesiges Vorratshaus an Macht. Aber die Art, welche einen Menschen dort befällt, hängt von seiner eigenen Einstellung ab, ja?" Sir Guy nickte. "Der Böse wird noch böser, der Gute wird zum Heiligen." Matt war nicht sicher, was seine Einstellung war, und hatte plötzlich etwas Angst vor dem Steinring. "Wie dem auch sei! Es klingt, als ob dieser Ort unsere beste Chance ist." "So ist es." Alisande klang absolut sicher. Das bedeutete, daß sie eine offizielle Erklärung abgab. "Aber wie kommt es, Sir Guy, daß Ihr so viel über diesen Ort wißt?" Der Schwarze Ritter lächelte nur. "Ich bin nicht völlig unbelesen, Hoheit. Wenn wir dorthin wollen, müssen wir uns etwas mehr nach Norden halten." Er schnalzte seinem Roß zu und übernahm die Führung. Weit hinter ihnen vereinigte sich die vielen Stimmen zu einem riesigen, hungrigen Bellen. Alisande schauderte. "Schnell zum Steinring, Lord Matthew! Schlimmer kann es dort nicht sein." "Da wäre ich nicht so sicher." Matt schaute sich um. Sayeesa ritt hinter ihm. Sie war totenblaß und hielt krampfhaft die Zügel umklammert. Im Mondlicht ragte ein riesiges, lückenhaftes Gebiß vor ihnen auf. "Dort ist es!" rief Alisande. "Schnell!" Der Lärm hinter ihnen war nun viel, viel lauter. Man konnte Knurren, Heulen und Bellen unterscheiden. Matt trieb seinen Hengst zum Galopp. Als die Steinpfeiler im silbernen Schein des Mondes größer wurden, verstärkte sich auch das Prickeln, das Matt überall auf der Haut spürte. Es schien bis ins Gehirn einzudringen. In diesen uralten Steinen schwang etwas mit der Höhe und dem Takt seiner Gedanken mit. Das war ihm aber ganz und gar nicht unangenehm. Es gefiel ihm, als das Gefühl bei jedem Schritt seines Pferdes stärker wurde. Dann sah er nach Sayeesa. Sie zitterte am ganzen Leib. "Bringt mich nicht dorthin, Magier. Ich flehe Euch an! Dort herrschte einst das Böse, und seine Aura ist immer noch dort. Ich weiß nicht, wozu ich an jenem Ort vielleicht fähig bin." "Du irrst dich", sagte Alisande. Ihr Gesicht war freundlich und mitfühlend. "Dort ist Gutes, Sayeesa, viel Gutes! Ich spüre, wie es gleich starkem Wein durch meine Adern strömt." "Es stimmt." Matt schaute zu Sir Guy hinüber, der ruhig an der Spitze ritt. "Wir empfangen das, wozu wir im Innern neigen." "Bitte, bleibt fern von diesem Ort!" bat Sayeesa schluchzend. "Vielleicht werde ich dort zu etwas Bösem!" "Aber wie könnte das geschehen?" fragte Alisande und breitete die Arme aus. "Ich fühle mich so wohl. Mein Herz verlangt nach diesem Ort wie die Taube nach ihrem Nest." "Meine Damen, bitte!" Matt ritt an Sayeesas Seite und nahm ihre Zügel auf. "Hört auf zu jammern! Ich hasse es, Euch daran zu erinnern - aber hinter uns ist eine Meute von Monstern." Jetzt tauchten die Hunde am Horizont auf. Sie waren so groß wie kleine Pferde, dabei schlank und langbeinig. Rote Flammen umloderten sie. Die Augen funkelten. Die Stahlzähne glitzerten im Mondlicht. "Reitet schneller!" rief Matt und versetzte Sayeesas Pferd einen kräftigen Schlag auf die Kruppe. Das Tier preschte auf den Steinring zu, während Sayeesa vor Angst schrie. Alisande jagte mit leuchtenden Augen hinterher. Sir Guy hielt bei einem großen Sandsteinblock an und bat die Prinzessin mit einer Verneigung in den Ring. Dann winkte er Matt. Matt blickte zurück auf die Meute der Höllenhunde. Es waren mindestens hundert. Die Entfernung zwischen dem Steinring und ihnen verringerte sich sehr schnell. Schaudernd wandte er sich ab und trieb seinen Hengst in den Steinring. Sir Guy bildete den Schluß. Sayeesa barg schluchzend das Gesicht in der Mähne ihres Pferdes. Alisande schwang sich aus dem Sattel und tanzte mit ausgebreiteten Armen umher. "Lord Magier, dies ist wahrhaft ein heiliger Ort." "Ja, ich glaube, ich weiß, was Ihr meint." Matt war abgestiegen. Er stand hochaufgerichtet da und spürte die Kraft des Ringes. Sie durchlief ihn so stark, daß ihm ganz leicht im Kopf wurde. "Lord Magier!" Sir Guy nickte auf die Ebene hinaus. "Der Feind nähert sich." In der Tat! Das wütende, hungrige Bellen und Jaulen drang durch die Steine. Hunde! Womit wehrte man sich gegen sie? Natürlich Katzen! Große Katzen. Matt breitete die Hände aus. Seine Augen wurden vor Überraschung groß. Macht durchströmte ihn, aus der Erde heraus durch die Beine bis in die Fingerspitzen. Euphorie kam über ihn. Welche Wunder würde er hier _vollbringen_ können. Er klatschte in die Hände und breitete sie wieder aus. "_ Wild ist das Hochland, öd und leer. Gefahren drohen dem Einsamen sehr. Mögen siegreiche Löwen auf jedem Stein unserer Sicherheit Hüter sein."_ "Macht Euren Zauberspruch kurz", mahnte Sir Guy beunruhigt. Matt deutete mit dem Kopf nach oben. Sir Guy folgte seinem Blick. Auf jedem Steinpfeiler lag ein Berglöwe und blickte nach unten, wo sich die Hundemeute näherte. Pumas! Na ja, Matt hatte den Raubkatzentyp nicht näher spezifiziert. "Hervorragende Arbeit, Lord Magier! Ein Raubtier pro Monolith!" sagte Sir Guy voll Hochachtung. "Ja, aber es sind nur ungefähr dreißig Steine." Er hätte sich ein größeres Stonehenge gewünscht. "Diese Pumas werden die Höllenhunde kurze Zeit beschäftigen, aber nicht für immer aufhalten." Jetzt jaulten die Hunde triumphierend auf, als sie kaum noch fünfzehn Meter vom Steinring entfernt waren. Doch dann schrien einige entsetzt, als zwei Berglöwen elegant vor ihnen landeten und sich auf sie stürzten. Wie ein Wasserfall schnellten sich die Raubkatzen von den Steinpfeilern und landeten mitten in der heulenden Meute. Sie fetzten Kehlen auf, zerbissen Rücken, knackten Wirbelsäulen und schleuderten Hunde durch die Luft. Doch dann rotteten sich die Höllenhunde zusammen und gingen zu dritt gegen je einen Berglöwen vor. Stahlzähne blitzten und rissen Kehlen und Bäuche auf. "Ja, wie Ihr sagtet", meinte Sir Guy. "Sie beschäftigen sie, halten sie aber nicht auf. Außerdem kommt es mir so vor, als heilten die Wunden der Hunde fast so schnell, wie sie sie empfangen. Eure Pumas sind keine große Hilfe, wenn ihre Wunden nicht ebenso schnell heilen." "Ja", sagte Matt nachdenklich. "Ich lass' mir aber lieber etwas einfallen, um die Hunde von uns fernzuhalten. Dieser Steinring ist im Grund als Verteidigungsbau sehr geeignet." "Ja, wenn wir irgendwie die Lücken zwischen den Pfeilern schließen könnten. Aber die sind groß, Lord Magier." Matt nickte. Er brauchte so etwas wie ein Kraftfeld - was auch immer das sein mochte -, um den Zugang zu verwehren und einen Ausgang zu gewähren. Das war natürlich unmöglich... Moment mal! Maxwell hatte einen hypothetischen Dämonen vorgeschlagen, der eine submikroskopische Tür öffnen konnte, um nur schnell bewegliche Luftmoleküle einzulassen. Das war natürlich Magie, keine Naturwissenschaft. Aber hier funktionierte doch Magie! "_Um die Kräfte zu ergründen, mußte Maxwell Hilfe finden. Er hat die Größe vom Atom, komm zu mir, Maxwells Wärmedämon!"_ "Ein _Dämon_!" rief Sir Guy. "Magier, habt Ihr den Verstand..." Ein Knall wie ein Pistolenschuß ertönte. Dann erschien ein unendlich kleiner Lichtpunkt, der so hell war, daß man ihn nicht direkt anschauen konnte. Er schwebte über Matts Hand. Dann füllte ein singendes Summen die Nachtluft. "Wer ruft den Geist der Perversität?" "Magier, Ihr seid dem Bösen anheimgefallen!" Voll Panik trat Sir Guy zurück. Die Summstimme knallte wie die Fehlzündung einer Zündkerze. "Was für einen Idioten haben wir denn hier? Wenn jemand den Unterschied zwischen Perversion und Perversität nicht kennt, ist er nie und nimmer wert, sich zu den Lebenden zu zählen." Matts Haut kribbelte am ganzen Körper. Vorsicht war geboten! Der Geist war womöglich durch und durch amoralisch. Der Name, den er sich gegeben hatte, erlaubte keine Hinweise. "Bitte, Geist. Ich war es, der dich herbeirief - falls du der bist, den ich rief." Das Summen wurde fast unhörbar. "Erkläre das, wenn dein Verstand dazu ausreicht!" "Ich rief den Geist, welcher Maxwells Theorien ausführen kann, die allen Regeln des gesunden Menschenverstands zuwiderlaufen." "Dann billigst du mir die Macht zu, das zu tun, was Menschen unmöglich erscheint?" "So sieht's aus." Matt entspannte sich etwas. Aus dem Augenwinkel sah er, wie Sayeesa fasziniert auf den Lichtpunkt starrte. Er mußte herausfinden, warum. Aber jetzt war der Dämon das wichtigste. "Man hält das für pervers." Das Summen ging zwei Tonlagen höher; aber der Dämon war immer noch vorsichtig. "Und was verstehst du unter Perversität?" "Nun..." Matt dachte kurz nach. "Finagle behauptet in seinem allgemeinen Gesetz: Die Perversität des Universums tendiert zum Maximum." "Das könnte einen Sinn ergeben." Das Summen wurde noch höher. "Aber jeder kann große Worte machen. Erkläre ihre Bedeutung!" Was wollte der Geist? Einen Leitfaden für den Kindergarten? "Nun, mehrere Kommentatoren haben weiterführende Auslegungen angeboten. Da ist Murphys Gesetz: Wenn etwas schiefgehen kann, wird es das auch." "Besser! Aber es fehlt noch etwas." "Dann ist da Gundersons Gesetz: Die am wenigsten wünschenswerte Möglichkeit wird sich immer dann aufdrängen, wenn das Resultat am frustrierendsten ist. Oder, wenn etwas kaputtgehen kann, geht es auch kaputt - und immer zum schlimmsten Zeitpunkt." "Offenbar hat es Fortschritte bei den Nachkommen Adams gegeben, seit ich das letzte Mal mit Sterblichen Berührung hatte", summte der Dämon. "Aber sprich weiter!" Matt musterte den Lichtpunkt von der Seite. "Nun, Freud schrieb, daß alle Lebenden von - wie er es nannte - einem Todeswunsch erfüllt sind. Man behauptet auch, daß die, welche unbedingt Heilige werden wollen, oft der Hölle zusteuern." "Die Menschen haben an Verständnis gewonnen. Doch ich versichere dir, daß ich nur wenig Bekanntschaft mit den Höllendienern habe. Sie hassen mich und fürchten, daß ich über sie gewisse Macht haben könnte." Matt runzelte die Stirn. "Wie das? Ach ja - weil die Hölle letzten Endes sich selbst besiegen will. Das macht sie eher pervertiert als pervers." Matt hatte sich an die ersten Worte des Dämonen erinnert. Hier müßten sie passen. "Du scheinst zu verstehen. Aber ich muß noch darüber nachdenken." Der Lichtpunkt flog von Matts Hand weg. Sayeesa folgte ihm mit den Augen. Dann fragte sie Matt: "Welche Kraft hast du uns hergeschafft?" "Nichts, was nicht schon längst hier war." Matt wandte sich rasch ab. Er wollte ihr nicht ins Gesicht sehen. "Ein äußerst gelehrtes Streitgespräch, Lord Magier." Sir Guy sah ihn zweifelnd an. "Aber was ist der Sinn? Das Universum kann nicht pervers sein. Es hat weder Verstand noch Gedanken." "Ja, ja! Antworte darauf, schnell!" Der Dämon schwebte wieder neben Matt. "Natürlich kann das Universum nicht wirklich pervers sein", erklärte Matt. Es ärgerte ihn, erklären zu müssen, was auf der Hand lag. "Finagle sprach für Menschen - vom Standpunkt der Menschheit. Von dort aus, wo wir stehen, _sieht_ das Universum pervers _aus_." "Ach wirklich? Warum?" bohrte der Dämon nach. "Warum? Weil die Menschen von Natur aus pervers sind. Sie übertragen Perversität auf alles, das sie betrachten. Die Perversität ist in unserem Wahrnehmungsvermögen, nicht in dem Ding, das wir betrachten - das heißt: Sie ist in uns." "Du hast es!" Der Dämon vollführte einen hohen Sprung und sang wieder. "Du verstehst wahrhaftig den Kern meiner Natur, das heißt: Ich bin und tue das, was jenseits deines gesunden Menschenverstandes zu sein scheint. Für dich arbeite ich gern. Was soll ich tun, Sterblicher? Sag's, damit ich anfangen kann." "Und ganz ohne Fallstricke?" "Keine! Ich suche schon so lange nach einem Meister, der mich führt. Was ist Perversität ohne Führung? Was soll ich also tun?" Matt hatte das Geheul vor dem Steinring nicht aus den Ohren verloren. Als er hinblickte, zerfetzten die Hunde gerade den letzten Puma. "Errichte mir eine Mauer aus Steuergesetzen zwischen den Steinpfeilern, so daß der Ring zu einem unsichtbaren Schild wird." "Die Bedingungen sind seltsam; aber die Aufgabe widerspricht jedem Menschenverstand. Ich werde sie ausführen." Der Dämon sauste zwischen zwei Steinpfeiler, verharrte kurz und flog dann zum nächsten Zwischenraum. "Ich muß mich bei Euch entschuldigen, Magier", sagte Sir Guy. "Ihr seid nicht gestrauchelt. Ich unterschätzte auch Eure Gelehrsamkeit bei weitem, wenn Ihr dadurch die Macht über diesen Dämon erlangt." "Nur Einfluß", verbesserte Matt ihn. Der Lichtpunkt kehrte zurück. "Die Wand steht. Zwischen jedem Steinpaar sind Energien gebunden. Keiner kann hindurch, es sei denn, Ihr wollt es. Wie lautet Euer nächster Wunsch?" "Danke", sagte Matt. "Das ist genug für heute nacht." "Nicht mehr? Für so eine Kleinigkeit rief Ihr mich?" Wenn der Bau eines so ausgedehnten Kraftfeldes für den Dämonen eine Kleinigkeit war - mit welcher Macht hatte Matt sich da eingelassen? Wenn es ihm möglich gewesen wäre, hätte er den Dämonen auf der Stelle wieder vertrieben. So aber konnte er nur lächeln und sagen: "Selbstverständlich. Alles andere wäre doch zuviel gesunder Menschenverstand gewesen." Der Dämon gab sich zufrieden und flog auf die andere Seite des Steinrings. Matt wischte sich die Stirn und fragte Sir Guy: "Sollen wir einen Blick auf den Feind riskieren?" "Unbedingt." Sir Guy schlug Matt auf die Schulter. Dann gingen beide zum nächsten Steinpfeiler. Draußen herrschte absolutes Chaos. Die Höllenhunde machten einen wahrhaft höllischen Lärm bei ihren wütenden Sprüngen gegen die unsichtbare Barriere. Mit Schaum vor den Mäulern wollten sie die Menschen dahinter zerfleischen. Trotz ihrer scharfen Krallen und Zähne hielt die Wand stand, ohne daß man auch nur eine Spur ihrer Existenz bemerken konnte. Matt hörte nur gedämpft das Wutgeheul. Seltsam! Es hätte doch von oben, über die Wand kommen müssen. Doch dann stellte Matt zu seiner Begeisterung fest, daß der Schutzschild nach oben gewölbt war und eine Kuppel bildete. Der Dämon hatte ganze Arbeit geleistet. "Sie können nicht herein", bemerkte Sir Guy. "Aber wir können auch nicht hinaus. Was tun wir jetzt?" "Warten!" Matt setzte sich auf einen liegenden Stein. "Wir warten auf den Sonnenaufgang." Sir Guy nickte. "Klug gesprochen! In der Tat, Schlaf wäre das beste. Einen solch sicheren Ruheplatz hatten wir schon seit Tagen nicht mehr." Dann ging er zu seinem Pferd und nahm einen dicken Umhang herab. Diesen breitete er auf dem Boden aus und fing an, seine Rüstung abzulegen. Matt schüttelte fassungslos den Kopf. Wie konnte jemand überhaupt nur an Schlaf denken, wo einem doch die Hochstimmung dieses Ortes durch die Adern prickelte? Weiter drüben kniete Sayeesa mit gefalteten Händen neben ihrem Pferd und betete inbrünstig. Schweißperlen standen ihr auf der Stirn. Die beiden Kräfte im Ring verstärkten sowohl ihr Ringen nach dem Guten als auch ihre Neigungen zum Bösen. In welche Richtung gingen ihre Gedanken? Sie setzte daher heilige Gedanken im Gebet gegen die Versuchungen des Lasters ein - und gewann. Während Matt sie noch anschaute, entspannten sich langsam ihre Züge. Das schmerzverzerrte Gesicht wurde friedlicher. Bewundernd schüttelte er den Kopf und sah sich nach der Prinzessin um. Alisande stand im Zentrum des Rings. Ihr Augen waren vor Entzücken ganz groß, die Lippen geöffnet. Das war so gegensätzlich zu ihrer normalen Haltung, daß Matt erschrak. Besorgt ging er schnell zu ihr. "Verzeihung, Hoheit, fühlt Ihr Euch wohl?" "Einfach phantastisch wohl!" antwortete Alisande. "Was für ein schöner Ort dies ist, Lord Magier!" "Na ja, schön ist vielleicht nicht das richtige Wort." Matt schaute sich um. "Aber ich glaube, ich weiß, wie Ihr Euch fühlt. Bei mir zu Hause würde man es >high< nennen." "Nein! Schön! Das ganze letzte Jahr habe ich mich nicht so wohl gefühlt. Die Luft um mich ist erfüllt von Ruhe und Güte! Als würde ich mich in die Arme meines Vaters kuscheln, als würde" - ihre Augen standen plötzlich voll Tränen - "der liebe, gute Gott selbst auf mich herabschauen und lächeln." Was immer sie hatte - es war ansteckend. Matt hatte auf einmal das Gefühl, der Steinring sei zu einer riesigen Kirche geworden. Die Steine bildeten die mächtigen Säulen. Einige herabgestürzte Decksteine glichen Seitenaltären. Das Mondlicht überzog alle Steine mit silbernem Glanz. Alisande lachte leise. "Obgleich ich gestehen muß, daß Gott - wenn er uns dieses Obdach hier schenkte - es uns durch Euch schenkte! Ich hatte nicht gewußt, daß Ihr über Geister mit solch ungemeiner Macht herrscht. Das war mehr als hervorragend, Lord Matthew!" "Nun, es stand ja auch viel auf dem Spiel." Matt schluckte, weil er plötzlich einen Kloß im Hals hatte. "Was für ein Mann seid Ihr, daß Ihr solche Macht habt?" fragte Alisande und trat näher zu ihm. Ihr Gesicht leuchtete. Erst wollte Matt sich in einen wissenschaftlichen Vortrag flüchten. Aber dann... "Ich bin nur ein normaler Mann, Hoheit!" "Nein, Ihr seid mehr! Den Titel, welchen ich Euch verlieh, habt Ihr heute nacht hundertfach verdient!" Matt konnte nur noch ihre wunderschönen Augen sehen. Im Mondschein waren sie tiefblau und tief... Er riß sich aus ihrem Bann. "Ich muß ehrlich sein, Hoheit, ich weiß nicht, ob ich den Dämonen hätte kontrollieren können ohne die Kraft dieses Steinrings. Sie fließt durch mich hindurch, ich bin nur ein Kanal für sie." Ihr Gesicht war weich gewesen, jetzt blickte sie ihn beinahe zärtlich an. "Ja, dieser Ring leiht Euch seine Kraft - weil Ihr im Grunde ein sehr guter, aufrechter Mann seid." Matt spürte, daß Gefahr drohte. Die Situation wurde brandheiß. "Nun... ja", sagte er langsam. "Von ein paar Ausrutschern des Fleisches abgesehen..." "Ja." Sie lachte tief und kehlig. "Aber hier seid Ihr dagegen gefeit. Hier kann Euch kein Laster berühren, wo jede Erdkrume und jedes Teilchen der Luft mir Güte und Ordnung zurufen. Ach!" Sie drehte sich und tanzte ein paar Schritte. "Ich könnte singen und jubilieren vor Freude! Mein Körper bebt mit jeder Faser und sehnt sich danach, Gutes zu tun!" Sie schaute ihn an. "Fühlt auch Ihr so, Lord Matthew?" "Ja, im Augenblick - ja!" Sein Blick haftete wie gebannt an ihr. Da warf sie den Kopf zurück und blickte ihn schelmisch an. Dann drehte sie sich wieder lachend im Kreis. "Ich habe im vergangenen Jahr kein Glück kennengelernt - und jetzt fühle ich die Glückseligkeit eines ganzen Jahres in einer Minute." Wieder wirbelte sie außer sich vor Glück herum. Matt verfolgte jede Bewegung. Ihr geschmeidiger Körper zeichnete sich unter dem schwingenden Gewand deutlich ab. Endlich sank sie auf die Knie und faltete die Hände. Dann legte sie den Kopf weit zurück und schloß die Augen im Gebet. Der Tanz im Mondlicht war vorüber. Während Matt sie bewundernd anschaute, verebbte langsam die Erregung in seinem Körper. Wie friedlich sah ihr Gesicht aus, umrahmt von wirren Goldlocken. Dann stand sie auf und ging langsam zu ihm. Ihre Augen blitzten immer noch freudig erregt. Eine Brise wehte das Gewand nach hinten, so daß ihre üppige Weiblichkeit Matt wie ein Peitschenschlag traf. Heiße Leidenschaft wallte in ihm auf. Er ging ihr schnell entgegen und streckte schon die Hand aus. _Lust_! schrie der Monitor in seinem Gehirn, und Matt war sich wieder bewußt, daß jedes Laster, dem er sich hier hingab, die Kräfte des Bösen in diesen Steinen freisetzen würde. Sie konnten dann seine Gedanken in eine geballte Masse von Verderbtheit formen. Er blieb stehen. Sie hatte seine Hand ergriffen. Als er ihre Finger zwischen seinen spürte, durchfuhr es ihn wie ein elektrischer Schlag. Auch Alisande war eine Sekunde lang ernst. Dann blickte sie ihn an. In ihren Augen war mehr als nur Freundschaft. "Ihr hattet mich kurz erschreckt, Lord Matthew!" Sie senkte den Kopf, schaute ihm aber durch die Wimpern in die Augen. "Sehr galant war das aber nicht!" Matt kämpfte gegen das Trommeln seiner Nerven an. "Ich bin froh, Euch so glücklich zu sehen, Hoheit." "Ihr habt mich eben nie so gesehen." Ihr Gesicht war ernst, "Ihr traft mich in trauriger Zeit, doch dieser wunderbare Ring vertreibt meine Trauer." "Ja, das tut er!" stieß Matt hervor. Wieder flammte Begehren in ihm auf. Sie sah es in seinen Augen und ließ seine Hand los. Dann trat sie zurück und versteckte ihre Hände auf dem Rücken. "Lord Matthew... es tut mir aufrichtig leid... ich habe nicht gewollt..." "Nein", sagte er und rang nach Fassung. "Natürlich nicht." Verwirrt wandte sie sich ab. "Eine Prinzessin darf nicht an Liebe denken. Sie heiratet aus Gründen der Staatsraison. Als ich aufwuchs, verhärtete ich mein Herz, und ich lernte, nicht Männer und Frauen um mich zu sehen, sondern nur Menschen. Ich vermied immer, das Auge eines Mannes auf mich zu ziehen - bis heute nacht. Das bereue ich." "Ich nicht! Keinen Augenblick, Prinzessin. Und ich bin immer noch unversehrt." "Ja, das seid Ihr", sagte sie ernst. "Ich glaube, Lord Matthew, ich beginne zu ahnen, welche Stärke das erfordert." Matt war von diesem Kompliment völlig überrascht. Dann richtete sie sich auf. Jeder Zoll wieder die Königin. Sie reichte ihm die Hand. Jetzt stand in ihren Augen nur Freundschaft. "Ich danke Euch für diese Stärke, Lord Magier. Ich glaube nämlich, Ihr hättet meine Ausgelassenheit heute nacht gegen mich benutzen können." "Ja", sagte er leise und verfluchte seine edle Zurückhaltung. _Idiot! Schwachkopf! Du hast deine Chance vertan_! Alisande fügte noch leise hinzu: "Aber ich danke Euch, daß Ihr mich fühlen ließet, daß auch ich eine Frau bin. Ich bin nämlich so eitel anzunehmen, Euer Benehmen war ehrlich." "Oh, das war es! Glaubt mir!" Sie lachte kurz. Dann war sie wieder ernst. "Ich glaube Euch, aber jetzt müssen wir zu den anderen und unser Rasenbett aufsuchen. Nur eins noch: Wenn Ihr hier in Versuchung wart, dann wißt, daß auch ich es war - wie sehr, könnt Ihr gar nicht ahnen." "Vielleicht doch; " Matt schluckte, "Es wird eine kalte und einsame Nacht." "Das glaube ich nicht." Sie strahlte wieder. "Ich habe warme und tröstliche Träume - denn nun weiß ich, daß ich eine Frau bin." Scheu beugte sie sich vor und berührte seine Wange. Dann war sie schon davongeglitten. Matt seufzte. Er wollte sich noch mal über seine Selbstbeherrschung ärgern, konnte es aber nicht. Statt dessen war er angenehm stolz auf sich. "Was machst du, Magier?" Der Lichtpunkt schwebte neben ihm. "Hallo, Max." "Max?" fragte der Dämon mißtrauisch. "Wie kommst du auf diesen Blödsinn?" "Weiber!" sagte Matt und grinste. "Ich werde sie nie verstehen." "Wieso nicht? Sie können doch nicht sehr verschieden von dir sein. Schließlich gehören sie zu deiner Spezies." "O Mann! Das ist eine irrige Auffassung." Matt setzte sich auf einen Felsen. "Es gibt da gewisse Unterschiede zu ihnen, Max, und noch mehr in unseren Beziehungen mit ihnen." "Ach, wirklich?" Der Dämon war sehr interessiert. "Das mußt du mir erklären, Magier!" "Soweit ich kann, gern." Matt lächelte. "Nehmen wir zum Beispiel Alisande. Sie ist eine Prinzessin, verstehst du, und ich ein Mann aus dem Volk - allerdings ein recht interessanter Mann. Verstehst du..." Der Dämon verstand nichts. Matt erklärte ihm lang und breit alle Komplikationen dieser Situation, so weit er sie selbst überblickte. Nach einer Stunde erklärte der Dämon: "Ich hatte recht. Du verstehst Perversität wirklich." *Kapitel 14* "Aufwachen!" Matt schob die Hand weg und rollte sich auf den Rücken. "Sir Guy, es ist noch zu früh." Der Ritter zeigte zum Himmel. Matt sah, daß dieser schon hell wurde. Die Höllenhunde liefen immer noch gegen das Kraftfeld Amok. Ihre Wut und ihre Kräfte hatten nicht im mindesten nachgelassen. "Bei Sonnenaufgang werden sie fliehen", erklärte der Ritter. "Aber wir müssen dann auch bereit sein loszureiten, um bei Tageslicht so viele Meilen wie möglich zurückzulegen." Matt nickte. "Dann müssen wir früh aufbrechen." Er stand auf und half Sir Guy, die Prinzessin und Sayeesa zu wecken. Sie aßen im Stehen etwas Brot und sahen zu, wie die Hunde im Osten an der unsichtbaren Wand zwischen den Steinen ihre Wut ausließen. Der Himmel färbte sich rosig. Sie stiegen auf und ritten ins Zentrum des Rings. Da brach eine leuchtend rote Linie über den Horizont. Scharlachrote Strahlen drangen durch die Steinbogen im Osten. Die Hundemeute heulte noch wütender auf und floh dann über die Ebene. Aber sie waren zu lange geblieben. Ihre Gestalten wurden dünner, durchsichtig und dann... "Weg." Matt atmete tief und erleichtert aus. "Zurück an den lichtlosen Ort, von dem sie stammen." Sir Guy nickte entschlossen. "Laßt uns reiten!" Sie ritten davon. Die Morgensonne im Rücken verließen sie den Ring - recht zögernd, bis auf Sayeesa. Sie seufzte befreit auf, als sie zwischen den steinernen Pfeilern hindurchritt. Sie ritten nach Westen. Alisande hielt sich neben Sayeesa und plauderte mit ihr. Ganz ohne königliche Würde gab sie sich wie eine junge Frau, die sich gern unterhalten wollte. Anfangs war Sayeesa noch befangen, doch taute sie schnell auf. Matt versuchte, den Blick der Prinzessin zu erhaschen, aber sie wich ihm aus. Endlich gelang es ihm am späten Vormittag, bei einer langsameren Gangart an ihre Seite zu reiten. "Guten Morgen, Hoheit." "Guten Morgen." Sie hielt den Kopf hocherhoben und schaute ihm nicht in die Augen. "Lord Magier, ich muß Euch bitten, die Worte zu vergessen, welche wir gestern wechselten. Ihr versteht sicher, daß alles vom Steinring herrührte. Ich war nicht ich selbst." Das tat weh! Es bohrte und schmerzte, bis der Ärger aus ihm herausbrach. "Aber selbstverständlich - ich hätte dieses Bedauern heute morgen erwarten sollen! Schließlich fühltet Ihr Euch ja noch nie zuvor als Frau!" Ihr Kopf zuckte, als hätte er sie geschlagen. Empörung funkelte in ihren Augen - doch darunter sah er auch Schmerz. "Ich danke Euch für diese Belehrung, Lord Magier", sagte sie eisig. "Ich versichere Euch, daß ich meine Lektion gelernt habe - und nie wieder das Risiko eines persönlichen Gespräches eingehen werde." Mit der Würde eines Gletschers ritt sie davon. Matt fluchte vor sich hin. Da summte ein Lichtpunkt neben ihm. "Du verstehst vielleicht Perversität, Magier - aber verhindern kannst du sie nicht." "Ach, schwirr ab!" fuhr Matt ihn an. Am späten Nachmittag hatten sie die Ebene hinter sich gelassen und waren in einer hügeligen Gegend. Sir Guy war bester Laune. "Heute nacht wird es uns nicht an einem Obdach fehlen, dem Himmel sei Dank! Wir werden hervorragend untergebracht sein - im Kloster vom Heiligen Moncaire!" "Moncaire? Hardishanes Kriegsmagier? Was für Mönche leben in _seinem_ Haus?" "Ein Kriegerorden." Wehmütig blickte Sir Guy in die Ferne. "Wertvolle Männer, haben sich heiligen Orden und den Waffen verschworen und widmen sich dem Schutz der Hilflosen gegen die Bösen. Seit Jahren halten sie sich mit Fasten, Exerzieren und Märschen in Bereitschaft, als würde der Zeitpunkt, an dem man sie braucht, schon morgen sein." "Und morgen ist jetzt", bemerkte Matt. "Aber ist das nicht eine seltsame Beschäftigung für einen Mönch, Sir Guy?" Der Ritter schüttelte den Kopf. "Wichtig ist, gegen _wen_ man zu Felde zieht, Lord Magier." "Malingo." Matt nickte. "Ich vergesse immer wieder, daß es in diesem Universum möglich ist, die Guten von den Bösen klar zu unterscheiden - und das ohne viel Rationalisieren. Dann wollen wir uns dieses Kloster mal ansehen." Da stand das Kloster - und auch eine Armee! Es war ein ziemlich bunt zusammengewürfelter Haufen. Die einzelnen Gruppen waren durch einheitliche Uniformen kenntlich. Sie umringten das Kloster an allen vier Seiten. Sir Guy stieß einen langgezogenen Pfiff aus. "Man hat uns erwartet!" "Das ist das Heer des Bösen", bestätigte Alisande. Matt dachte mit gerunzelter Stirn nach. "Wie weit sind wir von den Bergen entfernt?" "Zwei Tagesritte", antwortete Alisande. "Können wir außen herumreiten?" fragte Sayeesa. "Können wir", erklärte Sir Guy. "Aber dann sind wir in der Nacht weit entfernt von jeder menschlichen Behausung." "Nein!" Matt schüttelte entschieden den Kopf. "Diesmal finden wir vielleicht nicht so ein günstiges Stonehenge. Und ich hege den finsteren Verdacht, daß Malingo noch einige Höllenhunde übrig hat." "Dann gehen wir hinein." Alisandes Schwert zischte aus der Scheide. "Kommt! Wir werden uns den Weg zu diesen Mauern freikämpfen oder sterben; aber dann bringen unsere Klingen noch einen Teil der Ernte des Bösen um uns ein." "Äußerst löblich." Matt legte die Hand auf Alisandes Arm. "Doch ich ziehe es vor, nicht zu sterben. Es gibt noch einen besseren Weg. Max!" "Ja, Magier?" Schon schwebte der Lichtpunkt über ihm. Unwillkürlich wichen Alisande und der Schwarze Ritter zurück. Auch der Hengst wurde unruhig. Matt achtete nicht darauf. "Erstreckt sich deine Macht auch auf Zeit, Max?" "Dinge bewegen sich in der Zeit ebenso wie im Raum. Dabei wird Energie verbraucht. Und wo sie verbraucht wird, kann ich sie sammeln. Das ist mein Fach." Matt holte tief Luft. Diesmal war er sich der Worte sicher: "_Laß morgen und morgen und morgen in zähem Sud zusammenfließen und der Zeit Einhalt gebieten!"_ Der Lichtpunkt verlöschte. Matt setzte sich fester in den Sattel und bedeutete den anderen, vorwärts zu reiten. Im Trab ritten sie den Hügel hinunter und gelangten in den Rücken einer seltsam stillen Armee. Alle - Soldaten und Tiere - standen da, erstarrt mitten in der Bewegung. "Was ist geschehen, Lord Magier?" Alisandes Stimme klang verängstigt. "Habt Ihr und dieser Dämon die gesamte Armee zu Tode frieren lassen?" "Nein, Hoheit. Sie sind nicht tot, nur in der Zeit erstarrt. Es kann bis zu einem Tag dauern, um einmal zu blinzeln." Auch Matt schauderte bei diesem Anblick. "Aber berührt nichts. Sie bewegen sich so langsam, daß jeder wie ein starrer Granitfelsen wirkt." Ganz vorsichtig ritten sie weiter. Sie hatten schon beinahe die Klostermauer erreicht, als sich die ersten Soldaten wieder regten. Anfangs nur langsam, doch dann immer schneller. "Der Bann ist gebrochen!" rief Matt. "Reitet, ohne Rücksicht auf irgend etwas!" Die Pferde preschten dahin, als sich ihnen eine Gestalt in mitternachtsblauer Robe entgegenstellte und mit den Händen seltsame Figuren in der Luft beschrieb. "Schneller!" rief Matt. "Da ist ein Zauberer mit dem bösen Blick!" Das Stöhnen der erwachenden Soldaten ging in wütendes Gebrüll über. Von allen Seiten drohten Piken. Sir Guy kämpfte wie ein Wilder und bahnte sich einen Weg. Auch Matt setzte seine Klinge ein. Der Arm des Zauberers schwang in hohem Bogen nieder. Dann streckte er den Zeigefinger gegen Matt und seine Gefährten. "Kämpft!" rief Alisande. "Sie sind nicht länger hilflos!" Überrascht drehte Matt sich zu ihr um. Ihre Stimme war tiefer, heiserer geworden. Sie war auch dicker, und vor seinen Augen gruben sich Falten in ihr Gesicht. Dann färbte sich das Haar silbern. "Ihr altert!" schrie Matt und schaute zu Sir Guy. Der Ritter kämpfte immer noch verbissen, doch verloren seine Schläge an Kraft. Matt hob die Hand hoch. Die Knöchel waren steifer. Dicke Venen und Runzeln. "Er hat uns verhext! Wir altern in Sekundenschnelle. Max!" "Ja, Magier?" Der Dämon tanzte vor ihm. "Mach uns jünger, schnell! Zurück zu unserem natürlichen Alter! Der Zauberer da drüben hat die Zeit beschleunigt!" "Dann werde ich sie zurückdrehen." Der Dämon kicherte. "Welche Worte gibst du mir?" "Vorwärts zum Gestern! Dreh zurück die Zeiger der Zeit! Ich habe das Mandat des Volkes! Und wenn du schon dabei bist - nimm dem Zauberer die Macht!" "Ich fliege, ich fliege", sang der Dämon und explodierte in eine Flammenwand, um etwas Platz zu schaffen. Schreiend sprangen die Soldaten weg und versuchten die brennenden Uniformen auszuschlagen. Matt spürte, wie seine Gelenke wieder geschmeidig wurden. Auch die Runzeln verschwanden. Da tönte ein verzweifelter Schrei über das Schlachtfeld. Matt reckte den Hals. Der Zauberer sank zu Boden. Max hatte ihm die Macht genommen - jegliche Kraft. Da stach eine Pike auf Matts Augen zu. Er wich aus, so daß sie ihn nur an der Schulter erwischte. Matt stieß einen Schmerzenschrei aus und schlug mit dem Schwert zu. Die Pike flog davon, doch zwei weitere kamen. Er schwang sein Schwert wie eine Sense und erntete Köpfe. "Hoheit! Laßt das Tor öffnen!" "Verstanden!" rief Alisande. Der Dämon schaffte ihr mit seinem Feuer Platz, als sie vorwärtspreschte. Sayeesa blieb zwischen Sir Guy und Matt. Alisande wölbte die Hände vor dem Mund und rief: "Freunde! öffnet das Tor!" Matt hörte ein Kommando. Dann nagelten Bolzen der Armbrüste auf sie nieder. Soldaten schrien und fielen übereinander. Ein Ritter trieb seine Mannen mit der Klinge wieder an, als sie dem nächsten Hagel zu entfliehen suchten. "Wer begehrt Zutritt?" rief eine Baßstimme herab. Alisandes Züge wurden hart. "Alisande, Prinzessin von Merovence, befiehlt Euch zu öffnen!" Der Bassist stieß einen überraschten, aber durchaus frommen Fluch aus. Dann schwangen die riesigen Torflügel auf. Aufheulend stürzten die Belagerer vor. Doch wurden sie sogleich von den Armbrustern zurückgetrieben. Alisande galoppierte durchs Tor, gefolgt von Sayeesa. Sir Guy wendete sein Roß nach außen. Matt tat es ihm gleich. So bewegten sich die beiden Männer rücklings zum Tor. Dabei mähten sie rechts und links die Feinde nieder. Matt bewunderte Sir Guys Ausdauer. Er hatte das Gefühl, daß sein Arm gleich abfallen würde. Im Torbogen machte Sir Guy kehrt und galoppierte ins Kloster. Matt köpfte noch drei Feinde. Dann rief er: "Max! Flambé!" Der Dämon legte einen zehn Fuß großen Halbkreis vor das Tor. Während die Soldaten vor den Flammen schreiend zurückwichen, wendete auch Matt und preschte in den Hof. Sofort schlossen sich die schweren Torflügel. Der dicke Riegel wurde vorgelegt. Die Feinde heulten vor Enttäuschung laut auf. Matt sank im Sattel zusammen. Jetzt konnten sie ruhig einen Rammbock bringen. Seine Gruppe war in Sicherheit. "Wo ist sie, die behauptet, Prinzessin von Merovence zu sein?" rief die Baßstimme von oben. Eine schwere Gestalt in voller Rüstung stieg vom Mauerwall. Auf der Brustplatte prunkte ein leuchtend grünes Kreuz. Der Umhang im selben Grün, mit Goldborte umsäumt, flatterte im Wind hinterher. "Lord Abt!" rief Sir Guy freudig, und salutierte mit dem Schwert. "Ich grüße Euch in einer dunklen Stunde." "Wer spricht so?" Der große Ritter öffnete das Visier. Matt sah einen großen Schnurrbart. Auch Sir Guy klappte sein Visier auf. Da verzog sich das Gesicht zu einem Lächeln. Die Augen strahlten warm. "Sir Guy Losobal! Es ist lang her, seit wir uns zum letztenmal begegneten! Seid Ihr gekommen, um uns in diesen Zeiten der Not beizustehen?" "Nein, Lord Abt. Wir sind gekommen, um Asyl von einem Gotteshaus zu erbitten. Und was die betrifft, welche wir beschützen - nun, seht selbst! Gibt es einen Zweifel über ihre Herkunft?" Der Abt musterte Alisande aufmerksam. "Nein, in der Tat nicht!" stieß er hervor. "Ihre Herkunft ist ihr ins Gesicht geschrieben." Matt war erstaunt, wie schnell sich ein so großer Mann bewegen konnte. In Sekundenschnelle war er die Stufen herab und kniete vor Alisande. "Ihr ehrt unser Haus, Hoheit! Ihr flößt Mut in die Herzen Eurer treuesten Gefolgsleute in der dunkelsten aller Stunden! Vergebt meine vorschnellen Zweifel!" "Eure Vorsicht war sehr begründet, Lord Abt." Hochaufgerichtet saß Alisande im Sattel und entfaltete ihr Königtum wie riesige Schwingen. "Dank und Lob einer Prinzessin an Euch und die Euren, welche gegen alle Hoffnung ausharrten." "Das taten wir immer und werden wir auch in Zukunft tun", antwortete der Abt und erhob sich. "Doch kämpften wir kleinmütig, da wir unsere Sache als verloren betrachteten. Nun aber wissen wir, daß Ihr lebt und frei seid! Mögen sie ruhig gegen unser Tor anrennen! Wir werden ihnen mit ihren eigenen Schwertern die Gräber ausheben." Alisande strahlte. "Wie gesegnet bin ich doch, solche Vasallen zu haben! Doch ich vergesse ganz die Etikette. Lord Abt, darf ich Euch meine Gefährten vorstellen?" Sie zeigte auf Sayeesa. "Eine reuige Sünderin auf dem Weg zum Konvent der heiligen Cynestria." Der Abt musterte Sayeesa ablehnend. "Frauen dürfen diesen Bezirk eigentlich nicht betreten, doch ist jede Gefährtin Eurer Hoheit uns willkommen. Dennoch muß ich Euch bitten, mit dem Gästehaus im Ostturm vorliebzunehmen, Milady." "Eure Güte beschämt mich." Sayeesa senkte den Kopf. "Doch ist solche Höflichkeit nicht angebracht. Ich bin von niederer Geburt." "Deine Worte widersprechen dem", sagte der Abt und runzelte die Stirn. "Wie dem auch sei! Wir bieten dir Obdach, so gut wir vermögen." Dann musterte er Matt. "Und dieser, Hoheit?" "Dies ist Matthew, Lord Magier von Merovence", erklärte Alisande laut. Überrascht blickte der Abt auf. "Lord Magier! Ihr wagt dies öffentlich kundzutun, obgleich der böse Zauberer des Usurpators diesen Titel beansprucht?" "Tue ich", sagte Matt. "Ich habe noch ein As im Ärmel." "Ein As?" Der Abt schaute fragend zur Prinzessin. "Wovon spricht er?" "Auch ich hörte dieses Wort noch nie", antwortete sie. "Er ist ein großer Gelehrter, Lord Abt, und vieles, was er sagt, ist sehr seltsam. Doch glaube ich, daß er von dem winzigen Lichtpunkt spricht, welchen er" - sie zögerte - "einen Dämon nennt." "Ich versichere Euch, Lord Abt, daß er keiner der Höllendiener ist", fügte Matt schnell hinzu. "Wie könnte das sein?" grollte der Abt. "Ein Dämon, und nicht aus der Hölle?" "Nun, das ist nur so ein Aufkleber, den man ihm gegeben hat. Hauptsächlich wohl, weil er Hitze produziert und kein Mensch ist." "Nein, das kann nicht sein!" erklärte der Abt streng. "Niemand außer Gott kann etwas erschaffen!" "Ihr habt absolut _recht_! Aber man _kann_ die vorhandene Wärme sammeln und auf einen Punkt konzentrieren. Das tut man doch auch, wenn man Wasser zum Sieden bringt." "Nun ja, man könnte es vielleicht so sagen." Der Abt machte aber immer noch ein ablehnendes Gesicht. "Und Euer Diener verrichtet so sein Werk?" "Nicht direkt mein Diener", erklärte Matt vorsichtig. "Aber, doch - ja! Er bleibt bei mir, weil ich verstehe, wie die Menschen im Grunde selbstzerstörerisch sind." "Aha." Der Abt nickte. "Daß der Fehler nicht in der Schöpfung, sondern beim Menschen liegt. Ja, ich verstehe - Nun, wenn Euer Geist das erklärt, kann er keine Höllenbrut sein." Er holte tief Luft. "Nun denn! Wie denkt Ihr über ein warmes Mahl und guten Wein?" Die ersten fünfzehn Minuten sprach keiner. Es war die Art von Schweigen, die herrscht, wenn Hungrige einem guten Mahl ihre Anerkennung zollen. Nach zwei Pfund Braten mit Schalotten und einem Glas Wein, der jeden Burgunder übertraf, seufzte der Abt zufrieden. "Sagt mir, was habt Ihr auf Eurem Ritt vom Osten alles gesehen?" "Räuberunwesen und Gesetzlosigkeit", sagte Alisande. "Die Armen scheinen noch gut zu sein; aber mit dem Unglück geht auch die moralische Schwäche einher." Sie schaute den Abt an. "Das sollte Euch aber kaum überraschen. Ich sehe in Eurem Kloster außer Mönchen auch viele andere Farben, Lord Abt." Es _war_ ein Kloster, das mußte Matt zugeben. Gleich nach dem inneren Tor kamen die niedrigen Gebäude, die Bäckerei, Schmiede und Brauerei. Die Kirche erhob sich zwischen dem eigentlichen Klosterbau mit den Zellen, dem Refektorium und der