v 1.0 Kein Bürger Chiyadens wagt sich gegen Lord Ghita aufzulehnen, der das Land in Krieg und Elend riß. Nur die junge Taizu plant einen Rachefeldzug gegen den Usurpator. Und Shoka, einst königlicher Paladin, soll sie in der Kunst des Schwertkampfes unterweisen. Doch Shoka lebt als Eremit im Exil und hat dem Kampf für immer abgeschworen. Bis eines Tages Taizu vor ihm steht... "Ein packendes Drama - zielstrebig wie Taizu. Unvorstellbar, sich nach dieser Lektüre noch einmal für eine andere schwertschwingende Lady zu begeistern." Faren Miller in LOCUS _*C. J. CHERRYH*_ _*DER PALADIN*_ Roman Deutsche Erstausgabe Deutsche Übersetzung von Norbert Stöbe Titel der Originalausgabe: THE PALADIN (c) 1988 by C. J. Cherryh (c) 1994 der deutschen Ausgabe ISBN 3-453-07797-0 _*Karte*_ _*Einleitung*_ Es seien verwunschene Berge, meinten die Einwohner von Mon, die den jungen Reisenden warnen wollten. Sie warnten vor rachsüchtigen Geistern, die einen jungen Mann in die Irre führen würden, vor Dämonen, welche die Gestalt von Füchsen und Eulen annähmen, und vor Drachen, die sich in Menschen verwandeln konnten. Das ihrer Meinung nach schwerstwiegende Argument - das Begehren des Knaben sei aussichtslos: Der Meister nehme keine Schüler an. Die Söhne reicher Männer hatten Saukendar angefleht, seine Schüler werden zu dürfen, und waren von Saukendars Berg herabgestiegen und hatten sich geweigert, mit den Dorfbewohnern zu sprechen oder bei ihnen zu verweilen. Boten der Fürsten hatten Meister Saukendar besucht, um Streitfragen mit ihm zu erörtern, und waren niedergeschlagen und ohne Antwort zurückgekehrt. Mönche waren gekommen, hatten den Schwertmeister nach seinen Geheimnissen gefragt und waren unverrichteter Dinge wieder fortgezogen, denn der Meister wies jede Art von Begehren ab. Zweimal im Jahr stieg ein Junge aus dem Dorf zur Hütte hinauf, brachte dem Meister Salz, Tee und die kleinen Dinge, die er benötigte, und hörte sich an, wieviel Reis und Stroh der Meister brauchte, damit die Dorfbewohner es an der bezeichneten Stelle hinterlegen konnten. Das Dorf spendete diese Dinge, zusammen mit kleinen Geschenken wie Früchten je nach Jahreszeit, ein paar guten Äpfeln oder Birnen oder frischem Gemüse, weil die Angst vor dem Meister Banditen fernhielt. Mehr Umgang mit der Welt pflegte der Meister nicht. Vor allem nahm der Meister keine Schüler an - und gewiß keine Schüler, die so zerlumpt waren wie dieser - so klein und so verhungert und so offensichtlich der Sohn irgendeines leibeigenen Bauern, daß er sich in nichts von irgendeinem Leibeigenen ihres Dorfes unterschied. Der Reisende trug einen gegürteten Mantel, der früher einmal blau gewesen war, und eine grobgewebte schwarze und über den abgeschürften Knien ausgefranste Bundhose; eine rote, im Heilen begriffene Narbe führte von der Wange über das Kinn bis zum Hals und verschwand unter dem schmutzigen Kragen. Er benutzte einen schlecht gearbeiteten Langbogen als Spazierstock und hatte einen Köcher mit weißgefiederten Pfeilen umgehängt, eine Waffe, die Bauern zum Schutz gegen Banditen und Straßenräuber von Rechts wegen mit sich führen durften. Im Osten herrschte Aufruhr. Mit heiserer, leiser Stimme berichtete ihnen der Reisende, was es im Herzen des Reichs Neues gab; erzählte von verbrannten Bauernhöfen in den Provinzen Hua und Yijang, von abgeschlachtetem Vieh; von ermordeten Familien, darunter auch seiner eigenen. Das alles sei jedoch weit weg, versicherten die Dorfbewohner dem Jungen. Hier befinde er sich in Sicherheit. Die Banditen, die jenseits der Berge in der Provinz Hoisan lebten, mieden dieses Tal, das sicher innerhalb der Grenzen von Hoishi liege und vom guten Fürsten Reidi regiert werde; die gütigen Götter und die Angst vor dem Meister hielten den Ärger vom Dorfe Mon fern. "In meinem Haus ist auf dem Boden Platz für einen Strohsack", meinte der Witwer Gori versonnen. Gori hatte ausnahmslos Töchter, sechs an der Zahl. "Ich muß mich um einen Garten kümmern. Einen ehrlichen Jungen, der für seinen Lebensunterhalt arbeitet, könnte ich wohl