Bibliothek. Wie bei jeder richtigen mittelalterlichen Klosteranlage fehlte auch der Obst-, Gemüse- und Heilkräutergarten nicht. Alles war umschlossen von einer mächtigen Außenmauer, mit Türmen und Wehrgang. Moncaire war eine Mischung aus Kloster und Festung. Dem entsprachen auch seine Bewohner. "Ja, viele Heerfarben, Hoheit", antwortete der Abt. "Der Herzog von Tranorr ist hier, ebenso der Herzog von Lachaise. Graf Cormann, Graf Lanell und Graf Morhaisse sind gekommen. Ferner noch die Barone Purlaine, Margonne... die Liste ist lang, Hoheit." Alisande runzelte die Stirn. "Aber diese Ländereien liegen doch bei Bordestang." Der Abt nickte. "Als der Thronräuber mit seinem Heer über sie hereinbrach, blieb ihnen nur Tod oder Flucht. Sie flohen, um anderswo für unsere Sache kämpfen zu können. Sie kamen hierher, wo die Macht Gottes die der Waffen stärkt. Außerdem kamen auch Bauern, welche durch die Kriegswirren heimatlos wurden. Wir haben viel Fußvolk und auch Ritter, deren Lehnsherren im Kampf fielen und die hier einen neuen Suzerän suchen, weil sie es ablehnten, dem Thronräuber zu dienen." "Dann habt Ihr ausreichend Leute?" fragte Alisande. "Bis jetzt schon." Das Gesicht des Abts verdüsterte sich. "Eure Anwesenheit ist ein Segen, Hoheit - jedoch auch Anlaß zu Sorge. Viele unserer Männer sind verwundet und noch mehr haben sich dem Laster ergeben. Unsere Pfeile und Bolzen werden schneller verschossen als die neuen hergestellt. In Wahrheit sind wir geschwächt. Die Belagerung dauert schon an die zwölf Monate. Bisher mußten der Thronräuber und seine Zauberer an vielen Orten gleichzeitig kämpfen. Daher lagen vor unseren Mauern nur wenig Truppen. Doch jetzt, wo Ihr hier seid, wird er zweifellos mit allen Armeen kommen und uns angreifen. Wahrscheinlich schon heute nacht." "Wollt Ihr sagen, daß wir verloren sind?" fragte Alisande. "Nein, sicher nicht." Der Abt lächelte traurig. "Aber ich bezweifle, daß wir einer Erstürmung standhalten können." "Darüber würde ich mir keine zu großen Sorgen machen, Lord Abt", sagte Matt und blickte auf den glitzernden Punkt in seiner Hand. "Ich glaube, wir schaffen es." Der Abt drehte sich zu Matt und neigte etwas zu tief den Kopf. "Ich danke Euch für diese Worte der Hoffnung, Lord Magier. Ihre Hoheit hat Eure Gelehrsamkeit gerühmt, doch nun frage ich Euch: Wieviel versteht Ihr vom Kriegshandwerk?" Eine gute Frage, wie Matt dem Dämon gegenüber zugab - später. "Wie steht's, Max? Können wir das Kloster halten? Ganz im Vertrauen." "Wirklich eine gute Frage, Lord Magier", summte das Fünkchen. "Ich habe noch nicht die Stärke deiner Zaubersprüche geeicht. Du mußt selbst wissen, wie es damit steht im Vergleich zur Stärke der feindlichen Zauberer." "Ja." Matt grinste. "Aber diesen Quacksalber hast du blitzschnell fertiggemacht." "Stimmt. Der war auch allein. Aber überschätze mich nicht, Magier. Wäre der Steinkreis gestern um einen halben Meter weiter gewesen, hätte ich keine Wand bauen können." "Hm, begrenzte Reichweite, was?" "Genau. Vergiß nicht, daß ich eine Kraft nur konzentrieren oder verflüchtigen kann. Auf kleinem Raum vermag ich sehr viel - aber nur aufgrund deiner Angaben. Vorschläge mache ich nicht." Der Blick vom Mauerkranz war nicht sehr ermutigend. Die feindlichen Armeen umgaben das Kloster wie ein menschliches Meer. Von den Hügeln kamen immer noch mehr kleinere Abteilungen. "Der Abt hatte recht", meinte Matt. "Malingo sammelt seine Truppen." Das leicht flaue Gefühl im Magen verstärkte sich. "Ich glaube, wir werden die Sonne aufgehen sehen", sagte Sir Guy. "Aber bis dahin ist noch sehr viel Zeit, Lord Magier." Die Nacht senkte sich über das Tal. Die ersten Sterne kamen heraus. Da stimmten die Belagerer ein wüstes Kriegsgeheul an. Ein Pfeilhagel ging über die Brustwehr hernieder. Die Ritter von Moncaire verkrochen sich mit ihren Verbündeten unter Schilden und ließen die Pfeile abprallen. Doch hier und dort schrie ein Mann im Todesschmerz. Mönche in braunen Kutten, über die sie Schilde gebunden hatten, liefen tapfer hin, um Verwundete zu bergen. "Das ist ein Deckungsfeuer", rief Matt Sir Guy zu. "Was wollen sie decken?" "Dort drüben!" Der Ritter zeigte hinaus. Die Infanterie marschierte mit Sturmleitern an. "Nicht zu weit schießen!" rief der Abt seinen Leuten zu. "Erst wenn der Feind näher ist. Dann sucht euch einen Mann heraus und schickt ihn auf den Rasen... Jetzt!" Auf sein Kommando hin gerieten die Fußsoldaten um die Sturmleitern in arge Bedrängnis. Eine Leiter nach der anderen schwankte und fiel in anmutigem Bogen zur Erde. Die Infanterie ergriff die Flucht. Reihenweise blieben Tote und Verwundete zurück. "Es ist hart", sagte er Abt und blickte auf die Gefallenen herab. "Die meisten wurden in die Armee gezwungen. Noch vor einem Jahr hätte ich gekämpft, sie zu retten, nicht sie zu töten. Doch jetzt muß ich sie töten oder mein Kloster aufgeben - und damit die Hoffnung des Landes." Matt streckte die Hand aus. "Wer ist das?" "Der Zauberer, der diese Horde befehligt." "Und die beiden in den dunkelgrauen Gewändern neben ihm?" "Seine Lehrlinge." Der Abt blickte Matt stirnrunzelnd an. "Was für ein Magier seid Ihr, wenn Ihr so wenig über Zauberer wißt?" "Einer, der nie Zeit für Formalitäten hatte", schoß Matt zurück. "Was brauen die denn?" Die drei Zauberer standen über einen riesigen Kessel gebeugt da, rührten darin herum und warfen ab und zu etwas hinein. Der Oberste machte mystische Handbewegungen über den Topf und sang höchstwahrscheinlich dabei. "Bösen Zauber", antwortete der Abt. "Doch habe ich davor keine große Furcht, da hier ein heiliger Ort ist. Wir müssen auf den Schutz Gottes und des heiligen Moncaire vertrauen." Ein sehr schwaches Geräusch drang an Matts Ohren. Er sah sich um. "Lord Abt! Was ist das?" "Was?" "Dies Geräusch!" "Ich höre nichts." "Ein Summen! Hört Ihr es jetzt? Es wird lauter." "Nein, ich höre..." Der Abt verstummte. Seine Augen wurden groß. Jetzt hörten es alle. Ein Surren und Summen, wie eine sechzig Hertz im Quadrat starke quadrophonische Tonwelle füllte den Himmel. Dann brach die Plage herein - wie die berühmte Heuschreckenplage in Ägypten, nur schlimmer: Mücken, Moskitos, Bienen, Bremsen schwärmten so dicht, daß man die Sterne nicht mehr sehen konnte. Fluchend sprangen die Männer von der Mauer zurück und fingen an, wild um sich zu schlagen. Die Moskitos waren klein genug, um zwischen die Ritzen der Rüstungen einzudringen. Ein Ritter riß den Helm herab. Bienen sind keine angenehme Wattierung. Da schoben sich vor Matts Augen zwei dicke Hölzer auf den Mauerkranz. "Achtung, Sturmangriff!" schrie er. Die Männer vergaßen die Insekten und zückten die Schwerter. Doch da kletterten schon die ersten Feinde in Scharen herüber. Schwerter klirrten auf Rüstungen. Männer schrien und starben, fielen rücklings hinab. Matt durchschlug einen Schild. Sein Schwert war wirklich vorzüglich. Doch nun drangen Feinde von allen Seiten auf ihn ein. Da rief jemand. "Magier, hierher! Ich schaffe Euch Platz!" Kaum hörten die Männer das Wort >Magier<, fielen sie wie eine wilde Horde über ihn her. Einen blockte er mit dem Schild ab, einen anderen mit der Breitseite des Schwertes, den in der Mitte trat er gegen das Knie, dem nächsten spaltete er den Schädel. Blut und Gehirn quollen heraus. Doch ehe Matts Magen sich zu sehr empörte, mußte er schon rechts und links die nächsten Schläge austeilen. Ein Soldat traf mit seinem Schwert direkt die Schneide von Matts Zauberklinge. Voll Entsetzen starrte er auf den Stumpf, den er noch in der Hand hielt, da seine Klinge sauber abgetrennt war. Dann floh er, vor Angst heulend, und schleuderte noch den Griff nach Matt. Dieser duckte sich, doch nicht genug. Das Heft erwischte ihn am Kopf. Sein Helm dröhnte wie ein Gong, Sterne tanzten ihm vor den Augen. Leicht benommen konnte er gerade noch den Schild hochreißen, um eine Klinge abzuwehren, welche ihm die Nase abzuschneiden drohte. Das Schwert glitt am Schild ab. Dann stach Matt zu. Der Mann fiel nach hinten. Schnell riß Matt sein Schwert heraus und rief: "Max, schaff mir Platz!" "Ja!" sang der Dämon. Flammen bildeten einen Schutzbogen über Matts Kopf zur Mauerbrüstung. Schwer atmend dachte Matt nach. Wie wird man eine Insektenplage los? Auffressen lassen! "_Insektenfresser - wißt ihr es nicht? erhalten des Lebens Gleichgewicht. Auf ihrem Weg ins Winterquartier laßt Schwalben sich ernähren hier!"_ Schrille Schreie drangen durch die Luft und übertönten das Summen. Schwarze Schwingen stürzten auf die Wehrgänge herab. Ritter und Fußvolk schrien auf und bedeckten die Gesichter. Die Verteidiger erkannten aber die Situation zuerst und nutzten ihren Vorteil sogleich. Während die Schwalben sich an den Insekten vollfraßen, entbrannte wieder ein heißer Kampf auf den Zinnen. Als der Himmel zehn Minuten später wieder sauber war, traf das auch auf die Wehrgänge zu. Verwundete stöhnten zwischen Toten. Grimmig marschierten Ritter die Zinnen entlang und versetzten den verwundeten Feinden den Todesstoß. "Die Vögel verdanken wir Euch?" fragte der Abt. Matt nickte. "Wohin sind sie geflogen?" "Zurück, um ihre Mission zu erfüllen. Nehmt Ihr keine Gefangenen?" Mit steinernem Gesicht blickte der Abt auf das Gemetzel. "Es ist bitter; aber wir haben weder Essen noch Medizin für mehr Menschen. Außerdem wissen wir nicht, wer von ihnen sich möglicherweise gegen uns stellen würde." Matt bemerkte, daß jeder Ritter zuerst ein Kreuz schlug und die Lippen im Gebet bewegte, ehe er den Feind erstach. "Was ist das, Lord Abt?" "Sie sprechen die Worte der bedingten Absolution, Lord Magier. Wenn die Männer nicht selbst die Worte der Reue für ihre Sünden sprechen können, wird ihnen so dennoch vergeben." Einige Mönche hoben Verwundete auf Bahren und schafften sie fort. "Wohin werden diese gebracht?" "In die Kirche. Dort kümmert man sich um sie, weil dort alles besser heilt. Die Heiligkeit einer Kirche schützt sie in einem derartigen Krieg am besten." "Auch verwundet wollen sie noch beten?" "Gewiß, Lord Magier. Es sind heilige Männer. Sie wissen, daß jedes Gebet dort die göttliche Gnade verstärkt, welche uns draußen Kraft gibt!" Es funktionierte. Matt spürte selbst, wie sein Körper frischer wurde. Zauberkraft prickelte in ihm. Irgendwie konnte laut der seltsamen Metaphysik dieser Welt Gebet in physische Kraft verwandelt werden. Die Kraft des Gebets war hier keine leere Phrase. "Sturmbock!" rief ein Wachtposten. Matt rannte zur Mauer und schaute hinab. Ein hölzerner Tunnel, etwa zehn Meter lang, schob sich wie ein riesiger Tausendfüßler durch die Feinde. "Da drinnen steckt die große Ramme. Der Baumstamm wird durch das Dach vor Pfeilen, Steinen und ähnlichen Dingen, die wir herabwerfen könnten, geschützt. Nun, sollen sie es versuchen! _Davor_ fürchte ich mich nicht!" "Malvoisin!" rief ein anderer Posten. Der Schreckensruf verbreitete sich schnell. "Malvoisin! Malvoisin!" Der Abt riß den Kopf hoch. Matt folgte seinem Blick. Ein 15 Meter hohes Gerüst rollte in etwa 100 Meter Entfernung heran. Es war ein Belagerungsturm, der von fünf Pferdegespannen gezogen wurde. Innen befanden sich Treppen, auf denen Soldaten erstaunlich schnell nach oben gelangen konnten und damit auf die Mauerkronen. Der Name bedeutete >böser Nachbar<, was absolut paßte. "_Das_ fürchte ich", erklärte der Abt. Er drehte sich um. "He, Bogenschützen! Tötet die Pferde! Kümmert euch nicht um den Tunnel, aber schafft die Pferde weg, die den Turm ziehen!" Die Bogenschützen schickten ihre Geschosse los; dabei riefen sie laut: "_Den heiligen Moncaire, unsern hohen Patron, bitt' ich, daß er den Feind nicht schon'!"_ Es klang gotteslästerlich; aber Matt spürte, daß sie es aus vollster Überzeugung riefen. Seine theologischen Kenntnisse reichten nicht aus, um genau zu wissen, ob ein Heiliger tatsächlich einen Pfeil segnete, welcher ausgeschickt wurde, um einen anderen Menschen zu töten. Aber es schien zu funktionieren - Magie oder Psychologie? Innerhalb von fünf Sekunden stürzten die Pferde und waren tot. Doch nun kam der Gegenangriff. Pfeile und Bolzen prasselten wieder auf die Wehrgänge herab. Verwundete schrien, braune Kutten eilten herbei und brachten sie in die Kirche. Der Verlust bei den Kämpfenden wurde durch die Zunahme der spirituellen Kraft durchs Gebet beinahe wettgemacht. Matt spürte das magische Potential in sich wachsen. Er kam sich vor wie ein Kondensator, der nur auf seine Entladung wartete. Er wußte nicht, ob er es schaffen würde, _nicht zu_ zaubern. Feindliche Fußsoldaten formten einen Schutzschild um die Pferde. Knechte befreiten die toten Tiere von den Geschirren und bemühten sich, frische einzuspannen. "Behaltet sie im Auge!" rief der Abt. "Sobald ihr eine Lücke seht, schießt!" "Der Rammbock, Lord Abt", erinnerte Sir Guy. "Was ist damit?" Der Abt warf einen Blick auf den Tunnel, der sich schon kurz vor dem Tor befand. "Sollten wir ihn jetzt nicht unter Beschuß nehmen?" fragte Sir Guy. "Nein." Der Abt fletschte die Zähne wie ein Wolf. "Laßt sie nur die Ramme schwingen!" Der Tunnel stieß jetzt mit einem dumpfen Dröhnen ans Tor. Seine Öffnung bedeckte beinahe die großen Türen. Dann erschütterte der nächste Stoß die Mauer. "Torwächter!" rief der Abt. "Haltet euch beim Riegel bereit!" Dann zählte er. "Eins... zwei..." Die Wächter rissen den schweren Eichenbalken zurück. "Fünf!" schrie der Abt. "Bereit zum Öffnen!" Die Männer stemmten sich ein und hatten die Hände an den Eisenringen. "Sechs! Ziehen!" Die Wächter rissen die Torflügel zurück. Der Baumstamm sauste herein. Mit lautem Knall rissen die Halteseile und zogen die Soldaten mit. Sie zückten feurige Schwerter. "Max!" rief Matt. "Lösch die Schwerter aus!" Die Flämmchen um die Klingen wurden schwächer und sanken in sich zusammen. Da stießen zwei Barone, fünf Ritter und zwanzig Fußsoldaten die Angreifer beiseite und stürmten durchs Tor, wobei sie rechts und links ihre Klingen tanzen ließen. Die Angreifer wurden von dieser Attacke überrascht. Als sie mit Gebrüll zum Gegenangriff übergingen, wuchteten die Männer oben auf der Mauer einen riesigen Kupferkessel hoch und schütteten kochendheißes Wasser herab. Schreiend wichen sie in den Hof aus. "Bogenschützen! Los!" befahl der Abt. Da schwirrten Pfeile und Bolzen durch die Luft, wie vorher die Insekten. Matt wandte sich von diesem Gemetzel angewidert ab. Inzwischen hatte die Ausfallabteilung gute Arbeit geleistet. Das Dach des Tunnels über dem Rammbock stand in Flammen, auch die Haltestützen glommen bereits. Die Männer hackten mit Äxten auf den Eichenstamm, die Ritter machten mit den Schwertern die Fußsoldaten nieder. In zehn Minuten war alles vorbei. Sie zogen sich zum Tor zurück, gerade als die wenigen überlebenden Angreifer herausquollen. Die Barone und ihre Männer hieben alles nieder. Nur eine Handvoll taumelte zurück in die feindlichen Linien. "Herein!" rief der Abt. Denn jetzt rückte ein Regiment zum Gegenangriff aus. Schnell wurden noch einige Verwundete geborgen, dann schlossen sich die riesigen Torflügel wieder, und der schwere Eichenriegel fiel herab. "Das sollte ihnen eine Lehre sein", brummte der Abt. Doch lag keine Freude in seinen Augen, da vor dem Tor noch viele stöhnende und tote Leiber lagen. "Feuer halten!" befahl er, als eine kleine Vorhut der Feinde den Abhang herauf stürmte. "Laßt sie ihre Verwundeten versorgen." Sie versorgten ihre Verwundeten - mit schnellen, scharfen Stichen! Der Abt zuckte mit den Schultern. "Die Schwerter ihrer Kameraden oder unsere. Was ist der Unterschied?" Doch dann schlug er das Kreuz und murmelte die Worte der bedingten Absolution. Die Unmenschlichkeit dieses Schauspiels zehrte an Matts Nerven. Er konnte die schrecklichen Bilder nicht abschütteln. "Magier", summte der Dämon neben seinem Ohr. "Ich spüre eine Kraft unter uns." "Wahrscheinlich kommen die Mönche, um die Toten zu bergen", sagte Matt. "Nein! Ich meine unter dem Boden, in der Motte unter dem Kloster." "In der Motte?" Jetzt durchfuhr Matt wieder ein Adrenalinstoß und machte ihn munter. "Suche nach Sappeuren, nach Männern, die einen Tunnel unter den Mauern in den Hof graben. Wenn du sie findest, laß die Decke über ihnen einstürzen." "Und wie soll ich das machen?" Aus dem Ton war zu hören, daß der Dämon genau Bescheid wußte und nur herausfinden wollte, ob auch Matt es wußte. "Schwäche die Bindungen zwischen den Molekülen, was sonst?" "Es gibt nur wenige Männer auf dieser Welt, die solche Dinge wissen", summte der Dämon. "Ich mache mich auf die Suche unter Tage." Damit ließ er Matt stehen. Der Dämon testete ihn, wollte seine Grenzen herausfinden. Warum? "Malvoisin!" Bei diesem Schrei blickte Matt auf. Der Belagerungsturm rollte wieder an - ohne Pferde. Männer schoben ihn an. "Was könnt Ihr dagegen tun, Lord Abt?" fragte er. "Ich kann - ho!" Nebel, Sand und eine Sturmflut aus Staub traf die Klostermauern. Matt konnte plötzlich den Abt, der kaum zehn Fuß entfernt stand, kaum noch erkennen. Die Männer schrien erschreckt auf. Dann begannen sie überall zu husten und zu niesen. "Alles schießt auf den Malvoisin!" befahl der Abt in seiner Verzweiflung. Die Bogenschützen schickten hustend und keuchend die Pfeile aus, ohne in dem dichten Staubdunst irgend etwas sehen zu können. Das war ein _echter_ Notfall! Der Feind konnte im Schutz des Sandsturms den Belagerungsturm bis zur Mauer heranschaffen und dann die Männer herüberschicken. "Setzt Eure Kräfte ein, Magier", keuchte der Abt aus dem Nichts. "Bannt diesen teuflischen Sandsturm!" Matt nickte und gab sich Mühe, die Worte zu rufen: "_Um den Staub hier zu beenden, muß der Wind die Richtung wenden. Möge er nach Westen drehen und dem Feind entgegewehen!"_ Da heulte Westwind auf. Die Männer schrien und hielten sich aneinander und überall fest, um nicht fortgeweht zu werden... Erstaunlich schnell wurde der Sandstaub weggeblasen. Matt sah eine gigantische, wirbelnde Staubwand zwischen den Klostermauern und den feindlichen Linien stehen. Das half auch nicht viel. Dahinter konnte sich der Malvoisin immer noch versteckt halten und näher gebracht werden. Ein Ritter wurde beinahe über die Brustwehr geweht. Seine Gefährten erwischten ihn gerade noch und zogen ihn zurück. "Sichert Euch!" rief der Abt. Dann wandte er sich an Matt. "Magier, das ist Euer Werk! Könnt Ihr diesen Wind wieder abblasen?" Matt schüttelte den Kopf. "Wenn ich das tue, kommt der Staub zurück. Erst nachdem die feindlichen Zauberer den Staub verschwinden lassen, kann ich den Wind zur Ruhe bringen. Welche Stunde haben wir?" "Mitternacht", rief der Abt. "Noch fünf Stunden bis zur Morgendämmerung; aber meine Männer können diesem Wind nicht standhalten." Ein Donnern, als würden tausend U-Bahnzüge einfahren, füllte das Tal. Matt rannte zur Mauer. Der Sturm preßte ihn dagegen. Er wagte einen vorsichtigen Blick. Das Donnern wurde schwächer. Doch ein großer Graben hatte sich von der Mauer direkt in die Staubmauer aufgetan. Die Erde fiel immer noch herab und riß Soldaten und Ritter mit. "Was hat das zu bedeuten, Magier?" rief Sir Guy. "Sappeure!" schrie Matt zurück. "Sie wollten einen Tunnel unter der Mauer hindurchgraben." "Aber woher wußtet Ihr..." Das Gesicht des Abts versteinerte. Er schüttelte den Kopf. "Sagt es nicht! Ich will es nicht wissen!" Der Staub wurde dünner. "Macht Eure Bogenschützen bereit, Lord Abt!" rief Matt. "Dem Feind ist klar geworden, daß er den Staub wegschaffen muß! Ich kann den Wind in der nächsten Minute aufhören lassen." Der Abt gab seine Befehle. Erleichtert rief Matt: "_Der Wind, ein mutiger Gesell den Staub half zu bekämpfen. Nun ist die Luft hier wieder hell, laß Westernwind sich dämpfen."_ Der Wind wurde schwächer und hörte auf - aber jetzt zog Nebel auf, dichter als je in London. In wenigen Sekunden hatte er die Verteidigungsanlagen so eingehüllt, daß Matt Sir Guy nicht mehr sehen konnte, obgleich dieser nur wenige Schritte entfernt stand. Alarm klingelte! Ihm lief es kalt über den Rücken. Schnell holte er ganz tief Luft und barg den Kopf in der Armbeuge, ehe der Nebel ihn völlig verschlang. Er hörte die Männer gurgelnd rufen, dann, wie ihre Körper auf die Steine fielen, Husten und Würgen, als wollten sie ihre Eingeweide herauspressen. Der Nebel war ein Giftgasangriff. Matts Atem reichte gerade noch für vier Zeilen. "_Kehr schnell zurück, brausender Freund, und schenk uns deinen Atem. Will übler Nebel uns ersticken, sollst den zum Feind hinüberschicken!"_ Dann hielt er die Luft an, bis der Westwind den Nebel auf den Feind zujagte - und den Malvoisin enthüllte, der knapp vor der Mauer stand. Ein Ritter stand oben im Eingang. Seine Knie gaben nach, als die Gasschwaden ihn erreichten. Kopfüber stürzte er herab. Dann drang das Husten der Feinde herauf. Augenblicklich wurde der Nebel dünner und verschwand sehr schnell - doch der Belagerungsturm rollte bis zur Mauer weiter. Die Rampe fiel, Pfeile schossen hervor. Schwerter klirrten, Soldaten fielen, und die Brustwehr färbte sich rot. Die Verteidiger wurden jetzt zurück zur Treppe gedrängt. Jeder Zoll kostete viel Blut. Was würde die Feinde jetzt noch aufhalten? Die meisten waren hier, weil man sie da/u gezwungen hatte. Womit könnte man sie wegbringen? Gold! Matt faßte diesen Gedanken sogleich in Worte. "_Mir ist's ein inneres Bedürfnis, beim Feind zu säen das Zerwürfnis. Für Gold - so man es sich erzähle, verkauft so mancher seine Seele. Doch Ordensrittern, mit treuem Glauben, soll dieser Spruch die Kraft nicht rauben!"_ Die Angreifer schrien in Panik auf, als jedes Stück Stahl und Eisen bei ihnen zu Gold wurde - zu purem Gold! Die Ritter und Mannen des Klosters jubelten, als ihre Klingen durch die goldenen Rüstungen so leicht schnitten wie ein Küchenmesser durch Margarine. Die Feinde drängten sich schutzsuchend zurück in den Belagerungsturm. Aber die Rampe war schmal, und zwischen ihr und der Mauer klaffte ein sechs Fuß breiter Abgrund, in den zehn oder zwanzig Mann schreiend zu Tode stürzten. Dann stießen die letzten mit Piken den Malvoisin ab. Von der Klostermauer hörte man wieder die lateinischen Worte der bedingten Absolution. Der Belagerungsturm war durch den panikartigen Rückzug sehr ins Schwanken geraten. Schreie und Flüche stiegen zum Himmel. "Was ist denn dort unten los?" fragte der Abt. "Der Feind streitet sich über das Gold. Schaut selbst!" antwortete Matt grinsend. Frische Truppen versuchten das Gold der Gefallenen an sich zu raffen und in den Belagerungsturm zu drängen. "Max!" Sofort war der Dämon da. "Ja, Magier?" "Beschleunige die Entropie dieses Dings." Matt deutete auf den hölzernen Turm. "Sofort!" Der Dämon verschwand. "Was für ein Zauberspruch war das?" fragte der Abt. "Seht selbst!" Matts Augen funkelten. Ein schweres Stöhnen und Knarren ging durch den Belagerungsturm. Dann stürzte das ganze Bauwerk in sich zusammen. Die Balken lagen nur noch als Holzstaub da. "Trockenfäule", erklärte Matt. "Beschleunigt." Unten wälzten sich die feindlichen Soldaten im Staub. "Wasser!" rief der Abt. "Wascht den Staub hinweg!" Zwei Ritter brachten einen 400-Liter-Kessel zur Brüstung. Dann rauschte das siedend heiße Wasser hinab. Die Soldaten schrien vor Schmerzen. Einigen gelang es noch davonzulaufen. "Bogenschützen", befahl der Abt. Der Pfeilregen verwandelte die unten Liegenden in Nadelkissen, während der Abt die bedingte Absolution herunterbetete. "Ein schreckliches Ende! Aber wir konnten sie nicht bei unserem Tor lassen", erklärte er. Die letzten Ritter in goldenen Rüstungen taumelten auf die eigenen Linien zu. Sofort kam es zu tumultartigen Szenen, als sich die Kameraden auf die goldenen Schwerter, Piken und Rüstungen stürzten. "Das wird eine Zeitlang dauern, bis die Ordnung dort wieder hergestellt ist." Der Abt wischte sich die Stirn. "Wir können kurz aufatmen, glaube ich. Welche Stunde haben wir, Bruder Thomas?" "Die achte der Nacht, Lord Abt", antwortete der Mönch. "Noch eine Stunde bis zur Dämmerung." Der Abt sicherte wieder seinen Helm. "Bleibt bereit, gute Ritter! Sehr viel Zeit zum Rasten werden sie uns nicht lassen." Aber zehn Minuten verstrichen, dann fünfzehn. Matt biß sich auf die Lippe. Dem Feind blieben nur noch fünfundvierzig Minuten. Was brauten sie dort unten zusammen? Die Antwort kam - nur hundert Fuß von der Mauer entfernt. Ihr Körper leuchtete in der Dunkelheit. Jedes Detail war kristallklar - um so mehr, als sie völlig nackt war. Alle Verteidiger starrten wie gebannt. Das Gesicht verschwamm etwas vor Matts Augen. Dafür war der Körper der sinnlichste, den er je gesehen hatte, und duftete förmlich nach Lust und unaussprechlichen, fast unerträglichen Liebeswonnen. Sie stand da. Dreiviertel ihres Körpers war dem Kloster zugewandt. Langes, schwarzes Haar umspielte Schulter und Brüste. Die meisten Ritter schlossen die Augen und wendeten den Kopf beiseite oder beteten laut, als wollten sie ein Wettbeten veranstalten, wer als erster mit dem Rosenkranz fertig würde. "Herr im Himmel!" schrie ein schwarzbärtiger Ritter neben Matt. "Das ist Anastaze! Aber ich erschlug sie, ehe ich hierherkam, um Buße zu tun. Gütiger Gott, was habe ich getan, um sie in den Höllenschlund zu bringen?" "Das ist nicht Eure Frau!" Der Abt packte ihn bei der Schulter. "Das ist ein Succubus, eine Buhldirne der Hölle! Mittels eines faulen Zaubers mag sie der Frau ähnlich sein, welche Ihr kanntet! Auf, geht in die Kirche! Betet! _Diesem_ Feind könnt Ihr nicht standhalten!" Der Ritter stürmte zur Treppe. "Mutter Gottes!" betete der junge Ritter. "Herr im Himmel, rette mich!" Die Augen fielen ihm dabei fast aus dem Kopf. "Warum denn?" Sir Guy schlug ihm auf die Schulter. "Seid Ihr als Jungfrau hierhergekommen? Nein, seid stolz! Das verleiht Euch in einem solchen Krieg mehr Kraft! Los, Junge, bedeckt Eure Augen und betet. Nichts ist dem Himmel näher als eine gute Frau; aber nichts ist weiter entfernt als ein solches Trugbild der Hölle." Trugbilder hätte er sagen sollen; denn jetzt paradierten viele dieser verlockenden Succubi an der Mauer entlang. Der junge Ritter begann zu beten. "Bleibt stark!" rief der Abt. "Jede widerstandene Versuchung verleiht mehr Kraft, der nächsten auch zu widerstehen." Matt schaute auf. Viele Ritter hatten es so eilig, die Treppen herunterzulaufen, daß sie stürzten. Es gab mehr Verletzte als beim letzten Angriff! Doch die meisten starrten reglos auf die Frauengestalten. Nur die Lippen murmelten Gebete. Sie warteten auf den nächsten Angriff mit halb gezückten Schwertern. Bei den Hilfstruppen war es anders. "Himmel!" stöhnte der Ritter eines Barons. "Noch nie sah ich ein so wunderschönes Weib! Komm, laß uns hingehen!" "Halt!" hielt ihn einer der Ritter des Klosters zurück. "Das sind nur böse Trugbilder!" "Dann laßt mich mit diesem Traum sterben!" rief ein Fußsoldat. "Nein, Kameraden! Seht doch diese Lippen, diese Hüften und die Locken! Welche Schönheit!" "Die muß ich haben!" rief ein anderer und lief auf den Mauerkranz zu. Es war gar nicht leicht, ihn einzufangen. Überall hörte man Schreie, Waffenklirren und Stöhnen. "Laßt mich! Ich muß sie berühren, sonst bringt mich meine Männlichkeit um!" rief ein junger Ritter und versuchte sich den kräftigen Händen der Mönche zu entwinden. "Du vergißt die dreißig Meter leeren Raumes hinter der Mauer", warnte ein Mönch. "Dann laßt mich in Ekstase sterben!" "Und in der Hölle braten", fügte der andere hinzu. "_Männer_!" Dies Wort durchdrang allen Lärm. Eine Frau hatte es mit abgrundtiefer Verachtung ausgestoßen. Verblüfft schauten die Männer auf. Sayeesa und Alisande standen am Fuß des Turmes im hellen Mondlicht. Mit abfälligen Blicken musterten sie die Ritter und Knappen. "Wie kommt es, daß jeder Mann zum Hund wird, wenn Mondschein und eine hübsche Gestalt ihm vorgegaukelt werden?" fragte Sayeesa. "Stimmt!" Alisande nickte. "Dann werden ihre Zungen dick, und sie schwitzen und sabbern wie hilflose Tölpel." "Ja, Feuer und Stahl, Pfeilen und Bolzen können sie widerstehen - aber zeig' ihnen eine nackte Frau, und sie kriechen auf dem Bauch heran, um in ihre Nähe zu kommen." Waren die Frauen verrückt geworden? Sie forderten die Soldaten ja förmlich zur Vergewaltigung auf. Matt sah sich die Gesichter der Männer an. Sie waren verärgert und düster. Doch blickten sie Alisande und Sayeesa an, nicht die Succubi. Er warf noch einen Blick auf die Prinzessin. Ihm erschienen beide Frauen wunderschön, allerdings lag die Schönheit auf ihren Gesichtern, denn ansonsten waren sie in weite Gewänder gehüllt. Keine von beiden wirkte auch nur ein bißchen sexuell anziehend. Selbst Sayeesa schien ein Kälteschild vor sich zu tragen. Wut und Verachtung leuchtete auf ihrem Gesicht; doch es war eine kalte Wut. Sie erregten Unmut, aber auch Lust. Matt erinnerte sich, daß dies Sayeesas Machtbereich war; aber er hatte nicht gewußt, daß sie Lust nicht nur erwecken, sondern auch auslöschen konnte. "Laß sie sagen, was sie wollen", schimpfte ein Mann. "Wenn ich die Wahl habe zwischen den beiden und den Weibern vor der Mauer, geh' ich nach draußen - oder hole sie rein!" Er lief zur Treppe. Ein Dutzend Männer stimmten ihm zu und rannten hinterher. Andere versuchten, die Flüchtigen wieder einzufangen. "Haltet sie auf!" rief der Abt. "Tötet sie, wenn sie zu fliehen suchen, falls nötig! Sie dürfen nicht in die Nähe des Tores!" Mit gezückten Schwertern stellten sich die Torwächter auf. "Max!" rief Matt. "Halte sie auf!" Der Dämon erschien und explodierte zu einer Flammenwand direkt vor den Flüchtigen. Der Anführer prallte zurück. Auch der Rest blieb abrupt stehen. Im Nu kam es zu einem lautstarken Handgemenge. Dann schleppte man die bewußtlosen Möchtegern-Liebhaber in einen Raum, der abgeschlossen werden konnte. "Der Zauber ist noch nicht gebrochen!" rief Sayeesa. Matt schaute überrascht auf. "Seht Ihr nicht, was dort geschieht?" Matt blickte in die von ihr gezeigte Richtung. Die Sucubi waren sehr geschäftig. Überall hörte er, wie zischend die Luft eingesaugt wurde. "Diese Männer sind gut und stark", erklärte Sayeesa. "Aber es sind auch nur Männer! Diesem Anblick können sie nicht widerstehen! Schafft das weg, Magier, sonst ist die Armee gebrochen!" "Hm - ja." Auch Matt ließ seine Augen zurückschnappen und nickte. "Du hast recht. Ja. Sicher." "_Der Staub von bösem Zaubrers Macht dem Guten nun sei zugedacht. Verhülle jetzt mit Perfektion des bösen Feindes Illusion!"_ Dichte Staubwolken quollen empor und verhüllten die verführerischen Trugbilder. Die Verteidiger auf der Mauer schüttelten sich, als kämen sie aus einer Trance heraus. "Bedeckt eure Münder!" rief Matt. "Möglich, daß der Wind den Staub auf uns zubläst." Dann fragte er Sayeesa: "Was meint Ihr, wie lang wird es dauern, bis die Zauberer was merken?" "Nicht lang", antwortete sie. "Sie geben den Zauber schnell auf, wenn er nichts mehr fruchtet." Da kratzten Sturmleitern an der Wand und Bewaffnete erschienen auf dem Mauerkranz. "Invasion!" schrie Matt. Mit freudigem Gebrüll stürzten sich die Männer auf die Angreifer. Es war eine willkommene Entladung ihrer Spannung. Die Wehrgänge verwandelten sich in ein blutiges Chaos. Immer mehr Angreifer kletterten über die Zinnen. Der Widerstand im Kloster wurde immer schwächer. "In letzter Stunde müssen wir hier noch sterben!" Die Prinzessin kämpfte direkt neben Matt. "Könnt Ihr diese Armee der Zauberer nicht vertreiben?" "Ich habe gerade darüber nachgedacht." Matt kämpfte wie ein Wilder. Er spürte in sich die spirituelle Kraft, welche immer stärker wurde, da mehr und mehr Ritter in die Kirche gebracht wurden. "_Nun mag der Staub sich wieder legen und Morgenfrische uns beleben. In klarer Luft soll jetzt ersteh 'n ein Elmsfeuer, schön anzuseh'n!"_ Der Staub löste sich langsam auf. Da begannen die Mauern des Klosters aufzuglühen. Das fahle Licht wurde so hell, daß es blendete. In abergläubischem Schrecken erstarrten die Soldaten. Einige schrien und fluchten vor Angst. "Es ist _kaltes_ Feuer", rief Matt. "Es wird den Guten nichts tun." Die Männer von Moncaire stießen einen Schrei aus und hatten ihre Disziplin wieder gefunden. "Attacke!" befahl der Abt. Den Eindringlingen blieb nur die Wahl zwischen dem Elmsfeuer und dem Tod von kaltem Stahl. Doch nun hatten die Verteidiger des Klosters die Oberhand gewonnen. Körper flogen über die Mauern. Schreiend hielten Männer sich an dem Stahl fest, der sie gebissen hatte. Es war eine Mischung aus Gemetzel und Säuberung. Matt wollte trotzdem dem Zaubergesindel keine Chance zu einem weiteren Kampf lassen. Er zitierte - leicht abgewandelt: "_Der Feind soll nun gen Osten schaun und tödlich sich erschrecken. Denn dort im hellen Morgengraun wird er den Snark_* _entdecken. Wenn aber dann das Erdenreich sich hebt in wilder Wut, war's nicht der Snark, der Gierschlund ist's, vor dem seid auf der Hut!"_ Nichts schien zu geschehen. Matt war enttäuscht. Doch dann wurde ihm klar, daß dieser Zauber etwas Zeit brauchte, ehe er wirkte. Soldaten fielen über die Sturmleitern nach unten. Bis auf die Toten und Verwundeten war der Mauerkranz beinahe frei von Feinden. Mit Freudengeschrei stießen die tapferen Verteidiger des Klosters die letzten Leitern ab. Unten trafen die Soldaten auf der Flucht auf Kameraden, welche von ihren Anführern erneut zum Kampf getrieben wurden. Es herrschte unbeschreibliches Durcheinander. Da gellte plötzlich ein schriller Schrei - Männer in totaler Panik! Etwas hatte aus der zurückliegenden feindlichen Linie einen hübschen Happen herausgebissen. Keine Leichen! Nur ein leeres Stück Feld, wo soeben noch hundert Männer gestanden hatten. Der Snark war anscheinend ein Gierschlund! Ein Riesengeschrei erhob sich unter den Feinden. Dabei vergrößerte sich der kahle Halbkreis ständig und lautlos. Doch dann stockte er. Irgendwie mußten die Zauberer es geschafft haben, den Boojum aufzuhalten, ohne genau zu wissen, wogegen sie kämpften. Matt versuchte es mit einem anderen Spruch: "_Der Wind, er wehe jetzt von Westen, soll mit Gestank die Luft verpesten. Gerüche von der schlimmsten Sorte soll'n dezimier'n des Feinds Kohorte!"_ Der Wind erhob sich, aber er trug auch den Gestank vom Lager der Feinde herauf auf die Mauern. Unten husteten und keuchten alle. "Sie sind erledigt, Magier!" summte der Funke neben Matts Schulter. "Im Augenblick ja. Es ist auch beinahe schon Tag. Trotzdem würde ich gern noch ein paar Trümpfe draufsetzen... Weißt du, was Materialermüdung bei Metall ist?" "Die unter Dauerbeanspruchung langsam nachlassende Widerstandsfähigkeit der Kristalle, bis alles beim leisesten Hauch auseinanderfällt." "Richtig! Angenommen du bringst jedes Metallstückchen des Feindes dazu, ganz plötzlich so ermüdet zu sein, hm?" "Schon erledigt!" Weg war der Dämon. Das würde alle Waffen zerstören. Zauberer konnten zwar neue blitzschnell heranschaffen, aber es gab noch andere Dinge, welchen sie nicht so schnell mit einem Gegenzauber begegnen konnten, da sie von Mikrobiologie keine Ahnung hatten. Matt dachte kurz nach, dann lächelte er: "_Zum Frühstück werden sie was essen doch es des Abends nicht vergessen. Kleine Mikroben in Fleisch und Brot, Durchfall bringt sie in große Not!"_ Zur Sicherheit fügte er noch einen zweiten Spruch hinzu: "_Der Wind hilfreich uns zur Seite stand, des Feindes Macht hat er gebannt. Nun möchten wir die Ruhe fühlen und Morgenfrische soll uns kühlen."_ Der Wind legte sich. Der Gestank blieb, doch war er auf den Mauern nur leicht störend. Beim Feind kochte und brodelte alles. Es würde eine Zeitlang dauern, dort unten wieder Ordnung herzustellen. Da schob sich der Sonnenrand über den Horizont. Aus den Klostermauern stieg ein Triumphschrei auf. Ritter umarmten sich, das Fußvolk tanzte. Der Abt schien noch größer zu werden. Auch er war mehr als erleichtert. Als sich der größte Jubel etwas gelegt hatte, stimmte er die Hymne an: "_Ehre dem Herrn, dessen ewige Macht von uns genommen hat die Nacht. Herr, wir stehen hier im Morgenrot Hast uns gerettet vor Sünde und Tod_." Einer nach dem anderen stimmte ein, bis alle im Hof und auf den Mauern lautstark sangen: "_In dieser hellen Morgenstunde strömt Dankbarkeit aus unserm Munde_. _O ew'ger Herr, ein Freudenchor schwingt sich von uns zu Dir empor_." Der Lobgesang verklang, und der Abt wischte sich die Stirn. Matt wandte den Blick wieder auf die gegnerische Armee. "Gratuliere, Lord Abt! Wir haben uns gegen das Schlimmste behauptet, was Malingo aufbieten konnte." "Das Schlimmste?" Erstaunt blickte der Abt ihn an. "Ihr habt nicht das Nachlassen bemerkt?" "Nachlassen?" Matts Euphorie verschwand. "Nein." "Es war kurz nach Mitternacht, Lord Magier. Die Angriffskraft des Feindes wurde in der dunkelsten Stunde der Nacht nicht stärker, wie ich vermutete. Ich konnte nichts Genaues sehen; doch bin ich ganz sicher, daß einige Truppen in die Berge abzogen." Matt stand still da. "Diese Attacke war zwar schlimmer als jede zuvor, doch weit schwächer, als ich befürchtet hatte", fuhr der Abt fort. "Ich hatte schreckliche Ungeheuer erwartet, grauenvolle Zaubersprüche, welche uns zu Tode erschreckt hätten. Alpträume aus dem Höllenschlund. O nein, Lord Magier - dies war bei weitem nicht Malingos voller Einsatz!" Matt schluckte. "So, hm - also nur eine kleine Übung?" "Nein, weit mehr", widersprach der Abt. "In dieser Schlacht war mehr Magie, als ich je erlebte. Ich bin sehr froh, daß Ihr hier seid, Lord Magier." Matt verneigte sich. "Ich danke Euch, Lord Abt, und bin glücklich, wenn ich für Euch von einigen Wert war." Dann überlegte er. Wenn Malingo nach Mitternacht Truppen abgezogen hatte - wohin? Und warum? Und wie würde es sein, wenn Matt gegen die gesamte Zaubermacht kämpfen mußte? Kurz bevor er in tiefer Depression versank, rief ein Posten: "Halt! Was kommt denn da?" Matt lief schnell zur Mauer. Da watschelte von den fernen Hügeln eine dicke, grüne Gestalt mit einem dunklen Punkt auf dem Rücken heran. "Stegoman!" Matt packte den Abt bei den Schultern. "Das ist ein Freund von mir! Und der Typ auf dem Rücken gehört zu Eurer Sorte! Vielleicht etwas verirrt, aber dennoch! Wenn sie es bis zum Tor schaffen, müssen wir sie einlassen!" "Schon gut, Lord Magier!" Der Abt machte sich von Matts Griff frei. "Wir lassen sie ein." Der in der Ferne winzig wirkende Drache blieb stehen. Dann stürmte er feuerspeiend durch die entsetzten Feinde. Wie ein Bulldozer bahnte er sich den Weg. Weiter vorn baute sich ein Zauberer mit ausgebreiteten Armen auf. "Max!" rief Matt. "Mach den Zauberer fertig!" "Gemacht!" sang der Dämon, ohne sich die Mühe des Erscheinens zu machen. Im nächsten Augenblick stürzte der Zauberer zu Boden. "Großartig!" rief Matt. "Jetzt schaffe Platz für meinen Freund!" Soldaten und Ritter fielen urplötzlich vor Erschöpfung um. Alle auf dem direkten Weg zum Klostertor. Stegoman spie Flammen nach rechts und links und hielt sich die Bewaffneten vom Leib, welche auf ihn zustürmten. Vor der Hitze wichen sie jedoch schnell zurück. "Ich glaube, er schafft es, heil zu uns zu gelangen!" Alisande umklammerte Matts Arm. "Nun, zumindest stehen die Chancen nicht schlecht", meinte er. "Doch was ist das?" Eine Abteilung hatte sich aus der Hauptarmee gelöst und nahm in einer Schützenlinie Aufstellung, welche gerade außerhalb der Reichweite der Pfeile von der Mauer lag. Stegoman blieb stehen und beäugte die Linie. Ein Baron rief Befehle, worauf die Bogenschützen die Pfeile einlegten. Doch da tanzte ein Lichtfunke zwischen ihnen. Die hölzernen Bogen brachen, so daß die Schützen rücklings taumelten. Andere Soldaten pflanzten ihre Piken auf. Doch schon färbten sich die blanken Metallblätter rostbraun. Stegoman brüllte und griff an. Piken brachen beim Aufprall auf der Schuppenhaut der Echse. Schwerter zerbröckelten beim ersten Schlag. Dann rannten die Soldaten schreiend vor den Feuerstößen des Drachen davon. "Er hat gesiegt!" rief die Prinzessin. "Danke, Max!" sagte Matt leise. "War mir ein Vergnügen!" summte der Funke. "Du hast einen Sinn für Ironie." Der Drache rannte in gestrecktem Galopp auf das Tor zu. Der Abt rief: "Öffnet! Er gehört zu uns!" Die Torflügel bewegten sich. Da schrien die Soldaten der Zauberer auf. Tausend Fußsoldaten stürmten auf das Tor zu, da sie noch eine Chance sahen. Zauberer liefen wild gestikulierend hinterher. "Stegoman! Feuer!" schrie Matt von oben. Der Drache blieb direkt vor dem Tor stehen und machte kehrt. Dann brüllte er. Eine drei Meter hohe Feuergarbe schoß aus seinem Maul auf die Angreifer. "Gib ihm ein bißchen Hilfestellung, Max!" sagte Matt leise. "Aber gern, Magier." Weg war der Dämon. Der nächste Feuerstoß des Drachen ging über zehn Meter. Stegoman war selbst völlig überrascht, vor allem weil er dabei auch einen Zauberer versengt hatte. Dann aber beschrieb er mit seinem Flammenwerfer einen großen Halbkreis vor dem Klostertor. Der Feind schrie und rannte zurück - jedenfalls die, welche noch zu Fuß waren. Stegoman klappte das Maul zu, machte kehrt, legte den Rückwärtsgang ein und schob sich so durchs Tor. Schnell wurde es wieder verschlossen. Aus den feindlichen Linien drang enttäuschtes Wutgeschrei herüber. Der Abt wandte sich an Matt. "Gut gemacht, Lord Magier. Gegen unser Tor können sie nichts ausrichten." "Da ist ein Priester, Lord Abt", rief ein Ritter herauf. "Er ist völlig erschöpft." "Bringt ihn herauf", befahl der Abt. "Muß er heraufkommen?" widersprach Sayeesa. "Kann er nicht von unten sprechen?" "Das halte ich für unsinnig." Der Abt verzog das Gesicht. "Habt Ihr Sir Pedigraine nicht gehört? Der Mann ist erschöpft." Keuchend erschien Brunel oben auf der Treppe. Ein Novize und ein Ritter stützten ihn. "Gott sei... gepriesen! Ich ritt... Dämon war hinter mir... hoffte... Euch zu finden!" "Willkommen, Vater!" Es war ein zweifelnder Unterton in der Stimme des Abts. Matt gab sich Mühe, herzlich zu klingen. "Wie schön, Euch wiederzusehen, Vater! Habt Ihr ein paar Mönche mobilisiert?" Brunel nickte und rang noch nach Atem. "Die Ritter vom Kreuz und... den Orden des Heiligen Conor. Und gestern ritt ich zum Konvent der heiligen Cynestria." "Zum Konvent? Was hattet _Ihr_ dort zu suchen?" rief Sayeesa. "Auch dort sind Krieger", antwortete der Priester. "Ja, und bestimmt einige bildhübsche." Matt verzog das Gesicht. "Ich glaube, das war nicht sehr weise, Vater - für Euch." Der Abt schaute die beiden erstaunt an. Brunel lächelte süßsauer. "Keine Gefahr, das versichere ich Euch. Es mag dort Schönheit geben; aber sollte ein Mann diese bemerken und dies zu erkennen geben, muß er dafür büßen - und zwar böse. Wenn man das weiß, kommt keine Lust auf." Der Abt verstand jetzt. Doch Matt wollte ihm keine Chance zu weiteren Fragen geben. "Ihr sagtet, daß Ihr nur _zum_ Konvent geritten seid. Wart Ihr auch drinnen?" "Nein, nur bis zu dem Hügel über der Ebene, welche es umgibt. Dort sah ich in der Nacht, wie sich eine Armee des Bösen gegen das Kloster sammelte." Alisande hielt sich vor Schreck die Hand vor den Mund. Der Abt stieß beinahe einen Fluch aus. "Zum...!" Nur Sayeesa lachte. "So ein törichtes Unterfangen! Wenn jemand der Höllenarmee standhalten kann, dann das Haus der heiligen Cynestria!" "Das ist in gewisser Weise wahr", meinte der Abt. "Jedoch - auch diese Frauen sind sterblich." "Wie dem auch sei", sagte Brunel und vermied es, Sayeesa anzusehen. "Es waren auch widerliche Ungeheuer dort und andere Ausgeburten von Höllenzauber. Doch als ich wegritt, auf diesem prächtigen Drachen, waren die Mauern unversehrt." "Belagerung", meinte Matt. "Um welche Stunde wart Ihr dort?" "In der fünften, kurz nach Mitternacht. Ist das von Bedeutung?" fragte er. "Allerdings!" Die Augen des Abts blitzten. "Gegen Mitternacht ließ hier der Ansturm nach." "Ihr müßt dorthin!" rief Vater Brunel. "Fragt mich nicht, warum! Ich spüre es tief in mir: Ihr selbst müßt dorthin, um zu helfen." "Das werden wir", erklärte Alisande. "Ihr habt bestimmt recht, Vater. Ich bin sicher." Damit war die Sache klar, wie Matt wußte. Dennoch... "Bei allem Respekt, Hoheit - wäre eine Armee nicht sinnvoller?" "Welche Armee?" fuhr die Prinzessin ihn an. "Die hier versammelte? So langsam, wie eine Armee aus diesen Mauern ausrücken kann! Das führt nur zu einem Gemetzel gleich vor dem Tor - vor allem, da die Krieger des Bösen den Rittern von Moncaire zahlenmäßig weit überlegen sind!" "Es ist, wie Ihre Hoheit sagt", erklärte der Abt. "Eine kleine Gruppe kann schneller reiten. Mit Schützenhilfe von den Mauern müßte sie es durch die feindlichen Linien schaffen. Das wäre für eine Armee unmöglich. Dennoch hasse ich den Gedanken, Euch ziehen zu lassen. Der Himmel mag wissen, ob wir in der vergangenen Nacht nicht gefallen wären, ohne die Hilfe dieses guten Magiers und seines... Geistes." Das Wort >Dämon< hat er nicht über die Lippen gebracht, dachte Matt. "Lord Abt, macht Euch nicht zuviel Sorgen um die nächsten Tage. Max hat eine heiße Nummer mit den Waffen und Rüstungen abgezogen und außerdem einen Mikroorganismus aufs Essen angesetzt." Der Abt blickte ihn verständnislos an. "Was bedeutet das?" "Das bedeutet, daß heute abend alles Metall bei der leisesten Berührung zerfällt." Matt grinste. "Und daß sich gleich nach dem Abendessen gewisse Wirkungen der vorherigen Mahlzeiten einstellen: Magenkrämpfe, Durchfall, Übelkeit und Fieber. Zum Kämpfen dürfte kaum einer aufgelegt sein von denen - welche überleben." Der Abt stand mit offenem Mund da. Dann schlug er Matt lachend auf die Schulter. "Ja, dann werden wir die Nacht auch ohne Euch überstehen! Ihr habt ein gutes Herz! Reitet von hinnen! Nachdem Euer Zauber seine Wirkung vollbracht hat, werden wir aufräumen und sofort nach Westen aufbrechen, um Euch im Konvent zu treffen." "Großartig!" Matt lächelte. "Und - hm, ich möchte nicht überoptimistisch klingen - aber falls die Armee nicht mehr beim Konvent ist, reitet weiter nach Westen. Es wäre schön, wenn wir uns im Gebirge wiedersehen würden, oder?" "O ja, dort brauchen wir Euch dringend", erklärte Alisande. Der Abt verneigte sich vor ihr. "Dann werden wir es so machen, Hoheit. Entweder im Konvent oder im Gebirge." "Und wir reiten jetzt sofort zum Konvent!" Alisande ging zur Treppe. Matt hätte noch auf ein paar unangenehme Tatsachen hinweisen können: daß vier Leute und ein Drache wohl kaum gegen eine Armee mit mächtigen Zauberern viel ausrichten würden; aber er wußte, wie die Antwort lauten würde. Dies war eine Staatsangelegenheit. Daher mußte Alisande recht haben! Er seufzte und folgte ihr. "Ich bin auch dafür", erklärte Sayeesa und schob ihn beiseite. "Ich kann es kaum erwarten, die Mauern des Konvents der heiligen Cynestria zu sehen!" "Ich werde auch mitkommen." Vater Brunel humpelte hinter ihr her. Doch Sayeesa wirbelte herum. Ihre Augen funkelten wutentbrannt. Da mischte sich der Abt ein. Er packte Brunel vorn über dem Brustbein. "O nein, Vater! Ihr bleibt hier bei uns. Das halte ich für besser. Ihr seid noch zu schwach, um schon wieder zu reiten." Vater Brunel wollte protestieren, doch dann sah er den Blick des Abtes und zog es vor zu schweigen. Außerdem _war_ der Abt nun mal von höherem Rang als ein einfacher Dorfpriester. Brunel schluckte und senkte die Augen. "Wie Ihr meint, Lord Abt." "So ist es!" erklärte der Abt.. "Und wenn Ihr Euch ausgeruht habt, mein guter Vater, möchte ich mich mal länger mit Euch unterhalten." Beunruhigt schaute Vater Brunel ihn an. Doch dann senkte er wieder die Augen. *Kapitel 15* Stegoman tauchte auf, als sie vor dem Tor warteten. Überrascht sagte Matt: "Du hast aber nicht viel Schlaf gehabt." "Nein, brauche ich auch nicht", antwortete der Drache. "Ich bin für die nächste Zwölfstundenjagd voll einsatzfähig. Versuch ja nicht, es mir auszureden, Magier!" "Würde mir nicht im Traum einfallen", meinte Matt. "Dann steig auf, Magier!" Matt kletterte hinauf. "Ich bin dir wirklich dankbar, Stego..." "Feuer!" rief der Abt oben. Ein Pfeilregen verdunkelte den Himmel. Die feindlichen Soldaten draußen vor dem Tor rissen ihre Schilde hoch. "Öffnet das Tor!" befahl der Abt. "Los geht's!" rief Alisande und preschte vorwärts, sobald sich die schweren Torflügel bewegten. "Laß sie nicht an die Spitze!" rief Matt. Im Nu war Stegoman am Pferd der Prinzessin vorbei. Sie stieß einen wütenden Schrei aus. Doch dann stürmte der Drache wie ein Flammenwerfer hinaus in die Hölle. Alisande, Sir Guy und Sayeesa galoppierten hinterher. Trotzdem erwischten die Zauberer sie um ein Haar. Direkt vor Stegomans Schnauze bäumte sich ein mächtiger Feuergeysir auf. Der Drache blieb so abrupt stehen, daß die anderen nur mit Mühe einen Zusammenstoß verhindern konnten. Dann stürmte das Fußvolk mit Geheul auf sie ein. Während die Prinzessin und der Schwarze Ritter ihre Schwerter tanzen ließen, löschte Max die Flammen, ließ aber den Vulkan mitten im Lager der Zauberer wieder ausbrechen. Während man dort noch mit Löschen beschäftigt war, ließ Stegoman, unterstützt von Max, eine Feuersalve auf die Feinde los, daß diese voll Panik zurückwichen und ihnen den Weg freimachten. Sir Guy zügelte sein Roß in den Schritt, als ein höherer Ausläufer der westlichen Berge den Blick aufs Kloster verdeckte. Er öffnete das Visier und wischte sich die Stirn. "Das war heiß und heftig, Lord Magier!" "Hätten b-b-leiben sollen und alles in Grund und Boden brennen", nuschelte Stegoman. Matt musterte ihn wachsam; aber er schien seine Sinne noch halbwegs beisammen zu haben. "Na ja, ein paar Kratzer haben wir abbekommen; aber wir sind raus, Sir Guy. Und das allein zählt. Wir reiten doch nach _Westen_, oder?" "Allerdings." Der Schwarze Ritter lächelte. "Der Drache ist nicht _zu_ weit abgewichen. Wir müßten noch vor Einbruch der Nacht im Konvent der heiligen Cynestria eintreffen." "Gut." Matt runzelte die Stirn. "Ich habe das unbestimmte Gefühl, daß man dort ohne uns in größte Schwierigkeiten gerät." "Nur, wenn die Armee der Belagerer dort um ein Vielfacheres übler ist als die, gegen welche wir gestern nacht kämpften", widersprach Sayeesa trotzig. "Das ist sie!" behauptete Matt. "Da gehe ich jede Wette ein. Ich habe den unschönen Verdacht, daß alles so angezettelt wurde, um sicherzustellen, _daß_ wir hinreiten, um den Frauen zu helfen. Warum würden sie sonst gerade diesen Konvent angreifen?" "Ich glaube, das hat mit unserer lieben Sayeesa zu tun", meinte Alisande nachdenklich. "Vielleicht spielt sie in diesem Krieg eine wichtigere Rolle, als wir dachten." "Ja..." Matt biß sich auf die Innenseite der Wange. "Der Priester, welcher unsere Beichten in der Kirche hörte, sagte auch etwas in dieser Richtung." "Nein! Mit Sicherheit nicht!" widersprach Sayeesa. "Ich bin von niederem Stand und eine Sünderin obendrein! Nie könnte ich wichtig werden!" "Aber der Priester sagte es", beharrte Alisande. "Und der Zauberer hat alles getan, um ihre Ankunft im Konvent zu verhindern..." "Ohne viel Glück!" ergänzte Matt. "Das verdanken wir Euch!" gab Alisande zu. "Doch hütet Euch vor falschem Stolz, Lord Magier!" Eines Tages würde sie ihm ein echtes Kompliment zollen, ohne Einschränkungen, dachte Matt. Und wenn ihr das klar werden würde, bekäme sie bestimmt einen Herzschlag. "Wenn er also ihre Ankunft im Konvent nicht verhindern kann", fuhr die Prinzessin fort. "Dann..." "...kann er den Konvent eliminieren." Matt biß die Zähne zusammen. "Sicher. Aber würde das nicht darauf hinweisen, daß es nicht um Sayeesa selbst geht, sondern um ihre Anwesenheit im Konvent?" "Das kann ich leichter glauben", sagte Sayeesa. "Und dennoch bezweifle ich, daß _ich_ die Kraft dieser eisentragenden Frauen verstärken könnte." "Vielleicht wirst du dich dort verändern", meinte Alisande. "Du wirst in eine tragende Kraft verwandelt." "Ich will davon nichts mehr hören." Sayeesa trieb ihr Pferd nach vorn. "Ich halte es durchaus für möglich", fuhr Alisande fort. "Ihr müßt wissen, Lord Magier, daß die Cynestrianerinnen als Novizinnen nur Frauen aufnehmen, die sehr schwer gesündigt haben. Daher sind alle hinter diesen Klostermauern bußfertig und überaus bestrebt zu sühnen. Tag und Nacht beten und fasten sie mit größtem Eifer. Man sagt, sie beten mit Haß und Rache - auf sich selbst." "Hmm." Matt spitzte die Lippen. "Sie könnten eine ungeheure spirituelle Kraft freisetzen. Ja, das muß so sein! Wie hätten sie sonst Malingos Armee die ganze Nacht lang abwehren können?" "_Wenn_ ihnen das gelang", warnte Alisande. "Doch liegt ihre Stärke nicht allein im Gebet. Es sind ehemalige Banditinnen unter ihnen." "Weibliche Räuber?" fragte Matt verblüfft nach. "In _dieser_ Gesellschaft?" "Unsere Art und Sitten brachten sie dazu", erklärte Alisande. "Es sind Frauen, welche sich dem Befehl eines Mannes nicht unterwerfen konnten oder wollten. Aber in einem Land wie dem unseren ist wenig Spielraum für solch unweibliche Frauen." Sir Guy nickte. "Diese Frauen sind besser als die meisten Männer. Vor ungefähr einem Jahr zog eine Bande - eine wirklich kleine Abteilung Frauen - mordend und plündernd durch diese Gegenden. Sie waren monatelang die Geißel des Westens und beherrschten das ganze Grenzland." "Fing das an, nachdem Astaulf an die Macht kam?" fragte Alisande. Sir Guy nickte. "Wie der König, so die Untertanen! Und Astaulf ist ein Bandit auf dem Thron. Als diese räuberischen Frauen unerträglich wurden, ritt die Äbtissin des Konvents der heiligen Cynestria ganz allein zu diesen Gesetzlosen. Sie hatte gelobt, die Frauen zur Buße zu bewegen oder bei dem Versuch ihr Leben zu lassen. Sie ritt in der Gewißheit, Gott würde sie beschützen gegen Frauen, die sich gegen ihre Natur gewandt hatten. Denn schließlich geziemt es dem Weibe, andere zu hüten und zu umsorgen, nicht sie auszurauben und umzubringen. Die Äbtissin ertrug geduldig alle Demütigungen und Beleidigungen, hörte jedoch nicht auf, ihnen von Christus und der Heiligen Muttergottes zu erzählen. Schließlich gab es keine einzige mehr, welche ihr widerstehen konnte und nicht bußfertig wurde." "Und so brachte sie die Frauen als reuige Sünderinnen zurück, wie sie es gelobt hatte", sagte Alisande voll Bewunderung. Sir Guy lächelte. "Allesamt! Sie traten als Postulantinnen in den Konvent ein. Wenn also die Mauern der heiligen Cynestria noch stehen, ist es das Verdienst dieser kampferprobten Frauen." Irgendwie verspürte Matt keine übertriebene Sehnsucht, diesen frommen Schwestern zu begegnen - zumindest nicht, bis sie überzeugt waren, daß er auf ihrer Seite stand. Am Nachmittag sprach er darüber mit Sir Guy. "Davon werdet Ihr sie nie überzeugen", erklärte Sir Guy. "Diese Ex-Banditinnen sind sicher, daß alle Männer sich gegen sie verschworen haben - mit Ausnahme von Christus. Deshalb verehren sie ihn so glühend. Wenn Ihr aber die Ehrwürdige Mutter überzeugen könnt, werden ihre Kriegerinnen auf Eurer Seite sein, da sie von ihr regiert werden." "Hm." Matt mußte das erst verdauen. "Nun, ich werde mir alle Mühe geben, überzeugend zu sein - das heißt aber bestimmt nicht mit Charme, oder?" "Allerdings nicht", stimmte ihm der Schwarze Ritter bei. "Sie sieht durch jedes Gesicht, das Ihr aufsetzt, hindurch auf Euer wahres Gesicht. Daher sollte dies gleich von Anfang an das sein, welches Ihr zeigt." "Ja, einfach nur ich", sagte Matt. "Nein! Euer wahres Ich!" "Was soll das heißen?" fragte Matt empört. "Ich _bin_ mein wahres Ich?" "Dann wißt Ihr auch, daß Ihr für die Prinzessin Gefühle hegt, welche über die eines Vasallen seiner Herrin gegenüber weit hinausgehen?" "Halt! Das ist nun wirklich nicht so!" "Dann ist das Gesicht, welches Ihr tragt, nicht Euer wahres. Nein, sagt nichts! Gebt diese Gefühle zu, Magier - zumindest Euch gegenüber. Dieses Versteckspiel muß aufhören." "Spiel?" Matt wurde wütend. "Was redet Ihr da! Ich spiele kein Spiel!" "Ach, wirklich nicht? Es ist schon so, wie ich sagte: Ihr wollt es Euch nicht eingestehen. Doch geht in Euch! Ich bitte Euch. Verdrängte Sehnsüchte könnten Euch schwächen - und damit uns alle gefährden." Matt fühlte, wie seine Gefühle zu einem Eisblock erstarrten. "Falls Ihr über sinnliche Begierde sprecht, Sir Guy - keine Angst! Ich bin nicht direkt heiß auf den Körper Ihrer Hoheit... Na ja, normalerweise nicht." Er erinnerte sich an ihren Tanz im Steinring; aber das war eine momentane Verirrung gewesen. Sir Guy seufzte und wandte sich kopfschüttelnd ab. "Nun denn! Ich sagte, was ich sagen mußte! Es ist mir schwer genug gefallen. Doch bitte ich Euch, meine Worte zu bedenken." Dann schnalzte er mit der Zunge und ritt davon. Matt schaute ihm nach. Die Glut der Empörung brannte in seinen Eingeweiden. Die Sonne stand schon tief, als sich die Umrisse des Konvents der heiligen Cynestria auf einem niedrigen Hügel inmitten des Tales gegen den Himmel abzeichneten. Die Klosteranlage entsprach weitgehend der von Moncaire. Beim Anblick der Belagerer wunderte Matt sich. Es waren hier nicht mehr Truppen als vor Moncaire. Aber im Belagerungsring waren einige größere Stellen frei gelassen, welche die Soldaten sorgfältig umrundeten. Wer - oder was - würde sich dort niederlassen? "Wie kommen wir hinein, Lord Magier?" fragte die Prinzessin. "Ja, das wird nicht einfach", meinte Sir Guy. "Seid vorsichtig! Ich sehe hier viele mitternachtsblaue Gewänder und eine Heerschar in Grau." "Ja, mit Magie sind sie nicht schlecht bestückt", sagte Matt. "Aber manchmal gibt's nichts Besseres als gute, altmodische Gewalt mit der Brechstange. Stegoman, kannst du Feueratem ausstoßen, ohne daß er sich entzündet?" "Wie meinst du das?" Der Drache drehte den dicken Kopf zu Matt. "Ich weiß nur, daß Wut die Flammen bringt." "Also gut! Jetzt stell dir mal vor, daß du wütend bist - aber nicht wirklich, nur so tun! Und dann atme tief aus... Ja, genau richtig." Aus dem Maul des Drachen kam ein beständiges Zischen. Die Pferde scheuten, was Matt nicht verwunderte. Er konnte auch den Geruch wahrnehmen: leicht nach Verwesung. Wahrscheinlich Methan. "Gut." Matt nickte. "Mach weiter so!" Stegoman holte tief Luft und stieß sie aus. Matt deklamierte: "_Der Feind, er soll sich nun erstaunen! Laß Ostwind in den Bäumen raunen! Mit Drachenatem gut gewürzt. Oh, wie ist der Gegner da bestürzt!"_ Die Luft geriet in Bewegung. Gleich darauf wehte eine stete Brise von hinten. Stegoman blies immer weiter. Der Wind trug die Düfte zum Feind. "Wieso werde ich nicht angeheitert?" fragte der Drache. "Das kommt nur von den Flammen", erklärte ihm Matt. Ganz stimmte das nicht; aber es würde zu lange dauern, alles über Verbrennungsrückstände zu erläutern. "Magier, wollt Ihr denn nichts tun?" fragte Alisande nervös! "Noch nicht, Hoheit. Stegoman muß zuvor noch so viel Gas herausblasen, daß die Strecke von uns bis zum Tor davon erfüllt ist." Er wünschte, er hätte eine Armbanduhr. Nach etwa zehn Minuten sagte er: "Max! Jetzt müßte es reichen und alles bis zum Tor von der entflammbaren Luft bedeckt sein, Zünde doch in der Mitte einen Funken." "Mit Freuden." Matt richtete sich im Sattel auf. "Seid Ihr bereit? "Sobald wir die erste Flamme sehen, reiten wir los." Die anderen nickten und warteten gespannt. Da loderte eine riesige Stichflamme empor. Im Nu war die Strecke zwischen Konvent und Talrand ein Flammenmeer. "Ein Triumph!" schrie Stegoman mit einer zwei Meter langen Feuergarbe. "Oh, was bist du für ein phantastischer Magier!" Matt brüllte: "Los!" Stegoman brach wie ein Bierwagen den Hang hinab. Die anderen folgten ihm. Das Feuer in der Luft war schon Sekunden später erloschen, das Methangas verflogen; aber überall hatte es organische Stoffe entzündet - Gras, Laub, Kleidung, Haare. Die Armee rannte in totalem Chaos durcheinander. Die Männer übergossen sich mit Wein oder Wasser und schrien die Zauberer an, etwas zu tun. In dieses Gewühl brach ein feuerspeiender, angetrunkener Drache. Ein Zauberer wollte noch einen Spruch loslassen, konnte aber die Arme nicht schnell genug bewegen. Da hatte Stegoman ihn schon in eine lebende Fackel verwandelt. "Hoi!" schrie Alisande und winkte zum Mauerkranz hinauf. "Öffnet das Tor! Wir suchen gastliche Zuflucht in Eurem Kloster!" Eine Gestalt in schwarzem Habit lehnte sich über die Mauerbrüstung. Der lange Schleier wehte im Wind, so daß man teilweise die weiße Haube sah. Dann verschwand sie. Gleich darauf schwangen die Torflügel langsam auf. "Kommt herein!" rief eine Stimme. Doch da war Stegoman schon halb durch den Torbogen, dicht gefolgt von den Reitern. Sie kamen in einem engen Tunnel zum Halt. In den Mauern waren Schießscharten. Vorn verschloß ein zweites schweres Tor den Zugang zum Hof. "Wer bittet um Asyl?" fragte eine harte, gebieterische Stimme, die sehr nach einer altjüngferlichen Lehrerin klang. Alisande warf das lange Blondhaar zurück. "Ich bin Alisande, Prinzessin von Merovence. Meine Gefährten sind Sir Guy Losobal, der Lord Magier Matthew und Sayeesa, eine Büßerin, welche in Euer Haus als Postulantin eintreten möchte." "Die schändliche Hexe des Hochlandes?" fragte die Stimme weiter. Die unsichtbare Sprecherin klang direkt begeistert. Sayeesa nickte. "Das war ich, ehe diese guten Menschen den schlimmen Zauber, der mich gebannt hielt, brachen und mich zu einem Priester brachten. Ich bereue meinen früheren Lebenswandel und weise Satan mit all seinen Werken zurück. Da ich meine schwache Natur kenne, erbitte ich Zuflucht hinter Euren Mauern, um meine guten Vorsätze zu verwirklichen." "Wartet!" befahl die Stimme. "Wir müssen von Antlitz zu Antlitz miteinander sprechen!" Sayeesa wartete, als stünde sie vor einer Audienz beim Kaiser. Dann ging das Tor auf, und dicke Ketten klirrten, als ein Fallgatter nach oben gezogen wurde. Dahinter warteten drei Nonnen, die größte einen Schritt vor den anderen. Sayeesa ritt schnell vor, schwang sich aus dem Sattel und sank vor der großen alten Frau auf die Knie. "Nun, was ist dein Begehr?" fragte die Äbtissin streng, doch man spürte ein gewisses Wohlwollen. Sie war groß und schlank und hatte eine schmale, gerade Nase. Das Kinn wirkte energisch, die Augen waren schwarz und durchdringend. Obwohl ihr Gesicht von zahllosen Runzeln durchzogen war, sah Matt die Spuren vergangener großer Schönheit darin. "Nun?" fragte sie nochmals. "Ich möchte bei Euch eintreten, Ehrwürdige Mutter, da ich die Berufung in mir spüre." "Kopf hoch!" befahl die alte Frau. Sayeesas Kopf schnappte hoch, als hätte jemand ihn an einer Schnur gezogen. Ihr Gesicht war demütig, voll Reue - und so einsam, wie Matt es noch nie gesehen hatte. Die Äbtissin musterte das Gesicht aufmerksam, aber ausdruckslos. "Warum denkst du, daß du berufen bist?" "Ich habe gesündigt", bekannte Sayeesa leise. "So schwer, daß alle Menschen mit einer Spur von Gewissen meinen Anblick scheuen. Ich habe gebeichtet und bereut und die Absolution empfangen. Danach wanderte ich allein und verloren dahin, voll Verzweiflung, obgleich diese guten Menschen sich meiner annahmen. Doch als ich diese Mauern erblickte, frohlockte mein Herz. Ich hatte das Gefühl, als habe mein ganzes Leben mich nur zu diesem Tor geführt." Die Äbtissin schien mit dieser Antwort halbwegs zufrieden zu sein. "Also fandest du den Ort deiner Berufung, als du unsere Mauern sahst. Aber wie kamst du überhaupt hierher?" Sayeesas Stimme war kaum hörbar. "Ich wurde geschickt." "Von wem? Sage mir mehr darüber!" Sayeesa zögerte. Die Stimme der Äbtissin wurde erstaunlich weich. "Sprich nur, Kind, fürchte dich nicht! Niemand hier wird dich verachten oder verspotten, da jede der Schwestern eine Geschichte erzählen kann, welche das Herz mit Abscheu erfüllt." Mit Tränen in den Augen schaute Sayeesa sie an. Die Äbtissin schickte die anderen Nonnen fort. Dann kniete sie vor Sayeesa nieder, nahm ihre Hände und sagte: "Nun sprich!" Mit zitternder Stimme fing Sayeesa an. Erst stockend, dann immer freier, bis sie endlich ihr ganzes Herz ausgeschüttet hatte. Mit ernster, unbeweglicher Miene lauschte die Äbtissin. Schließlich sank Sayeesa schluchzend zusammen. "Nun, nun. Das ist doch keine Schande!" Die Stimme der alten Nonne war mitfühlend. "Viele Schwestern hier würden das auch sagen. Alle Bußfertigen halten ihre Sünde für die größte und schämen sich, den Schwestern ins Gesicht zu sehen." Sie hob Sayeesas Kopf und lächelte ihr zu. "Aber Kind! Da ist doch auch falscher Stolz dabei. Das wußtest du, noch ehe ich es sagte, oder?" Sayeesa nickte, und ein Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. "Nun, obwohl deine Geschichte sehr schlimm ist, hörte ich doch schon schlimmere. Faß dir ein Herz, meine Tochter, flehe Gott um Barmherzigkeit an. Auch du kannst deine Seele retten, wie wir alle." Ihr Gesicht wurde wieder ernst. "Ein Priester erteilte dir die Absolution, und danach kamst du in Begleitung dieser guten Menschen an unsere Tür. Obgleich du auf dem Weg stark in Versuchung geführt wurdest, bliebst du doch frei von Sünde." "Aber ich kam so nahe..." "Doch du bliebst standhaft! Wie nahe du kamst, ist unwichtig. Durch deinen Widerstand wurdest du stärker. Der Priester hatte recht, dich zu uns zu senden. Ich zweifle nicht an der Aufrichtigkeit deiner Reue und daß du für eine Zeitlang diesen heiligen Ort brauchst." "Nur für eine Zeitlang?" rief Sayeesa beinahe in Panik. "Ehrwürdige Mutter! Darf ich nicht als Postulantin und später als Novizin bleiben?" "Das kann ich nicht sagen, meine Tochter", antwortete die Äbtissin freundlich. "Wollte der Himmel - ich wünschte, du könntest für immer bleiben! Denn ich spüre große Kraftreserven in dir, eine Macht, welche ich liebend gern hier hätte. Jedoch..." Ihr Blick verließ Sayeesas Gesicht und schweifte in die Ferne. "Ich spüre auch eine Schwäche, welche große Gefahr bringen könnte..." Dann erhob sie sich. "Bleibe eine Weile hier. Wir werden deine wahre Natur schon entdecken. Nun denn, geh hinein!" Die beiden Nonnen traten wieder hervor und geleiteten Sayeesa in den Konvent. Die Äbtissin wandte sich wieder Alisande zu. Die Prinzessin stieg vom Pferd. Ihr Gesicht verriet nichts, doch war ihre ganze Haltung irgendwie kampfbereit. "Eure Gegenwart ehrt unser Haus, Hoheit", sagte die Äbtissin förmlich. "Eure Anwesenheit wird heute nacht die Herzen meiner Töchter stärken." "Ich danke Euch, Ehrwürdige Mutter", antwortete Alisande etwas entspannter. "Und wie steht es mit meinen Begleitern?" Die Äbtissin streifte Matt und Sir Guy mit einem kurzen Blick, der alles andere als freundlich war. "Wenn sie zu Euch gehören, sind auch sie willkommen. Doch dürfen Männer unser Haus nicht betreten. Wir haben im Torturm ein Gemach für Gäste." Stegoman durfte im Innenhof bleiben. Man gab ihm einen dicken Fleischbrocken. Offensichtlich erstreckte sich das strikte Verbot gegenüber männlichen Wesen nur auf Menschen. Das Gästezimmer lag hoch oben. Eine lange, enge Wendeltreppe führte hinauf. Außerdem hing ein mächtiges Schloß vor der Tür, und die Äbtissin hatte den Schlüssel. Sir Guy blickte ausgesprochen unglücklich drein. "Mir mißfallen enge Räume, Lord Matthew - besonders, wenn sie abgeschlossen sind." "Ja, die Tür ist zu!" Matt lugte durchs Schlüsselloch. "Ein Pfadfinder kann dies Schloß knacken! Wenn ich das nicht schaffe, gehöre ich in eine Sonderschule." "Was?" Der Ritter blickte ihn verständnislos an. Dann ging ein Strahlen über sein Gesicht. "Ach ja! Gewiß! Wo hatte ich nur meine Gedanken! Ihr öffnet das Schloß, wenn nötig, natürlich, Lord Magier! Ihr habt mich beruhigt." "Freut mich, daß ich wenigstens zu etwas nutz bin." Matt ging zum Fenster und schaute auf die Klostermauern. Alle eineinhalb Meter stand eine Gestalt in schwarzem Habit Wache. So wie sie dastanden, erinnerten sie Matt an die Äbtissin. "Vielleicht irre ich mich, Sir Guy; aber meiner Meinung nach haben wir es hier mit einem der schlimmsten Fälle von Fanatismus zu tun, die ich je sah." "Reue hat diesen Effekt." Der Schwarze Ritter schien aus Erfahrung zu sprechen. "Vergeßt nicht, Lord Magier, daß alle Frauen in diesem Konvent von Männern tief verletzt wurden, aber auch dem anderen Geschlecht übel mitspielten. Für sie ist der Mann die Verkörperung des Teufels." Matt hob langsam den Kopf. "Verstehe. Es ist eine Sünde, seine Mitmenschen zu hassen - aber den Teufel darf man hassen und seine Diener. Prima Sublimierung!" "Viel gibt's nicht zu sublimieren", meinte Sir Guy verächtlich. "Mich wundert, daß sie Euren Drachen wegen seiner Männlichkeit und seines feurigen Atems nicht verbannten." "Weil Feuer und Hölle zusammengehören?" Matt lächelte. "Wir sind hier im Westen. Ich nehme an, die frommen Schwestern hatten schon mit Drachen zu tun, da wir in der Nähe des Drachenlandes sein müßten." "Ja, da habt Ihr recht. Und Drachen sind im Krieg starke Verbündete. Doch manchmal kommen mir bezüglich des Wertes unseres guten Stegomans Zweifel." "Ja, ein betrunkener Drache ist nicht der verläßlichste Kampfgenosse in der Welt. Es gibt zwar eine geringe Chance, ihn zu heilen, jedoch..." "Ach, in der Tat? Wie?" "Ich glaube, daß ich ziemlich genau weiß, was sein Problem ist", sagte Matt langsam. "Aber ich bin kein Experte. Wenn ich mich irren sollte, wäre er schlimmer dran als jetzt." "Aber wie kann das sein?" Sir Guy runzelte die Stirn. "Meint Ihr, seine Krankheit begann schon in der Kindheit?" "Noch früher - im Säuglingsstadium. Aus den wenigen Andeutungen, die er fallen ließ, schließe ich, daß Dracheneltern Eier legen, sie dann aber bis zum Ausschlüpfen allein lassen. Nach dem Ausschlüpfen sind die Jungen auf sich allein gestellt, bis sie ihre Eltern finden." Sir Guy nickte. "Ja! Ich hörte, daß niederträchtige Menschen diese Brut umbringen, da auch das Blut von soeben ausgeschlüpften Drachen eine überaus starke magische Wirkung hat." "Und Stegoman hat eine Macke wegen der Jäger von soeben ausgeschlüpften Jungen! Nehmen wir mal an, einer jagte ihn auf einen hochgelegenen Platz. Als er von dort hinunterfliegen wollte, waren seine Schwingen zu schwach, und er fiel aufs Maul. Die Landung tat ziemlich weh. Seither leidet er unter Höhenangst. Vielleicht griff ihn auch später jemand oder etwas hoch oben an, so daß er abstürzte und sich weh tat. Also hat er im tiefsten Innern schreckliche Angst vor dem Fliegen, weil er es für gefährlich hält. Aber das kann er sich natürlich nicht eingestehen - daher wird er beschwipst oder betrunken, wenn er fliegt. Seine Drachenfreunde müssen ihm natürlich Startverbot erteilen. Das ist zwar eine Schande, aber längst nicht so schlimm, wie ein Feigling zu sein." Matt ging wieder zum Fenster. "Gleich ist es Nacht. Sie besetzen die Wehrgänge. Da ist die Äbtissin. Und - gütiger Gott! Da ist Sayeesa!" Die Ex-Hexe ging direkt hinter der Äbtissin die Treppe hinauf. Sie trug ein einfaches, graues Gewand, mit kleinem weißen Kragen. Ein kurzer grauer Schleier verhüllte ihr Haar, dazu eine weiße Stirnbinde - der Habit einer Postulantin. Die Äbtissin breitete die Hände aus. Matt verstand ihre Worte deutlich. "Hört mich, Töchter! Wie in der vergangenen Nacht werden wir auch heute wieder mit allen bösen Mitteln angegriffen. Ihr werdet von Fieber, Krämpfen und Übelkeit geschüttelt werden. Eure Glieder werden vielleicht wie Wasser. Beulen können aufbrechen. Obwohl diese Dinge euch quälen, sind es doch nur Trugbilder! Seid in Gedanken stets bei Gott, dann werden alle diese Plagen ihre Wirkung verlieren und vergehen. Doch wenn ihr eure Gedanken und Herzen nicht rein halten könnt, legt nieder die Waffen und eilt in die Kirche zum Gebet, damit ihr diejenigen stärkt, welche auf den Mauern bleiben. Ein solcher Rückzug ist keine Schande, meine Töchter, denn ein Verweilen würde eure Mitschwestern schwächen." Sie machte eine Pause und ließ den Blick über die Gesichter schweifen. Ernst schauten die Schwestern zu ihr auf. Die Äbtissin nickte befriedigt. "Und hütet euch vor allem vor eurem größten Risiko: dem Bedürfnis, die Dinge, welche in Gestalt von Männern kommen, zu hassen!" Ein dumpfes Murmeln stieg aus dem Hof auf. Matt lief es kalt über den Rücken. Am liebsten hätte er sich in eine Nische in der Wand verkrochen. "Ihr alle habt von Männern viel erleiden müssen", fuhr die Äbtissin fort. "Haßerfüllt kamt ihr hierher, bis ihr den Haß durch Gebete stilltet. Doch dieses Gefühl kann am leichtesten wieder erwachen. Hütet euch vor den Sünden des Hasses und des Rachedurstes, denn sie sind unsere schlimmsten Versuchungen. Die Männer, welche euch Schande zufügten, waren Werkzeuge Satans und seiner Diener. Alle Wesen, welche heute nacht vielleicht gegen diese Mauern anstürmen, sind nur Diener seiner Diener. Sie sind Feinde, verdienen aber weder Haß noch Wut. Pfeile, welche ihr gegen sie ausschickt, verlieren jede Kraft, sobald sie im Haß abgeschleudert werden. Strebt danach, eure Schwestern und alle innerhalb dieser Mauern zu retten. Strebt danach, Männer vor der Versuchung zu bewahren, Frauen zu verletzen! Doch kämpft nie aus Haß oder um der Rache willen. Wenn euch das nicht möglich ist, legt die Waffen nieder und geht sofort in die Kirche!" Sir Guy stieß ein Geräusch der Verwunderung aus, als einige Nonnen mit gesenktem Haupt und laut betend in Richtung Kirche losgingen. Matt standen die Haare zu Berge. Wenn diese Nonnen nicht einmal nach dieser Predigt ohne Haß kämpfen konnten, mußte dieser Haß unsäglich brennen. Einige Nonnen kamen die Treppe herauf - Verstärkung aus der Kirche. Die Äbtissin sprach jetzt eindringlich mit Alisande und Sayeesa. Da ertönte ein Schrei von der anderen Seite der Klostermauer. Eine Nonne zeigte hinaus in die Dunkelheit. Sofort legten die Schwestern Pfeile auf die Bogensehnen. Blitzschnell liefen Matt und Sir Guy zum vorderen Fenster, von dem aus man das Tal sehen konnte. Die ersten feindlichen Linien griffen mit Sturmleitern an. Die Nonnen schienen sich keine Sorgen zu machen. Die Frauen hatten ihre Rüstungen und Waffen ins Kloster mitgebracht. Außerdem verfügten sie über einen großen Vorrat an Pfeilen und Bolzen. Aber schließlich waren sie erst seit einer Nacht belagert, nicht seit zwölf Monaten. Dreißig Nonnen schossen die Armbrüste ab, traten zurück, und dreißig neue übernahmen ihre Plätze. Danach kam die dritte Reihe dran, während die erste nachlud. "Wer diese Damen im Kriegshandwerk unterrichtete, war mehr als erfahren und kundig", meinte Sir Guy. Die feindlichen Soldaten liefen in einen Stahlhagel, sobald sie in Schußweite gerieten. Aufheulend starben sie oder flohen. Nur wenige schoben sich noch fünfzehn Meter weiter, dann sanken auch sie zu Boden. Die ehemaligen Banditinnen stießen ein Triumphgeschrei aus. "Vielleicht brauchen sie unsere Hilfe gar nicht", sagte Matt voll Hoffnung. Sir Guy widersprach. "Der Kampf hat kaum begonnen, Lord Magier." Der Feind ließ sich mit dem nächsten Akt Zeit. Dann bewegte sich langsam ein zwölf Meter langer Schutztunnel für die Ramme heran. Eine Nonne rief: "Maud! Leuchte denen da drinnen!" "Gewiß doch", schallte es fröhlich zurück. "Wir können doch keinen Tausendfüßler so nahe dulden. Kurze Drehung, Schwestern, und etwas tiefer!" Sie hatten ein kleines Katapult, das sowohl horizontal wie auch vertikal schwenkbar war. "Vorsichtig", warnte Schwester Maud. "Zielt nicht, wo er ist, sondern wo er sein wird... Jetzt!" Ein großer Felsbrocken schnellte auf das Feld hinaus. Der Hauptmann neben dem Rammbocktunnel sah ihn kommen und gab den Befehl zum Zurückweichen. Doch so schnell konnten sich die vielen Beine darunter nicht einigen. Der Felsbrocken schlug den Tunnel in zwei Hälften, worauf die Soldaten flohen. Ein schallendes Gelächter von den Klostermauern folgte ihnen. Sir Guy schüttelte bewundernd den Kopf. "Welch hervorragende Amateure!" "Amateure?" Matt schaute ihn verblüfft an. "Ich finde, diese Mädels sind Weltklasse." "Ja, doch sie haben in Verteidigung nur wenig Erfahrung. Sie wissen nicht, daß ein Katapult nur zum Angriff dient. Sie hörten nur von einer Belagerungsmaschine und stellten eine auf die Mauer im Falle einer Belagerung - und sie hatten Erfolg!" Da erscholl ein Schrei: "Ein Malvoisin! Malvoisin!" In hundertzwanzig Meter Entfernung ragte das fünfzehn Meter hohe Ungetüm im blassen Schein des Mondes auf. "Es bewegt sich nicht", bemerkte Matt. Sir Guy grinste. "Unsere mannhaften frommen Schwestern haben die Wirkung ihres Katapults bewiesen. Der Feind wagt nicht, den Belagerungsturm in Reichweite zu bringen. Was wird er jetzt tun?" Die Antwort kam schnell. Nebelschwaden zogen um die Mauern auf. "Sie wollen uns die Sicht vernebeln", rief die Äbtissin. Dann zeichnete sie mit den Händen symbolische Figuren in die Luft und sang lateinische Verse. Ob es sich um ein Gebet oder einen Zauberspruch handelte, spielte keine Rolle. Jedenfalls hob sich der Nebel wieder, ehe er sich richtig gesenkt hatte. Matt stieß einen anerkennenden Pfiff aus. "Die Äbtissin versteht auch etwas von Magie." Doch reichte dies Wissen nicht. Als nächstes versuchte der Feind es mit einem Sandsturm. Dieser traf die Mauern, ehe die Ehrwürdige Mutter ihn vertreiben konnte. Der Belagerungsturm war jetzt in Reichweite des Katapults. Schwester Maud und ihre Mitstreiterinnen justierten das Katapult - da überfiel sie ein Schwärm Stechmücken. Entsetzensschreie wurden laut. Die Biester flogen so dicht, daß Matt kaum die Äbtissin und Sayeesa erkennen konnte. Nur gedämpft hörte er, wie diesmal Sayeesa es wieder mit ihrer Zauberkraft versuchte - allerdings mit Weißer Magie. Inzwischen lief Alisande auf den Wehrgängen umher, um die wehrhaften Klosterfrauen anzutreiben oder ihnen Mut zu machen. Die Gegenwart der Prinzessin, für die sie kämpften, beflügelte die Schwestern. Ein Bolzenhagel ging auf den Malvoisin nieder. Dann schleuderten Schwester Maud und Gehilfinnen den nächsten Stein. Dieser riß die Spitze vom Belagerungsturm, worauf er schnell aus der Schußweite geschleppt wurde. Danach war der Feind wieder eine Zeitlang ruhig. "Wenn sie so still sind, macht mich das nervös", sagte Matt. "Welche Stunde haben wir?" Sir Guy blickte zum Mond empor. "Mitternacht, Lord Matthew. Da sind die Mächte der Hölle am stärksten. Jetzt wird der _richtige_ Kampf beginnen." Er fing mit dem Aufmarsch von Hilfstruppen an. Ein Meter lange Kakerlaken krochen aus den feindlichen Linien aufs Kloster zu. Trotz der Beschwörungen der Äbtissin und Sayeesas und ohne sich durch Pfeile abhalten zu lassen, krochen sie die Mauern empor. Es wurde eindeutig Zeit für etwas technische Hilfe. Matt deklamierte: "_Laß Nebel aus dem Graben steigen! Er bringe diese Brut zum Schweigen! Insektentod, vielleicht sogar Chemie, anders beseit'gen wir die Biester nie!"_ Ein dicker Dunst legte sich unten um die Mauern, wo der Burggraben endete. Sobald die Kakerlaken in ihn gerieten, rollten sie sich kurz strampelnd auf den Rücken und wurden dann starr. Doch einige hatten bereits die Mauern erkrochen. Die meisten Nonnen scheuten vor diesen riesigen Insekten schreiend zurück. Manche hoben sogar die Röcke und kletterten irgendwo hinauf, um den Biestern zu entkommen. "Vor solchen Kreaturen flieht man nicht!" schrie Alisande. "Man erschlägt sie!" Sofort führte sie einen kräftigen Schwertstreich gegen einen Chitinpanzer. Die Ex-Banditinnen, die über einen robusten Magen verfügten, kamen ihr zu Hilfe. "Auf in den Kampf!" rief Sir Guy. "Wir müssen helfen." Matt lief zur Tür und rief: "_Das Böse naht sich unsern Zinnen, das spüre ich mit allen Sinnen. Spring auf, du Tür, und öffne dich! Lasse hindurch den Freund und mich!"_ Er klopfte. Knarrend öffnete sich die Tür. Matt schoß hindurch. Sir Guy folgte ihm auf den Fersen. Blitzschnell waren sie auf dem Wehrgang. Der Schwarze Ritter jauchzte vor Freude, als er sein Schwert tanzen ließ. Matt erwischte eine Kakerlake gerade in dem Moment, als sie ihre Mundwerkzeuge in einen Habit versenken wollte, und führte eine schnelle Vivisektion durch. "Erschlagt sie!" rief er. "Sie sind nur Fleisch!" Darüber konnte man sich allerdings streiten. Bei dieser Größe war ihr Panzer fast so gut wie der Sir Guys. Dennoch machten Matt und der Schwarze Ritter die Insekten rechts und links nieder. "Wollt ihr euch von diesen Männern beschämen lassen?" rief Alisande. Ein Aufschrei der Empörung kam von den frommen Schwestern. Dann stürzten sie sich in den Kampf. Einige wurden gebissen. Doch in wenigen Minuten war die Kakerlakenplage erledigt, die ekelhaften Biester lagen tot herum. Matt und Sir Guy übernahmen die widerliche Arbeit, die Leichen über die Mauer zu schaufeln. Als sie fertig waren, ging er zur Äbtissin, die ihn mit Basiliskenblick musterte. "Das war Euer Werk, nicht wahr? Dieser Nebel, welche die meisten Ungeheuer fernhielt?" Matt schluckte. Er kam sich wie ein Schuljunge vor, den man beim Wändebeschmieren ertappt hatte. "Ja, ich hielt es für eine gute Idee." "War es in der Tat", erklärte sie abweisend. "Allerdings hatte ich Euch gebeten, im Torturm zu bleiben, wenn ich mich nicht irre. Nun denn! Ihr könnt heute nacht hier bei uns ausharren. Wir sind für Eure Hilfe dankbar. Doch haltet Euch von meinen Töchtern fern - soweit Ihr dazu in der Lage seid." Matt nickte erleichtert und lief zu Sir Guy und Alisande hinüber, die einige Männer zurückschlugen, welche über Sturmleitern heraufgestiegen waren, als die Kakerlaken die Nonnen abgelenkt hatten. Es war ein hitziger Kampf, aber er wurde gegen richtige Menschen geführt. Es tauchten keine magischen Monster auf. Doch lang währte es nicht. Schon schob sich der Belagerungsturm wieder heran. Hundert blasse Gestalten, mit der Farbe von toten Fischbäuchen, schleppten ihn näher. Sie trotteten dahin, wie Maschinen, ohne nach rechts oder links zu sehen. Dreißig Armbrüste sirrten gleichzeitig. Die gefiederten Bolzen versanken in den bleichen Leibern. Doch die Marschierer hielten nicht inne. "Zombies!" schrie Matt. "Die lebenden Toten! Max!" "Ja, Magier?" Schon summte der Funke neben ihm. "Feuer!" befahl Matt. "Verbrennen! Sie sind für einen Scheiterhaufen längst überfällig." "Ich fliege", sang Max. Gleich darauf erhob sich eine Flammenwand um die Zombies. Der Gestank verbrannten Fleisches zog zum Mauerkranz hinauf. Jeder Zombie war eine lebende Kerze. Trotzdem marschierten sie weiter, bis sie als brennende Skelette zusammenbrachen. Der Belagerungsturm fing auch Feuer. Die Äbtissin stimmte ein Gebet für die Toten an, die Nonnen fielen ein, bis der gesamte Wehrgang vom Latein widerhallte. Matt ging zur Äbtissin. "Ehrwürdige Mutter, wie viele Stunden sind es noch bis zum Morgen?" "Zwei." Matt nickte. "Dann dürfte das Schlimmste noch kommen." Er schaute Sir Guy an. "Was werden sie als nächstes versuchen?" Der Ritter zuckte mit den Schultern. "Bei denen ist alles möglich, Lord Matthew. Jedes Mittel ist ihnen recht, solange es abgefeimt und grausam ist." Fünfzehn Minuten verstrichen, ohne daß sich etwas ereignete. Matt brütete vor sich hin. Seine Stimmung war wohl ansteckend, denn auch die kriegerischen Schwestern machten düstere Gesichter und unterhielten sich gedämpft. Dann kam es! Fünfzig Meter entfernt und leuchtend - ein nackter Incubus, der etwas überzeichnet zwar, jedoch eine große Ähnlichkeit mit Vater Brunel aufwies. Die Nonnen starrten atemlos und schockiert. Doch dann erhob sich wüstes Geschrei. "Zeig dich, Zauberer!" schrie die kräftigste Ex-Banditin. "Wer diese ekelhafte Figur herbeigeschafft hat, soll vortreten, damit ich ihm den Bauch aufschlitzen und die Eingeweide herausreißen kann." Das Angebot blieb unbeantwortet. Der Zauberer war ein Schuft, aber kein Idiot - auch wenn er sich verrechnet hatte. Der Anblick des nackten Männerkörpers konnte diese Frauenfestung nicht schwächen! Er hatte nur erreicht, daß die weiblichen Verteidiger noch kampfwütiger geworden waren. Moment mal... Wut... "Hütet eure Zungen!" Die Stimme der Äbtissin drang durch das Geschrei. "Bezähmt eure Wut, damit der Böse nicht Macht über euch gewinnt und eure Pfeile lahmt." "Aber Ehrwürdige Mutter", rief eine Nonne. "Wie können wir dulden..." "Braucht ihr nicht! Schießt mit euren Pfeilen und Bolzen auf den Feind - doch nicht in blinder Wut, sondern aus Notwehr. Und sorgt dafür, daß jedes Geschoß trifft." Die Äbtissin hatte den Plan des Zauberers bildschön zunichte gemacht. Solange die Nonnen das Gefühl hatten, aus Notwehr zu kämpfen, war alles in Ordnung. Hier und dort stieß noch eine fromme Schwester einen ziemlich unheiligen Fluch aus. Doch sobald die Äbtissin ihr die Hand auf die Schulter legte, wurde sie still. "Geh in die Kirche und bete für uns", lautete der Befehl der Ehrwürdigen Mutter. Gehorsam legte die Nonne den Bogen nieder und ging gesenkten Hauptes zur Treppe, während die Äbtissin zur nächsten Berserkerin eilte. Im ganzen zogen sich ungefähr ein Dutzend in die Kirche zurück - der größte Verlust, den sie in dieser Nacht erlitten hatten. "Siehst du den Preis der Wut, meine Tochter?" fragte die Ehrwürdige Mutter Sayeesa. "Laß dich nicht..." Sie brach ab und blickte die Ex-Hexe beunruhigt an. Sayeesa stand mit verkrampften Fingern völlig erstarrt da. Sie war leichenblaß. Ihre Lippen bebten. "Das Trugbild hat gewisse Ähnlichkeit mit jemandem, den sie kennt", erklärte Matt. "Ja, ja, ich kenne ihn!" Aufschluchzend stürzte Sayeesa auf die Knie und barg das Gesicht in den Händen. "Ich schäme mich so! Brunel, werde ich nie von dir freikommen?" Das Gesicht der Äbtissin war weich. "Also das ist die Schwäche, welche ich spürte. Nein, Kind, du mußt dich nicht schämen! Jede von uns hat gefehlt. Geh in die Kirche und bete aus tiefstem Herzen und mit der ganzen Kraft deiner Seele!" Als Sayeesa gegangen war, hob die Äbtissin ruckartig den Kopf. "Wir sind noch nicht völlig sauber. Jemand hier verbirgt eine Schwäche, welche mindestens ebenso groß ist! Wer auch immer Gefühle zurückhält, welche durch den Anblick dieses männlichen Trugbildes erregt wurden, möge vortreten! Erforscht euer Gewissen und eure Seelen, Töchter! Wer sich nicht offenbart, schwächt uns in dieser Krise!" Doch alle Nonnen standen schweigend da. Keine trat vor. Der männliche Incubus verblaßte, bis er verschwunden war. Der böse Feind ließ den frommen Schwestern jedoch keine Zeit, sich von dem Schrecken zu erholen. Schon schimmerte wieder eine Gestalt, diesmal eine weibliche. Dann erwuchs aus einem hellen Punkt daneben wieder ein Mann. Das weibliche Trugbild umgarnte ihn mit lüsternen, sinnlichen Gesten, bis beide Körper sich in einem Rhythmus bewegten, welcher der Phantasie keinen Raum ließ. Als die Gestalten ihre Gesichter zeigten, stockte Matt vor Entsetzen der Atem. Der Incubus trug seine Züge! Und das weibliche Gegenstück hatte lange blonde Haare! "Wie können sie es wagen!" schrie Alisande empört. "Welche Unverschämtheit!" Ihre Worte lösten die Nonnen aus der Erstarrung. Pfeile und Bolzen schwirrten durch die Luft. Jede Schützin hatte das Gefühl, eine große Mission zu erfüllen. Alisande wütete weiter. "Das ist doch Blasphemie! Mein Abbild in solch ekelhafter Schaustellung! Diese Paarung ist mehr als obszön. Sie ist..." "Genug!" Die Äbtissin legte ihr die Hand auf die Schulter. Alisande verstummte. Dann sprach die Ehrwürdige Mutter tadelnd. "Ihr wußtet, daß diese Schwäche in Euch lag. Dennoch bliebt Ihr bei uns und brachtet uns in Gefahr! Ein so übertriebener Stolz ist eines Bauernmädchens unwürdig. Um wieviel mehr einer Prinzessin! Wollt Ihr Euer ganzes Volk dem Bösen anheimfallen lassen, nur weil Ihr hochmütig und verstockt beharrt, daß Ihr Eurer Seelenstärke so sicher seid?" Dann fuhr die Äbtissin herum und funkelte Matt an. "Ihr steht da und reißt die Augen auf wie eine Maus vor der Schlange! Daraus schließe ich, daß Ihre Hoheit nicht allein beteiligt ist. Ich hätte Euch in Ketten legen lassen sollen, Magier!" Dann wandte sie sich wieder an Alisande. "Nein, ich glaube, noch ist es zu keiner Sünde gekommen. In Euch wohnen Sehnsüchte, welche Ihr Euch nicht eingestehen wollt. Ihr, Hoheit, und Euer Magier müßt Eure Liebe offen bekennen oder sie beenden. Solange Ihr das nicht tut, gefährdet Ihr Euch und alle in Eurer Umgebung. Geht in die Kirche, Hoheit, und fleht Gott um Rat an, welchen Kurs Ihr einschlagen sollt, um dies heiße Begehren in Eurem Blut zu verstehen, und wie Ihr Euch weiter verhalten sollt." Alisande stand einen Augenblick ganz still. Dann senkte sie den Kopf und ging langsam zur Treppe. Matt schaute ihr hinterher. In ihm tobte ein Taifun der Gefühle. "Euch würde ich am liebsten auch in die Kirche schicken", sagte die Äbtissin. "Aber Ihr würdet dort noch mehr Unheil anrichten als hier." "Ja, ich bin Euch nirgends von Nutzen, Ehrwürdige Mutter", sagte Matt. "Habt Dank für Eure Gastfreundschaft; aber ich halte es für besser, wenn ich fortgehe." "Ihr redet Unsinn!" fuhr ihn die Äbtissin an. "Magie bestimmt diesen Kampf, Magier. Dazu brauchen wir Euch!" "Ich glaube nicht. Max!" "Hier, Magier!" Die Äbtissin wurde blaß, als sie den Lichtpunkt sah. "Flieg hinaus und beschleunige die Geschwindigkeit des Alterungsprozesses bei allen Sterblichen dort. Bis zum Morgen muß jeder Mann völlig senil sein!" befahl er. "Wird erledigt!" Damit war der Dämon verschwunden. "Geschieht ihnen recht", grollte Matt. "Schließlich haben sie mir die Idee erst gegeben, als sie einen Alterungszauber gegen mich schleuderten. Ich setze Max gegen sie ein. Ihn können sie nicht erwischen! Es dürfte einige Tage dauern, bis sie diesen Zauber lösen können - wenn überhaupt. In dieser Zeit könnt Ihr sie mit Euren kriegerischen Schwestern leicht erledigen. Ihr braucht also keinen Magier... Was ist los?" Die Äbtissin war totenblaß. "Was war das für eine Kreatur?" Matt überlegte, ehe er antwortete. "Eine Art Elementargeist, weder dem Guten noch dem Bösen verschrieben. Im Augenblick dient er mir." "Ich traue ihm dennoch nicht", flüsterte sie und schlug das Kreuz. Sie schaute hinaus zum Lager der Feinde, wo der Lichtpunkt umherhuschte. "Nein", stimmte Matt ihr zu. "Traue keinem Elementargeist und erst recht nicht einem Magier!" Dann rief er in den Hof: "Stegoman!" Als der Drache direkt unter ihm war, schwang er sich über die Brüstung und landete zwischen zwei Zacken auf dem Rücken. "Zum Tor!" "Halt!" rief Sir Guy. "Ihr werdet mich doch nicht verlassen!" Der Schwarze Ritter riskierte auch einen Sprung. Es gelang ihm, hinter Matt aufzukommen. "Wie es aussieht, habe ich für mein Pferd keine Zeit. Doch das edle Tier wird mich später finden, wenn man es hinausläßt. Teurer Lord Magier, wenn Ihr schon dem Abenteuer in die Arme reiten wollt, muß ich Euren Rücken bewachen." "Nein!" rief die Äbtissin. "Ihr überlebt keine zwanzig Meter! Bewacht das Tor, Töchter!" Doch sie kam zu spät. Als die Nonnen den Drachen heranstürmen sahen, rissen sie das Tor schnell auf und gingen aus dem Weg. "Narren! Ihr reitet in den sicheren Tod!" schrie die Ehrwürdige Mutter. "Feiglinge! Fürchten sich vor der Verachtung der Frauen mehr als vor Lanzen! Gott möge Euch schützen!" Matt grinste. "Ich hatte immer etwas für Frauen übrig, die einem in jeder Situation treu zur Seite stehen." Stegoman lief jetzt auf die erste Linie der feindlichen Soldaten zu. Sie hatten ihre Piken aufgepflanzt, mit den Spitzen schräg nach vorn. Der Drache überrollte sie wie eine Dampfwalze. Die nächsten Minuten hörte Matt nur Schreie und Klirren von Stahl. Er drosch um sich wie ein Wahnsinniger und durchschlug völlig unparteiisch Pikenschäfte, Rüstungen oder Helme. Ein Feind holte mit einer großen Streitaxt aus. Matt wich seitwärts aus, so daß der baumlange Kerl von seiner Axt mitgerissen wurde. Sofort traf ihn Matts Klinge zwischen Helmrand und Rüstung im Nacken. Matt wartete die Wirkung nicht ab, sondern wandte sich zu Sir Guy um. Der Schwarze Ritter war keineswegs untätig. Schließlich wichen die Feinde zurück, in die Flucht geschlagen von einem lebenden Flammenwerfer, einem Zauberschwert und einer menschlichen Schneidemaschine. Da erspähte Stegoman einen relativ sicheren Weg durch die feindlichen Linien und stürmte sofort los. Seine Beine arbeiteten wie irrsinnig. Sehr schnell wurde die Entfernung vom Lager immer größer. Da gellten durchdringende Schreie durch die Luft. Die Zauberer hatten ihr bestes Aufgebot an Monstern entsandt - geflügelte Echsen, aus deren Fängen Gift tropfte. Hinzu kam noch ein großes Geschwader an Vampirfledermäusen. Die Bodenverstärkung bestand aus riesigen Hunden mit rotglühenden Augen und stählernen Zähnen. Stegoman wechselte in einen halsbrecherischen Galopp. So jagten sie den Bergen zu. Das Heulen und Kreischen wurde aber immer lauter. Der Schwarze Ritter blickte zurück. "Sie kommen näher, Magier, und werden uns erwischen, ehe die Sonne aufgeht." "Wie stehen unsere Chancen?" "Schlecht. Wir können sie verwunden; aber da sie Ausgeburten der Hölle sind, heilt alles sofort wieder. Sie werden uns zu Tode schleifen." "Allerdings", dröhnte Stegoman. "Ich kenne diese Flügelmonster. Eine Wunde von diesen Fängen - und selbst ich muß sterben." "Ja, wir sind verloren, wenn Ihr Euch nicht etwas einfallen laßt, Freund Matthew", erklärte Sir Guy. "Damit habe ich gerechnet." Diesmal hatte Matt die Verse schon im Kopf. "_Des Drachen Wunden sollen heilen, damit zu Hilfe er kann eilen. Auch die Flügel ihm kuriere, damit er seine Kraft aufs neue spüre!"_ Lederschwingen blähten sich. Brausend fing sich der Wind in diesen fünfzehn Metern Segeln. Mit lautem Jubelschrei stieg der Drache auf. "Frei!" schrie Stegoman, als er sich nach oben schraubte. "Oh, gesegnet sei der Magier, welcher nicht sein Versprechen vergaß!" Ein dicker Feuerstrahl kündete von seiner Freude. Matt beugte sich vor, als der Drache in eine Steilkurve nach unten ging. "Stegoman! Laß das!" "Was iss'n los?" fragte der Drache mit hörbar undeutlicher Aussprache. "Flieg anständig! Und spucke eine Weile kein Feuer, verstanden?" Stegoman gehorchte. Matt konnte sich etwas entspannen. Dann schlug ihm Sir Guy auf die Schulter. "Seht! Da vorn!" Eine Schar Harpyien schoß auf sie zu. Die Stummelflügel konnten die kräftigen Geierkörper kaum tragen. Matt sah strähniges Blondhaar um verlebte Frauengesichter mit langen, spitzen Nasen. Ihre Lippen waren zu mordlüsternem Grinsen verzerrt, so daß man die spitzen Zähne sehen konnte. Mit boshaftem Gelächter stürzten sie auf Stegoman zu. Der Drache blickte wie versteinert nach oben. Matt erinnerte sich an die panische Angst des Drachen, als die Eule vorbeiflog, und an sein Gestammel über Harpyien, welche die junge Brut raubten. Wenn der Drache erst so richtig Feuer spuckte, würde er im Nu so betrunken sein, daß er nicht mehr an die beiden Männer auf seinem Rücken dachte. Es war keine Zeit, Freudsche Theorien zu überdenken. Matt deklamierte sogleich den zweiten seiner vorbereiteten Drachenzaubersprüche: "_Sollst nun ganz tief aus dieser Drachenseele entfernen, was sie gar so quälte. Durch süßes Vergessen schenk ihm Frieden und laß ihn selbst den Alp besiegen, der ihm in mancher langen Nacht das Leben hat zur Qual gemacht!"_ Stegoman war so außer sich vor Wut, daß er eine drei Meter lange Flamme ausstieß. Die Harpyien kreischten auf und flatterten so schnell sie konnten, um ihre Beute einzuholen. Doch der Drache flog eine elegante Schleife und ging dann unvermittelt im Sturzflug mitten durch den Schwarm der Harpyien hindurch. Dabei spuckte er unentwegt Feuer. Die Harpyien versuchten mit gellenden Schreien zu fliehen. Doch Stegoman wiederholte das Flugmanöver und erwischte auch die letzten gefiederten Ungeheuer. Dann schraubte er sich wieder in die Höhe. Unter ihm fielen die brennenden, in ihre Bestandteile zerfallenden Monster auf die Erde herab. "_Ich hab's geschafft_!" schrie der Drache. Dann legte er den Kopf zurück und stieg, Freudenfeuer ausspuckend, immer höher. "Die Bruträuber sind tot! Ich habe sie vom Himmel geholt und ausgetilgt! Wer jetzt noch denkt, daß er mich besiegen kann, soll ruhig kommen!" Er war völlig euphorisch, aber kein bißchen betrunken. Da flammte ein Streichholz in der Ferne auf. Es wurde zu einer Fackel und dann zu einem riesigen Feuer - in diesem Flammenmeer bewegte sich etwas. Es war lang, schlangenähnlich mit Stummelfüßen. Die Flamme zog sich in seinen Körper zurück, ließ nur die Umrisse leuchten. Um die weit aufgerissenen Kiefer tanzten Flämmchen. "Welch Narr glaubt, die Elemente besiegen zu können, welche ihm das Leben gaben?" erschallte eine donnernde Stimme. Sir Guys Finger bohrten sich in Matts Schulter. "Was ist denn das für ein abscheuliches Ungeheuer?" "Ein Salamander." Matt spürte, wie sich ihm die Haare aufstellten. "Ein Elementargeist des Feuers. Jemand muß ihn gegen uns heraufbeschworen haben." "Flieh!" rief Matt dem Drachen zu. "Flieg so schnell du kannst weg! Mit dem da kannst du es nicht aufnehmen! Glaube mir!" Stegoman senkte als Antwort den Kopf, richtete den Schwanz in die Höhe und ging in den Sturzflug. Matt hielt sich krampfhaft an der Rückenzacke fest. Stegoman sauste in einem Winkel von sechzig Grad auf die Erde zu. Hinter ihm erschütterte ein lauter Knall den Himmel. Dann folgte ihm ein Feuerstreifen. Der Boden näherte sich in atemberaubender Geschwindigkeit. Matt hielt die Luft an und schloß die Augen. Er hörte, wie Sir Guy betete. Dann kamen sie zu einem abrupten Halt direkt über einer Wasserfläche. "Springt!" rief Stegoman. Matt sprang. Wasser schlug über ihm zusammen. Er brachte sich mit einigen kräftigen Stößen und Schlägen an die Oberfläche. Keine Minute zu früh! Sir Guy klatschte soeben mit voller Rüstung ins Wasser. _Rüstung_! Mit diesem Gewicht konnte der Ritter niemals schwimmen. Matt tauchte. Über ihm rauschten die Lederschwingen, als der Drache wieder in den Himmel schoß. Dann färbte sich das Wasser orangerot, als der Salamander den Punkt erreichte, an dem soeben noch Stegoman gewesen war. Jetzt wurde das Wasser auch wärmer. Matt tauchte tiefer. Da streifte seine Hand Metall. Er packte zu und bot alle seine Kräfte auf, den Ritter an die Oberfläche zu schaffen. Die Lungen drohten ihm schon zu platzen. Endlich Boden unter den Füßen! Er sank zwar bis über die Knöchel in den Morast, aber er konnte stehen - und wieder atmen! Wie die Fontäne eines Walfisches spuckte Sir Guy neben ihm Wasser. Dann nickte er ihm zu. "Ich... irgendwann mal sterben... aber nicht ertrinken", stammelte er. "Das will ich auch nicht. Was macht Stegoman?" Matt schaute nach oben. Der Salamander war wieder zu einem flackernden Lichtpunkt am Nachthimmel geworden. Stegoman war verschwunden. Dann zog sich ein feuriger Strich über den Himmel, als der Drache den Salamander angriff. Im Nu war der Feuerdämon wieder strahlend hell. Sein röhrendes Lachen war bis unten zu hören. Stegomans Feuer verlosch, als der Schwanz des Gegners ihm einen furchtbaren Schlag versetzte. Matt hörte den Drachen vor Schmerz aufschreien. "Magier, links!" rief Sir Guy. Als Matt herumfuhr, sah er, wie ein riesiger Fangarm auf ihn zuschwenkte. Schnell riß er das Schwert heraus und schlug zu. Der Arm war zerschnitten, doch züngelten noch zwei dieser riesigen Dinger über ihm. "Lord Matthew!" Matt drehte sich um. Ein Fangarm hatte sich um Sir Guys Helm gelegt. Mit einem Sprung war er dort. Dann durchbohrte er mit der Schwertspitze den gummiähnlichen Fortsatz. Der Ritter war frei, doch nun saugte sich etwas Schleimiges an Matts Beinen fest. Ein Seil legte sich um seine Mitte. Mit einem Wutschrei hieb er auf die Fangarme ein und schlitzte einen auf. Grüner, ekliger Schleim quoll heraus. Doch der Arm um seine Mitte lockerte sich nicht, sondern zerrte ihn ins Wasser. Matt schrie und schlug um sich. Plötzlich hörte das Zerren auf. Matt fiel kopfüber ins nasse Element. Der Fangarm hatte ihn losgelassen. Sir Guy stand mit gezücktem Schwert da, bereit, erneut zuzuschlagen. Von der Klinge tropfte noch der grüne Schleim des Monsters. "Danke", keuchte Matt und warf einen angstvollen Blick zum Himmel. Wieder schoß der bleistiftdünne Feuerstrahl auf den Salamander zu. Sofort blies dieser sich zu einem Feuerball auf und umhüllte den Drachen. Matt hörte den Schmerzensschrei Stegomans und das grölende Gelächter des Salamanders. "Ich muß ihm helfen!" "Helft Euch erst selbst!" fuhr Sir Guy ihn an. "Ihr brennt nämlich." Tatsächlich glomm etwas in dem Lederbeutel, den er am Gürtel trug. Voll neuer Hoffnung riß er den Beutel auf. "Magier", klang es heraus. "Dein Wunsch ist erfüllt. Die Armee des Zauberers wird von Sekunde zu Sekunde älter. Der jüngste Soldat ist jetzt fünfzig, altert aber weiter." "Max!" rief Matt freudig und erleichtert. "Dem Himmel sei Dank! Ich habe aber schon die nächste Aufgabe für dich. Schnell, flieg hinauf und kühle den Salamander ab." "Salamander?" sang der Dämon begeistert. "Ich habe schon seit Äonen keinen mehr gesehen. Welch kluge Wahl traf ich doch, als ich mich entschied, mit dir zu gehen!" Max schoß wie eine Rakete gen Himmel. "Achtung!" rief Sir Guy. Wieder griffen Fangarme nach ihnen. Matt schlug nacheinander vier solcher Dinger ab. Er hörte ein Gurgeln. Zwei dieser dicken Arme drückten Sir Guy ins Wasser. Er lief hinüber und befreite den Schwarzen Ritter aus der Umschlingung. Sir Guy tauchte wie Neptun aus der grünen Brühe auf. Er hustete und rang nach Luft. "Wir haben... es noch mal geschafft." "Ja, aber was macht unser alter Knabe da oben?" Matt blickte zum Himmel. Ein Schrei gellte durch die Nacht. Der Salamander glühte nur noch schwach. Mit einem Freudenschrei schoß der Feuerbleistift wieder auf ihn zu. "Feuer aus, du Idiot!" brüllte Matt. "Du bietest dem Feind doch nur ein Ziel!" Als hätte Stegoman ihn gehört, verlosch das Feuer. Vielleicht hatte der Drache aber auch selbst so viel Verstand. Matt konnte in dem schwachen Mondlicht kaum die Umrisse Stegomans ausmachen, als dieser den Salamander mit Zähnen und Klauen packte. _Er ist nüchtern_! dachte Matt mit großer Erleichterung. Stegoman riß beim Vorbeiflug große Wunden in die Seiten des Salamanders. Der Elementargeist schrie wie eine Schiffssirene. Er schlug mit seinen kurzen Beinchen nach dem Drachen. Da kam Stegoman schon wieder zurück. Diesmal zog er mit den Zähnen ein Stück Haut von der Feuerechse. Der Feuergeist schrie wieder und flog höher. Doch Stegoman war schneller. Wieder machte der Salamander Bekanntschaft mit den scharfen Drachenzähnen. Voll Panik fiel er wie ein Stein zur Erde. Triumphierend folgte ihm Stegoman. Der Salamander wollte seitlich ausbrechen, aber es gab kein Entrinnen. Zu spät sah er den Fluß. Mit einem grauenvollen Aufschrei, der Matt durch Mark und Bein ging, stürzte er ins Wasser. Wild um sich schlagend, versuchte er, die rettende Sandbank zu erreichen, vor allem, als er bemerkte, wie schnell sich das Wasser erwärmte. Dann erschütterte eine gewaltige Explosion den Fluß. Das Wasser leuchtete orangefarben. Dampf zischte. Das Wasser wurde ungemütlich heiß. "Stegoman! Hol uns hier raus, ehe wir gekocht sind!" Der Drache kam eilends herabgeflogen. "Packt meine Beine!" rief er. Matt steckte das Schwert in die Scheide und griff nach einem Drachenbein. Sir Guy umklammerte das andere. Dann war trockenes Land unter ihnen. Matt ließ sich fallen und rollte ab. Auch Sir Guy landete etwas unsanft und mit lautem Klirren, doch sicher. "Geschafft!" stöhnte er. "Ja, das wäre geschafft", meinte auch Stegoman, der sich ebenfalls niederließ. In seinen Augen funkelte noch Kampfglut, als er Matt anblickte. "Ich habe gewonnen! Niemand kann mich in den Lüften besiegen - oder?" Er war eindeutig nüchtern. >>Erkläre mir das, Magier!""befahl Stegoman. "Wie konnte ich das Monster besiegen, welches Herr meines Atems ist?" "Du hattest ein bißchen Unterstützung", gab Matt zu. "Ich fand den Kampf zu ungleich - und Max kam gerade vorbei." Der Dämon summte neben seinem Ohr. "Das Feuer des Salamanders ist abgekühlt, und er ist tot. Der Fluß siedet und kocht eine Meile lang." "Dann haben die Bauern wenigstens ein leckeres Frühstück", meinte Matt. "Allerdings tun mir die vielen toten Fische leid." "Besser die als ich!" schimpfte der Drache. "Oder der Ritter oder du!" Er wandte sich an den tanzenden Funken. "Dämon, ich danke dir und bewundere dich, daß du meinen Feind so geschwächt hast." Matt musterte den Drachen scharf. "Stegoman, du _glaubst_ doch jetzt, daß du sicher fliegen kannst, oder?" Stegoman nickte langsam. "Ja, in der Luft bin ich sicher. Magier, möge das Glück sein Füllhorn über dich ausschütten, weil du mir meine Schwingen wiedergabst!" "Mir reicht schon ein Mitflug, mein Lieber. Der Feind ist zwar noch hinter uns; aber lange wird es nicht dauern, bis er uns eingeholt hat, fürchte ich. Bist du für den nächsten Flug bereit?" Der Drache nickte, ließ aber die Flügel gefaltet. "Im Prinzip, ja; aber vielleicht sollte ich ein wenig ausruhen." "O ja!" Matt machte ein besorgtes Gesicht, als er die langen roten Striemen am Bauch des Drachen entdeckte. "Du hast ein paar Kratzer abbekommen. Dieser Salamander hatte scharfe Klauen." Stegoman nickte. "Aber er hatte keine Ahnung, wie er sie einsetzen muß." Matt umfing den Lederbeutel an seinem Gürtel und rief: "_Ich brauche hier jetzt eine Creme, die Brand- und Wundschmerz von uns nehme. Zu andrem Ziel wir müssen eilen, drum soll die Salbe schnell uns heilen!"_ Der Lederbeutel wurde prall und schwer. Er zog eine Dose mit Salbe heraus. Dann nahm er den Deckel ab und schnupperte. "Pfui! Aber ich habe ja nur um etwas gebeten, das heilt." Er machte sich an die langwierige Prozedur, alle Wunden und Brandstellen des Drachen sorgfältig einzusalben. Eine halbe Stunde später schwang Stegoman sich erholt mit völlig verheilten Wunden in den Himmel und sang lautstark ein Siegeslied. Matt und Sir Guy saßen auf seinem Rücken. Im Osten sahen sie schon die erste Morgendämmerung. "Magier, wohin werden wir jetzt ziehen?" fragte Stegoman. "Nach Westen", antwortete Matt. Dann fragte er Sir Guy: "Könnt Ihr ihm vielleicht genauere Angaben machen?" "O ja." Der Schwarze Ritter beugte sich vor. "Dort rechts vom höchsten Gipfel! Der kleinere im Norden. Lande dort, über den letzten Bäumen." Matt verzog das Gesicht. Das klang nicht nach der Ebene von Grellig, wie die Prinzessin sie beschrieben hatte. Aber Sir Guy kannte das Gebiet schließlich. Er schwieg. Stegoman flog auf den kleineren Gipfel zu. Hinter ihnen färbte die Morgensonne die Berge rosig. Es war eine ziemliche Entfernung. Matt verfiel in Schweigen. Erst jetzt merkte er, wie schrecklich müde er war. Sir Guys Anweisungen folgend, landete Stegoman auf einer ebenen Stelle des Berghangs, knapp über der Baumgrenze. Er war dabei sehr vorsichtig. Matt schwang sich von seinem Rücken und wäre beinahe gefallen. Sir Guy erwischte ihn gerade noch. "Gemach", sagte der Ritter. "Mir... mir geht's gut." Matt konnte die ungeheure Erschöpfung nicht verstehen, welche ihn plötzlich überfallen hatte. "Ja, der Körper beansprucht auch sein Recht, nachdem der Kampf vorbei ist", meinte Sir Guy mitfühlend. "Macht Euch keine Sorgen." Matt schaute ihn wie eine Eule blinzelnd an. "Ja... danke." Er blickte umher. "Wohin... gehen wir?" "Wir haben hier eine Behausung für den Tag und auch für die Nacht, falls dies nötig sein sollte", beruhigte ihn Sir Guy. "Keine Sorge! Doch leider kann unser gewaltiger Begleiter nicht hinein." Matt schüttelte den Kopf, um die Gedanken wenigstens so weit zu ordnen, daß er ein Mindestmaß an Höflichkeit aufbrachte. "Tut mir leid! Aber wir können dich nicht mit hineinnehmen." "Mach dir um mich keine Sorgen." Der Drache musterte ihn von oben bis unten. "Ich passe schon auf mich auf - jetzt! Als wir uns zum erstenmal begegneten, war ich ein lahmes Luder. Doch jetzt bin ich so, wie ein Drache sein sollte. Ich schwöre dir immerwährende Treue! Solange ich lebe, werde ich dir und deinen Nachkommen dienen." "Ich... hm..." Matts Zunge war verknotet. "Ich nehme an. Mit großem und aufrichtigem Dank. Das versichere ich dir." "Doch nun müßt Ihr ausruhen, Magier", sagte Sir Guy. "Ich ebenfalls, denn meiner Meinung nach werden die meisten Schläge, welche ich um Euretwillen auf mich nehme, in den nächsten Tagen fallen." Stegoman breitete seine Flügel aus und flog der aufgehenden Sonne entgegen. Matt hörte noch seine Stimme: "Wenn du mich rufst, werde ich kommen. Schlaf gut!" Dann nahm Sir Guy ihn am Arm und führte ihn auf den Abhang zu. "Kommt! Wir müssen eine Ruhestätte finden." *Kapitel 16* Sir Guy holte einen Stoffstreifen heraus und verband Matt die Augen. _Warum dieses Theater_? Soweit Matt sehen konnte, gingen sie doch nur auf den Abhang zu. Dann strich etwas über sein Gesicht - und über den ganzen Körper. Ein paar Sekunden lang hatte er das Gefühl, durch Melasse zu waten, welche ihm bis über den Kopf reichte. Danach spürte er einen feuchtkalten Luftstrom. Beinahe wäre er gestolpert. Doch Sir Guy hielt ihn fest. Dann nahm er ihm die Augenbinde ab. Matt stand in einer kleinen Höhle, deren Decke nur einige Fuß über seinem Kopf war. Sonnenlicht strömte herein. Ein Stück weiter machte die Felswand einen scharfen Knick. "Es ist ein geheimer Ort", erklärte Sir Guy. "Kommt! Ich zeige Euch das Lager." "Moment... eine Sekunde." Matt hob die Hand. "In letzter Zeit leide ich in bezug auf Sicherheit etwas unter Verfolgungswahn... Max!" "Ja, Magier?" Der Dämon schwebte vor ihm. Sir Guy trat etwas zurück. Matt blickte durch den Eingang der Höhle hinaus auf das sonnige Tal. Irgend etwas stimmte hier nicht. Er runzelte die Stirn und dachte nach. Dann wandte er sich an Sir Guy. "He, wenn dieser Ort so geheim ist, daß ich eine Augenbinde tragen mußte, verstehe ich nicht, daß ich die Außenwelt wie durch ein Schaufenster sehen kann." "Saht Ihr sie, ehe wir eintraten?" "Nein... aber..." "Das kann auch niemand." Der Schwarze Ritter lächelte. "Wir brauchen unseren Eingang nicht zu bewachen, Lord Magier. Kein Zauberer kann diese Höhle finden. Draußen sieht man nur einen grasigen Berghang mit einigen Felsen. Sollte er aber durch Zufall hierherkommen, wo wir jetzt sind, wäre er geblendet oder tot." Matt war plötzlich hellwach. "Aber... wie, Sir Guy. Ich lebe noch, und ich kann auch sehen." Der Schwarze Ritter nickte. "Ihr seid mein Gast, Lord Matthew. Keine Macht dieser Höhle wird Euch ein Leid zufügen." Matt wußte, daß er dankbar sein sollte; aber irgendwie war er wie betäubt. Diese Taubheit wurde immer stärker. Eigentlich wollte er Sir Guy noch etwas fragen; aber das war ihm jetzt entfallen. Matt konnte nicht mehr klar denken. Mit letzter Kraft sagte er zum Dämon: "Max, nur um sicherzugehen, bewache den Eingang." "Das ist eine Aufgabe, in welcher ich schon beträchtliche Erfahrung habe", sang der Dämon. "Ruhe sanft, Magier!". Damit war er fortgehuscht. Matt wußte, daß keiner an Max vorbeikam. "Wo ist meine Koje?" Der Schwarze Ritter schaute ihn etwas verständnislos an, ging aber dann zum Ende der Höhle. Matt folgte ihm. Plötzlich war alles undurchdringlich dunkel. Nur ganz vorn schimmerte ein schwaches Licht. Als sie das Ende des Tunnel erreicht hatten, blieb Matt stehen. Er konnte das Wunder vor seinen Augen kaum fassen. Es war eine lange und hohe Höhle. Ein sanftes bläuliches Licht erhellte sie, das von überall und nirgends zu kommen schien. An den Wänden standen Podeste, jedes eineinhalb Meter im Quadrat und einen halben hoch, mit einem großen, geschnitzten Stuhl. Darauf saßen Gestalten in altertümlichen Rüstungen. Die Körper in den Rüstungen saßen ganz aufrecht da. Sie trugen hohe Topfhelme, mit Nasenschutz, doch ohne Visier. Die Gesichter waren die uralter Männer, mit Bart und sehr blaß. Mit den geschlossenen Augen wirkten sie wie Statuen. Vielleicht waren sie das auch. Matt hatte das unheimliche Gefühl, in ein Wachsmuseum gekommen zu sein. Am Ende der langen Halle war ein Hochsitz mit einem Thron. Dieser Thron war für einen Riesen gemacht. Und dieser Riese war mindestens zwei Meter zehn groß und sehr kräftig gebaut. Seine Rüstung war vergoldet, eine Krone lag auf seinem Helm. Der lange, rote Bart, der bis über die Brust hing, zeigte schon weiße Strähnen. Matt wollte das unheimliche Gefühl abstreifen, das ihn bei diesem Anblick befiel. Das war hier doch kein Wachsfigurenkabinett. "Ja, sie sind echt; aber sie sind tot", erklärte Sir Guy, als habe er Matts Gedanken gelesen. "Doch wohnen ihre Seelen mit magischer Stille noch in diesen Körpern, Lord Magier." _Stasis_, dachte Matt. "Sie leben, aber sie sind tot", fuhr Sir Guy fort. "Wir wollen sie begrüßen." Er trat vor. Matt hatte keine andere Wahl, als ihm zu folgen. Vom Ende der Halle ertönte eine Stimme, die aus sehr großer Ferne zu kommen schien. "Willkommen, Sir Guy de Toutarien! Es ist lange her, seit Ihr hier wart, um mit mir zu sprechen." Sir Guy kniete nieder. "Vergebt mir, Kaiserliche Hoheit! Aber die Welt drückt schwer auf Merovence. Meine Fähigkeiten wurden daher benötigt." "Nun, ich bin sicher, daß Euch die Pflicht von mir fernhielt." Die Stimme des Riesen klang wißbegierig. "Sprecht! Berichtet! Ist es Zeit?" Ein eifriges Murmeln ging durch die Halle, als würde Laub durch einen Windstoß aufgewirbelt. Die toten Ritter erhofften sich eine Schlacht. Sir Guy schüttelte beinahe traurig den Kopf. "Nein, noch nicht, Kaiserliche Hoheit. Die Nation kann sich selbst retten, selbst in so harten Zeiten wie jetzt." Matt lief es eiskalt über den Rücken. Aber wenigstens wußte er jetzt, wo er war: In der Gruft Hardishanes, dem alten Kaiser. Sein Gefolge waren die Ritter vom Berge. Er nahm seinen ganzen Mut zusammen und trat vor. "Bei allem Respekt, Sir Guy, wieso seid Ihr da so sicher?" "Ich bin ganz sicher." Der Schwarze Ritter lächelte ihm aufmunternd zu. "Er spricht die Wahrheit." Hardishanes Stimme klang unendlich enttäuscht. "Noch braucht man uns nicht, tapfere Gefährten." Wieder ging ein Raunen durch die Halle und enttäuschte Seufzer. Einen Augenblick lang waren Matts Gedanken wie eingefroren. Doch dann überlegte er, wie Sir Guy etwas wissen konnte, das der Kaiser bestätigte. Und wann war aus Sir Guy Losobal ein Sir Guy de Toutarien geworden? "Und wer ist der Mann, den du als Gast zu uns bringst?" fragte Hardishane. "Es ist Matthew, der rechtmäßige Lord Magier von Merovence, Majestät", antwortete Sir Guy. "Ein Gelehrter der Worte und ihrer Kraft. Trotzdem ist er loyal, tapfer im Kampf und manchmal viel zu bescheiden. Er ist kühner, als er selbst weiß. Es gibt keinen, den ich lieber als Schildgenossen hätte." Entgeistert starrte Matt ihn an. "Dann ist er würdig", erklärte Hardishane. "Wer wäre ein besserer Richter als Sir Guy de Toutarien!" "Euer Majestät erweisen mir zuviel Ehre", sagte Sir Guy leise. "O nein! Doch so würdig dieser Magier auch sein mag - er muß in der Kapelle bleiben, solange er unter uns weilt." Quarantäne? Vielleicht eine weise Vorsichtsmaßnahme, falls sich der Magier doch als Zauberer erweist. "Geleitet ihn zur Kapelle!" Der tote Kaiser schien beinahe belustigt zu sein. "Weist ihm dort eine Lagerstatt an, denn er scheint vor Müdigkeit beinahe umzufallen." Vielleicht - dachte Matt weiter, war es auch nur die alte Diskriminierung! Schließlich war er kein Ritter. Und man konnte doch nicht mit Krethi und Plethi Umgang pflegen! Eigentlich hätte er sich ärgern müssen; aber dazu war er zu müde. Sir Guy verneigte sich und machte kehrt. Matt folgte automatisch seinem Beispiel. "Werter Ritter?" Sir Guy zog die Augenbrauen hoch. "Majestät?" "Moncaire muß das Maß dieses Mannes haben." Sir Guy neigte respektvoll den Kopf. "Verzeiht, Majestät, aber ich glaube, daß er es bereits genommen hat." "Nun gut! Zur Kapelle!" Sir Guy ging. Matt folgte ihm. Was sollte diese Bemerkung wegen des Maßes? Und was hatte der heilige Moncaire damit zu tun? Die Kapelle war eine Seitenhöhle der großen Halle. Es gab keine Kirchenstühle. Der Altar war sehr prächtig und vergoldet. Eine einzige Kerze brannte daneben. Sie war die einzige Lichtquelle. Sir Guy führte Matt nach hinten. "Hier ist Euer Bett." Matt konnte nichts erkennen. Er streckte vorsichtig den Fuß aus. Felle, bis fast ans Knie. Seufzend streckte er sich aus. Noch eine letzte Sorge ließ ihn wieder hochfahren. "Sir Guy... Malingo... seid Ihr _sicher_.,. ?" "Absolut, Matthew. Es gibt auch nicht den leisesten Zweifel. Malingos Macht reicht nie und nimmer aus, diese Höhle zu finden. Aber selbst wenn - würde er es nie wagen einzutreten. Sein Erscheinen wäre das Signal, auf welches Hardishane wartet. Er würde mit seinen Rittern aufstehen und durch die Nordlande brausen und alles unterwerfen, um das Reich neu zu errichten. Dabei würden sie den Zauberer beseitigen, welcher sie aufweckte. Seid ohne Sorge und Furcht." Matt nickte und ließ sich fallen. Ein Ozean aus Fellen legte sich gegen seine Seite und Wange. Sofort fielen ihm die Augen zu. Es waren schließlich drei Tage vergangen, seit er zum letztenmal eine Nacht durchgeschlafen hatte. "Matthew." Finger berührten Matts Schulter. Sofort war er hellwach. Allerdings hatte er das Gefühl, mit Sand gefüllt zu sein. Er konnte in der Dunkelheit Sir Guys Gesicht erkennen. Der Ritter hatte die Rüstung abgelegt und trug ein weinrotes Gewand aus kostbarem Stoff. Aha, so sah also die andere Hälfte in der Freizeit aus. "Steht auf!" sagte der Schwarze Ritter beinahe tadelnd. "Ihr habt die ganze Kerze verschlafen." Kerze? Ach ja - die benutzte man hier, um die Zeit abzulesen. Jedes rote und weiße Band benötigte genau eine Stunde, um zu verbrennen. "Wie groß war die Kerze?" fragte Matt. "Zwölf Stunden", antwortete Sir Guy. "Steht jetzt auf und übernehmt die Wache." Matt hatte Sir Guy noch nie so ernst gesehen. Er stand auf. "Was ist los?" Doch der Schwarze Ritter ging nur zum Altar. Matt folgte ihm. Dort stand eine komplette Rüstung, wie die Sir Guys, nur neu. Strahlender, silbriger Stahl. "Kniet nieder!" befahl Sir Guy. "Beginnt Eure Wache!" Matt verzog das Gesicht. "Sollten wir uns nicht wieder auf den Weg machen? Da draußen tobt ein Krieg, falls Ihr das vergessen habt." "Der Krieg wird vielleicht verloren, wenn Ihr nicht diese Wache haltet." Matt schaute ihn verständnislos an. Doch Sir Guy strahlte solche Sicherheit aus, daß Matt sich schließlich neben die Rüstung kniete. Dann wagte er noch einen schwachen Protest. "Seid Ihr sicher, daß es notwendig ist?" "Absolut! Ich wünsche Euch Glück - aber hütet Euch vor Versuchungen. Obwohl Ihr gerade erst aufgewacht seid, werden Eure Lider schwer werden. Ungeduld, Langeweile, verborgene nächtliche Ängste - all das wird auf Euch einstürmen. Laßt Euch dadurch nicht von Eurer Wache abhalten! Das ist lebenswichtig. Solltet Ihr versagen, werdet Ihr es teuer bezahlen müssen." "Aber es kommt doch niemand und stiehlt das Zeug hier. Wahrscheinlich könnte es keiner hochheben. Und von allein kann es schlecht weglaufen, oder?" "Das wissen weder ich noch Ihr." Sir Guys Fingers bohrten sich in Matts Schulter. "_Glaubt anmich_, Matthew! Bis jetzt bat ich Euch nie darum, doch jetzt _glaubt_!" Dann drehte er sich um und war verschwunden. Glauben! Matt schaute zum Altar, zum Tabernakel. Von dort kam doch alles, oder? Aber er bezweifelte nicht, was der Ritter über die Wichtigkeit der Wache gesagt hatte - wichtig für Matts Leben! Er war hier doch nur ein Lakai! In dieser illustren Gesellschaft war er so fehl am Platz wie ein Schütze Arsch in der Offiziersmesse. Wenn er ohne Einladung dort hineinging, würden diese toten Ritter mit Sicherheit einen Weg finden, ihn bei lebendigem Leib aufzuspießen. Sie sahen zwar _nicht_ so aus, als könnten sie ein Schwert heben; aber sie sahen auch nicht aus, als könnten sie sprechen. Magie herrschte hier. Okay. Er hatte dort nichts zu suchen. Eigentlich war es sehr höflich, ihn mit dieser Wache fernzuhalten, ihm noch vorzumachen, daß die wichtig sei. Nette Art, das Gesicht nicht zu verlieren. Er müßte ein Idiot sein, abzulehnen und sie zu zwingen, böse zu werden. Nein, eigentlich waren sie ausgesprochen nett. Aber es nagte an ihm. Je länger er darüber nachdachte, desto wütender wurde er, weil man ihn so abgeschoben hatte. Am liebsten wäre er in die Halle gestürmt und hätte... _Versuchungen werden kommen_! Er hörte direkt Sir Guys Stimme. Ihm war in diesem Augenblick klar, daß die Gefahr aus seinem Innern drohte. Selbst hier konnte das Böse ihn dazu verführen, sich zu etwas hinreißen zu lassen, wofür man ihn einen Kopf kürzer machen würde. Und dann - das hatte man ihm oft genug eingeschärft - würde auch Alisande den Thron nicht bekommen, falls er versagte. Er setzte sich im Schneidersitz hin und richtete sich auf eine lange Nacht ein. Er versetzte sich wieder in den Ruhezustand, mit dem er oft langweilige Vorlesungen überstanden hatte. Aber diese Geduld und Ruhe wollten einfach nicht über ihn kommen. Dann _denke_! befahl er sich. Schließlich war er angeblich ein Gelehrter mit inneren Schätzen, auf die er zurückgreifen konnte, um die Zeit zu überbrücken. Dies hier war eine Kirche, ein Ort der Religion. Also könnte er doch beten. Aber er hatte nie viel für Beten übriggehabt. Glaube! Das schien so ein leeres Wort zu sein, war aber der Grundstein dieser Kultur. Glaube konnte der Kern der Magie ebensogut wie der der Religion sein. Vielleicht war das gesamte Universum hier irgendwie darauf aufgebaut. Was würde geschehen, wenn die Menschen aufhörten zu glauben, daß Gott dieses Universum erschuf? Würde alles verschwinden? Auf diesen Gedankengängen würde er bei dem wirren Zeug enden, das die Anhänger irgendwelcher östlicher Kulte in ihren Meditationen durchkauten. _Meditation_! Er hatte es nie probiert, aber vielleicht half ihm diese Übung jetzt. Er begann seine Atmung mit dem einzigen Mantra zu regulieren, den er kannte. _Om mane padme om. Om mane padme_... Abrupt riß er den Kopf hoch. Beinahe wäre er eingeschläfert! _Versuchungenwerden kommen_! Diese war für einen Mann, der nach Tagen ohne Schlaf gerade aufgewacht war, sehr verführerisch. Er bemühte sich um einen langsamen, regelmäßigen Atemrhythmus und beschäftigte seinen Verstand wieder mit der Frage des Glaubens. Hatte Malingo Glauben? In dieser Welt mußte er das wohl, aber er wandte sich von Gott ab und dem Teufel zu. Das zahlte sich aus - jedenfalls für eine gewisse Zeit. Im Augenblick hatte Malingo durch seinen pervertierten Glauben Vorteile. Auf alle Fälle war er fähig, Matt Schwierigkeiten zu machen. Die alte Hexe, dann Sayeesa. Malingo hatte ihren Palast über fünfzig Meilen versetzt, damit Matt ihr begegnete. Dann kamen diese Bauern, welche sie verfolgten, und Vater Brunel, der sich plötzlich in einen Werwolf verwandelte. Irgend etwas bewegte sich. Matt schaute krampfhaft aus dem Augenwinkel in Richtung des Schimmerns, ohne den Kopf zu bewegen. Langsam nahm es Gestalt an - eine Figur in einer alten Rüstung. Doch das Gesicht war nicht menschlich. Es glich einem Schwein, ohne Augenlider und mit tiefen Brauen. Das Maul war aufgerissen. Fünf Zentimeter große, spitze Zähne blitzten auf. Langsam bewegte sich die Gestalt auf ihn zu. Speichel floß aus dem Maul. Matt hatte keine Angst. Er war sicher, daß das Ding nicht existierte. Es war nur eine Illusion. Was hätte sonst in die Kapelle vordringen können, die durch Hardishanes Höhle bewacht war? Außerdem konnte er auch hindurchsehen. Er wußte nicht, wer ihm diese Erscheinung geschickt hatte, auch nicht warum - vielleicht sein Unterbewußtsein? Konnte dies Trugbild ihm weh tun? Nur, wenn er daran glaubte. Und das tat er nicht. Er streckte die Hand aus und spreizte die Finger. Das Monster beugte sich darüber. Das offene Maul mit den Haifischzähnen wölbte sich um die Hand - biß aber nicht zu. Die liderlosen Augen funkelten ihn an. Dann verblaßte die Erscheinung langsam. Matt nickte befriedigt. Er hatte doch gewußt, daß es eine Illusion war! Deshalb konnte sie ihm auch nichts antun! Was sagte das über die Menschen dieses Zeitalters und diesen Ort aus? Existierten ihre Magie und ihre Monster nur, weil sie daran glaubten? Nein, mit Sicherheit nicht! Stegoman hatte keine eigene pragmatische Realität, oder? Dann flackerte etwas rechts vom Altar. Es kam auf Matt zu und verdichtete sich zusehends. Um die Mitte war eine schwere Kette gewickelt, die das Ding hinter sich herschleppte. Es trug zerrissene Aristokraten-Gewänder. Das Gesicht mit dem verfilzten schwarzen Haar und dem speichelbefleckten Bart hatte eine hohe Stirn, eine Adlernase und schmale Lippen. Ein aristokratisches Antlitz! Aber die Augen rollten wild. Wahnsinn lag darin. Mit ausgestreckten Krallenfingern kam die Erscheinung kichernd auf Matt zu und wollte ihm an die Kehle. Matt blickte es starr an. Er konnte diesmal zwar nicht hindurchsehen; aber es mußte ebenfalls eine Illusion sein. Der Wahnsinnige hielt eine Handbreit vor Matts Hals inne und starrte ihn an. Dann zeigte er schrill kichernd auf Matt. Das Kichern wurde lauter und schließlich zu einem schrillen Gelächter. Dann schossen die Finger vor und suchten Matts Kehle. Das Gesicht verzerrte sich in mörderischer Wut. In den Augen glitzerte es seltsam. Dann drückten die Finger zu. Matt spürte einen leichten Druck. Das stimmte nicht. Er _wußte_, daß dieser Irre nicht real war, ihn also auch nicht berühren oder würgen konnte. Es war nur ein Phantom, das ihn in Versuchung führen sollte. Man wollte herausfinden, ob er die Grundbegriffe gelernt hatte und Reales von Irrealem unterscheiden konnte. Matt konnte! _Jetzt ist Schluß mit all der Verwirrung_! Tonlos formten seine Lippen diese Worte. Das Phantom blickte ihm weiterhin unbewegt in die Augen, doch dann wurde es schwächer, bis nichts mehr zwischen Matt und dem Altar stand. Matt sonnte sich im Gefühl der Rechtschaffenheit. Sein Sinn für Realität hatte den Tatsachen entsprochen. Was er für eine Illusion gehalten hatte, war auch eine Illusion gewesen. Also lebte er immer noch. Welche Rolle Glaube für die Existenz spielte, war unklar. Aber der Glaube an seine eigenen Wahrnehmungen war wichtig gewesen. Der Test war drastisch, aber einfach. Und Matt hatte ihn bestanden. Was, wenn er geglaubt hätte, die Erscheinungen wären real gewesen? Dann hätten sie ihm etwas anhaben können. In anderen Worten - Matt hätte sich von seinem eigenen Verstand verletzen lassen! Selbst in seinem heimischen Universum konnten Menschen durch ihre Illusionen zerstört werden. Hier war der Vorgang nur direkter. Seine Gedanken flogen in alle möglichen Richtungen, befaßten sich mit hunderttausend Möglichkeiten, die alle mit Glauben und Existenz zu tun hatten - bis die Rüstung sich bewegte. Klappernd bewegten sich die einzelnen Teile, bis ein großer stählerner Mann sich vor Matt aufbaute. Schweigend und unheilverheißend stand er da, Matts Schwert an der Hüfte. Dann zog der hohle Ritter das Schwert aus der Scheide, packte es mit beiden Händen und holte weit aus. Jeder Zentimeter Haut kribbelte vor Terror. Matt wußte, was diese Klinge anrichten konnte. Würde sie ihn berühren, war er tot. Ob durch seinen unbewußten Todeswunsch oder durch fremden Zauber - dies Schwert bedrohte ihn. Ihm wurde mit zunehmendem Schrecken bewußt, daß er die Grenzschwelle überschritten hatte - er akzeptierte die Realität der Illusion, zumindest zum Teil. Aber Illusion oder nicht - wenn das Schwert ihn traf, würde er sterben. Das Schwert kam herab. Voller Panik machte Matt sich klar, daß Magie niemals gegen den eigenen Verstand funktionieren konnte. _Glaube und Gebet_! Die Augen auf den Altar geheftet, murmelte er blitzschnell alle Worte, die ihm aus früheren Gebeten einfielen. Das Schwert blieb in der Luft stehen. Die Rüstung fiel klirrend in sich zusammen. Das Schwert schlug beim Aufprall noch ein Stück aus dem Höhlenboden, dann lag es still da. Matt saß reglos mit gefalteten Händen da. Das Blut hämmerte in seinem Kopf. Glaube! Wenn der gesamte Verstand weg war und ein Mensch wurde mit sich selbst konfrontiert, kam die Antwort aus dem Bauch - was er in Wahrheit glaubte! Eine Hand berührte seinen Arm. Er fuhr zusammen. Sir Guy stand neben ihm. "Ist alles in Ordnung, Matthew?" fragte er besorgt. Mit großem Widerwillen ließ Matt sich zurück in die Realität ziehen. Er berührte die Steine auf dem Boden, hörte den Nachhall von Sir Guys Stimme und war danach wieder im wirklichen Leben. Er schaute zu Sir Guy auf und lächelte. "Es geht mir sehr gut." Erleichterung leuchtete aus Sir Guys Augen. Er nickte. "Und Eure Wache?" Matt reckte sich und stand auf. "Alles gut. Jetzt weiß ich, was ich glaube." Freude huschte über sein Gesicht. "Dann habt Ihr es, Lord Matthew! Kommt, nehmt die Rüstung auf!" Matt verstand erst nicht ganz, bückte sich aber gehorsam und packte die Rüstung zusammen. Sie wog mindestens hundert Pfund, vielleicht mehr. Aber er wankte nicht unter der Last. Etwas hatte sich in seinem Körper in dieser Nacht verändert. Er verfügte über ungeahnte Kräfte. Oder war das ebenfalls Glaube? Er folgte Sir Guy in die Halle. Dort war es heller als zuvor. Ein Gefühl der Erwartung lag in der Luft. Die alten Ritter warteten auf irgend etwas. Was war los? "Wie lang war ich eigentlich dort drinnen?" fragte er Sir Guy. "Nur eine Nacht, zehn Stunden", antwortete Sir Guy. "Zehn?" Matt war verblüfft. "Ich hätte geschworen, es waren höchstens zwei oder drei Stunden." "O nein, es waren zehn", sagte Sir Guy mit einem leichten Lächeln. "Und fühlt Ihr Euch ermüdet?" "Nun, vielleicht ein bißchen - aber im Kopf erfrischt." "Doch der Körper war müde. Dürfte ich ein Bad vorschlagen?" "Ein _Bad_?" Matts Augen leuchteten auf. "Teufel ja! Ich habe seit einer Woche nicht mehr gebadet." "Dann entkleidet Euch." Matt legte die Rüstung nieder und zog Tunika und Beinkleider aus. Erstaunt sah er, wie sie sich von selbst zusammenlegten. Dann führte ihn Sir Guy zur >Wanne<. Auf halbem Weg zu Hardishane hatte man einige Steinplatten entfernt. Direkt unter den Nasen von zwei toten Rittern war das Becken. Aus Felsen gehauen, wahrscheinlich von einer Quelle gespeist. Matt zitterte vor Kälte, als er das Wasser nur ansah. "Geht hinein!" sagte Sir Guy. Matt spürte, daß dies wieder eine Probe war. Er verdrängte den Ärger und stieg ins Wasser. Eisige Kälte lahmte seine Beine. Er unterdrückte mühsam einen kräftigen Fluch, holte tief Luft und tauchte unter. Beinahe hätte er vor Schmerzen geschrien. Flüssiges Eis umhüllte jede Körperzelle! Hielten sich die Ritter auf diese Weise so frisch? Durch Kälte? Er kam wieder an die Oberfläche und atmete die Luft ein, die ihm jetzt sehr warm vorkam. Ein zustimmendes Murmeln ging durch die Halle. Wenigstens hatte er seine Sache richtig gemacht! Er begann, sich abzuschrubben. Sir Guy war weggegangen - hoffentlich, um ein Handtuch zu holen, dachte Matt. Da drang eine harte Stimme an sein linkes Ohr. "Was ist die erste Pflicht eines Ritters?" "Treue seinem Herrn gegenüber", antwortete Matt automatisch und schaute überrascht auf. Links von ihm saß ein alter, grimmig dreinschauender Ritter. Tot oder nicht - Matt war sicher, daß die Stimme von ihm gekommen war. "Und danach der Lady seines Herrn gegenüber." "Und was ist mit dem König?" quakte jemand von rechts. Matt schöpfte Wasser über die Schulter und zitterte vor Kälte. "Ein Ritter ist selbstverständlich seinem König gegenüber loyal - aber da gibt es eine Rangleiter. Zuerst der Vasall dem Lord gegenüber, dann kommt der Oberlord, dann der Oberlord des Lords - bis zum König." "Und wenn der König mit dem Lord des Ritters in Fehde liegt?" wollte eine dritte Stimme wissen. Was war das? Mündliches Examen für die Doktorprüfung? "Dann muß der Ritter sich auf die rechtmäßige Seite schlagen. Wenn sein Lord unrecht hat und der König recht, dann muß er zu seinem Lord gehen und ihm offiziell den Dienst aufsagen. Danach kann er gehen, wohin er will, auch seine Dienste dem König anbieten." "Hervorragende Antwort!" meinte eine vierte Stimme. "Wie lautet die erste Regel in der Schlacht?" Matt hatte eigentlich genug. "Offensiv oder defensiv?" "Korrekt gefragt!" Die Stimme klang begeistert. "Was ist die erste Sorge bei einer Offensive?" So ging es ewig weiter, während Matt in dem eisigen Wasser dahinzitterte. Endlich kam Sir Guy zurück. Er trug ein zusammengefaltetes Tuch über dem Arm. Aber dann stand er da und hörte respektvoll zu, wie die Ritter Matt mit Fragen überhäuften. Manchmal gab er die falsche Antwort und wurde dafür von einem Ritter getadelt; aber in neun aus zehn Fällen konnte er aufgrund seiner guten Geschichtskenntnisse richtig antworten. Offenbar reichte dies den toten Rittern nicht. Sie mußten ihre Fragen seit Jahrhunderten gespeichert haben. Endlich mischt Hardishane sich ein. "Genug! Er kennt die höfischen Regeln ebensogut wie jeder Ritter. Holt ihn heraus!" Sir Guy reichte Matt die Hand. Dankbar stieg er heraus und trocknete sich schnell ab. Als er zum Rücken kam, nahm Sir Guy ihm das Handtuch weg. Matt wollte protestieren; aber das schien auch zur Zeremonie zu gehören. Sir Guy rieb ihm den Rücken trocken. "Ihr habt nichts als die Wahrheit gesprochen." Matt schaute in Richtung dieser Stimme und sah einen alten Mann mit weißem Bart. Er bewegte sich nicht, nur die Stimme tönte weiter. "Doch wir sprachen hier nur von höfischer Lebensart, nicht von Magie. Das kommt jetzt. Hütet Euch vor Malingo, Lord Magier. Er ist schlimmer, als es den Anschein hat. Er ist nämlich mehr Dämon als Mensch. Doch darin liegt auch seine Schwäche." Matt war überrascht. Aber er hatte keine Zeit, darüber nachzudenken, da Sir Guy ihm die Beinkleider reichte - _saubere_! Sie paßten wie angegossen. Dann kam eine Tunika, danach ein wattierter Überrock. Er legte gerade den Gürtel an, als Sir Guy ihm ein Stück der Rüstung auflegte. "He, wartet eine Minute! Ich bin nicht befugt, eine Ritterrüstung zu tragen!" "Warum nicht?" Sir Guy schnallte ihm das nächste Teil um. "Aber - ist das nicht gegen die Regeln oder so?" Sir Guy zuckte mit den Achseln. "Ihr könnt kaum abstreiten, daß Ihr eine Rüstung nötig habt. Wir ziehen nämlich in die Schlacht, Lord Magier." Matt gab auf und ließ sich widerspruchslos von Sir Guy in die Rüstung verpacken. Irgendwie kam es ihm nicht richtig vor - aber wer war er, daß er sich aufregte? Die Rüstung paßte perfekt. Sie war wunderschön - und schwer! Beim ersten Schritt wäre Matt beinahe gefallen. Daran mußte er sich erst gewöhnen. "Haltet Euch ganz gerade", riet ihm der nächste Ritter. "Ihr müßt das Gewicht auf den Schultern tragen, ehe Ihr im Sattel sitzt." "Am Anfang ganz langsam bewegen", lautete der Ratschlag eines anderen. "Laßt Eurem Körper Zeit. Er muß sich daran gewöhnen, das Gewicht richtig zu verteilen." Es folgten noch viele Ratschläge. Matt ging versuchsweise auf und ab. Sie waren geduldige Lehrmeister, was ihn nach dem harten Kreuzverhör erstaunte. Inzwischen war Sir Guy wieder verschwunden. Als die Ritter Matt endlich das Schwert ziehen ließen und ihm Anweisungen gaben, wie er damit umzugehen habe, fühlte er, daß er noch ein weiteres Examen bestanden hatte. Da erschien Sir Guy wieder auf der Bildfläche. Er trug seinen eigenen Hummerpanzer wieder. "Kommt, Lord Magier." "Zeit, sich auf die Socken zu machen, was?" Matt gelang es, eine Art Verbeugung zu schaffen und - was ihn viel mehr erstaunte - sich wieder aufzurichten. "Ich danke Euch, Sirs und Lords, für Eure Lehren und Eure Ratschläge." Zustimmendes Gemurmel, doch der nächste Ritter sagte nur: "Geht mit de Toutarien!" Sir Guy packte Matt am Arm, ehe er antworten konnte, und schob ihn in Richtung Kaiser. Matt wünschte, jemand würde ihn aufklären. Zwei Meter vor dem Kaiser blieb Sir Guy stehen und flüsterte: "Kniet nieder!" _Knien_! Matt hatte nur mit größter Mühe eine _Verbeugung_ geschafft! Sir Guy war der einzige, der ihn nicht anschaute. Wie die toten Ritter ihn mit ihren geschlossenen Augen beobachten konnten, wußte Matt nicht; aber er wußte, _daß_ sie es taten - und das war ein ziemlich unheimliches Gefühl. _Verbanne es aus deinen Gedanken_! befahl er sich selbst und konzentrierte alles darauf, die Knie zu neigen. Langsam, langsam. Endlich hatte er es geschafft und schaute auf. Der Kaiser saß riesig und golden hoch über ihm. "Schwört Ihr jetzt mir und allen meinen Nachkommen die Treue? Wollt Ihr mir dienen, meinem Ruf stets Folge leisten und mich und die Meinen mit Körper und Leben verteidigen, falls dies nötig sein sollte?" Matt starrte den goldenen Riesen an. Plötzlich wurde ihm klar, daß dieser Mann die Verkörperung all des Guten war, das es je in Aristokratie oder Armee gegeben hatte, und daß die Jahrhunderte nichts Böses oder Schwächen zurückgelassen hatten, von welchen er sich hätte reinigen müssen. "Das schwöre ich mit Freuden, Majestät. Es ist eine große Ehre für mich. Ohne jegliche Einschränkung bin ich Euer Mann." "Gut gesprochen", lobte eine Stimme. "Neigt Euer Haupt!" Sir Guy trat zu Hardishane und holte das Breitschwert des Riesen. Dann spürte er, wie sich das schwere Schwert auf seine Schultern legte. "Mit diesem Schwert schlage ich Euch zum Ritter", erklärte der Kaiser. Matt war überwältigt. Schließlich wagte er es, die Augen zu diesem unglaublich großen, goldenen Herrscher zu erheben. "Erhebt Euch, Sir Matthew!" befahl der Kaiser. Matt stand auf. Er fühlte sich gleichzeitig völlig erniedrigt und erhöht. "Einen Rat habe ich noch", erklärte Hardishane lautstark. "Hütet Euch vor falschen Illusionen und vor allen Werken des Bösen, welche sich in Klagen über Sinnlosigkeit ausdrücken, denn wir haben immer ein Ziel. Nichts ist sinnlos. Es heißt nur: Warten und sicherzustellen, daß jemand nach uns weiter wartet und Wache hält, bis der Tag kommt, an dem wir uns gegen das Böse erheben. Nur wenn wir dafür ständig bereit sind, können wir es verhindern." "Ich werde es nie vergessen, Majestät", sagte Matt und neigte den Kopf. "Und beugt nie Euer Haupt, auch nicht vor mir!" fuhr ihn der Kaiser an. "Steht stolz und aufrecht da, denn Ihr seid ein Ritter Hardishanes." Matt nahm sofort Haltung an. "Nun geht von dannen mit folgendem Befehl." Die Stimme des Kaisers wurde hart. "Vernichtet den Zauberer Malingo! Holt seinen Strohmann Astaulf vom Thron. Bringt wieder Sauberkeit in dieses Land, und gebt es Gott zurück!" "Ich werde mein Bestes tun, Majestät!" Sir Guy steckte Hardishanes Schwert zurück in die Scheide und raunte Matt zu: "Dreht Euch um und geht hinaus!" Matt war überrascht. Dem Kaiser den Rücken zukehren? Doch dann machte er kehrt und ging mit Sir Guy weg. Dabei streifte sein Blick einen kleineren Sitz zur Rechten des Kaisers, der ebenfalls vergoldet war. Für wen war der bestimmt? Für einen Ritter, der gestorben war, ohne daß von ihm etwas übrig geblieben war? Oder für jemanden, der gerade fehlte? Ihm lief es kalt über den Rücken bei dem Gedanken, daß eine dieser Leichen durchs Land marschierte. Doch dann schob er den Gedanken beiseite. Er marschierte mit Sir Guy zwischen den toten Rittern dahin. Matt kam es vor, als höre er einen Chor in der Ferne ein Triumphlied singen. Bei jedem Ritter, an dem sie vorbeigingen, klangen ihm noch die betreffenden Ratschläge in den Ohren - Lebensweisheiten in jeweils einem Satz. "Kämpfe nie, solang dein Recht nicht einwandfrei feststeht, aber dann zögere deinen Schlag nicht hinaus."... "Fürchte dich nie, zu einem höheren Platz aufzusteigen. Sobald du nämlich oben bist, wirst du wissen, warum."... "Bleib stets in der Nähe deiner Waffen, denn in jedem Menschen ist das Blut Kains."... "Erstrebe nie mehr Macht, als Gott gewährt, denn er gleicht sie deinen Aufgaben an."... "Erkenne dich selbst und prüfe dich immer, welcher Mensch du geworden bist."... So ging es weiter, bis sich in Matts Kopf alles drehte. Sie hatten jetzt den niedrigen Tunnel erreicht, der in die äußere Höhle führte. Sobald sie um die Ecke gebogen waren, lag die Halle hinter ihnen. Matt tat es irgendwie weh. In der äußeren Höhle begrüßte sie der Lichtpunkt. "Ich wollte schon das Wasser für dich anwärmen, Magier; aber dann ließ ich es." Matt nickte geistesabwesend. "Das war gut so. Sehr gut!" Matt rief. Sofort kam Stegoman angeflogen. Sir Guy blickte umher, als suche er etwas. Dann setzte er die Finger an die Lippen und stieß einen schrillen Pfiff aus. Ein paar Minuten später kam sein Pferd angetrabt. Offenbar hatten die Nonnen das Tier freigelassen. Wie von Sir Guy vorausgesagt, hatte es seinen Herrn gefunden. Im goldenen Licht des frühen Morgens ritten sie weiter ins Gebirge. Matt ritt schweigend dahin. In seinen Ohren dröhnte noch das Klirren der Breitschwerter aus uralten, längst vergangenen Kämpfen. Sie erreichten einen Aussichtspunkt. Vor ihm lag zwischen hohen Gipfeln ein Paß. Die Seiten waren lange Geröllhalden, aus denen einige Basaltkegel hervorragten. Oben krönten Felsenklippen die Höhen. Der Anblick riß ihn aus seinen Gedanken. "He, Sir Guy - wo sind wir?" Der Schwarze Ritter lächelte Matt wohlwollend an. "Na, aufgewacht? über diesen Paß müssen wir reiten. Dahinter liegt die Ebene von Grellig. Sie ist ein schüsselförmiges Hochtal, einen Tagesritt entfernt." "Und dieser Paß führt direkt dorthin?" Matt beäugte mißtrauisch die steilen Geröllhalden und die Felsen darüber. Er sah einen Pfad, der aber offensichtlich nicht oft benutzt wurde. Einige wenige Büsche, etwas Gras - sonst wuchs hier nichts. Dennoch besaß dieser Ort eine ehrfurchtgebietende Schönheit - Matt hatte selten eine schönere Landschaft gesehen. "Sir Guy, mir fällt etwas auf." "Ja?" "Dies ist ein hervorragender Paß durchs Gebirge. Warum wird er so wenig benutzt?" In diesem Augenblick stürzte ein acht Fuß großes Wesen wie eine Lawine auf sie zu. Behaart wie ein Grizzly, mit hervorstehenden Augen und riesigen Hauern. Es trug einen Harnisch, Beinschienen und einen Helm, der an griechische Modelle erinnerte. Er wirbelte zwei Breitschwerter wie Dolche herum. "Was zum Teufel ist denn _das_?" fragte Matt. "Ein Oger." Sir Guy zückte sein Schwert. "Verteidigt Euch!" Von irgendwoher traf Matt ein Energiestoß. Auch er zog schnell seine Klinge. Der Menschenfresser sprang mit Gebrüll auf sie zu. Ein Flammenstoß aus Stegomans Maul schlug ihm entgegen. Gewandt wich der Oger aus und führte einen schrecklichen Schlag gegen Matts Kopf. Dieser riß den Schild hoch. Eine Bombe schien dagegen zu explodieren. Er wurde von Stegomans Rücken geschleudert und landete unsanft im Geröll. Durch das Dröhnen in seinem Kopf drang Sir Guys Stimme und das Gebrüll des Ogers. Matt kam mühsam wieder auf die Beine. Der Oger drosch mit beiden Schwertern auf Sir Guy ein. Der Ritter versuchte, die Hiebe zu parieren und sein Roß zu zügeln, das wild um sich schlug. Stegoman drehte den Kopf, um das Scheusal in Schußlinie zu bekommen; aber er war zu nahe an Sir Guy. Matt riß sich zusammen und griff an. Der Oger schwang sofort ein Schwert nach ihm. Matt parierte mit der Schneide. Der Schlag schmerzte bis in die Schultern; aber der Oger hatte nur noch ein halbes Schwert in der Hand. Doch auch damit führte er einen fürchterlichen Schlag gegen Matt. Dieser konnte sich nur mit Mühe auf den Beinen halten. Er wirbelte herum und schlug aus der Drehung heraus gegen den mächtigen Oberschenkel. Der Oger sprang zurück, doch mußte er ein Stück Haut lassen. Der Unhold brüllte vor Schmerzen. Dann griff er Sir Guy und Matt gleichzeitig an. Matt mußte zurückweichen, bis sein Rücken gegen etwas Hartes stieß. Die Felswand ragte steil über einem riesigen Geröllhang auf. Matt senkte den Kopf und fing gerade noch rechtzeitig einen furchtbaren Schlag mit dem Schild ab. Er sah, daß Sir Guys Pferd auch vor der Felswand neben dem Abgrund stand. "Verflucht seien alle Feiglinge in metallenen Schneckenhäusern!" schrie der Oger und hob einen Stein auf, der so groß wie ein Basketball auf. "Vorsicht!" schrie Sir Guy und suchte unter dem Schild Deckung, als der Oger mit dem Stein weit ausholte. Auch Matt verkroch sich unter seinem Schild. Dann hörte er, wie der Stein weit über ihm einschlug. Lautes Donnern folgte. Er trat einen Schritt vor und rief. "Sir Guy! Schnell weg von hier!" Schon prallten die ersten Kiesel auf seine Rüstung. Mit hoch erhobenem Schild suchte er Deckung in einer Felsnische. Die Geröllawine schien ewig zu dauern. Endlich herrschte wieder Stille. Sir Guy neben ihm seufzte erleichtert. Aber die Geröllmassen hatten sich vor ihnen mannshoch aufgestaut. Nur das Pferd konnte darüber hinwegsehen. Der Oger brach in schallendes Gelächter aus. "Eh, geschieht euch recht! Warum kommt ihr Idioten auch in meine Berge!" Mit gezücktem Schwert kam er auf Matt und Sir Guy zu. "Vielleicht sollte ich zur Abschreckung für andere ein Warnzeichen am Eingang zum Paß aufhängen. Eure Köpfe zum Beispiel!" Da hüllte plötzlich eine Flammenwand den Hang und den Oger ein. Matt hörte ihn vor Wut und Schmerzen schreien. Als die Flammen so plötzlich verloschen, wie sie gekommen waren, sah Matt das Ungeheuer sechs Meter weiter fluchend seine Brandwunden reiben. "Mich hattest du wohl vergessen!" dröhnte Stegoman. "Bleib meinen Rittern fern, du widerliches Scheusal!" Der Oger antwortete mit einem Schwall von Verwünschungen, kam aber nicht näher. Erleichtert atmete Matt auf. "Danke, Stegoman!" "Schon gut, Magier. Ich wünschte, ich könnte euch mehr helfen." "Da sehe ich eine Möglichkeit", meinte Matt und blickte auf die Geröllbarriere vor sich. "Diese Steine müssen weg." "Ja, ja! Mit meinen Klauen kann ich graben, aber nichts heben." "Hm, da haben wir ein Problem." Matt kaute auf der Unterlippe. "Irgendwie _müssen_ wir hier aber raus." "O nein, ihr müßt gar nichts", erklärte der Oger und ließ sich außerhalb der Flammenreichweite nieder, als wolle er dort Wurzeln schlagen. "Ich kann nicht zu euch, solange der Drache da ist; aber ihr könnt auch nicht raus. Es wird einige Zeit dauern, bis ihr an Hunger und Durst eingegangen seid, aber irgendwann ist es so weit. Und dann hole ich mir eure Köpfe." "Vorsicht, du übler Abklatsch eines Menschen!" fuhr ihn Stegoman an. Der Oger sprang auf und ging etwas zurück. Dann rief er Stegoman höhnisch zu: "Ja, ja. Weiter kannst du nicht gehen - denn sonst sause ich an dir vorbei und schneide deinen Freunden die Köpfe ab!" Stegoman stieß wütend eine Feuergarbe aus. Doch sie erreichte den Oger nicht. Dieser setzte sich wieder und lachte. Matt überlegte krampfhaft. "Du bist doch ein phantastischer Kämpfer - und Verstand hast du offenbar auch. Warum verkriechst du dich hier draußen und überfällst harmlose Reisende?" "Mach dich nicht lustig über mich!" brüllte der Oger und sprang auf. "Ist es nicht genug Strafe, in solcher Gestalt herumlaufen zu müssen? Muß ich auch noch euren Spott ertragen?" "Mein Gefährte sprach im Ernst", erklärte Sir Guy. Überrascht schaute der Oger ihn an. Die Stimme des Ritters klang direkt weich. "Mein Gefährte ist nämlich ein seltsamer Mann - er scheint nur die verborgenen Fähigkeiten zu sehen. Seine Frage war ehrlich gemeint." "Glaubt Ihr, daß ihr ein Kleinkind vor Euch habt?" fragte der Oger mißtrauisch. "Ich lasse mich von Euch doch nicht einwickeln." "Glaub doch, was du willst!" sagte Matt. "Doch Sir Guy hier sprach die Wahrheit. Klar, du bist häßlich wie die Sünde, aber so, wie du kämpfst, würde jeder Baron dich mit Kußhand in seine Armee aufnehmen. Hast du schon mal versucht, dich als Freiwilliger zu melden?" "Blöde Frage!" antwortete der Oger. "Die Menschen haben mich ausgestoßen, warum sollten sie mich dann wieder aufnehmen?" "Ausgestoßen?" bohrte Matt nach. "Wirklich? Oder gaben sie dir nur das Gefühl, unerwünscht zu sein?" "Es war eine richtige Verbannung." Der Oger schaute Matt verwundert an. "Was für Männer seid ihr, wenn ihr nicht einmal dieses Ritual kennt?" "Ritual?" Fragend schaute Matt den Ritter an. Sir Guy nickte. "Ja, eine richtige Zeremonie, mit Glocken, Bibel und Kerzen." "Und der Priester an der Spitze!" Der Oger spuckte aus. "Ich war ein Kind wie alle anderen auch. Vielleicht waren meine Arme und Beine etwas länger. Aber mit dreizehn wuchsen mir auf einmal am ganzen Körper Haare, und meine unteren Eckzähne wurden immer länger. Da hielten mich alle für besessen. Sie schworen, ich sei eine Ausgeburt der Hölle. Sogar mein eigener Vater bat mich, das Haus zu verlassen. Aber ich hatte Angst. Was würden die Nachbarn ihm nicht alles antun, weil er ein solches Monster wie mich gezeugt hatte! Da bin ich eben geblieben. Dann bestürmten alle diese guten gottesfürchtigen Menschen den Priester, mich zu verbannen. Er kam mit Bewaffneten, Weihwasser und brennender Kerze. Dann las er mir aus der Bibel vor. Ich wußte nur, daß ich zwar einen Soldaten besiegen könnte, aber dann zwanzig neue kommen würden. Früher oder später würden sie mich niederringen. Also verließ ich das Dorf. Zwei Nächte lang versteckte ich mich im Wald. Da hörte ich, wie zwei Dorfbewohner erzählten, daß sie das Haus meines Vaters niedergebrannt hätten, so daß er in der Kirche Zuflucht suchen mußte. Daraufhin brannte ich deren Häuser nieder, schwor allen Menschen ab und lebe seitdem hier." "Aha." Matt spitzte die Lippen. "_Ich kann nicht weinen, alles Naß in mir g'nügt kaum, mein lichterlohes Herz zu löschen - Auch kann die Zunge nicht mein Herz entlasten: der Seele Hauch, womit sie sprechen sollte schürt Kohle ein, die ganz die Brust durchglüh'n mit Flamme, welche Tränen löschen würde, wer weint, vermindert seines Grames Tiefe: drum Tränen für die Kinder - Kinder Rache mir!"_ Die Augen des Ogers leuchteten auf. "Ja, das paßt genau auf mich! Wer hat das gesagt?" "Shakespeare, in _Richard III_." Matt hatte sich gedacht, daß dieses Zitat passen würde. "Sein Name war Richard? Ich heiße Breaorgh. Aber das ist unwichtig! Wir sind dieselbe Person!" Es war gut, den Namen des Ogers zu kennen; aber noch besser war, daß dieser sich mit Richard, Shakespeares schlimmstem König, identifizierte. Richard war nicht immer die Verkörperung des Bösen gewesen, sondern erst nach und nach dazu geworden. Wenn Matt nun die Verse des Barden umwandelte, konnte er damit vielleicht auch Breaorghs Charakter ändern. "_Ich, roh geprägt, entblößt von Liebe-Majestät, vor leicht sich drehlinden Nymphen, sich zu brüsten. Ich, um dies schöne Ebenmaß verkürzt, von der Natur um Bildung falsch betrogen, entstellt, verwahrlost, vor der Zeit gesandt, in diese Welt des Atems, halb kaum fertig gemacht, und zwar so lahm und ungeziemend, daß Hunde bellen, hink' ich wo vorbei ...und darum, weil ich nicht als ein Verliebter, kann kürzen diese fein beredten Tage, bin ich gewillt, ein Bösewicht zu werden und feind den eitlen Freuden dieser Tage..."_ Breaorgh nickte eifrig. "Ja, ja! Das bin ich! Kummer habe ich erfahren, der eine Tränenflut auslösen kann! Doch halte ich sie zurück, damit die Rache brennen kann!" Er nahm das unversehrte Breitschwert wie einen Wurfdolch in die Hand. Schnell brachte Matt die nächsten Zeilen: "_Nicht weinen kann ich mehr, da meines Körpers Säfte kaum stillen das brennende Herz. Auch kann die Zunge nicht erleichtern des Herzens schwere Last, da doch mit jedem Hauch die Glut geschüret würde, welch' brennt so heiß in meiner Brust, Die Flammen würden mich verzehren. Allein der Tränen Flut könnt' sie nur löschen. Fürwahr weinen kann lindern schweren Gram! Doch Tränen sind für Kinder! Mein ist der Kampf und auch die Rache."_ Breaorgh verzog den Mund. "Ja, so sind sie, die kleinen Männer! Mich nennen sie Monster; aber wenn es gilt, Mut zu beweisen, sieht man von ihnen nur den Rücken." "Irre ich mich, oder sind die Fangzähne kürzer geworden?" fragte Sir Guy. "Stimmt!" Matt wurde vor Erleichterung fast schlecht. "Seht hier! Die Haare fallen aus, auch die Augen werden kleiner. Sobald er sich mit Richard identifizierte, widerfährt ihm dasselbe wie Richard. Und ich habe Richard rückwärts laufen lassen. In _Richard III_ war er ein Ungeheuer, doch in _Henry VI_ fing er als netter junger Mann an." Er wandte sich wieder Breaorgh zu. Ein ungutes Gefühl überkam ihn. Jetzt wurde es gefährlich - Prinz Hal. Würde die Identifizierung mit Richard andauern? Sie mußte - denn Richard und Hal waren die Gegenpole in Shakespeares Charakterfolge. Man konnte sogar behaupten, sie hätten denselben Charakter eines Königs - nur in zwei Extremen. Nun, frisch gewagt... "_Gar oft schon sah ich manchen jungen Hund, gar bissig nach der Kette Zwang, der - kaum daß ihn des Bären Pranke traf, einzwängt den Schwanz und heulend heimwärts lief. So wird es denen auch ergeh'n, die Ogern in den Weg sich stellen."_ "Nein, Ihr könnt doch nicht annehmen, daß ich so bin!" schrie Breaorgh. "Wie könnte unter meinem Fell solche Schönheit verborgen sein?" Aber er wollte es glauben. Seine Augen waren beinahe normal. Das Fell fiel büschelweise von ihm ab. Die Fangzähne waren nur noch zwei weiße Punkte über der Unterlippe. Matt lächelte und fuhr fort. "_Doch hier die Sonn' will imitieren ich, welch zwar gestattet dicken Wolken fast zu ersticken ihrer Schönheit Glanz, Doch wenn sie wieder selbst will scheinen, ist mehr geschätzt noch, da sie größ'res Wunder dann vollbringt, indem sie durch des Dunstes Dämpfe, ohn' der Gefahr zu achten, sich dann drängt."_ Als Matt geendet hatte, blickte Breaorgh nachdenklich drein. Man hörte nur das leise Rauschen der ausfallenden Haare. "Es ist eine Lüge!" Aber Breaorgh klang keineswegs überzeugt. "In mir steckt nichts Gutes oder Ehrenwertes, das ich verbergen könnte. Ich bin, was ich immer war - ein häßliches Ungeheuer mit bösem Charakter! Oder etwa nicht?" "Schau dir deine Füße an", sagte Matt. Breaorgh blickte nach unten - und erstarrte. Ganz langsam ließ er die Augen über den Rest des Körpers gleiten. "Nun, den Schönheitspreis für Feingliedrigkeit würde ich dir nicht gerade verleihen", sagte Sir Guy. "Aber ich habe schon mehr Haare bei so manchem Landedelmann gesehen. Und die Fänge sind völlig verschwunden." Mit angstvoller Stimme und furchtsamem Blick fragte Breaorgh: "Was ist das für ein böser Zauber?" "Magie", verbesserte ihn Matt. "Hast du in letzter Zeit mal in den Spiegel geschaut?" Der Oger starrte ihn an. "Spiegel? Was ist das?" Klar, in dieser Kultur kannten Bauern keine Spiegel! "Schau in einen stillen Teich, irgendeine glatte Wasserfläche, sogar eine Pfütze reicht. Schau hinein! Du wirst überrascht sein." Breaorgh wandte sich zögernd zum Gehen. Fast schüchtern blickte er sie an. "Keine Angst. Wir werden hier sein, wenn du zurückkommst. Vielleicht nicht so sehr, weil wir es wollen, aber... Auf alle Fälle werden wir hier sein." Erst ging Breaorgh langsam, dann aber immer schneller. Zum Schluß rannte er. Dann war er verschwunden. Matt stieß einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus. "Nun, von einem Totalerfolg kann man zwar nicht sprechen, aber..." "Warum nicht? Er sieht doch jetzt beinahe gut aus - sofern er noch badet." "Nun, vielleicht. Aber da bleibt noch die Sache mit dem halben Meter zuviel an Größe." "Ach was!" widersprach Sir Guy. "Ich kenne keinen Baron, der nicht gern einen so langen Kerl in seiner Armee hätte." Eine kleine Steinlawine kam herunter. Breaorgh rutschte den Abhang hinunter. "Es ist ein Wunder!" schrie er. "Ich bin sauber! Mein Gesicht ist wie vor der Verwandlung! Ihr seid wirklich ein Magier!" "Nun, wenn du es erwähnst", sagte Matt. "Stimmt." Der Oger stieß einen Freudenschrei aus und stürzte sich auf die Steine. Mit beiden Händen packte er sie und schleuderte sie wie Spielzeugbälle davon. "Ich will Euch die Füße küssen!" Im Nu war das Hindernis weggeräumt. Auch Sir Guy und sein Roß waren befreit. Breaorgh küßte erst Matts Schuh, dann packte er ihn und setzte ihn sich auf den Nacken. "Hiermit schwöre ich Euch nie endende Treue! Das Zeichen dafür ist Euer Fuß in meinem Nacken! Ich bin Euer Mann, solange ich lebe." "Nun, ja..." "Magier!" Sir Guy blickte ihn auffordernd an. Ach ja, die hiesigen Sitten! "Ich nehme deine Dienste an", erklärte er laut. "Und gern! Ich brauche dringend gute Männer. Wir müssen jeden Tag mit einer großen Schlacht rechnen." "Wirklich?" Freudestrahlend schaute Breaorgh ihn an. "Darf ich dann für Euch kämpfen?" "Gewiß!" Besorgt blickte Breaorgh auf Matts leeren Schild. "Ich sehe kein Wappen." "Es wurde ihm noch nicht verliehen, da er der erste in seiner Familie ist, der zum Ritter geschlagen wurde", erklärte Sir Guy. "Aber wie du sehr richtig vermutet hast - er ist mehr als ein Ritter, er ist ein Magier. Ab heute dienst du Matthew, dem rechtmäßigen Lord Magier von Merovence." Breaorgh stand stumm da. Matt nickte verständnisvoll. "So ist es. Man sagte mir, daß ich sicher sein kann, daß Malingo etwas gegen mich unternehmen würde, sobald ich den Titel angenommen hätte." "Da könnt Ihr sicher sein!" meinte Breaorgh. "Aber Ihr habt gegen ihn keine Chance. Die Nachkommen des Königshauses, dem Ihr den Treueid geleistet habt, liegen im fernen Bordestang im Verlies." "Nicht mehr." Sir Guy kam etwas näher. "Der Magier hat sie befreit." Breaorgh riß die Augen weit auf und schüttelte den Kopf. "Habe ich recht gehört? Die Prinzessin ist frei?" "Frei und auf dem Weg hierher in diese Berge." Sir Guy nickte. Breaorgh leckte sich die Lippen. "Dann habe ich auch geschworen, ihr beizustehen, oder?" "Ja, so ist es", bekräftigte Matt. "Jetzt freue ich mich über meinen Eid gleich doppelt!" rief der Riese. "Ich werde für die Königin kämpfen!" Er warf sein Schwert in die Luft und fing es am Griff wieder auf. Dann steckte er es entschlossen in die Scheide. "Nun, Lord Magier, führt mich! Gebt mir Aufgaben! - Ich tue alles und noch mehr! Ich werde kämpfen, wie man es nicht mehr gesehen hat, seit Colmain zu Stein wurde!" Dann schoß ihm ein Gedanke durch den Kopf. "Wenn ich nun noch mehr Oger bringe, sagen wir - so an die zwanzig -, die mit uns kämpfen. Würdet Ihr ihnen ebenso helfen wie mir?" Matt dachte kurz nach. Vielleicht waren Breaorghs Kameraden ursprünglich keine Menschen gewesen. Vor seinem geistigen Augen tauchten wilde Gestalten auf - mit zwölf Armen, dicken Baumstämmen ähnlich, mit Heuschreckenköpfen... "Wenn ich es kann, gern...", sagte er vorsichtig. "Mehr kann ich nicht versprechen, Breaorgh. Aber ich versichere dir, daß ich mein Bestes geben werde." "Mehr kann kein Mensch verlangen", rief der Breaorgh. "Ich werde dem besten Magier des Landes eine Schar Oger bringen." Er rannte davon, über den Paß, den Abhang an der anderen Seite empor und verschwand in einer Felsspalte. Matt wollte sich die Stirn wischen. Aber es klapperte. "Au! Verdammt! Ich vergesse es immer noch!" "Und hast du mich auch vergessen?" Ein Lichtpunkt tanzte vor seinen Augen. Er war aus der Rüstung herausgeflogen. "Ich hätte ihn blitzschnell fällen und die Steine wegräumen können, Magier!" Jetzt war Matt verblüfft. In der Hitze des Gefechts hatte er den Dämon wirklich ganz vergessen. *Kapitel 17* Sie waren beinahe am Ende des Passes angelangt, als Stegoman plötzlich stehenblieb, den Kopf hob und zurückblickte. "Ich höre Pferde. Zwei... nein, drei. Sie dürften kurz vor der Paßhöhe sein." Matt schaute Sir Guy fragend an. "Sollen wir in Deckung gehen und später feststellen, ob es sich um Freunde oder Feinde handelt?" Der Ritter dachte kurz nach. Dann schüttelte er den Kopf. "Nein, Lord Magier. Wenn es nur drei Pferde sind, können wir es leicht mit ihnen aufnehmen. Laßt uns ihre Gesichter ansehen." Da tauchten schon die Köpfe der Pferde auf. Danach der kahlgeschorene Fleck einer Tonsur. "Ich glaube...", sagte Matt. Links kam ein Helm, unter dem blonde Locken hervorquollen. Rechts sah man dann eine rabenschwarze Mähne. "Das _ist_ doch... oder?" Sir Guy nickte. "Sie sind schnell geritten." Matt runzelte die Stirn. "Wir hatten einen Aufenthalt von vierundzwanzig Stunden. Trotzdem..." "Offensichtlich war der Kampf ums Kloster schnell zu Ende", meinte Sir Guy. Jetzt schaute Vater Brunel auf und sah sie. Erleichterung und Freude zeichneten sich auf seinem Gesicht ab. Er winkte wie ein Geisteskranker. Auch Alisande hatte sie ausgemacht. Sie setzte sich fester in den Sattel. Sayeesa zeigte bei ihrem Anblick keinerlei Reaktion. Vater Brunel trieb sein Pferd an und war gleich darauf bei ihnen. Er keuchte. "Dem Himmel sei Dank, daß wir Euch gefunden haben!" "Wieso?" Matt zog die Brauen hoch. "Verfolgt Euch jemand?" "Nein! Aber _es_ war wirklich nicht leicht, mit den beiden Damen zu reiten!" "Welch ein Glück, Euch zu treffen, Sir Guy, Lord Magier." Alisande blieb neben dem Priester stehen. "Ich hatte nicht erwartet, Euch vor Grellig einzuholen." Dann blickte sie Matt an. "Aber, aber, Sir! Was soll diese Rüstung? Habt Ihr keine Achtung vor..." "Hoheit, Euer Lord Magier ist nun Sir Matthew, ordnungsgemäß zum Ritter geschlagen", teilte ihr Sir Guy mit. Alisande blickte Matt verwirrt an. "Wie ist das möglich? Wer schlug ihn zum Ritter? Ihr vielleicht, Sir Guy? Ihr hättet..." "Nicht ich! Aber ich kann nicht sagen, wer. Doch versichere ich Euch, daß es ein Lord von sehr edlem Geblüt war." Alisande schaute den Schwarzen Ritter an, als könne sie seine Worte nicht begreifen. Dann schien sie sich beinahe zu fürchten. Matt wunderte sich, warum sie die Nachricht so beunruhigte. Die Prinzessin nickte und wandte sich ab. "Nun denn! Dann ist er eben ein Ritter!" Sie warf einen Blick auf Matts Schild. "Kein Wappen? Aber natürlich! Man hat Euch noch keines verliehen. Ihr seid wohl der erste in Eurer Familie, dem eine so hohe Ehre zuteil wird, stimmt's?" Das saß! Matt hatte allerdings das Gefühl, daß sein Vater als angesehener Geschäftsmann durchaus mit einem Ritter gesellschaftlich konkurrieren konnte; aber im Stammbuch standen eindeutig nur Nichtadlige. "Stimmt." Ohne zu zögern, fuhr sie fort: "Euer Wappen ist das eines Lord Magiers, welches mit dem der Familie gekreuzt wird, wenn Ihr das wünscht. Wir werden es Euch mit der gebührenden Zeremonie verleihen, sobald ich als Königin gekrönt bin." Was für ein braves Kind! Sie hielt sich eisern an die Regeln, selbst wenn sie dabei Gift und Galle spuckte - was sie über Matts Ritterschaft offensichtlich tat. Am liebsten hätte sie ihm auf der Stelle ein Wappen auf den Schild malen lassen, wenn ein Maler in der Nähe gewesen wäre. "Allerdings glaube ich", fuhr Alisande fort, "daß wir dem Wappen des Lord Magiers noch ein neues Mittel beigeben sollten, welches es säubert. In letzter Zeit ist es doch recht beschmutzt worden." "Beschmutzt? Von wem?" Alle Augen richteten sich auf Sayeesa. Sie sah Matt mit großen Augen an. "Dann war der silberne Schein doch mehr als ein Kettenhemd! Ist er jetzt ein Ritter?" Alisande nickte. "Ich gratuliere Euch, Sir." Ihre Stimme klang sanft, aber ihre Lippen zuckten. Ganz konnte sie das Lächeln nicht unterdrücken. "Dann ist also der Titel, den ich Euch anfangs fälschlicherweise zusprach, Wirklichkeit geworden." Matt lächelte. "Seid Ihr eine Seherin, Sayeesa?" Ihr Gesicht verdüsterte sich. Ihre Gedanken schienen weit fort zu fliegen. "Wenn ich eine bin, weiß ich es nicht. Dennoch..." Sir Guy räusperte sich. "Wir hatten nicht erwartet, Euch schon zu bald wiederzusehen, edle Damen. Wie kam es, daß die Belagerung des Konvents abgebrochen wurde? Und wieso reitet Ihr in Vater Brunels heiliger Gesellschaft?" "Es war Euer Verdienst." Alisande lächelte zweideutig. "Als Ihr Euch durch die feindlichen Linien gekämpft hattet, rief die Ehrwürdige Mutter: >Seht, was wahre Männer tun können! Wollt Ihr weniger wert sein?< Da liefen wir auf die Wehrgänge und überschütteten den Feind mit Pfeilen, Bolzen und Feuerbällen vom Katapult. Währenddessen vereinte diese gute Postulantin" - sie nickte zu Sayeesa hinüber - "ihre Kräfte mit denen der Äbtissin, um den Zauber der Feinde abzuwehren. Als der Morgen graute, ritt Schwester Victrix mit ihren Schwestern hinaus, um das Gelände endgültig zu säubern." "Nicht doch!" sagte Matt. "Nur hundert Nonnen gegen eine ganze Armee?" Aber um diese Zeit mußten die Soldaten schon beträchtlich gealtert sein... Alisande nickte. "Es dämmerte schon. Die Macht des Zauberers war schon im Schwinden, während die unsere wuchs. Außerdem kamen in dieser glückseligen Stunde auch die Ritter aus Moncaire, unter der Führung dieses wackeren Priesters. Sie fielen dem Rest der Feinde in den Rücken und machten alle erbarmungslos nieder. Unser guter Vater Brunel kämpfte so gut wie die anderen." "Ja. Zu meiner Schande muß ich bekennen, daß es wahr ist", sagte der Priester und nickte. Erst jetzt sah Matt, daß er sich ein Breitschwert über den Rücken geworfen hatte. "Doch man muß tun, was nötig ist. Dennoch werde ich die Todesschreie der Sterbenden mit ins Grab nehmen." "Aha", meinte Matt. "Dann ist der Feind also entweder geflohen oder zerstückelt worden, ganz nach individuellem Geschmack. Und Ihr seid uns nachgeritten. Konnte denn die Armee nicht in der nächsten Nacht wiederkommen? " Alisande schüttelte nur den Kopf. Aber Sayeesa sagte: "Eine gewisse Gefahr bestand, stimmt. Aber die Ehrwürdige Mutter lehnte es strikt ab, daß wir noch länger blieben, um den Konvent zu schützen. Sie schickte uns fort, weil sie meinte, die Sache Ihrer Hoheit sei absolut lebenswichtig, nicht aber die Sicherheit des Hauses der heiligen Cynestria. Sollte die feindliche Armee in der folgenden Nacht nicht zurückkehren - womit wir alle rechneten -, wollte die Ehrwürdige Mutter mit ihren Nonnen uns folgen. Vielleicht sind sie schon dicht hinter uns. Mich bat sie, Ihre Hoheit zu begleiten, da ich einige kleinere Zaubersprüche von ihr gelernt hatte, welche vielleicht nützlich sein könnten, falls Zauberer unsere rechtmäßige Königin angreifen." "Da muß ich ihr leider zustimmen", meinte Matt. "Bestand irgendwie die Möglichkeit, die Theorie auszuprobieren?" "Nein!" Alisande sah ihn erstaunt an. "Wir verbrachten die Nacht im Freien am Lagerfeuer. Niemand forderte uns heraus. Vater Brunel schlief gut und tief. Sayeesa und ich lösten uns bei der Wache ab, weil wir ihn nicht wecken wollten. Er war ebenso lang wie wir geritten und hatte auch hart gekämpft, dabei aber kaum ein Auge schließen können. Die Nacht verlief völlig ruhig." "Nicht mal der Schatten einer Gefahr." Sayeesa runzelte die Stirn. Irgendwie klang das alles unheilverheißend. "Mir gefällt das ganz und gar nicht." "Mir auch nicht, Lord Magier", pflichtete Alisande ihm bei. "Was tut der Zauberer, wenn alles ruhig ist?" "Er braut einen teuflischen Sturm für uns zusammen." Matt gelang ein Lächeln. "Was sollte er sonst mit seiner Zeit anfangen?" "Dann sollten wir nicht so lange schwatzen!" Sir Guy richtete sein Roß nach Westen aus: "Kommt, laßt uns reiten! Wir müssen vor der Dunkelheit möglichst nahe bei Grellig sein." Sie ritten in geordneter Reihe den Paß hinauf. Doch dann trieb Matt den Drachen an. "Stegoman, schließ dicht an Sir Guys Pferd auf." Der Drache grollte leise, gehorchte aber. "Und jetzt eng an die Seite", befahl Matt. Stegoman rammte das Roß beinahe von links. Matt beugte sich zu Sir Guys Ohr und flüsterte: "Sir Guy, ist Euch auch der Ausdruck auf Brunels Gesicht aufgefallen?" Der Ritter nickte. "Ja, er sieht wie einer auf der Folterbank aus." "Das kann ich ihm nach vierundzwanzig Stunden direkt neben der Quelle seiner Versuchung nicht verdenken. Sayeesa scheint auch nicht milder gestimmt zu sein... Meint Ihr nicht auch, daß man die militärische Situation mal genauestens durchsprechen müßte? Die spirituelle natürlich auch." Der Ritter grinste. "Ihr meint wohl, ob ich die Prinzessin und den Priester beiseitenehme und über jede Einzelheit der letzten vierundzwanzig Stunden ausfrage? Wie lange soll denn diese Befragung dauern?" Matt blickte zu Sayeesa, dann wieder zu Sir Guy. "Vielleicht eine halbe Stunde. Wenn diese Dame nicht ein Mindestmaß an Höflichkeit erlernt, zerfällt unsere kleine Gruppe durch interne Spannungen, noch ehe wir in die Nähe eines Schlachtfeldes kommen." "Das ist schon wahr. Bleibt ein wenig zurück, Lord Magier!" Matt richtete sich auf, und Stegoman wurde langsamer. Sir Guy rief nach hinten: "He, Vater Brunel!" Der Priester schaute auf und trieb dann sein Pferd neben den Schwarzen Ritter. Sie unterhielten sich leise. Dann zuckte der Priester hilflos mit den Schultern und nickte zu Alisande hinter. "Hoheit!" rief Sir Guy. Alisande runzelte die Stirn, ritt aber nach vorn. Matt ließ sich weiter zurückfallen, bis er neben Sayeesa war. Sie saß aufrecht im Sattel, die Augen nach vorn gerichtet, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Verdammt frostig! "Ich würde gern mit Euch reden. Hm... über unsere Sicherheit", begann er zögernd. "Sicherheit?" Sayeesa schaute ihn überrascht an. Dann verstand sie. "Ach, Ihr meint die Vereinigung unserer Magie, falls dies nötig werden sollte, um unsere Freunde zu schützen." "Nein, eigentlich geht es mir mehr um die innere Sicherheit. Zwischen dir und Vater Brunel besteht eine derartige Spannung, daß sie unsere Gruppe spalten könnte. Warum kannst du dich nicht zu einem Minimum an Höflichkeit ihm gegenüber zwingen?" Sayeesa blickte starr geradeaus. "Das ist zuviel verlangt." "Aber warum? Offensichtlich findest du ihn doch nicht abstoßend." "Wie kannst ausgerechnet _du_ das wissen?" fuhr sie ihn wütend an. Matt zuckte mit den Achseln. "Dieser männliche Incubus in Brunels Gestalt vor den Klostermauern! Als du ihn sahst, bist zu zusammengebrochen. Geschah das, weil er dir völlig egal ist?" "Meine Gefühle für ihn sind ohne Bedeutung!" zischte sie. "O nein, meine Liebe! Sie reißen nur unsere glückliche kleine Familie auseinander! Warum bist du so ekelhaft zu ihm, wenn du ihn magst? Ist deine Eitelkeit verletzt, weil er deinen Klauen entronnen ist?" "Schweig!" fuhr Sayeesa ihn wütend an. "Was geht dich das eigentlich an? Tadele mich für das, was ich dir angetan habe, wenn du unbedingt willst; aber alles andere geht dich nichts an! Was zwischen ihm und mir vorfiel, ist allein unsere Sache, und schon gar nicht deine! Weißt du nicht, daß du Leben zerstören kannst, wenn du dich so einmischst?" "Euer Privatleben könnte uns alle ins Verderben reißen", widersprach Matt. Dann lächelte er. "Du wärst ja nie so wütend, wenn er dir _nicht_ entkommen wäre!" Sayeesa wurde rot. "Es stimmt, nicht wahr?" triumphierte Matt. Ganz langsam senkte Sayeesa den Kopf. "Darauf solltest du sehr stolz sein." Matts Stimme war ernst und voller Mitgefühl. "Selbst unter dem Zauberbann hattest du so viel Herzensgüte, einen Priester davon abzuhalten, sein Gelübde zu brechen." "Nein", sagte Sayeesa leise. "Ich wollte genau das Gegenteil." Sie hob den Kopf. "Ich habe alles versucht, aber er blieb standhaft. Ich konnte ihn kaum zu Liebkosungen bewegen. Er klagte nur immer lang und breit, wie verdorben und schändlich er sei, wie schwach und unwürdig! Die ganze Zeit sehnte ich mich nur danach, daß er mich ein einziges Mal mit seiner lieben Hand berühren möge! Doch vergebens! Nachdem er mir lange Vorträge gehalten hatte, ging er, weil er mich mit seiner Anwesenheit nicht länger besudeln wollte! Ich lief ihm nach und versuchte ihn mit Zärtlichkeit zurückzubringen. Aber bei der ersten Berührung zuckte er zurück und verfluchte sich aufs neue." "Und dann mußtest du wieder ganz von vorn beginnen?" "Ja, aber es war völlig sinnlos! Dieser Mann ist wirklich heilig und gut - viel zu gut für mich! Unendliche Begierde spürt er; aber das reichte nicht." "Bei einem Mädchen wie dir", sagte Matt, "hätte Begierde allein nicht gereicht. Es mußte schon auch ein bißchen romantische Liebe dazukommen." Überrascht blickte sie ihn an. "Ich danke dir, Magier. Doch du sprichst von deinem, nicht von seinem Herzen. Nein, sein einziges Interesse galt meinem Körper." "Das glaube ich nicht." Matt schüttelte den Kopf. "Er ist auch an dir als Mensch interessiert, sogar sehr stark. So irren kann ich mich nicht." "Vielleicht", sagte sie ernst. "Aber seine Seele ist so von Gott erfüllt und seinem Dienst, daß dort für keine Frau ein Plätzchen bleibt. Nicht einmal die schönste und heiligste aller Frauen könnte mehr als nur einen Bruchteil seiner Gefühle beanspruchen. Wieviel weniger dann ich? Ja, wenn er nicht Priester wäre! Dann hätte ich ihn vielleicht erobert! Doch so entfloh er immer wieder." Sie schloß die Augen. Tränen quollen hervor. "Nein, ich darf nicht daran denken! Aber er hat mich gesegnet!" "Was?" "Er hat mich gesegnet", wiederholte sie und lachte nervös. "Als er beim letztenmal die Tür hinter sich schloß, segnete er mich vorher." Sie senkte wieder die Lider. "Ach, wäre er doch kein Priester! Vielleicht hätte ich dann sein Herz gewonnen, vielleicht hätte ich sogar jetzt noch eine Chance." "Das ist eine Art Herausforderung für dich", meinte Matt ernst. "Wie meinst du das?" "Wenn er nicht Priester wäre", fuhr Matt leise fort. "Hättest du ihn dann überhaupt eines zweiten Blickes gewürdigt?" "Sei still, Lästermaul!" Sie richtete sich in den Steigbügeln auf. "Ist in dir kein Funke Ritterlichkeit? Ein echter Ritter würde nie so zu einer Frau sprechen! Hab' ich dir einen Spiegel vorgehalten, damit du die schwärzesten Abgründe deiner Seele sehen kannst? Nein! Warum also tust du das mir an?" "Du hast meine Frage nicht beantwortet", erinnerte Matt sie. Sayeesa funkelte ihn an. Dann aber verdüsterte sich ihr Gesicht. "Ich weiß es wirklich nicht", sagte sie so leise, daß er sie kaum verstehen konnte. "Es ist die Wahrheit: Ich weiß es nicht!" Dann blickte sie ihn scharf an. "Weißt du es?" Matt versuchte, ihrem Blick standzuhalten; aber das schlechte Gewissen nagte an ihm. Er _hatte_ ihr einen Tiefschlag versetzt, ganz gleich, ob es stimmte oder nicht. Beschämt ritt er nach vorn. Sir Guy fing seinen Blick auf, widmete sich dann aber wieder dem Gespräch. Nach kurzer Zeit fiel Alisande zurück. Als sie Sayeesas Gesicht sah, erschrak sie und ritt schnell zu ihr. Dann sprach sie beruhigend auf Sayeesa ein. Doch Sayeesa ritt mit versteinertem Ausdruck dahin, ohne Alisande zu sehen. Die Prinzessin funkelte Matt giftig an. Dann senkte sie die Augen und ritt schweigend neben der Ex-Hexe dahin. Sir Guy sprach noch eine Weile mit Vater Brunel. Offenbar hatten die beiden eine hitzige Diskussion. Der Ritter schien auf eine bestimmte Frage nicht die gewünschte Antwort zu erhalten. Schließlich zuckte Sir Guy mit den Schultern, lächelte. Der Priester ritt mit gesenktem Kopf und niedergeschlagener Miene voraus. "Wie kommt man sich denn als Beichtvater eines Priesters vor?" fragte Matt Sir Guy, als er wieder neben ihm war. "Auf jeden Fall seltsam." Sir Guys Augen lagen immer noch auf Brunel. "Und ohne Ergebnis. Laßt Euch von mir raten: Versucht nie, einem Priester auszureden, daß er mit sich zu hart ins Gericht gehe. Er wird Euch mit Bibelzitaten genau beweisen, warum es nötig ist." "Ja." Auch Matt blickte Brunel nachdenklich an. "Aber bei meiner Plauderei mit Sayeesa bin ich auf keine Sünde gestoßen, welche die beiden begangen haben könnten, welche diese unerträgliche Spannung erklären würde. Sie haben nichts getan... Warum also?" "Ihr habt sicher recht. Aufgrund seiner dunklen Andeutungen kann ich als Schlimmstes annehmen, daß er sie vielleicht küßte oder kurz streichelte; aber nicht mehr. Aus all seinen Worten hörte ich nur das eine heraus: Er hat ihr niemals beigewohnt - auch sonst keiner Frau!" "Was?"Matt war fassungslos. "Nie!" Der Schwarze Ritter nickte. "Ach, Unsinn! Warum hat er uns dann vorgeheult, was für ein großer Sünder er sei? Seinen Worten nach mußte er fast Weltchampion sein." "Und das behauptet er auch heute noch! Obwohl er nie wirklich einer Frau beiwohnte, hat er es sich aber oft gewünscht und war auf dem Weg dazu. Für eine Todsünde ist schon der Vorsatz entscheidend." Matt schwieg kurz, dann nickte er. "Ja, so etwas stand auch in meinem Katechismus - klare Erkenntnis, freier Wille und in schwerer Sache. Das gehört zu einer Todsünde. Etwas muß wirklich so schwerwiegend sein, daß die Seele in Lebensgefahr ist; man muß wissen, daß es schlecht ist, und man muß sich aus freiem Willen entscheiden, es zu tun." Sir Guy nickte. "Ja, das hat der Priester auch gesagt. Der Akt selbst scheint dagegen nicht einmal notwendig zu sein." "Aber er schreckte zurück, beging die Sünde nicht!" "Nein, denn er stand vor einer zweiten Entscheidung. Kurz, ehe er den Akt vollziehen wollte, wurde er unsicher. Hätte er sich jetzt erneut entschieden, die Tat zu begehen, hätte er eine zweite Todsünde begangen." "Jetzt _reicht's_!" Matt warf den Kopf zurück. "Zwei Sünden für den Preis von einer? Was ist das? Schlußverkauf in der Teufelsbude?" "So sieht's aus." "Er kommt sich also wie der Auswurf an Verderbtheit vor, obwohl das Zölibat nie gebrochen hat?" "So ist es, Lord Magier. Jeder Widerspruch ist zwecklos." Matt wollte schon widersprechen, als ihm wieder bewußt wurde, in welchem Universum er sich befand. Selbst in seinem eigenen Universum gab die traditionelle Theologie Brunel recht. Allerdings wurde in jüngster Zeit auch von einer Art relativer Moral gesprochen... Er schüttelte den Kopf. Hier war das Aristotelische Universum, nicht das Einsteins. Hier war nichts relativ. Hier gab es nur das Absolute. Vater Brunel war in der hiesigen Theologie ausgebildet worden, welche gefährlich nahe an die örtliche Naturwissenschaft rückte. Zweifellos hatte er recht - in diesem Universum. Da konnte es gar keinen Zweifel geben - sonst hätte er sich nicht in einen Werwolf verwandelt! Die Sonne war schon hinter den Gipfeln, als sie in ein kleines Tal kamen, das zwischen drei Bergen lag. Alisande zügelte ihr Pferd. "Hier werden wir diese Nacht lagern." Matt runzelte die Stirn und sah sich um. Es war hübsch hier, aber strategisch gesehen ungünstig. "Wart Ihr hier schon einmal?" "Nein, aber ich habe von diesem Platz gehört. Sir Guy müßte ihn schon mal gesehen haben." "Ach ja?" Matt schaute den Schwarzen Ritter fragend an. "Und was meint _Ihr_?" "Daß wir hier den Morgen abwarten müssen, Sir Matthew." Der Ritter schwang sich vom Pferd. "Laßt uns das Lager aufschlagen!" Matt hatte immer noch Zweifel. Er kletterte von Stegomans Rücken und fragte Alisande: "Warum hier, Hoheit?" "Weil einer der beiden Felsvorsprünge dort drüben Colmain ist." "Welcher?" "Das weiß ich nicht. Wir müssen es erst herausfinden; doch jetzt bleibt uns dazu nicht genug Tageslicht." "Und wie wollt Ihr das anstellen? Die Eingeborenen fragen?" "Niemand würde je in der Nähe wohnen wollen. Dieser Ort soll verflucht sein. Aber ich werde es wissen, Magier. Ebenso wie ich jetzt weiß, daß wir ihm nahe sind." "Aber wie..." Matt verschluckte den Rest des Satzes und machte sich auf die Suche nach Brennholz. Irgendwie ergab es Sinn. Alisande konnte ihm bestimmt nicht erklären, warum sie etwas wußte. Sie hatte es einfach im Gefühl. Als der heilige Moncaire Colmain zum erstenmal lebendig machte, drückte er ihm wahrscheinlich Hardishanes genetischen Stempel auf, oder die spirituelle Entsprechung - eine Art psychischen Fingerabdruck. Da es sich um eine psychische Sache handelte, also um Energie, würde es in der harmonischen Wellenform mitschwingen - dem >Abdruck< von Alisandes Seele. So wie Matt spürte, wenn sich Kräfte um ihn sammelten, wenn er einen Zauber bewirkte, so konnte auch Alisande Colmains Gegenwart spüren. Das bedeutete, daß der Geist noch lebte, im Felsen... Matt schob den Gedanken für den Augenblick beiseite und legte Äste auf einen flachen Stein. "He, Stegoman! Hast du mal Feuer?" "Muß ich?" brummte der Drache. Überrascht schaute Matt auf. "Warum bist _du_ denn auf einmal so sauer?... Ach, dein Zahn." Der Drache nickte. "Ich dachte, er sei längst verfault! Wir holen ihn lieber raus, sonst bekommst du noch _richtige_ Schmerzen." "Meinst du?" Aber Stegoman klang schon resigniert. "Keine Frage!" Matt stand auf und wischte sich die Hände an den metallenen Beinkleidern ab. "Vielleicht müssen wir morgen kämpfen - und die Schmerzen würden dich langsamer machen." "Na ja, wenn es denn sein _muß_!" Der Drache seufzte. "Aber mach schnell, Magier! Und gib mir diesen wertvollen Bestandteil meines Körpers ja zurück!" "Keine Angst! Du wirst überhaupt nichts spüren!" Matt zog etwas Gras heraus und ging zum Drachen. "Leg dich hin, und mach das Maul auf!" Stegoman stöhnte, legte aber den großen, dicken Kopf auf den Boden. Dann sperrte er das Maul weit auf. Matt beäugte die riesigen Hauer direkt über seinen Händen und hielt eine Betäubung für durchaus sinnvoll. Den schlechten Zahn sah er auf Anhieb. Er war viel dunkler als die übrigen. Matt preßte das Gras darüber und sprach: "_Laß Schmerz des Drachen Kiefer flieh 'n, Verwandle Gras in Novocain! Gib ihm nun Ruhe von der Pein, Narkose soll der Helfer sein."_ So, jetzt müßte die Wirkung eingetreten sein. Matt zog die Hand zurück. "Jetzt kannst du dein Maul wieder zumachen." Stegoman schloß das Maul und bewegte die Lippen. "Was hast du gemacht? Ich spüre meine Zunge nicht!" "Laß es noch etwas länger einwirken!" Er stand auf und holte Sir Guy. "Habt Ihr Werkzeug dabei, womit man Hufeisen wechseln kann?" Der Schwarze Ritter nickte. "Gewiß! Welcher Ritter hätte das nicht?" "Ich brauche so eine Zange, mit der man die Nägel herauszieht." Sir Guy nickte wieder und ging zu seinen Satteltaschen. Er kam mit einer großen Zange zurück. Matt nahm sie und trat vor Stegoman. Die Operation hatte die Neugier aller mit Ausnahme von Alisande geweckt. Vielleicht kam sie auch noch, sobald sie das Abendessen geschossen hatte. Matt kniete nieder. "Weit aufmachen, Stegoman!" Der Drache riß das Maul auf, hielt aber die Augen fest geschlossen. Matt tippte mit dem Finger gegen den kranken Zahn. "Spürst du etwas?" "Ää!" Matt drückte leicht dagegen. "Und jetzt?... Und jetzt? Gut, jetzt geht's los!" Er holte tief Luft, setzte die Zange an und zog mit Leibeskräften. Er stolperte nach hinten, hielt aber einen riesigen Zahn zum Abendhimmel empor. "Oh", sagte Stegoman, aber nicht sehr laut. "Das Zahnloch blutet", bemerkte Sayeesa. "Sollte man es nicht verbinden?" "Verbinden? Ach ja, zustopfen. Aber..." "Hier!" Sie warf ihm ein Stück Stoff zu. "Von meinem Unterrock gerissen. Ich hatte mir schon gedacht, daß Ihr das vergessen würdet." Matt stopfte den Lappen in das blutende Loch im Kiefer. "In Ordnung, Stegoman. Du kannst jetzt das Maul schließen." Der Drache senkte langsam den Oberkiefer. Dann öffnete er die Augen. "Ich fühle jetzt keine Schmerzen mehr." "Nun, das ist noch die Wirkung der Betäubung. Wenn sie nachläßt, wird es ein bißchen weh tun. Aber das wird vergehen - und nicht wiederkommen!" "Danke, Magier. Und keine Angst, wenn es schmerzt, werde ich es ertragen. Bewache meinen Zahn!" "Wie einen Diamanten!" Matt wandte sich an Sir Guy. "Ihr habt nicht zufällig ein Stück Leder übrig?" "Ja, zum Flicken des Zaumzeugs." Der Ritter holte einen Lederfleck aus seiner Satteltasche. Er müßte früher Pfadfinder gewesen sein: Allzeit bereit! Matt fertigte einen Lederbeutel an, der gerade so groß war, daß der Zahn darin Platz hatte. Er zeigte ihn Stegoman. "Ich könnte ihn dir um den Hals binden. Was meinst du?" "O ja! Dann muß der, welcher mir meinen Zahn rauben will, mich vorher umbringen." Nach einer guten halben Stunde beschloß Matt, die Füllung wieder herauszunehmen. Er murmelte: "_Hat die Heilung nun begonnen, ist auch das Blut bereits geronnen."_ Die Wunde sah sauber aus. Matt wollte schon den Lappen ins Feuer werfen, als ihm seine sympathetische Magie einfiel und was Stegoman zustoßen könnte, wenn er sein Blut verbrannte. "Ich werde es sorgfältig auswaschen", sagte Sayeesa. Dann verschwand sie mit dem Lappen. Matt fühlte sich ausgelaugt und fertig. Zahnarzt bei einem Drachen spielen entsprach nicht direkt seiner Vorstellung von Vergnügen. Mißmutig schaute er umher. Doch was war mit diesem Tal geschehen? Solange er mit dem Drachen beschäftigt gewesen war, hatte er kein Auge für die Natur gehabt. Der Himmel im Westen war immer noch rot und golden. Der einsame Berggipfel im Osten schimmerte in der zunehmenden Abenddämmerung. "He, Stegoman, hier ist es so wunderschön." "Ja", brummte Stegoman. "Es ist ganz ähnlich wie meine Heimat, Magier. Die liegt ja auch nur ein paar Meilen weiter westlich. Willkommen in meinem Land! Ich heiße dich von Herzen willkommen, denn du hast es mir ermöglicht heimzukehren. Kannst du jetzt die Tiefe meiner Dankbarkeit ermessen?" "Ja, ich glaube schon." Matt richtete sich plötzlich auf. "He! Was macht dieser Düsenjäger hier?" Ein heller Feuerstrich raste über den azurblauen Himmel. "Ich weiß nicht, was ein >Düsenjäger< ist; aber dieser Anblick ist mir vertraut." Vor Aufregung wurde Stegomans Stimme viel heller. Er stand auf. "Das ist ein Drache! Ein Bote in schwindelerregender Höhe, vergoldet von den letzten Strahlen der Abendsonne!" Dann setzte er sich wieder und brüllte: "_Glogorogh_!" Der Lichtpunkt ging in eine Steilkurve und zog einen Kreis. Dabei wurde er immer größer und immer blasser. Jetzt flog er in Spiralen dem Boden zu. Matt konnte schon die fledermausartige Gestalt erkennen. Aus der Höhe ertönte der Schrei: "Wer ruft Glogorogh?" "Ich! Stegoman!" Der Drache breitete die Flügel aus und schnellte in die Luft. Er mußte kräftig flattern, bis er die richtige Thermik erwischte, die ihn nach oben trug. Glogorogh ließ sich etwas herabsinken. Er rief: "Du lügst! Stegomans Flügel sind aufgeschlitzt, und er wurde verbannt!" "Nein, ich spreche die Wahrheit! Meine Flügel sind geheilt, ich reite wieder hoch durch die Lüfte." Glogorogh blieb zehn Fuß über Stegoman. Sein mächtiger Flügelschlag erfüllte das ganze Tal mit Rauschen. "Es kann nicht sein!... Aber eine gewisse Ähnlichkeit ist durchaus vorhanden!" Der Drachenbote flog seitlich an Stegoman vorbei, um das Profil besser sehen zu können. "Mehr als Ähnlichkeit - ich _bin_ es! Wohin fliegst du? Kennst du mich jetzt?" "Doch, jetzt erkenne ich dich! Ich will nicht unhöflich sein, Stegoman - aber halte dich möglichst weit von mir entfernt! Deine Flugkunststücke sind mir zu riskant!" Stegoman ruhte sich auf einer Thermik aus. Er war tief getroffen und verletzt. "Du scheust vor mir zurück, als wäre ich irgendein unnatürliches Scheusal." "Und bist du das etwa nicht?" rief Glogorogh. "Wie kommt es, daß deine Flügel wieder heil sind? Was für ein böser Zauber ist das?" "Keine Zauberei! Magie! Ein Magier aus einer anderen Welt heilte mich, Glogorogh! Und nicht nur meine Flügel, sondern auch mein hitziges Temperament und die wilden Phantastereien! Ich könnte einen ganzen Wald niederbrennen und trotzdem einen so klaren Kopf haben wie jeder Oberdrache." "Wenn es so ist, dann freue ich mich sehr für dich." Glogorogh klang immer noch skeptisch. "Gestatte mir aber immer noch gewisse Zweifel. Das mußt du verstehen, schließlich warst du eine wirkliche Gefahr für uns." "Ja, ich weiß", sagte Stegoman. "Aber ich werde deine Zweifel zerstreuen. Sieh her!" Er schwang sich nach oben und spie unentwegt Feuer. Dann zog er einen großen Halbkreis aus Feuer über den Himmel. Als krönenden Abschluß legte er noch eine Flammenspirale hin. Matt drückte die Daumen und holte tief Luft. Hochmut kommt oft vor dem Fall. Aber Stegomans Vorführung war keine Angabe, sondern eine Beweisführung. Der Drache stellte seinen Flammenwerfer ab und ließ sich wie ein Stein durch die noch rauchende Spirale auf die Erde fallen. Plötzlich entfaltete er seine Schwingen wieder und rief: "Siehst du? Ich bin völlig klar im Kopf!" Er zog eine Reihe von anmutigen Schleifen. Matt war von der Schönheit dieser Flugdarbietung fasziniert. Glogorogh krächzte: "Nein, so was! Das ist der Siegestanz! Du fliegst ihn ohne den geringsten Fehler. Jede Figur ist exakt!" Stegoman strich an ihm vorbei. "Immer noch Zweifel?" "Nein! Aber ich bin verblüfft! Wie ist das möglich, Stegoman? Ein ganzes Leben lang, über hundert Jahre, hast immer nur versagt - und jetzt bist du in ein paar Jahren geheilt worden!" Stegomans Maul verzog sich zu einem Grinsen. "Das ist nicht mein Verdienst, wie ich schon sagte. Der große und gütige Magier half mir. Nie bemitleidete er mich, dafür ist er zu ritterlich! Er ist ein Lord, mit Titel und allem, was dazu gehört, außerdem ein wahrer Born der Weisheit. Sein Kopf ist ein Labyrinth der Gelehrsamkeit! Er sprach nur einen kurzen Vers - da konnte ich meine Schwingen wieder entfalten. Danach kämpfte ich mit ihm Seite an Seite gegen eine Unzahl von Monstern - o Glogorogh! Mir bleibt jetzt noch das Herz vor Schreck fast stehen. Als letztes kam ein Salamander..." "Ein Salamander!" Glogorogh flog entsetzt zwanzig Fuß zurück. "Nein, Stegoman! Du scherzst! Wie könnte ein Drache den Stammvater unseres Blutes treffen und so lange leben, um noch mit ihm zu sprechen!" "Alles mit der Macht des Magiers", jubilierte Stegoman. "Und mit der Hilfe eines seiner dienstbaren Geister, welchen er mir borgte. Ich setzte dem Salamander mit Klauen und Zähnen so zu, daß er im Sturzflug fliehen wollte. Zu spät sah er das Wasser unter sich und raste hinein. Das Zischen konnte man in der ganzen Welt hören! Das fließende Element siegte über das feurige. Ausgelöscht und kalt lag er da! Und alles durch die Macht des Magiers!" "Dies muß in der Tat ein außergewöhnlicher Mann sein, wenn seine Stärke durch dich einen Salamander töten konnte!" Glogorogh klang tief beeindruckt. "Wo hält er sich auf?" "Im Augenblick hat er kein Heim", erklärte Stegoman. "Da er für Prinzessin Alisande kämpft und ihr hilft, das Land vom bösen Malingo und Astaulf zu befreien. Dort unten steht er! Siehst du den Mann in der schimmernden Rüstung? Das ist er: Ritter, Lord und Magier!" Glogorogh blickte nach unten. Sobald er Matt sah, wandte er schnell den Kopf ab. "Er sieht so klein aus - auch nicht größer als die anderen Handmenschen. Doch kann ich an deinen Worten nicht zweifeln." Zögernd blickte er wieder zu Matt hinunter. Dann flog er näher. Mit den großen Schwingen schlagend schwebte er über Matts Kopf. "Großer Magier, ich danke dir aus tiefstem Grund eines Drachenherzen, auch im Namen meiner Mitdrachen. Falls wir Euch je irgendwie helfen können, werden wir das tun. Die gesamte Drachenwelt steht tief in Eurer Schuld, denn Ihr habt uns einen zurückgegeben, welchen wir verloren hatten." "Ich habe doch nur einem Freund geholfen", wehrte Matt ab. "Nein! Laß mich sprechen", rief Stegoman. "Wir reiten gegen den Zauberer und seinen Strohmann, lieber Glogorogh, und wir reiten ohne Armee! Wir können daher jede Hilfe gebrauchen - und flattert nicht zu lange! Geh zu den Altdrachen und dem Rat! Bitte darum, daß ich in die Gemeinschaft wieder aufgenommen werde, und erzähle ihnen von den Taten dieses großen Magiers! Wenn der Rat dann kollektive Dankesschuld bestätigt, bitte um Hilfe für uns - für mich und diesen großen Mann, dem ich die Treu schwor." "Das werde ich in der Tat tun!" Glogorogh schwang sich himmelwärts. "Ich werde die Sache heute noch vor Mitternacht vorbringen und die Hilfe verlangen! Einige schulden mir auch noch Gefallen vom letzten Kampf, und viele stehen bei dir noch in Blutschuld." "Beschwöre sie bei ihrer Schuld!" rief Stegoman. "Beschwöre sie bei ihrer Ehre! Beschwöre sie mit allen Mitteln, und bring sie morgen zu uns! Das Gewitter braut sich schon zusammen. Jede Stunde kann der Wolkenbruch kommen." Glogorogh zog noch eine Schleife zurück. "Ja, auch wir spürten, daß sich mächtige Kräfte um uns sammeln und sich etwas zusammenbraut. Aber wir wollten uns nicht einmischen, weil wir nicht wußten, welche Partei im Recht war. Außerdem befürchteten wir, daß wir uns damit einen Feind schaffen, der uns jeden Handbreit Boden in den Bergen rauben will, und uns dann endlose Kämpfe bevorstehen." "Kämpft jetzt, wo ihr noch Verbündete habt", schrie Matt in die Höhe. Überrascht blickte Glogorogh herab. Dann nickte er. "Ich werde lautstark zum Kampf aufrufen. Sollten die Altdrachen kein Heer entsenden, werde ich Euch auf alle Fälle zu Hilfe kommen - und bestimmt noch eine stattliche Schar von Jungdrachen." "Danke! Sei gesegnet!" rief Stegoman. "Von mir auch!" schrie Matt hinterher und winkte. Glogorogh regte die Schwingen und war schnell hinter den Bergen verschwunden. Stegoman landete elegant neben Matt. "Es ist geschafft! Mein Herz frohlockt! Ja, ich werde wieder in meine heimischen Berge fliegen!" "Er schien keine Bedenken zu haben, dich wieder aufzunehmen." Matt klappte das Visier auf und wischte sich die Stirn. "Alle Achtung! Deine Leute verlieren keine Zeit mit langen Überlegungen." "Ist das denn nötig?" fragte Stegoman. "Handle! Solltest du hinterher feststellen, daß du dich geirrt hast, dann tu etwas dagegen!" "Und überlasse das Kopfzerbrechen den Leuten an der Spitze, was?" Matt nickte: "Aber hast du nicht furchtbar übertrieben, als du mein Loblied sangst?" Der Drache blickte ihn mit brennenden Augen an. "Keineswegs!" widersprach er. "Wann wirst du das endlich einsehen?" Vielleicht war es Matts Einbildungskraft; aber er hätte schwören können, daß Alisande ihm den ganzen Tag aus dem Weg ging. Um die Theorie zu testen, setzte er sich beim Abendessen neben sie. Sie richtete sich kerzengerade auf und rückte ein winziges Stück von ihm ab. "Guten Abend, Lord Magier." Guten Abend? Sie waren den ganzen Tag zusammen geritten! Matt grub die Zähne in ein zähes Stück Rebhuhn. "Guten Abend, Hoheit." Das war doch wirklich ein phantastischer Anfang! Was konnte er als nächstes tun? "Verzeiht mein Unwissen, aber ist dies die Ebene von Grellig?" Sie schien erst nachzudenken, ehe sie antwortete. Dann nickte sie unwirsch mit dem Kopf zu zwei Gipfeln im Westen. "Nein, die liegt dahinter - eine Hochebene." "Da drüben also." Matt zog die Brauen hoch und blickte an ihr vorbei. "Warum habt Ihr diesen Treffpunkt vorgeschlagen, Hoheit?" "Weil dort höchstwahrscheinlich der Schauplatz unseres Endkampfes sein wird", antwortete Alisande. "Malingo weiß mit Sicherheit, warum wir hierherkommen, und er weiß auch, daß er uns niedermachen muß, sobald wir Colmain erweckt haben, da wir sonst nach Bordestang zurückmarschieren. Und auf diesem Marsch würden wir mit jeder Meile hundert Mann Verstärkung erhalten." Matt mußte diese grauenvollen Aussichten erst verdauen. Sobald der Riese wieder in Fleisch und Blut verwandelt war, standen sie einer so gewaltigen Übermacht gegenüber, daß der Kampf zwischen David und Goliath sich im Vergleich dazu wie ein ausgeglichenes Match ausnahm. "So bald schon? Nun, ich hoffe, wir sind dafür gerüstet." "Die Äbtissin und ihre wehrhaften Nonnen werden uns dort treffen." Alisandes Gesicht war wie versteinert. "Außerdem kommt noch der Abt von Moncaire mit all seinen Männern." "Sollten wir nicht vielleicht hier auf sie warten?" schlug Matt vor. Die Prinzessin schüttelte den Kopf. "Malingo versucht womöglich, uns zu vernichten, ehe wir Colmain wecken - wenn er kann." Dazu gehörte nicht viel. Das wußte Matt inzwischen. Aber eine zweite Gefahr erschütterte sein Selbstvertrauen. "Hm, Hoheit... ?" "Ja?" "Es könnte sein, daß wir bei diesem Endkampf eine gewisse innere Schwäche haben..." "O nein!" sagte sie mit der Endgültigkeit von Stahltüren, welche ins Schloß fallen - doch dahinter klang es auch leicht hohl. Die unerschütterliche Überzeugung, mit welcher sie sonst über öffentliche Angelegenheiten sprach, fehlte. Also mußte es sich um eine Privatangelegenheit handeln. "Das hat die Ehrwürdige Mutter aber nicht gedacht", erinnerte Matt sie. Alisandes Kinn ging noch ein Stück höher. "Ich habe ihre Ermahnung keineswegs vergessen, Lord Magier - und auch, daß es für mich nur zwei Möglichkeiten zu handeln gibt." Für _sie_? Glaubte sie wirklich, diese Entscheidung könnte sie im Alleingang fällen? Überhaupt - wie kam sie darauf, daß sie das Problem mit einer einfachen Entscheidung lösen könnte? "Es ging um zwei", sagte Matt. "Entweder müssen wir unsere Liebe beschwören oder ihr auf ewig entsagen." "Ich wähle die zweite Möglichkeit, Lord Magier", erklärte Alisande abweisend. "Befreit Euch von jedem Gefühl, das Ihr vielleicht für mich hegt, Lord Magier, wie ich es doch auch mit meinen Gefühlen für Euch getan habe." "Ach, wirklich? Ihr habt alle Gefühle für mich total abgestellt?" "Absolut." Ihr Gesicht war unbeweglich. "Und das könnt Ihr einfach so mit Willenskraft! Alle Gefühle für mich - weg! Bis auf meine eventuelle strategische Bedeutung. Stimmt's?" "In der Tat." Sie schien in der Rüstung ihrer Haut zu welken. "Also dort, wo ich herkomme, gibt es dafür ein Wort..." "Ich wünsche nicht, es zu hören." "Repression!" stieß Matt hervor. "Diese Verdrängung ist eine üble Sache, Hoheit, und sehr gefährlich. Unterdrückte Gefühle brechen meist dann auf, wenn man es am wenigsten erwartet - und meist zum schlimmsten Zeitpunkt." "Sie sind nicht unterdrückt", widersprach Alisande. "Sondern einfach beseitigt." "Interessante Theorie, hm." Matt warf den Rebhuhnknochen weg und stand auf. "Ich aber ziehe nicht gern in einen Kampf aufgrund einer Hypothese. Ihr seid der Solarplexus dieser Armee, Prinzessin. Wenn also in Euch eine Schwäche besteht, ist damit die ganze Armee geschwächt." "Aber in mir gibt es keinerlei Schwäche." Sie funkelte ihn wütend an. "Ach ja? In diesem Fall ist es vielleicht Eurer Hoheit noch nicht klar geworden, daß es sich hierbei nicht um eine öffentliche Angelegenheit handelt - das ist nur ein Nebeneffekt. Dies ist eine Privatangelegenheit - und da hat Eure Unfehlbarkeit soeben versagt!" Matt drehte sich um und stapfte wortlos an Sir Guy vorbei in die Dunkelheit. *Kapitel 18* Es war schon ein Tiefschlag gewesen! Das mußte er eine Stunde später zugeben, als sich alle zur Ruhe gelegt hatten und nur die Glut des Lagerfeuers durch die Dunkelheit drang. Wann würde er endlich lernen, seine Zunge im Zaum zu halten - und sein Temperament. Wenn Alisande je ein Quentchen Gefühl für ihn gehabt hatte, konnte sie dies jetzt auf keinen Fall mehr zugeben. Er hatte im Zorn gesprochen, weil er sich verletzt fühlte. Als er im Dunkeln nach den Ursachen dieser Verletzung forschte, mußte er sich eingestehen, daß er mehr für die Prinzessin empfand, als er je für eine Frau empfinden wollte. Er hatte sich nie über das rein Körperliche hinausgewagt - und auch zu diesem hatte er sich nicht sehr oft hinreißen lassen. Sein Instinkt hatte ihn gewarnt, daß der intensive körperliche Kontakt auch Emotionen mit sich bringen würde. Es gab zwar Menschen, die sich teilen konnten, so daß die Sehnsüchte des Körpers das Herz unberührt ließen - aber er gehörte nicht dazu. Ohne zu sehen, starrte er in die Dunkelheit. Nur den Kopf zum Schlafen freimachen! Da sah er den Funken. Vor Schreck wäre er fast aus der Haut gesprungen. Max - Dämon! Was hatte der außerhalb seiner Tasche zu suchen? Dann nahm er den Kontrast zwischen dem strahlend hellen Lichtpunkt und dem Gesicht daneben wahr. Es war Sayeesa. Aufrecht saß sie da, in ihre Decke gehüllt, und betrachtete aufmerksam - fast glücklich - den Funken. Das leise Summen hörte auf, und sie nickte eifrig. Sie bewegte die Lippen. Er konnte sie flüstern hören. So ging es eine Zeitlang weiter. Dann sang wieder der Dämon. Offenbar hatte er recht guten Kontakt zu ihr gefunden. Das war Matt gar nicht recht. Auch als der Funke eine Stunde später endlich verschwand, machte er sich noch Sorgen. Sayeesa hatte sich wieder hingelegt. Matt lag da und fühlte sich wie ein Blitzableiter vor dem Einschlag. Was ging hier vor? Er spürte, wie sich riesige Kräfte um ihn zusammenzogen, welche das Tal und die Ebene dahinter mit ungeheurer Energie füllten, bereit, jeden zu vernichten, der sich ihnen in den Weg stellte. Welche Kraft würde gewinnen? Das Gute? Das Böse? Beide waren eigentlich recht unpersönlich, aber nicht von seinem Standpunkt aus. Die Kräfte überrannten seine Seele, umhüllten ihn mit einer dunklen Wolke. Er kam sich vor, als läge er auf dem Grund eines Kraters und hörte die knirschenden Bewegungen um sich. Lauter und lauter wurden sie... Matt schoß in die Höhe. Sein Herz schlug wie wahnsinnig. Er starrte in die Dunkelheit hinaus. Er hörte _tatsächlich_ dieses Knirschen, als schiebe sich ein riesiger Gletscher durch einen Steinbruch. Dann formte sich ein gewisser Rhythmus, eine Modulation, welche langsam zu einem Wort wurde: MMMAAATHHHEEEWWW. Seine Haare standen senkrecht. Er grub die Hände ins Gras. MMAAATHEEEWWW! dröhnte es wieder. MMMAAAGIIIER MMAATHEWW! Wild blickte er um sich. Alle anderen schliefen - er sollte nicht allein fortgehen. Immer war etwas Schlimmes passiert, wenn er das gewagt hatte. Aber... Er schüttelte den Kopf und stand mit zitternden Knien auf. Was immer ihn rief - er mußte der Sache auf den Grund gehen! Er setzte den Helm auf, nahm den Schild und ging mit der Hand am Schwertknauf in die Richtung, aus welcher die Stimme kam. Matt marschierte auf die Ebene von Grellig hinaus. Der Ruf kam nicht aus der Ebene selbst. Das stellte er fest, als er zum Paß zwischen den beiden Gipfeln hinaufging. Er kam von der südlichen Bergspitze. Er änderte die Richtung und folgte langsam der Stimme, welche ihm durch Mark und Bein ging. Er zwang sich weiterzugehen, bis er an den Fuß eines hundertzwanzig Meter hohen Felsvorsprungs kam. Im schwachen Licht der Sterne sah er, daß der Gipfel in eine Art roher Kuppel behauen war. Vielleicht lag es am Licht, aber Vorsprünge und Vertiefungen im Fels erweckten den Eindruck eines Gesichts mit Nase und Mund. "Endlich kommst du", knirschte der Berg. "Habe lange gewartet, Magier. Hunderte von Jahren." Nur mit Mühe konnte Matt sprechen. "Wer... wer bist du?" "Ich bin Colmain." Matt war erstarrt, wie festgefroren. Dies also war das Ende der langen Suche - dieser Granitblock mit der Erdbebenstimme. Aber irgendwie kam es ihm nicht richtig vor. Er hatte von einem Riesen mit Colmains Ruf mehr erwartet. Das war natürlich unlogisch. Riesen waren nun mal keine richtigen Menschen. "Woher kennst du mich?" "_Dich kennen? Gerufen habe ich dich_, Magier!" "_Du? Du_ bist die Macht, die mir die ganze Zeit beistand?" "Ja, ja", grollte der Fels. "Hunderte von Jahren stand mein Körper hier. Doch mein Geist durchstreifte die Welten und suchte nach einem Universum, wo Magier lernten, wie man Substanzen verwandelte." "Transmutationen? Blei zu Gold?" "Ja. Nur einem Magier, der Blei in Gold verwandeln kann, ist es möglich, Stein in Fleisch zurückzuwandeln. Also holte ich dich!" "Nun, da hast du den Falschen erwischt. Ich komme zwar aus dem richtigen Universum, habe aber von Transmutationen keine Ahnung. Mein Fachgebiet ist die Sprache und was die Menschen daraus machen." "Das ist doch Magie!" brüllte der Riese. "Du weißt es, sonst hätte ich dich nicht gerufen! Magier, mach mich zu Fleisch!" So nicht! Matt brüllte zurück: "Das machen wir morgen früh! Jetzt bin ich von einem langen Ritt hundemüde. Wenn ich es jetzt versuche, könnte es mißlingen." "Versuch's!" donnerte der Granit. "Du mußt es versuchen! Sofort! Zaubererkräfte kommen! Die Armee des Bösen rückt näher. Ich fühle sie kommen." Das also war das Kraftfeld, das Matt gespürt hatte. "Ja, ich fühlte es auch." "Dann mach schnell! Ehe der Zauberer den Felsen in Kies zerstückelt, damit er sich nie mehr erheben kann." Matt konnte sich zu keinem Entschluß durchringen. "Mach's!" schrie das Steingesicht. "Jetzt, oder die Hölle siegt!" Er hatte recht. Malingo rief alle seine Kräfte zusammen, magische und menschliche. Die Guten taten desgleichen. Es mußte getan werden - und schnell! "Schon gut. Aber in dieser Größenordnung habe ich noch nie gearbeitet. Vielleicht brauche ich ein paar Versuche." "Nur einen!" donnerte der Riese. "Sonst bist du tot!" Verärgert schaute Matt nach oben. Der Riese war wohl kaum in der Lage, ihm zu drohen - oder? Wenn er Matt nach Merovence gerufen hatte... Wie dem auch sei! Matt wußte, daß er es versuchen mußte. Auch wenn der Riese unerträglich arrogant war - sie brauchten ihn! Aber wie zum Teufel sollte Matt dieses Wunder bewirken? Bei Stegoman war ihm die Umwandlung von Stein zu Fleisch gelungen; aber das war ein Kinderspiel gewesen im Vergleich mit diesem Koloß. Außerdem war der Drache nur auf so kurze Zeit eine Statue gewesen, daß sich nichts richtig setzen konnte. Doch hier waren Jahrhunderte im Spiel. Aber vielleicht war es theoretisch dasselbe. Als der Riese zu Stein wurde, wandelten sich Kohlenstoffe zu Silikon. Damit hatten sich die chemischen Bindungen verändert, was zu völlig neuen Molekülen führte. Wenn man das Silikon wieder in Kohlenstoff zurückwandelte, würde vielleicht der gesamte Prozeß zurückverwandelt und die ursprüngliche Struktur wieder zum Leben erwachen. Matt baute aus Kieselsteinen einen kleinen Haufen, gab noch eine Handvoll Sand und etwas Gras hinzu. Eigentlich brauchte er auch Fleisch; aber das hatte er zum Abendessen verspeist. Auf alle Fälle war Kohlenstoff in organischer Form notwendig. Aber wie konnten seine Verse genug Kraft erhalten? Am besten, er hielt sich an Allgemeines und ließ Einzelheiten aus. Er mußte den Wechsel ansprechen, eine Neuordnung, die Wandlung... Das sich ewig drehende Symbol Yin-Yang schoß ihm durch den Kopf. "_Wieder dreht das Rad sich ewig, Yin und Yang, Feuers nicht ledig. Silikon, sei du verraucht! Hier wird Kohlenstoff gebraucht!"_ Ein paar mythologische Anspielungen würden auch nicht schaden. "_Ohne jemals zu erkalten, sind's rotierende Gewalten, die an unserm Schicksal dreh'n. Medusa selbst wurde zu Stein, kaum sah sie in den Spiegel klein. Durch dies - das ist kein Hohn - kam Perseus dann auf seinen Thron." "Laß diesen Zyklus anders dreh'n. Medusa siegt, Perseus muß geh'n. Zu Fleisch soll nun Granit sich wandeln, zu unserm Wohl der Riese handeln."_ Ein Stoff konnte mit Sicherheit verwandelt werden. Das sollte er auch noch reinwerfen! Er brauchte einen pyramidalen Superzauberspruch. "_Plutonium brauch' zur Hilfe ich, daß Leben aus dem Steine bricht."_ Eine gewaltige Explosion erschütterte den Gipfel. Matt sprang zurück. Die Erde bebte unter seinen Füßen. ' Große Felsbrocken flogen durch die Luft. Da lief er, so schnell er konnte, davon. Noch jemand rannte - ihm entgegen. Langes Blondhaar wehte im Mondlicht. "Magier! Nimm den Zauber zurück!" Matt blieb stehen. Entsetzen schnürte ihm die Kehle zu. "Verwandle ihn zurück!" schrie Alisande. "Das ist nicht Colmain." Eine Steinlawine ging nieder, als der Riese sich vom Gestein freischüttelte. Dabei lachte er höhnisch. "Ich bin Ballspear, du armer Irrer!" Er packte eine Granitsäule und schwang sie hoch in die Luft. "Jetzt mußt du für deine Gutgläubigkeit zahlen." Er schleuderte die Felskeule. Matt warf sich mit Alisande zu Boden. Die Riesenkeule schlug dicht neben ihnen ein. Sie sprangen auf und liefen los. Die Schritte des Riesen hinter ihnen ließen den Boden erbeben. "_Öffne, Erde, deinen Schlund, laß ihn fallen auf den Grund."_ Vor Ballspear tat sich eine Spalte auf. Mit einem Wutschrei verschwand der Riese in der Öffnung. Doch mit gewaltiger Kraft zog er sich bis zu den Knien wieder empor. Wieder schwang der neun Meter lange Arm die Granitkeule. "Lauf!" rief Matt und stieß Alisande vorwärts. Sie war schneller als er in seiner Rüstung. Die Keule landete dicht hinter seinen Fersen. Ballspear war aus der Spalte herausgeklettert. "_Erd' und Wasser zu Schlamm sich bilde, ihn aufzusaugen in nasse Gefilde."_ Ballspear verlor das Gleichgewicht, als der rechte Fuß plötzlich einsank. Er fiel auf die Knie und brüllte vor Wut. Wieder erschütterte der Aufprall der Keule den Boden. Matt sprang beiseite. Dann lief er weiter. Alisande war stehengeblieben, um auf ihn zu warten. Doch Matt schrie: "Nein! Wenn Ihr sterbt, sind wir alle verloren." Das schien Ballspear zu interessieren. Er zog den Fuß aus dem Sumpf und bewegte sich auf Alisande zu, ohne Matt weiter Beachtung zu schenken. "Lauf!" schrie Matt wütend. Alisande rannte los. Ballspear schwang drohend die Keule. "Max!" rief Matt. "Tu etwas!" "Was?" summte der Lichtpunkt eifrig. Er _mußte_ Anweisungen haben. "Zerbrich seine Keule!" "Wie?" "Schwäche die Molekülbindungen!" brüllte Matt und folgte Alisande. Der Lichtpunkt schoß auf den Riesen zu. Die gigantische Keule sauste auf die Prinzessin los - und explodierte wie eine Granate. Granate! Mit einem verzweifelten Sprung warf Matt sich auf Alisande, um sie mit seiner Rüstung zu schützen. Etwas prallte an seinem Rücken ab. Das nächste _Peng_ schnürte ihm die Luft ab. Seine Ellbogen wurden in die Erde gepreßt. Alisande schrie laut unter ihm. Er rappelte sich auf und sah, wie Ballspear mit vor Wut entstelltem Gesicht auf sie zustampfte. Matt zog Alisande hoch und rannte los. Hinter ihnen klatschten Riesenhände zusammen. Etwas streifte ihn, so daß er stolperte. Da ragte vor ihnen eine Felswand auf. Keuchend preßten sie sich gegen den Stein. Wieder streckten sich die Pranken des Riesen nach ihnen aus, darüber das widerlich grinsende zwei Meter große Gesicht. Da erschütterte ein wütender Donnerschlag die Nacht. "Dreh dich um, du abscheuliches Monster, und blicke deinem Schicksal ins Auge! Colmain naht!" Von dem nördlichen Gipfel kam ein zweiter Riese herabgeschritten. Er war groß und trug einen Steinspeer von neun Meter Länge. Sein dichtes, dunkles Haar hing in die breite Stirn über den tiefliegenden Augen, dem lockigen Bart. Er war in Bärenfelle gekleidet. Mit donnernden Schritten kam er auf Ballspear zu. "Etwas weckte mich aus dem Schlaf. Zur rechten Zeit, wie ich sehe. Deine Todesstunde ist gekommen, Ballspear!" "Dem Himmel sei Dank!" rief Alisande. "Aber... wie?" "Mein Zauberspruch!" Matt war jetzt alles klar. "Ich sagte nicht _welcher_ Riese!" Er hatte all seine Macht angewendet und ein Rekordergebnis erzielt. Aufgrund der Entfernung hatte es nur bei Colmain etwas länger gedauert. Ballspear fauchte und riß eine neue Keule aus der Felswand. Er schwang sie über dem Kopf und stürzte auf Colmain los. Doch dieser kam ihm schon entgegen. Dem ersten Schlag konnte Colmain durch einen Sprung zur Seite ausweichen. Dabei erwischte er aber Ballspears Arm und zerrte kräftig daran. Ballspear stolperte, setzte aber die Keule als Stütze ein. Da sah er, wie Colmains Speerspitze auf seine Augen zielte. Schnell lenkte er mit der Keule den Speer ab und traf Colmain so kräftig gegen das Brustbein, daß dieser zu Boden stürzte. Mit wildem Gelächter holte Ballspear wieder aus, um dem Riesen den Schädel zu spalten. Doch Colmain stieß seinen Speer nach oben. Ballspear sprang zurück, doch die Speerspitze riß ihm mit gräßlichem Geräusch die Seite auf. Ballspear heulte auf und preßte eine Hand gegen die Rippen. Jetzt war Colmain wieder auf den Beinen und hielt den Speer wie einen Kampfstock quer vorm Körper. Alisande zerrte an Matts Arm. "Dort drüben!" Matt schaute auf. Auf einem Felsen im Osten hob sich die Silhouette einer mageren Gestalt in weitem Gewand gegen die aufgehende Mondsichel ab. "Malingo!" schrie Alisande. "Er will Ballspear stärken und Colmain schwächen! Schnell, Magier! Tu etwas!" Leichter gesagt als getan! Doch versuchen mußte Matt es. "_Die neue Keule stützt des Riesen Kraft, laß Feuer heizen ihren Schaft."_ Mit Wutgeschrei schwang Ballspear die Keule. Dann aber wurde das Geschrei zu lautem Wehgeheul. Die Keule flog über Colmains Kopf und bohrte sich rauchend in die Erde. Stöhnend leckte sich Ballspear die Hände. Matt sah, wie Malingos Hände einen Zauberspruch begleiteten. Colmain stieß einen Schmerzensschrei aus, ließ den Speer fallen, ging in die Knie und hielt sich die Knöchel. "Die Achillessehnen!" sagte Alisande. "Heile ihn, Magier!" Matt versuchte es. "_Laß Schadenzauber von hier wehen und Colmain wieder auferstehen! Wenn haßgebor'nes Wort verschwindet, auch Colmains Stand sich wiederfindet!"_ Triumphierend riß Ballspear seine Keule aus der Erde und wirbelte herum. Doch da stand Colmain schon grinsend auf und richtete den Speer auf ihn. Ballspear fluchte und wirbelte die Keule wie einen Schild vor sich. Colmain ließ sich nicht beirren, sondern führte einen kräftigen Stoß auf Ballspears Bauch. Malingos Hände beschrieben ein Schlangensymbol. Noch in der Vorwärtsbewegung drehte und wand sich der Speer plötzlich. Colmain hielt eine Python in der Hand. Er schrie angewidert auf und schleuderte das Reptil Ballspear ins Gesicht. Aufheulend sprang der steinerne Riese zurück, ließ seine Keule fallen und versuchte, sich die Schlange vom Kopf zu reißen. Colmain packte schnell die Keule und warf sie fünfhundert Meter weit weg. Dann stürzte er sich mit Freudengeheul auf Ballspear. Dieser ergriff die Flucht, Colmain dicht hinter ihm. Da wölbte sich plötzlich vor Colmain ein Erdhügel auf. Zwei riesige Hände kamen heraus und packten seine Knöchel. Wie ein Frachter, der gegen ein Riff fährt, wurde er zu Boden geschleudert. Ballspear blieb stehen und wollte Colmain mit einem Tritt den Schädel zerschmettern. Matt schrie: "_Jetzt plant er wieder schurkische Taten. Laß seine Kniescheib' ihn verraten!"_ Ballspear schrie vor Schmerzen auf, als seine Knie einknickten. Colmain stand wieder auf und kam auf ihn zu. Malingo war natürlich bemüht, den von Matt angerichteten Schaden zu reparieren; doch das ließ Matt auch etwas Zeit. Sobald Ballspear sich hochrappelte, improvisierte Matt schnell frei nach Akt V, _Macbeth_: "_Und wie Metall auf dunklem Grund viel heller glänzt, so strahlt nun auch das Gut' in mir, nachdem durch Beß'rung meiner Laster Flecken sind getilgt. Kein Stäubchen mehr die Augen trübet, denn ich tat Buße, als es niemand glaubte."_ Ballspear rannte los und riß einen Felsbrocken in der Größe eines Lastwagens aus der Wand. Den warf er nach Colmain und lief gleich hinterdrein. Doch Colmain fing den Stein wie einen Medizinball auf und warf ihn direkt auf Ballspears Bauch. Der Riese krümmte sich. Ehe er fallen konnte, hatte Colmain ihm schon einen Kinnhaken verpaßt. Malingo fuchtelte wie wild in der Luft herum - allerdings ohne Wirkung. Doch das war vielleicht nur von kurzer Dauer. Matt mußte ihn ein für allemal in der Versenkung verschwinden lassen. Versenkung! "Max!" "Ja, Magier?" "Konzentriere die Schwerkraft unter diesem Felsvorsprung!" Matt zeigte zu Malingo hinüber. "Hol ihn runter!" "Bin schon weg!" Der Dämon sauste in Richtung Zauberer davon. Wieder donnerte Colmains Faust gegen Ballspears Kinn. Der Kopf flog ruckartig zurück. Es krachte wie ein Kanonenschlag. Dann hob Colmain den Feind hoch und schleuderte ihn gegen die Felswand, daß der Boden ringsum bebte. Ballspear zuckte noch einmal, dann lag er still da. Colmain beugte sich über ihn und nickte. "Er ist tot." Donner krachte, als ein tiefer Riß die Felsen spaltete, auf denen Malingo stand. Eine Steinschlaglawine folgte. Einen Augenblick lang sah man ihn noch wild um sich schlagend durch die Luft wirbeln, dann wurde sie schwächer und war verschwunden. "Auftrag ausgeführt, Magier", meldete Max. "Ja - gut gemacht, Max!" Dann brach es aus Matt heraus: "Verdammt sei dieser Kerl! Welche Reflexe! Ohne jegliche Vorwarnung hat er sich verschwinden lassen, ehe er auf dem Boden aufschlug!" "Was ist da gefallen, aber nicht aufgeschlagen?" fragte die Riesenstimme. "Der Zauberer Malingo, Colmain. Der, dem wir dies alles zu verdanken haben." "Er ist zu seiner Armee zurückgekehrt", sagte Alisande mit großer Sicherheit. "Jetzt wird er uns erst recht mit voller Stärke angreifen." Mit weit aufgerissenen Augen starrte Colmain auf sie herab. "Den Ton kenne ich. Ich spüre ihn in meinen Knochen. Das Blut Kaprins - hier spricht sein Erbe!" Langsam und umständlich kniete er nieder und senkte den Kopf. "Ihr seid die Königin - in Eurem Dienste kämpfte ich soeben." Alisande stand mit königlicher Würde da. "Ich danke dir für deine Hilfe, treuer Colmain. Mögen alle Feinde fallen wie er." "Das werden sie! Ihr braucht es nur zu befehlen." Mit brennenden Augen schaute Colmain zu ihr auf. "Dann laßt uns gehen!" Alisande schien größer zu werden. "Doch nenn mich nicht Königin. Ohne Krone stehe ich hier." "Und dennoch bist du die rechtmäßige Königin. Mein Blut sagt es mir", erklärte der Riese. "Doch wie kann das angehen? Eine ungekrönte Königin? Erklärt es mir, denn ich kann nicht bekämpfen, was ich nicht weiß." "Also, das ist so." Alisande holte tief Luft und erzählte mit großer Begeisterung, was sich alles ereignet hatte. Matt hörte zu. Namen und Ereignisse schwirrten vorbei. Kurz vor seinem Eintritt in die Geschichte wurde ihm flau. Hatten sie wirklich in so wenigen Tagen so viel getan? "...und heute sah ich - früh am Abend -, wie sich der Magier erhob", fuhr Alisande fort. "Ich mißtraute seinen Absichten, wollte ihn aber durch meine Gegenwart nicht beleidigen. Daher folgte ich ihm in einiger Entfernung und sah, wie er mit seiner Magie einen Felsen zum Leben erweckte. Aber ich spürte, daß etwas nicht richtig war und rief es ihm zu - doch zu spät. Doch machte er seinen Fehler wieder gut, indem er dich erweckte." "Und mir gegen die üblen Zaubereien half", sagte der Riese. "Trotzdem stört mich viel an dieser Geschichte. Das Jahr ist fast vergangen, und immer noch ist der Königsmord ungerächt. Das darf nicht sein! Laßt uns diese Schurken angreifen und vom Erdboden vertilgen!" "Ja, laßt uns das tun!" erklang eine fröhliche Stimme. Sir Guy kam in Begleitung von Sayeesa, Vater Brunel und Stegoman angeritten. "Was schaut ihr so?" Er grinste. "Ihr wart nicht gerade leise." Dann musterte er Colmain, welcher ihm mit festem Blick in die Augen sah. Die beiden schienen ein schnelles Zeichen auszutauschen. Der Ritter schwang sich aus dem Sattel und kniete vor Alisande nieder. "Heil Euch, Hoheit und Oberbefehlshaberin! Noch liegen die Schwaden der Kriegsmagie schwer über diesem Ort. Die Zeit rückt also näher?" "So ist es", antwortete Alisande. "Dann knie ich hier, um Eure Befehle zu empfangen, meine Prinzessin. Im Krieg müssen Ritter auf Befehl handeln. Befehlt mir also, denn in _diesem_ Kampf seid Ihr meine Herrin!" Matt bemerkte, wie Colmain zustimmend nickte. Wozu? Etwas Seltsames spielte hier mit... Vom östlichen Berghang ertönte lautes Jubelgeschrei. Im Mondlicht schimmerten die Rüstungen der Reiter. "Was sind das für Ritter?" fragte der Riese. "Der Orden des heiligen Moncaire", stieß Alisande mit strahlenden Augen hervor. "Sie kommen zur rechten Zeit." "Seht dort!" Sayeesa deutete zum Paß im Südosten, wo eine Abteilung Klosterfrauen im Habit herbeiritt. "Dort kommen meine Schwestern." Die Nonnen ritten in gerader, langer Linie. "Dem Himmel sei Dank für euer Kommen!" rief Alisande beiden Abteilungen zu. "Doch warum bracht Ihr noch so spät auf?" Der Abt stieg ab und kniete nieder. "Ich weiß nicht, Hoheit - doch kurz vor Sonnenuntergang ergriff mich große Unruhe." "Mich ebenfalls." Langsam stieg auch die Äbtissin ab. "Ich fühlte Dringlichkeit und daß Eile geboten war." Sie warf einen Blick auf Matt. Dann sah sie Colmain. "Wer ist dieser Berg in Menschengestalt?" fragte sie erstaunt. "Der Riese Colmain", antwortete der Abt strahlend. "Nun werden wir nicht sterben, sondern triumphieren." "Hat er recht?" fragte Matt die Prinzessin. "Sagt dies auch Eure Unfehlbarkeit?" "Diese Schlacht können wir nicht vermeiden", erklärte sie, doch mied sie seinen Blick. Matt spürte, wie Nervosität in ihm aufstieg. Sie war einer klaren Antwort ausgewichen. Offensichtlich funktionierte das Göttliche Recht im Augenblick nicht - oder sie wehrte sich gegen seine Botschaft. Das konnte bedeuten... Alisande hob die Hand. "Seht, es kommen noch mehr!" Über den Paß kam eine lange Reihe von Männern ins Tal geströmt. Manche zu Pferd, manche zu Fuß. Piken glitzerten. "Unsere treuen Barone", sagte der Abt stolz. "Und ihre mutigen Mannen." Sir Guy hatte die Nonnen nicht aus den Augen gelassen. "Ehrwürdige Mutter, warum tragen Eure Töchter keine Rüstungen?" "Weil sie Kettenhemden und stählerne Helme unter dem Habit tragen", antworte die Äbtissin. Sie blickte zu Alisande und seufzte. "Aber für sie haben wir nichts mehr, fürchte ich." "Dem kann abgeholfen werden." Sir Guy drehte sich in Richtung des nördlichen Berges und pfiff eine seltsame Melodie in ungewohnter Tonart. "Was tut der Ritter?" fragte Schwester Victrix. Alisande schüttelte den Kopf. Dann weiteten sich ihre Augen. Sie zeigte in die Ferne. Ein riesiges Schlachtroß mit Panzer trabte ganz still den Abhang herab. Auf dem Sattel lag fest verschnürt ein glitzerndes Paket. Es blieb vor Sir Guy stehen. Der Ritter streichelte den Kopf des edlen Tieres und löste das Bündel. Dann hielt er einen Helm und ein knielanges Kettenhemd in die Höhe. Die Prinzessin hielt sich das Hemd an. Es war genau ihre Größe. "Das kommt aus dem Hochland", sagte sie. "Wie lang mag es her sein, daß man so etwas trug?" "Jahrhunderte", antwortete Sir Guy. "Es wird Euch schützen, und dieses Roß wird Euch dienen." Mit der Freude eines Teenagers, der sein erstes Abendkleid bekommt, schlüpfte die Prinzessin in das Kettenhemd. Matt schaute weg. Er mußte Sir Guy eine Frage stellen, die ihm schon lang auf der Seele lag. "Wer schreibt eigentlich das Drehbuch für dies alles? Findet Ihr nicht, daß dieses gesellige Zusammentreffen, genau zum richtigen Zeitpunkt, etwas _zu_ zufällig ist?" "Nein." Der Ritter schüttelte den Kopf. "Es war schon immer so. Wenn die Zeit kommt, daß eine Sache ein für allemal entschieden werden muß, kommen alle zusammen, obwohl sie vom Ende der Welt herbeireiten müssen. Zu diesem Zeitpunkt bieten das Gute und das Böse ihre gesamte Stärke auf." Eine feine Sache, dachte Matt. Aber er wünschte, seine Seite hätte sehr viel mehr Kräfte rekrutiert. "He, Magier!" dröhnte eine Bärenstimme von Süden. Ein Haufen seltsamer Gestalten kletterte oder rutschte den Abhang herab. Langsam kamen die großen Ungeheuer auf ihn zu. Sie waren eine Verhöhnung der Menschheit - glubschäugig, behaart, muskelstrotzend und krummbeinig. Es waren Oger unter der Führung Breaorghs. Die mit riesigen Streitäxten und Streitkolben ausgerüstete Horde blieb kurz vor Matt stehen. Breaorgh beugte ein Knie. "Heil, Lord Magier! Ich halte mein Wort, nun haltet auch Eures." "Ich danke dir, Breaorgh", sagte Matt. "Ich danke euch allen! Kämpft für uns! Ich werde meine Bestes tun, euch die ursprüngliche Gestalt wiederzugeben. Versteht mich recht, ich will es versuchen und..." "Ja, ja, das wissen wir" grunzte einer mit einem Schweinsgesicht. "Doch hätten wir gewußt, wer Euch begleitet, wären wir auch ohne Euer Versprechen gekommen." Er kniete vor Colmain nieder. "Heil dir, o Großer!" Auch die anderen Scheusale sanken vor dem Riesen auf die Knie. Er nickte und lächelte. "Heil, ihr Kleinen! Willkommen bei unserer Truppe. Und vergeßt nie, daß ihr im Grunde Menschen seid." Er wandte sich an Sir Guy. "Vierhundert Ritter, hundert Nonnen, fünfzehnhundert Barone mit ihren Männern, zwanzig Oger, von denen jeder zehn normale Männer aufwiegt. Macht ungefähr zweitausend Mann. Wie stark dürfte der Gegner sein?" "Wenigstens fünftausend", antwortete der Ritter. "Dann brauchen wir noch Verstärkung." Colmain blickte zum südlichen Berg, lächelte und stieß einen Schrei aus. "Kommt, alle, die ihr von Stein lebt! Ihr müßt jetzt für uns kämpfen, sonst wird das Böse diese Berge und all eure Schätze - ja sogar euer Leben - an sich reißen." Felsbrocken bewegten sich im Mondlicht, gaben geheime Höhleneingänge frei. Kräftige Männer, drei Fuß groß, kamen heraus und formten sich zu einer Abteilung. Ihre Beine waren kurz, dafür die Bärte lang. Massive, muskelbepackte Gestalten in Ledertuniken. Sie trugen Morgensterne, Streitäxte und Breitschwerter. Aus den nördlichen Bergen kamen noch mehr, auch aus dem Osten. Alle sammelten sich vor Colmain. Einer rief: "Ihr habt uns gerufen, Lord des Gesteins. Welch Unheil droht, daß Ihr uns nach dem Pakt aus Urzeiten beschwört?" Colmain musterte die weit über fünfhundert Zwerge. "Ich rief euch, damit ihr die Waffen gegen die Armee eines Zauberers richtet und für eure wahre Königin kämpft." Die Köpfe wandten sich Alisande zu. Dann nickte der Anführer. "Gut. Wir leben von Stein und Erde, Ihr verkörpert das Land, Majestät. Wir folgen Euch." Colman rechnete schon wieder. Er seufzte und schüttelte den Kopf. "Zweitausendfünfhundert mutige Krieger, welche dem Feind den Sieg schwermachen werden - aber siegen wird er. Wir brauchen noch mehr, um den Zahn aus dem Teufelsrachen zu ziehen." "Zähne!" Matt schnippte mit den Fingern. Aufmerksam blickte Alisande ihn an. "Was meint Ihr, Magier?" "Ich habe vor, tausend weitere heranzuschaffen", rief Matt. Dann fragte er Stegoman. "He, kann ich deinen Zahn haben?" Der Drache legte empört den Kopf zurück. "Einen Teil meines Körpers, Magier? Was..." Dann senkte er langsam den Kopf. "Ja, sogar meinen ganzen Körper. Ich habe es geschworen." "Danke, Stegoman. Es wird dir auch nicht leid tun." Matt öffnete den Lederbeutel, holte den Zahn heraus und kniete damit nieder. "_Möge dieser Zahn hier fruchtbar werden Und sich auf über tausend schnell vermehren! Stark und kräftig sollen sie stehen und ihrem Urbild ähnlich sehen."_ Erst waren es zwei Zähne, dann vier, dann türmte sich ein riesiger Berg von Drachenzähnen auf. Alle Augen waren auf Matt gerichtet. Er zog sein Schwert, bohrte es in die Erde und zog eine lange Rinne. Dies wiederholte er noch fünfmal. Danach nahm er einen Armvoll Zähne und warf sie in regelmäßigen Abständen in die Furchen. Vater Brunel half ihm gleich beim Säen. Dann machte auch Sayeesa mit, während Matt deklamierte: "_Bei Cadmus aus der Griechen Land, geschrieb'nes Wort ward zu Verstand. Er lehrte uns, daß auch die Schrift dem Schwert nicht unterlegen ist. Um Kämpfer für sich zu bekommen, hat Cadmus Drachenzähn' genommen. Laß dieses Wunder wieder wirken, um unsere Reihen zu verstärken."_ Knospengleich schossen Klingen aus dem Boden, wurden zu zwei Meter langen Speeren, ehe die griechischen Helme mit Roßhaarbuschen sichtbar wurden. Es folgten grimmige griechische Gesichter, dann Brustplatten, metallbesetzte Röcke und Beinschienen. Als die drei mit der Aussaat fertig waren, stand schon eine lange Reihe von Soldaten da. Innerhalb von Minuten war auch der letzte Zahn zu einem Krieger geworden. Die Griechen blickten zu ihrem Anführer. Dieser nickte, trat vor und bellte eine Frage. Matt waren die zwei Jahre Griechisch immer überflüssig vorgekommen - endlos langweilige Fragen, ob der _strategos_ auf seinem _hippos_ den _potamos_ erreichte oder nicht. Doch kapierte er dadurch, daß dieser _strategos_ wissen wollte, was los sei. Matt holte tief Luft, rief sich die paar Brocken Aischylos ins Gedächtnis zurück und rief: "Heroen, Hellenen! Ich wende mich an euch, damit ihr die Freiheit verteidigt, wie ihr es immer tatet und tun werdet!" Der Anführer war überrascht, daß dieser in Metall gekleidete Fremdling griechisch sprach, wenn es auch in seinen Ohren extrem barbarisch klang. Er nickte. "Welchen Feind gilt es zu bekämpfen?" "Einen üblen Magier", antwortete Matt. "Mit einer Horde..." "Perser!" brüllten alle wie aus einem Mund. Der Anführer befahl: "Wie unsere Väter bei den Thermopylen - _formiert euch, hepp_!" Als der Staub sich gelegt hatte, stand Matt vor einer Phalanx mit fünf Meter langen Speeren. "Angetreten und kampfbereit!" meldete der Anführer. Matt nickt und machte ein Pokergesicht; er fragte sich, ob das alles wirklich wahr sei. "Rührt Euch! Strategos, bleibt aber bereit. Der Feind kann jeden Augenblick anrücken." Die Speere senkten sich. Die Griechen hockten sich auf ihre Fersen und warteten geduldig. Matt blickte Colmain an. "Dreitausendfünfhundert." "Und zwanzig Oger." Der Riese schaute Matt voll Hochachtung an. "Könnt Ihr noch mehr herbeischaffen?" Matt fluchte leise vor sich hin. Aus einem Zahn hätte er leicht zweitausend Krieger machen können; aber er hatte die erste runde Zahl genannt, die ihm einfiel. Jetzt war es zu spät. Er schüttelte den Kopf. "Nein." "Nun, es wurden schon Schlachten mit schlechteren Chancen gewonnen." Colmain seufzte. "Aber die Hoffnung bleibt uns. Nicht immer beruht der Sieg auf der Zahl der Kämpfer, sondern auf ihren Fähigkeiten und ihrem Eifer." Da fiel Matt ein, daß er noch einen weiteren Beitrag leisten konnte. "Max!" Er schlug sich auf die Rüstung. "Ja, Magier?" Der Dämon huschte von den Nonnen zu ihm herüber. Matt sah, daß Sayeesa sich unter den Schwestern befand. Er runzelte die Stirn. Aber jetzt konnte er sich damit nicht aufhalten. "Hör zu! Wir erwarten jede Minute, daß eine Schlacht beginnt. Würdest du mir einen Gefallen erweisen?" "Wenn es in meiner Macht steht." "Tut es. Schwirre über das Schlachtfeld und konzentriere ganz nach Lust und Laune die Schwerkraft - etwa vier G sollten reichen - unter die Gruppen der feindlichen Soldaten. Achte aber darauf, daß sie kein Muster ausmachen können." "Ein weiser Plan", lobte der Dämon. "Wenn sie die nächste Stelle erraten könnten, würden die Zauberer mich umgehen." Matt nickte. "Stimmt. Du sollst hauptsächlich Verwirrung stiften." Der Mond brach durch die Wolken. Da erblickten sie auf der anderen Seite des Tales einen Wald aus Speeren und Piken sowie die leuchtenden Rüstungen der Männer zu Pferde. An der Spitze ritt eine Gestalt in besonders glänzender Rüstung. "Astaulf!" Alisande sprach den Namen wie ein Schimpfwort aus. "Mir kam er nicht besonders intelligent vor", sagte Matt nervös. "Irrt Euch nicht! Im Kampf können ihm nur wenige das Wasser reichen." Alisandes Stimme wurde befehlend. "Master Colmain, nimm die rechte Flanke mit den Zwergen und Ogern. Sir Guy, die linke mit den Leuten von Moncaire und den Baronen. Ehrwürdige Mutter, Ihr bleibt mit Euren Töchtern bei mir, denn ich übernehme die Mitte. Und Ihr, Lord Magier, bleibt mit Euren Drachenmännern hinter mir." Sie holte tief Luft und schrie dann: "Befehlshaber, auf die Posten!" Sir Guys blanker Schild ging links hoch, gefolgt von den Männern aus Moncaire. Sayeesa stand winkend in den Steigbügeln. Die Nonnen scharten sich um sie. Matt rief: "Spartaner! Formt die Phalanx! Marschiert hinter den Amazonen in schwarzen Gewändern!" Sofort waren die Griechen auf den Beinen und ausgerichtet. Matt erschien es nicht sehr sinnvoll, das Gros der Kavallerie auf die linke Flanke zu legen und den Rest ins Zentrum. Aber sicher kannte Alisande ihre Truppen besser als er. Auf alle Fälle bot ihm das einen Vorwand, in ihrer Nähe zu bleiben. Er machte sich große Sorgen über das, was Malingo ihr antun könnte. Er blickte auf die Armee des Zauberers, die das Tal überflutete. Sir Guys Schätzung war viel zu niedrig gewesen. "Greifen wir jetzt an?" fragte er Alisande. "Nein! Eine Schlacht wäre für uns nicht von Vorteil. Wir marschieren zurück nach Osten und gewinnen mit jeder Meile an Stärke." "Das weiß doch auch der Feind, oder?" Alisande nickte. "Er darf es nicht zulassen. Es wird heute abend zu einer Schlacht kommen. Aber laßt ihn damit anfangen." Und gewinnen? Matt bemerkte, daß sie sich immer noch nicht auf ihre Unfehlbarkeit berief und einen Sieg verkündete. Wieder studierte er sorgenvoll Astaulfs Armee. Und dann waren da noch die Zaubersprüche Malingos... Vielleicht konnte er dagegen etwas tun. Geistig formte er schon Verse. Er würde Kraft brauchen - mehr als beim Wecken der Riesen. Langsam und sorgfältig baute er seine Verse auf. Da störte plötzlich etwas seine Gedankengänge. Er hatte das Gefühl, daß sich Böses einschleichen wollte. Malingo! Der Zauberer arbeitete bereits darin, ihn außer Gefecht zu setzen. Keine Zeit für diesen Gegenzauberspruch. Verzweifelt schrie Matt die einzigen Verse, die ihm einfielen. Es würde nichts nutzen, aber er mußte es versuchen. "_In meinem Kopf die Worte pochen; Tu nun, als seien sie gesprochen!"_ Es war, als wehe ein Wind durch seinen Kopf, der die dunklen Mächte schwächte. Sie bäumten sich wieder auf, wollten ihn einhüllen. Zwischen ihm und Malingo stand es unentschieden. Dann konnten Astaulfs Armeen auch nicht über die gesamte Zauberkraft verfügen. Als Astaulf das Tal halb durchquert hatte, gab er seinem Pferd die Sporen, zückte das Schwert und stieß einen Kriegsruf aus. Mit Gebrüll folgten ihm seine Männer. Alisande saß geduldig auf ihrem Schlachtroß und wartete, bis man jede Einzelheit an den Rüstungen der Feinde erkennen konnte. "Jetzt!" schrie Alisande. "Attacke!" Mit Freudenschreien donnerte ihre Armee dem Feind entgegen. Sir Guy stand in den Steigbügeln. Seine Stimme hallte weithin. Er schleuderte dem bösen Feind archaische Schlachtenlieder entgegen. Colmain stimmte von rechts ein. "_Wer kämpfte mit für Hardishane? Eure Väter, edle Herren! Wer zog in den Kampf mit Colmain ? Eurer Väter Väter, edle Herren. Auf Delomans Ruf hin sie kamen und kämpften mit Conor ohn' Erbarmen. Nun ist ihr Platz im Himmel oben. Eurer Väter Väter, edle Herren. Und wer soll nun dem Feind sich stellen ? Nicht ihr, o Jungen, nicht ihr! Wer sind des Höllenreichs Gesellen ? Ihr seid's, o Jungen, nur ihr! Wer hat aus Feigheit sich verrannt und das Wort von seinem Sinn verbannt? Wer wird im Höllenfeuer schmoren ? Ihr seid's, o Jungen, nur ihr! Doch selbst in dieser dunklen Nacht könnt ihr euch stellen gegen die Macht, die Schmerzen und Angst uns nur gebracht. Mögt Gnade ihr erkämpfen und eurer Söhne Strafe dämpfen. Wer will nun streiten für Kaprins Sproß? Ihr seid's, o Jungen, ihr seid's. Wer wird gesegnet in unserm Troß? Ihr seid's, o Freunde, ihr seid's. Wenn ihr den bösen Terror endet und Waffen gegen Unrecht wendet, In des Himmels Welten sollt ihr weilen! Kämpft für die Königin, kämpft!"_ Magie lag in diesen Worten. Eine seltsame Magie, welche durch Matts Kopf dröhnte und sein Blut erhitzte. Auf eine solche Magie war Malingo nicht vorbereitet. Einige Abteilungen Astaulfs verlangsamten den Schritt, zögerten. Ihre Hauptleute schrien und schlugen mit den Schwertern ringsum Köpfe ab. Ganze Bataillone wandten sich gegen die Offiziere und griffen sie mit den Waffen an, dabei riefen sie: "Herr, vergib mir!"... "Jesus, ich bereue jeden Schlag, den ich für meinen bösen Herrn führte."... "Stirb, Teufel! Möge der Himmel meine Seele aufnehmen!" In wenigen Minuten hatte sich fast ein Drittel von Astaulfs Armee gegen ihn empört. So schnell hatte Sir Guy ein ausgewogeneres Kräfteverhältnis hergestellt. "Für Gott und den heiligen Moncaire!" rief Alisande und schwang ihr Schwert hoch, als die beiden Armeen aufeinandertrafen. Sie wechselte einige Schläge mit Astaulf. Dann drängte sich eine Horde Fußvolk zwischen sie. Auf der linken Flanke mähte Sir Guy die Soldaten nieder, wobei er Kampflieder sang. Die Männer von Moncaire schichteten hinter ihm die Toten auf. Rechts bückte sich Colmain und fegte die Ritter aus den Sätteln. Dann warf er sie den Zwergen zu, damit diese den Rest erledigten. Die Oger spalteten rechts und links von ihm fröhlich jede Menge Schädel. Jedoch brachte eine neue Angriffswelle die beiden Flanken in Bedrängnis. Es fanden jetzt nur noch Zweikämpfe statt. Es kam zu völligem Chaos, da einige der reuigen Männer mit denen kämpften, welche aus Habgier ihre Höllenangst verdrängt hatten. Matt kämpfte mit seinem Zauberschwert wacker, blockte Hiebe mit dem Schild und schlug schnell zurück. Das Kampfgebrüll der Berserker und die Todesschreie der Sterbenden vereinigten sich zu einem ohrenbetäubenden Lärm. Matt sah sich von allen Seiten durch Piken bedrängt. Es blieb keine Zeit, einen Zauber auszuprobieren. Doch auch von Malingo kam nichts. Eine alte griechische Schlachtenhymne drang von rechts an sein Ohr. Links sang Schwester Victrix mit ihren Mitstreiterinnen fromme Siegeslieder. Er stand zwischen Antike und Mittelalter. Im Kampfgetümmel hatte er Alisande aus den Augen verloren. Er sah nur noch Colmain und darunter Stegoman. Aus allen Richtungen kamen Schwerter und Lanzenspitzen auf ihn zu. Ab und zu hörte er Metall klirren, wenn Max wieder eine Gruppe Bewaffneter niederzog. Heisere Schreie aus Männerkehlen durchschnitten die Luft. Da stürzte ein Geschwader Harpyien von oben herab. Die Vorhut hatten fünf Meter lange Schlangen mit Fledermausflügeln übernommen, die Feuer spuckten. "Feuerdrachen!" schrie jemand neben ihm. "Herr hilf!" Jetzt hatten sich auch noch andere Ausgeburten der Hölle in den Kampf eingemischt. Offenbar nahm die Stasis des Zauberspruchs rasch ab. Der Feind jauchzte vor Begeisterung über die höllische Verstärkung. "Zu mir!" brüllte Stegoman und hob den Kopf über die Menge. Matt fing den Feuerstoß eines Flugdrachens mit dem Schild ab. Er fluchte, als die Rüstung die Hitze an seinen Körper weiterleitete. In den Steigbügeln stehend halbierte er das Ungeheuer mit dem Schwert. Flüssigkeit tropfte aus beiden Hälften, die weiterflogen. Ein Tropfen fiel auf Matts Schild und durchlöcherte es sofort. "Zu mir!" schrie Stegoman wieder. Ein gewaltiges Donnern aus der Luft war die Antwort. Matt riskierte einen Blick. Aus einer Feuerwolke sausten hundert Drachen herab - Glogorogh und seine Freiwilligen. Die Harpyien kreischten auf und versuchten in Panik davonzuflattern. "Hauptleute!" rief Alisande. "Formiert eure Männer wieder!" Zeit war genug, denn die Drachen räumten mit wilden Schreien unter den Feuerschlangen auf. Eine Gruppe junger Drachen fiel mit Klauen und Zähnen über die Harpyien her. Die Vogelweiber verteidigten sich wild, mußten aber der wütenden Übermacht weichen. Verbrannte Harpyien stürzten unter die am Boden Kämpfenden. Frauenköpfe flogen durch die Luft. Etwas weiter unten, knapp über den Helmen, verschlangen ältere Drachen die Feuerschlangen. Die Krieger suchten unter ihren Schilden Schutz vor den Flammen und dem Säureregen. Überall brüllten Hauptleute Befehle und versuchten, die Ordnung wieder herzustellen. Der Feuerregen wurde schwächer. Matt sah auch nur noch wenige Harpyien, die sich nach Osten zu retten versuchten. Die Feuerschlangen krümmten sich am Boden und verspritzten ihr ätzendes Blut. "Jetzt bahnt mir den Weg zum Thronräuber!" rief Alisande. "Schwestern, folgt mir!" Die Nonnen schrien begeistert. Hinter ihnen stürzten sich die Griechen ins Schlachtengetümmel. Ziemlich weit entfernt hieb Astaulf wild um sich. Er schlug die eigenen Leute beiseite, um freie Bahn zur Prinzessin zu gewinnen. Hinter ihm ritt jemand mit spitzem Hut - Malingo! Die Oberbefehlshaber näherten sich einander, während die Drachen noch mit ihren Feuergarben möglichst viel Verwirrung anrichteten. Schwester Victrix und ihre Nonnen, auf die Hälfte dezimiert, gruppierten sich um Alisande. Sie fingen mit den Schilden Schwerthiebe ab und schlugen ihr tapfer den Weg frei. Dann schaffte eine feindliche Abteilung den Durchbruch. Eine Lanze erwischte Alisande und stieß sie vom Pferd. Sie ging im Kampfgetümmel unter. Matt schrie: "Stegoman, vorwärts! Brenn sie weg! Kämpfe dich zur Prinzessin durch!" Der Drache brüllte und stieß eine Feuergarbe aus, daß die Männer entsetzt beiseitesprangen. Dann kam ein Lichtpunkt dem Drachen noch zu Hilfe und vergrößerte die Flamme um weitere drei Meter. "Danke, Max!" Matt schlug wie ein Wahnsinniger um sich, um durch die Feinde zu kommen. Doch die immer noch Astaulf ergebenen Truppen, die nur nach Beute gierten, ohne an ihre Seelen zu denken, sahen ihre große Chance, Pluspunkte zu sammeln, wenn sie den gegnerischen Magier niedermachten. Blutrünstig stürmten sie auf Matt ein. Doch für Matt waren sie lediglich lästige Hindernisse. Die Diamantenklinge schnitt durch Rüstungen und Körper, als seien sie aus Butter. Viele starben, doch es kamen immer neue nach. Dennoch kämpften sich Ritter und Drache bis zu dem schützenden Kreis, welchen die Nonnen um Alisande gebildet hatten. Wie Löwinnen verteidigten sie die Prinzessin gegen die Übermacht. Eine Nonne nahm drei Gegner mit in den Tod. Aber schließlich war nur noch ein kleines Häuflein übrig. Matt konnte von seinem hohen Sitz auf dem Drachenrücken die Prinzessin sehen. Mit Hilfe eines Speeres versuchte sie, wieder auf die Füße zu kommen. Doch ein Bein war merkwürdig verrenkt. Matt stockte beinahe das Herz. Wie ein Wahnsinniger schlug er um sich. Doch inzwischen lagen alle Nonnen tot oder bewußtlos da. Nur noch zwei schwarz gekleidete Gestalten standen zwischen Alisande und dem Feind; Vater Brunel, der wie ein verwundeter Stier brüllte und mit der Stärke eines Gorillas seine Schwertstreiche austeilte, und Sayeesa. Sie durchbohrte mit zwei schlanken Schwertern so viele Rüstungen wie nur möglich. Ganz in der Nähe schwangen die Ritter ihre Streitäxte. Stegoman baggerte durch die letzten Pikenträger und war mit dem nächsten Satz bei der Prinzessin. Dann fegte er mit einem Flammenbogen die Feinde weg, wobei Max ihn tatkräftig unterstützte. Ritter schrien und flüchteten. Brunel und Sayeesa hatten sich zwischen die Vorderbeine des Drachen gestellt, während die Flammen über sie dahinschossen. Matt sprang zu Alisande hinab, riß sie mit dem linken Arm an die Brust und schützte ihren Rücken mit seinem Schild. Sie wurde stocksteif. Da klappte er das Visier auf. Mit freudigem Erkennen schlang sie ihm die Arme um den Hals. "Mein Magier! Du bist gekommen! Ich dachte schon, du hättest mich aufgegeben." "Nie und nimmer, Lady! Aber jetzt steht auf!" "Ich kann nicht. Mein Bein ist gebrochen." Vor Schmerz schloß sie die Augen. "Verlaß mich nicht, Matthew!" "Nicht, ehe Ihr wieder auf zwei gesunden Beinen steht. Ich beeile mich." "Nein, nein! Verlaß mich nicht! Nie!" Sie hing schwer an seinem Hals. "Schwöre mir, daß du mich niemals verlassen wirst!" "Ihr seid die Prinzessin - Herz und Kopf dieser Schlacht. Ich muß Euch auf der Stelle heilen." "Schwöre es!" rief sie schluchzend. "Schnell, Magier!" brüllte Stegoman. "Über hundert Ritter wollen uns einschließen. Mit so vielen kann ich es nicht allein aufnehmen." Er schickte einen Feuerstoß aus, um die Angreifer zu verjagen, doch weit reichte sein Atem nicht. Matt hoffte, daß die einander entgegenwirkenden Zaubersprüche inzwischen ihre Kraft verloren hätten. Damit war die Luft wieder frei, und es sollte ihm - jedenfalls in kleinerem Maßstab etwas Magie gelingen. Er warf noch schnell einen Blick auf die Ritter, dann formulierte er kurz und bündig: "_Bei der Liebe, die ich fühle, laß sie aufsteh'n im Gewühle."_ Alisande belastete vorsichtig das gebrochene Bein. Mühe- und schmerzenlos konnte sie darauf stehen. Hocherhobenen Hauptes schritt sie mit erstarrtem Gesicht dahin, ohne Matt eines Blickes zu würdigen. "Ja, Lady! So ist es nun mal!" Matt drehte sich um und sah, wie Sayeesa gerade ihr Schwert wegschleuderte. Tiefe Bitterkeit war in ihr Gesicht eingegraben. Ihm lief es kalt über den Rücken. Sie nickte ihm zu. "Ja, auch ich habe danach gesucht, ohne es zu wissen - nach der Liebe in ihrer ganzen Großartigkeit, nicht nur das Körperliche oder den Glanz des Verbotenen! Ich habe danach gesucht, doch es wurde mir verwehrt." Sekundenlang trafen sich ihre Blicke. Dann hob die Ex-Hexe entschlossen das Kinn. "Aber auch ohne Liebe werde ich meinem Leben Sinn geben. Geist!" "Ja, Herrin?" Ein Lichtpunkt tanzte neben ihr. "Komm, dring in mich ein und erfülle mich mit deiner Kraft." Sie öffnete die vollen Lippen. Der Dämon verschwand in ihrem Mund. Einen Augenblick stand sie ganz still, dann schien sie vor Kraft anzuschwellen. Sie riß den Habit der Postulantin und das Kettenhemd herunter, so daß sie nur in einem kurzen Hemd dastand. Ihr Körper schien zu glühen. Die Ritter erstarrten und konnten die Blicke nicht von ihr lösen. Matt erging es nicht anders! Genau das hatte Sayeesa beabsichtigt und geplant. Vater Brunel wandte sich zitternd ab. Sayeesa warf ihm einen verächtlichen Blick zu, dann bewegte sie sich, verführerisch die Hüften schwingend, auf die Ritter zu. Langsam und aufreizend näherte sie sich der Wand aus Stahl. Ihre Augen schienen die gesamte Armee einzuladen. Sie schien vor Wollust zu brennen. Auch Matt spürte, wie Begierde in ihm wach wurde, und er zwang sich wegzuschauen. Da stöhnte ein Ritter laut auf. Einer riß sich den Helm vom Kopf und nestelte an den Verschlüssen seiner Rüstung. Andere folgten sogleich seinem Beispiel. Überall flogen Rüstungen durch die Luft. Dann gingen die liebestollen Männer auf Sayeesa zu. Aber Sayeesas Blick ging über sie hinweg und fixierte ein blasses, bärtiges Gesicht unter einem Spitzhut. Malingos Augen saugten sich an ihrem Körper fest. Er schwitzte und schluckte krampfhaft. "Komm!" rief sie. Der Zauberer zögerte, schwankte zwischen Furcht und Begierde. Doch er hatte schon zu lang keine Frau mehr gehabt, als daß er Sayeesa hätte widerstehen können. Aufstöhnend riß er das Schwert aus der Scheide und bahnte sich rücksichtslos einen Weg durch seine eigenen Ritter, wobei er brüllte: "Ihr Narren! Abschaum! Weg da! Laßt mich zu diesem Weib!" Verschreckt wichen sie zurück. Malingo stürzte zu Sayeesa. Sie rief Brunel zu: "Komm, du Hund! Wir sind doch von gleicher Art. Dein Leben ist wie das meine nur noch als Sühneopfer sinnvoll." Der Priester hob den Kopf. Matt sah voll Entsetzen, daß das Gesicht kaum noch menschliche Züge trug, so hart war der Kampf gegen das Mondlicht und die körperliche Gier. Doch dann sah er, wie Malingo sich zu Sayeesa vorarbeitete. Verstehend nickte er. Aufheulend schleuderte er die Soutane von sich. Sein Körper schrumpfte und bedeckte sich mit Fell, eine spitze Schnauze trat hervor. Die Ohren wurden länger und spitzer. Ein buschiger Schwanz wuchs aus seinem zuckenden Leib. Gefährlich knurrend stand der Wolf da. Inzwischen hatten die Ritter gemerkt, daß sie mit Malingo um die Wette liefen. Ohne Rüstungen drangen sie mit ausgestreckten Händen auf Sayeesa ein... Da sprang der Werwolf in ihre Mitte und richtete mit seinen Krallen und Zähnen ein Blutbad an. Vor Angst und Entsetzen schreiend flüchteten kampferprobte Haudegen, die Arme vors Gesicht geschlagen. Der Wolf raste wie ein beißender Tornado durch ihre Reihen auf Malingo zu. Sayeesa lief mit ausgebreiteten Armen durch diese Bresche auf den Zauberer zu. Sie überholte den Wolf noch. Ausgehungert griff Malingo nach ihr. Er riß ihr das Hemd entzwei. Ihre Lippen vereinten sich zu einem langen, langen Kuß. Doch dann stieß Sayeesa ihn hohnlachend von sich. Völlig verwirrt starrte Malingo sie an. Dann trat er wieder auf sie zu. Doch da heulte der Wolf auf und sprang ihm an die Kehle. Malingo zog einen Krummdolch hervor, dessen silberne Klinge zu zucken schien. Aber die Bewegungen des Zauberers waren irgendwie ungewöhnlich langsam. Der Wolf prallte gegen Malingos Brust und warf ihn zu Boden. Dann ging er zähnefletschend auf die Kehle los. Mit offensichtlicher Mühe trieb Malingo ihm den zuckenden Dolch in die Brust. Aufstöhnend fiel der Wolf zurück, Blut schoß aus der Wunde. Er wollte sich wieder aufrichten. Malingo holte eine Flammenkugel aus dem Ärmel. Die warf er Sayeesa zu und schrie: "Stirb, Verräterin! Welchen Zauber hast du mir übergeworfen?" Hohnlachend stand Sayeesa da. Der Feuerball traf sie und explodierte. Flammen schlugen über ihrem zuckenden Körper zusammen, als sie zu Boden stürzte. Malingo versuchte aufzustehen, sank aber sogleich wieder nieder. Der verwundete Werwolf kroch bedrohlich knurrend näher. Malingo hob den Dolch, als wiege dieser eine Tonne. "Mein Todesfluch soll den treffen, der meine Kraft stahl! Doch habe ich noch die Kraft des Hasses. Diese soll er spüren. Möge sein Körper an der Beulenpest lebendig verfaulen und seine Seele ewig in der Hölle brennen!" Da hatte der Wolf das letzte Stück geschafft und fiel auf Malingos Brust. Der Zauberer hatte aber die Dolchspitze hochgehalten, so daß der Wolf direkt darauf stürzte. Trotzdem gruben sich die Zähne in seine Kehle und rissen sie auf. Der Schrei des Zauberers ging in Gurgeln über, als ein Blutstrom hervorschoß. Dann verstummte das Gurgeln, der Blutstrom versiegte. Der Werwolf auf seiner Brust verwandelte sich langsam wieder in Vater Brunel. Stille herrschte auf dem Schlachtfeld. Alle starrten voller Entsetzen auf die Szene. Es war das Werk des Dämons! Das war Matt jetzt klar. Sayeesa hatte ihm mit ihrem Kuß Zugang zu Malingos Körper verschafft. Dann hatte Max dem Zauberer die gesamte Energie entzogen. Der Wolf hatte ihm dann noch den Rest gegeben. Da kam aus weiter Ferne wildes Triumphgeschrei. Der Himmel war durch lederne Schwingen und glitzernde rote Schuppen fast verdeckt. Eine Horde Dämonen stürzte sich mit wildem Gelächter auf die Leiche Malingos. "Er gehört uns!"... "Ein Fressen für die Hölle!"... "Beansprucht seine Seele!"... "Schafft sie zum weißen Feuer, niemals sterben soll er." Da übertönte sie ein verzweifelter Schrei, ein menschlicher Schrei - die Seele erkannte jetzt, daß sie auf ewig verdammt war! Doch schon riß ein Dämon die Leiche auf. Erde und Himmel erbebten unter titanischem Donner. Eine riesige, nach Pech und Schwefel riechende Wolke stieg aus Malingos Körper auf und überschattete das Tal. Matt fühlte, wie seine Seele sich ins tiefste Innere zurückzog. Die Menschen kauerten sich angstvoll nieder und suchten Schutz, wo keiner war. Da ertönte eine Stimme aus der Wolke: "Verneigt euch, ihr Gewürm, vor dem Fürsten der Hölle!" Die Wolke nahm die Gestalt eines riesigen Teufels an. Mit donnernder Stimme verkündete er: "Mit Blut schloß ich den Pakt mit diesem jämmerlichen Zauberer. Meine Macht gab ich ihm für seine Seele und die Erlaubnis, in ihm zu wohnen. Nun bin ich frei! Nun bin ich der Herr! Werft euch vor mir in den Staub, Gewürm, und betet mich an, sonst müßt ihr sterben!" Matt überkam ein Zwang. Er mußte den Kopf heben und rufen: "_Hilf uns, o große Macht! Sonst überkommt uns finst're Nacht. O großer Vater, Kaprins Hüter, rette uns mit deiner Güte!"_ "Wer spricht da?" kreischte der Dämon. "Kein Wort mehr!" Ein riesiger, schemenhafter Fangarm griff aus der Wolke nach Matt. Da erschütterte das Tal eine neue Stimme: "Halt ein mit deinem üblen Tun!" Alle Augen wandten sich zum nördlichen Felsen. Dort stand eine schimmernde Gestalt in golddurchwirktem Ornat und mit der Mitra und dem Stab eines Erzbischofs. Trotz des hellen Lichtkreises, der ihn einhüllte, konnte Matt das Gesicht erkennen. "Der Priester, bei dem Sayeesa und ich beichteten!" "Nein!" fuhr Alisande ihn an. "Das ist der heilige Moncaire!" "Wer wagt es, den Gottesacker zu beschmutzen?" donnerte der Heilige. "Zurück in die Tiefe, aus der ihr kamt, elende Dämonen! Ich bin hier, um Eure Macht zu brechen. Im Namen Dessen, Dem ich diene, befehle ich euch: Hebt euch hinweg!" Die Wolke erbebte in sich. Dann brach eine Sturzflut von Flüchen aus ihr heraus, in Sprachen, die älter waren als das Wissen der Menschheit. Der Boden des Tals bebte. Der heilige Moncaire hob die Hand und stimmte ein lateinisches Gebet an. Überall im Tal loderten Flammen auf. Die Männer wichen mit Entsetzensschreien zurück. Die uralten Verwünschungen gingen in gellende Schreie über. Das Latein dagegen wurde immer lauter und übertönte alles. Der Heilige nahm seinen Stab in beide Hände und hob ihn über den Kopf. "_In nomine Domini_!" Der Stab zeigte direkt auf den Dämon. Ein blendender Lichtstrahl zuckte ins Innere der höllischen Wolke. Mit ohrenbetäubendem Lärm explodierte sie. Langsam verblaßte das Licht. Matt konnte die zitternden, verängstigten Männer am Boden kauern sehen. Die Armeen waren noch auf denselben Positionen wie beim Tod Malingos. Doch in der Mitte war ein verbrannter Kreis. Darin lagen die verkohlten Leichen einer Frau und eines Mannes. Mit einem Verzweiflungsschrei warf Astaulf Helm und Schwert in den Kreis. "Rettet meine Seele! Tut mit mir, was ihr wollt; aber gewährt mir die Sterbehilfe eines Priesters!" Mit gefalteten Händen sank er auf die Knie. "Nie glaubte ich wirklich an Hölle oder Himmel - bis jetzt! Nun weiß ich und erkenne auch das Ausmaß meiner bösen Taten! Flechtet mich auf das Rad oder vierteilt mich - doch erlaubt mir vor meinem verdienten Tod die Sakramente zu empfangen." Er barg das Gesicht in den Händen. Seine Schultern bebten. Dieser Wandel kam Matt etwas zu abrupt - aber dann fiel ihm ein, daß ja der Einfluß des Bösen aus dem Tal vertrieben war und nur noch die Gegenwart des Guten herrschte. "Tötet mich; aber rettet meine Seele vor der Hölle!" flehte ein Baron und fiel auf die Knie. "Laßt mich in der Kirche sterben!" bettelte ein anderer. Ein Feind nach dem anderen ergab sich, bis die gesamte Armee des Gegners mit gesenkten Köpfen am Boden kniete. "Nehmt Ihr die Kapitulation an, Hoheit?" fragte Sir Guy die Prinzessin. Sie schaute den Schwarzen Ritter an, dann die feindliche Armee und nickte. Mit hocherhobenem Haupt erklärte sie: "Ich nehme eure Kapitulation an. Zwerge, sammelt die Waffen ein." Frohes Jauchzen stieg aus den Reihen der Sieger auf. Dann huschten die Zwerge umher und sammelten die Waffen ein. "Ihr müßt jetzt das Urteil fällen, Hoheit." Die Äbtissin trat mit ernstem Gesicht an Alisandes Seite. "Ihr habt die Schlacht gewonnen. Jetzt müßt Ihr über das Schicksal der Besiegten befinden." "Nein", widersprach Alisande entschieden. "Dazu habe ich nicht das Recht. Noch bin ich nicht die gekrönte Königin, und hier gibt es niemanden, der mich dazu machen könnte." "O doch!" brummte Colmain. Er ging zu Sir Guy. "Ja, _einer_ hat die Macht dazu." Sir Guy hob den Kopf und rief laut: "Moncaire!" "Ja, Sir Guy de Toutarien", kam die Stimme des Heiligen. "Es ist beschlossen, daß die Prinzessin zur Königin gekrönt werden soll. Sie möge zu mir heraufsteigen. Und Ihr, Sir Guy, sollt sie geleiten." Alisande nahm Sir Guys Arm. Langsam und feierlich gingen sie durchs Tal auf den Pfad zu, welcher zum Heiligen hinaufführte. Matt schüttelte den Kopf. War dieser Pfad schon vorher dort gewesen? Er konnte sich nicht erinnern. Der Ritter half der Prinzessin beim Aufstieg. Dann stand sie vor dem Heiligen. Moncaires Stimme war tief und sonor. "Ihr werdet Zeuge sein, Sir Guy. Und wer hat die Krone?" Zum erstenmal schien der Ritter völlig überrascht zu sein. Hilflos blickte er zu Matt herab. Auch der Heilige schaute ihn erwartungsvoll an. Matt nickte und formulierte schnell einen Zauberspruch: "_Die Krone ziert die Königin, auf daß sie hell erstrahle. Der güld'ne Reif jetzt Alisande schmücke, zu ihrem und zu unserm Glücke!"_ Sir Guy griff nach der strahlenden Krone, welche im Heiligenschein Moncaires schwebte. Nun wandte sich der Heilige an die Armeen. Seine Stimme drang bis zum letzten Mann. "Noch in dieser Nacht werde ich euch dank meines Amtes eine Königin schenken." Dann zu Alisande: "Knie nieder, meine Tochter." Stolz kniete sie vor dem Heiligen. Sir Guy hielt die Krone hoch, damit alle sie sehen konnten. Stumm hingen die Augen der Soldaten am goldenen Reif. Dann übergab der Ritter die Krone dem Heiligen. Dieser segnete sie und wandte sich an Alisande. "Schwörst du, Alisande, dies Land zu hüten und zum Wohl aller seiner Bewohner zu regieren? Schwörst du ferner, Gott und dem Guten zu dienen, allem Bösen zu entsagen, solange du lebst ?" "Ich schwöre es", antwortete sie. "Und möge Gott mich tot umfallen lassen, wenn ich je diesen Schwur breche!" Der Heilige setzte ihr sanft die Krone aufs Haupt und trat zurück. "Dann erhebe dich und herrsche, Königin Alisande von Merovence!" Die Soldaten brachen in Jubelschreie aus, während sich der Heilige immer weiter zurückzog. Als Matt Sekunden später nach ihm ausschaute, war von ihm keine Spur mehr zu entdecken. *Kapitel 19* Die letzten Nachtstunden waren von fieberhafter Aktivität erfüllt gewesen. Die überlebenden Moncaireaner hatten den reuigen Feinden die Beichten abgenommen. Andere hatten auf dem Schlachtfeld eine notdürftige Plattform errichtet und dort das von Astaulf erbeutete Zelt für die neue Königin aufgestellt. Dorthin hatte sie sich mit Sir Guy und einigen anderen zurückgezogen. Sie hatte versprochen, am nächsten Morgen das Urteil über den Feind zu fällen. Matt war nicht unter ihren Beratern. Sie schien ihm aus dem Weg zu gehen. Aber er hatte genug zu tun, die Griechen in ihre Ursprungszeit zurückzuversetzen und das Versprechen den Ogern gegenüber einzulösen. Nun erhellte die erste Morgendämmerung die Hochebene. Es herrschte wieder Ordnung. Die Schwerverwundeten waren von den Nonnen versorgt worden und lagen nun in Reihen da. Einige stöhnten, aber die meisten lagen still in dem Zauberschlaf, den Matt ihnen verschafft hatte. Die weniger schwer Verwundeten oder Unverletzten knieten in der Talmitte, die Köpfe gesenkt, die Hände gefaltet. In der Mitte waren die Besiegten. Sie wurden von Soldaten bewacht, obwohl das eigentlich nur eine zusätzliche Vorsichtsmaßnahme war, da ihre Ellbogen hinten mit Seilen zusammengebunden waren und die Handgelenke noch zusätzlich Fesseln trugen, wie auch die Knöchel. Astaulf und seine Barone trugen Ketten. Sie schienen am hingebungsvollsten den Worten des Abtes von Moncaire zu lauschen, der vor einem einfachen Feldaltar stand. Als Mönche und Nonnen das _Requiem_ sangen, war die feierliche Totenmesse, welche bei Mondschein begonnen hatte, im Morgenlicht beendet. Matt kniete hinter den Baronen. Er hatte Schwert und Zaubersprüche parat, war aber froh, daß er nicht gebraucht wurde. Die heilige Kommunion war an Sieger und Besiegte gleichermaßen ausgegeben worden. Astaulf und seine Barone waren mit Gott ausgesöhnt und schienen sich keine Sorgen zu machen, was mit ihren Körpern geschehen würde. Eine so tiefe Gläubigkeit, welche zu solcher Seelenruhe führte, beeindruckte Matt immer mehr. Während der gesamten Messe hatte er dies schon gefühlt. Jetzt aber kniete auch er da und verstand die Bedeutung dieses uralten Rituals. Wieder wurde ihm die Signifikanz und Tiefe der Symbole bewußt. In dieser Welt war jede symbolische Bewegung, jedes Zitat aus der Heiligen Schrift keine leere Wiederholung von Phrasen oder Formeln, sondern ein Teil des mächtigsten Zaubers, welcher vergangene und gegenwärtige Leben berührte und die Welt ringsum sowohl veränderte wie auch bewahrte. Der Abt wandte sich den Soldaten zu und breitete die Arme aus. "_Ite, Missa est_!" Gehet hin, ihr seid entlassen! Wie alle anderen antwortete Matt: "_Deo gratias_!" Dank sei Gott! Der Abt beugte den Kopf, faltete die Hände und nahm den verhüllten Kelch vom Altar. Langsam schritt er die Treppe hinab, während der Chor noch ein Schlußlied sang. Dann falteten die Mönche den Reisealtar wieder zusammen und trugen ihn fort. Plötzlich stimmten viele in das jubelnde _Gloria_ ein. Auf dem Höhepunkt der Hymne betrat Alisande, in einen purpurnen Königsmantel gehüllt, den man von Astaulf entliehen hatte, und der goldenen Krone auf dem Haupt die Plattform. Die Stimmen erhoben sich zu einem brausenden _Alleluja_. Danach herrschte absolute Stille. Endlich rief Sir Guy: "Das Urteil! Fällt das Urteil über die feigen Verräter Astaulf und seine Barone!" Unheildrohendes Murmeln stieg aus den Reihen auf und erfüllte das Tal. Alisande hob die Hand. Das Murmeln verstummte. "Wir werden nicht hier das Urteil fällen", erklärte sie mit lauter Stimme. "Gerechtigkeit braucht Ruhe und Überlegung. Sie ist nicht Sache einer momentanen Eingebung. Wir schaffen diese Barone und ihren Lehnsherrn Astaulf in Ketten in unsere Hauptstadt. Dort in Bordestang werden sie das Urteil erwarten, welches ich mit den Edlen des Landes fällen werde." Niemand wagte zu atmen, so überrascht waren sie. Matt nickte langsam. Ein ordentlicher Prozeß war eine hervorragende Maßnahme als Kontrolle in einer Tyrannei. Alisandes Herrschaft fing wirklich gut an. "Nun zu den Soldaten", fuhr Alisande fort. "Sie hatten keine Wahl, sondern mußten aus Angst vor ihren Befehlshabern kämpfen oder aus Angst vor Vergeltungsmaßnahmen gegen ihre Frauen und Kinder - ihnen kann man keine große Schuld geben. Sie können heimkehren zu ihren Familien, Schwert und Speer abschwören und wieder zur Pflugschar greifen." Diesmal brachte das Jubelgeschrei beinahe die Berge zum Einstürzen. Freund und Feind fielen sich in die Arme. Matt fand, Alisande würde nicht nur eine gute, sondern auch eine allseits sehr beliebte Herrscherin werden. Als sich das Chaos etwas gelegt hatte, rief Sir Guy: "Und was ist mit den Zauberern, Majestät? Mit den kleineren, welche Malingo in seine bösen Dienste zwang?" "Sie sollen verbrannt werden, sofern man sie aufspüren kann." Mit unbewegtem Gesicht wandte sie sich an Matt. "Sie zu jagen, sollte Aufgabe unseres rechtmäßigen Lord Magiers sein." Dann brachten Nonnen und Mönche zwei Tragbahren, auf denen verhüllte Gestalten lagen. Sie stellten sie vor die Königin. "Und was soll mit Vater Brunel, unserem Bruder in Gott, geschehen?" fragte der Abt. "Und mit ihr, meiner hoffnungsvollen Tochter?" Die Äbtissin trat neben Sayeesas Bahre. "Bringt sie heim in Eure Ordenshäuser", befahl Alisande. "Errichtet Schreine über ihren Gebeinen, denn sie starben als Märtyrer. Ich zweifle nicht, daß ihre Seelen längst himmlische Freuden genießen." Abt und Äbtissin dankten der Königin. Dann trug man die Bahren fort. Nachdem die sterblichen Überreste Vater Brunels auf ein Roß gebunden waren, schwang sich der Abt in den Sattel, hob die Hand und rief: "Mir nach!" Mit feierlichem Gesang folgten ihm die kriegerischen Mönche des heiligen Moncaire. "Kommt, meine Töchter!" rief die Äbtissin. "Laßt uns nach Hause zurückreiten und gemeinsam trauern." So ritten zwei Trauerzüge aus dem Tal hinaus, Seite an Seite, mit ihnen die reuige Hexe und der Werwolf, die beide in die Fallgruben sündigen Begehrens gestürzt waren, aber beide wieder zur Ehre Gottes zurückgefunden hatten. Die Prozessionen verschwanden hinter den Bergen im Osten. Die Soldaten begannen, sich zu unterhalten. Doch Alisande gebot ihnen Schweigen. "Geht jetzt zu Euren Lords! Befreit Eure Brüder, welche gegen ihren Willen kämpfen mußten, auf daß auch sie heimkehren! Dann folgt Euren Lehnsherren mit dem Segen Euer Königin!" Unter großem Jubelgeschrei stieg sie die Plattform herab. Gleich darauf herrschte wieder buntes Chaos. Matt bahnte sich einen Weg durch die Menge. Soldaten, welche ihn kannten, machten dem Lord Magier sofort Platz. Aber als er sich vorgekämpft hatte, war Alisande in Begleitung einiger Barone schon fast an ihrem Zelt angelangt. Sie sah Matt. Doch sprach aus ihrem Gesicht keinerlei Einladung. "Nun, Sir Matthew, Ihr seid beinahe zu Hause!" Sir Guy schlug ihm fröhlich lächelnd auf die Schulter. Matt wurde einen Ungewissen Verdacht nicht los, der sich jetzt sogar noch verstärkte. "Ja, stimmt." Er legte den Arm um den Schwarzen Ritter und führte ihn zu Stegoman, der ein stilles Plätzchen ergattert hatte. "Also gut", sagte er, entschlossen das Rätsel um Sir Guy zu lösen. "Wer seid Ihr in Wahrheit, Sir Alles oder Nichts?" Der Ritter lächelte noch mehr. "Warum fragt Ihr mich das? Warum belegt Ihr mich mit einem so seltsamen Beinamen?" "Weil Euer Name dies in einer Sprache bedeutet, die ich beherrsche. Toutarien - _tout ou rien_. Französisch, die Sprache des höfischen Rittertums. Viele Adlige hier haben ähnliche Namen. Erzählt mir nicht das Märchen vom schlichten Ritter! Ich habe gesehen, wie Colmain Euch erkannte und der heilige Moncaire auf Euren Ruf hin erschien." Jetzt lächelte Sir Guy nicht mehr. "Aber wer sollte ich sonst sein, Sir Matthew, wenn nicht der Ritter, der ich zu sein scheine?" "Es gibt da eine alte Geschichte über einen gewissen Schwarzen Ritter", sagte Matt. "Als Hardishanes angeblich ausgestorben war, fand Colmain ein Kind aus der Linie der Tochter des Kaisers. Aber es wird auch behauptet, daß außerdem ein Kind aus der männlichen Linie existiere. Doch das wurde nie gefunden. Sind diese Gerüchte wahr, Sir Guy?" Sir Guy blickte Matt in die Augen, dann zuckte er mit den Schultern. "Da Ihr saht, was allen ändern nie auffiel, und Euch an etwas erinnert, das ich nie hätte erwähnen dürfen - ja! Aber schwört mir, bei Eurer Ritterehre, daß Ihr niemals mit anderen darüber sprecht." "Ich schwöre es, bei meiner Ritterehre!" versprach Matt. Sir Guy nickte. "Es gab dies Kind, es war so gut versteckt, daß auch Colmain es nie fand. Sein ganzes Leben - und alle in dieser Linie werden steinalt - verbrachte er im Verborgenen, seine Nachkommen ebenfalls. Ich bin der letzte dieser Linie." "Aber dann wärt Ihr der rechtmäßige Herrscher, nicht Alisande!" "Der Himmel bewahre mich vor diesem Schicksal! Ich bin zwar von Rechts wegen _Kaiser_, kann aber mein Erbe nicht beanspruchen, ehe nicht _alle_ Lande im Westen der Herrschaft des Bösen anheimgefallen sind. Erst dann kann ich - oder können meine Erben - das Szepter ergreifen, denn dann ist der Kaiser das einzige Heilmittel. Solange noch Gott in Merovence herrscht, so lange ist es die Zeit für Könige, nicht für Kaiser. Und möge diese Zeit während meines Lebens nicht kommen!" Matt war überzeugt, daß er die Wahrheit sprach. "Dann seid Ihr also nicht der sorgenlose Vagabund. Ihr habt Euer Leben der Aufgabe verschrieben, die Zeit hinauszuschieben, wenn man wieder einen Kaiser benötigt. Ihr wollt keine Macht." "Nicht um den Preis, daß das Böse diese Lande einnimmt. Ich kämpfe bis zum letzten Atemzug, um diesen Tag hinauszuzögern - wie es mein Vater und sein Vater taten." "Ja, ich verstehe." Matt bemühte sich, alle Fakten in dieses neue Wissen einzuordnen. "Dann kann ich wohl davon ausgehen, daß _Ihr_ mich hiermit angeworben habt?" "Angeworben? - O nein! Ich ging nur zur Höhle des Kaisers, weckte den heiligen Moncaire und warnte ihn vor dem bevorstehenden Übel. Er wußte dies natürlich, brauchte aber einen Sterblichen, der ihn um Hilfe bat. Er hatte den Gedanken, einen Magier aus einem anderen Universum zu suchen, dessen Wissen in diesem Land unbekannt ist, und ihm Macht über Malingo zu verleihen. Er schrieb Verse auf ein Pergament und schickte es hinaus. Er erklärte, daß der Mann, welcher das Pergament finden und sich die Mühe machen würde, es zu entziffern, logischerweise der Magier sein müsse, welcher dies Land retten könne." Nicht übel! Das mußte Matt zugeben. Ein Zauber mit automatischem Filter, um nur den richtigen Mann auszusuchen! "Doch nun freut Euch doch endlich!" Sir Guy schlug ihm noch mal aufmunternd auf die Schulter. "Eure Aufgabe ist erledigt! Ich bin sicher, der gute Heilige wird Euch heimschicken." Matt starrte ihn fassungslos an. Sir Guy runzelte die Stirn. "Na, was ist? Das wünscht Ihr Euch doch, seit Ihr herkamt, oder?" "Ja, sicher", antwortete Matt langsam. "Ja, das habe ich gesagt, oder? Nach Hause." Er sah seine schäbige Studentenbude vor sich. Die Freunde Bier trinken aus Dosen... oder ein Essen in der Mensa... Irgendwie erschien ihm das alles ungeheuer weit weg zu sein, unwirklich, als habe er davon nur in einem Buch gelesen. Seine Augen wanderten zum Zelt hinüber, wo Alisande verschwunden war. Er seufzte tief. Zumindest würde sein Weggehen aus dieser Welt den Streß von ihr nehmen und das anscheinend hoffnungslose Problem lösen, auf das die Ehrwürdige Mutter gestoßen war. "Ja, ich schätze ich will nach Hause." Er blickte Sir Guy an. "Dann hattet Ihr also nichts damit zu tun, daß ich hierherkam. Aber, mal ehrlich, habt Ihr nicht diese ganze Expedition geplant und geleitet?" Sir Guy schüttelte den Kopf. "Ich wollte die Prinzessin und den Magier finden, sobald sie frei wären, und mich ihnen anschließen..." "Und dann habt Ihr mich ausgetrickst, damit ich Euch verpflichtete!" korrigierte Matt ihn lächelnd. "Ich nehme an, Ihr tatet dies nur aus Neugier." "Nein, das geschah, um ihre und Eure Sicherheit zu gewährleisten. Aber es war Alisandes Reich, und sie wußte besser als ich, was nötig war." Matt war nicht so sicher, ob sie das wußte, sagte aber nichts. "Ihr kamt also nur so zum Spaß mit, ja?" "Ich half mit meinem Schwert aus, wenn nötig", antwortete Sir Guy vorsichtig. "Und ich ließ Euch zum Ritter schlagen. Ich hielt das für das Beste, denn dadurch bekamt Ihr die kriegerischen Fähigkeiten, die so dringend benötigt wurden." Das ergab Sinn. In dieser Welt bekam man mit dem Titel auch die entsprechenden Fähigkeiten - Ritter, Krieger! "Jetzt ist der Krieg vorbei und Alisande Königin. Wohin werdet Ihr reiten - rein zufällig, natürlich?" Sir Guy lächelte. "Wo die Lage amüsant zu sein verspricht. In Ibile zum Beispiel sucht ein Baron nach Rittern, um gegen den Zauber-König zu rebellieren. Dieser Baron soll ein gerechter und guter Mensch sein. Vielleicht reite ich dorthin. Allerdings werde ich einen Magier vermissen, der mir hilft." "Ja?" Matt kam eine zündende Idee. "Vielleicht kann ich Euch da aushelfen. Max!" "Ja, Magier?" summte der Dämon vor ihm. "Max, wie würde es dir gefallen, von jetzt an Sir Guy zu dienen?" "Einem Herrscher, der dagegen kämpft, nicht zu herrschen?" Das Summen klang ausgesprochen fröhlich. "Das hat Perversität! Aber es ist nicht möglich. Er kennt nicht die innere Beschaffenheit der Dinge und kann mir keine ordentlichen Anweisungen erteilen." Also Sir Guy Physikunterricht erteilen! Nein, dazu hatte Matt keine Lust. Es mußte aber doch einen anderen Weg geben. "Du könntest ihm doch sagen, welche Anweisungen er dir geben soll, oder?" Diesmal klang das Summen nach begeistertem Kichern. "Das ist der wahre Geist der Perversität! Befehle geben, welche ich dann ausführen muß! Ja, Magier, ich tue es!" Der Lichtpunkt schwirrte zu Sir Guy und verschwand in einer Ritze seiner Rüstung. "Dann könnt Ihr losreiten", sagte Matt. "Stegoman geht auch zurück zu seinem Volk. Ich schätze, das Schicksal zerschlägt unseren Haufen." "Nein", ertönte die Stimme des Drachen über Matts Kopf. "Das ist nicht mein Plan, Magier. Ich bin schon lange weg und hatte viel zuviel Umgang mit Menschen. Ich habe darüber nachgedacht; aber ich würde mich bei meinem Volk nur schwer wieder eingewöhnen können. Von nun an übernehme ich lieber die Lebensweise und Sitten deines Volkes." "Dann komm mit mir!" rief Sir Guy. "In Ibile könnten wir beide gemeinsam große Taten vollbringen." "Ja, schon." Stegoman senkte den großen Kopf. "Aber das geht nicht." "Geht nicht?" fragte Matt. "Warum?" "Weil ich dir die Treue geschworen habe, Lord Magier. Wo du hingehst, gehe auch ich hin, wo du bleibst, bleibe auch ich." "Aber jetzt kannst du nicht mit ihm gehen", sagte Sir Guy. "Er geht nach Hause, welches jenseits eines riesigen Abgrunds liegt, den niemand außer ihm überwinden kann. Er kehrt zurück in die Zeit und an den Ort, von wo er kam. Und du und ich, wir bleiben hier." "Ist das wahr, Magier?" fragte der Drache. Matt blieb die Antwort durch die Ankunft eines jungen Soldaten erspart. "Die Königin wünscht Euch zu sprechen, Lord Magier." Er schien fast Angst zu haben, das Wort an einen so mächtigen Mann zu richten. Dann ist sie wohl mit allem anderen Kram fertig und ließ sich nun herab, an ihn zu denken! Matt nickte und ging zum Zelt. Sie war allein und saß an einem Holztisch. Langsam stand sie auf. "Ihr wünschtet mich zu sehen, Majestät?" fragte er. Sie nickte leicht. "Um Euch zu danken, Lord Magier. Wir sind Euch zu tiefem Dank für Eure Hilfe bei unserem unvermeidlichen Sieg verpflichtet." Ihre Stimme verriet die gleiche Dankbarkeit, wie man sie beim Bezahlen eines Gerichtsvollziehers empfindet. Ihr Gesicht war eine starre Maske. "Euer Sieg schien aber nicht so makellos unvermeidlich zu sein, als ich Euch das letztemal darüber befragte", erinnerte Matt sie. Er hatte diese Tiefkühlbehandlung mehr als satt. Es wurde Zeit, den ganzen Kram hier hinzuschmeißen. "Oder funktioniert Eure Unfehlbarkeit auch im Rückblick?" Jetzt funkelten ihre Augen wütend. Trotzdem sprach sie teilnahmslos weiter. "Hättet Ihr auch so tapfer gekämpft, wenn Ihr schon vorher gewußt hättet, daß wir siegen? Nein! Ich schwäche meine Armee nicht, indem ich den Sieg schon verkünde, ehe er errungen ist." Da hatte sie nicht Unrecht! Das mußte er - wenn auch ungern - zugeben. Außerdem brachte dieses Geplänkel doch nichts. Er traf seine Entscheidung. Am besten, er brachte es gleich hinter sich! "Ich gehe weg, Majestät. Ich kehre in meine Welt zurück." Sie nickte mit unbewegtem Gesicht. "Ja, ich wußte, daß Ihr es ernst meintet, als Ihr nicht schwören wolltet, zu bleiben, sondern Euch nur um meine Wunden kümmertet. Nun, dann geht doch, Sir!! Einen widerwilligen Magiermeister kann ich nicht gebrauchen!" Damit wandte sie sich ab. Eigentlich war Matt damit entlassen. Aber er wollte nicht ohne irgendeine Erklärung fortgehen. "Es ist doch die beste Lösung des Problems, von dem die Äbtissin sprach", sagte er. "Sie konnte das natürlich nicht wissen. Gefühle kann man nicht verbannen - ganz gleich, was Ihr Euch vormacht. Aber mich könnt Ihr verbannen, und wenn ich selbst nachhelfen muß. Ist doch ganz einfach, oder?" "Es gab noch eine andere Möglichkeit", erinnerte sie ihn. "Heirat oder so? Keine Chance! Ihr habt mir überdeutlich klar gemacht, daß dazu keine Hoffnung besteht." "Ihr habt mich nie gefragt! Oder behauptet Ihr jetzt auch unfehlbare Vorhersagen abgeben zu können?" Er trat einen Schritt näher, blieb dann aber stehen. Was für eine Rolle spielte es schon, wenn sie das letzte Wort hatte! "In Ordnung! Wenn Ihr Euch besser fühlt, Eure Absage deutlich auszusprechen - betrachtet Euch als gefragt!" Sie drehte sich ihm zu. Ihr Lächeln hätte die Milch eines Einhorns gerinnen lassen. "Wie zart und höflich gefragt, edler Ritter!" Das kurze Lachen glich dem einer Metallsäge. "Aber eine solche Frage sollte doch aus dem Herzen kommen, oder?" Matt blickte sie an. Wut und Sehnsucht tobten in ihm. Da packte er sie an den Schultern und schüttelte sie. "Gut! Verdammt noch mal! Wenn du schon unbedingt die Befriedigung haben willst, daß ich mich vor dir zum Narren mache, nur zu! Obwohl du mich so abscheulich behandelt hast, liebe ich dich! Willst du mich jetzt heiraten?" Sie schmiegte sich in seine Arme und hob das Gesicht zu ihm empor. Ihre Lippen trafen sich. Als Stegoman etwas später kam, war er vernünftig genug, die beiden nicht zu stören. Mit einem breiten Lächeln watschelte er zu Sir Guy hinüber, um ihm zu melden, daß Sir Matthew, Lord Magier, sie offensichtlich nicht verlassen würde. * Hamlet, III, l (nach Schlegelscher Übersetzung) * Snark: Fabeltier, halb Schlange, halb Hai, nach dem Gedicht von Lewis Carroll: >The Hunting of the Snark. < 1