auf Dauer zu mir nehmen." Der Reisende jedoch - er mochte kaum sechzehn sein -, der barfuß im Schatten beim Brunnen saß und vom angebotenen Wasser trank, dankte dem Witwer mit leiser Stimme und reichte den Becher zurück, dann verknotete er seinen Strohhut unter dem Kinn, steckte die Arme wieder durch die Schlaufen des faßgroßen Korbs aus geflochtenen Binsen, richtete sich mit Hilfe des entspannten Bogens auf und ging davon, praktisch unsichtbar unter dem Hut und dem hochaufragenden Korb, so daß er mit seiner unförmigen Last wie eine Ameise wirkte. Nur die Beine schauten unten heraus, die ausgefranste Bundhose und die dreckverkrusteten mageren Waden. Die Dorfbewohner schüttelten die Köpfe, besonders aber Gori. "Der kommt wieder", meinte Goris Nachbar. Die Straße, die unten im Tal breit, freundlich und sonnenbeschienen gewesen war, verengte sich zu einem Weg und schließlich zu einem schmalen Trampelpfad, der zwischen runden Findlingen und den Baumwurzeln des Waldes entlangführte und sich immer steiler ins Gebirge hinaufwand. Wegen der Steigung und zum Schutz vor überhängenden Ästen rückte sich der zerlumpte junge Reisende die Trage hoch auf den Rücken und ging weiter, wobei er mit dem Bogen das Gleichgewicht hielt. Vielleicht wäre es klüger gewesen, wenn er eine weitere Nacht inmitten der Hecken zugebracht hätte und den Bergpfad erst am nächsten Morgen angegangen wäre; Taizu war jedoch über die Angst vor Geistern und Dämonen hinaus, und die einzigen Drachen, die Taizu fürchtete, wandelten stets in menschlicher Gestalt. Die Sonne ging hinter den Bergen unter und hüllte den Pfad unter den Bäumen in tiefen Schatten. Es sei nicht weit, hatten die Dorfbewohner gesagt, und wenn diese Einschätzung auch falsch sein mochte, so glaubte Taizu doch, daß sie zumindest in einem recht hatten: dieser Wald war vor Banditen sicher. Ein Bandit, der auf Saukendars Berg auf Beute ging, wäre ein Narr gewesen. Und das bedeutete eine größere Sicherheit, als Taizu seit Wochen gekannt hatte. Und so kletterte Taizu im Schatten des Waldes weiter und kämpfte mit der Trage, die sich an Ästen verfing, bis der Wind den Geruch von Rauch und Pferden zu ihm herantrug; bis schlichte Gebäude im Zwielicht auftauchten: ein Pferch und eine Weide und die sonnenumrahmte Gestalt eines Mannes, der einem Braunen Wasser brachte und dessen Mantel in den plötzlich aufflammenden Strahlen des Sonnenuntergangs rot aufleuchtete. Ein Gewitter zog nach Norden, mit Wolken, die wie eine schiefergraue Wand über den Bergen standen. Das rote Licht der verblassenden Sonne setzte alles in Brand; das Pferd, die Ränder der Gebäude, den Mann. Für einen Augenblick hielt Taizu den Atem an: Saukendar erschien ihm unwirklicher, als dieser es die ganzen Wochen über, seit er die Provinz Hua verlassen hatte, gewesen war - weniger Mensch als Gott. Doch ein Mensch, der der Welt entsagt hatte, ließ sich nicht mit gewöhnlichen Maßstäben messen. Saukendar hatte Hof, Reichtum und seine hohe Stellung aufgegeben und war dem Regenten und dem Kaiser entkommen, die ihn verraten hatten. Er war hierhergekommen, an diesen Ort jenseits der Grenzen des Reichs, um seine Kunst und seine Seele in der Einsamkeit der Berge zu vervollkommnen. Saukendar war dieser Vollkommenheit in der Welt so nahe gekommen, wie es einem Menschen nur möglich war - als rechte Hand des Kaisers, als der eine Aufrechte an einem Hof, der immer korrupter wurde und von Schurken wimmelte. Saukendar hatte das Recht und den alten Kaiser verteidigt, hatte die Armen vor den Reichen beschützt und die ehrlichen Lehnsherren gegenüber den Schmeichlern in Schutz genommen, während der alte Kaiser immer schwächer geworden und schließlich gestorben war. Gegen die Dummheit des halbwüchsigen Thronfolgers Beijun, der sich mit dem Fürsten Ghita aus der Provinz Angen verbündet und den von seinem Vater eingesetzten Regenten Heisu der Verschwörung und des Ehebruchs mit seiner Frau angeklagt hatte, war Saukendar jedoch machtlos gewesen. Und so hatte schließlich Ghita von Angen hinter dem Thron gestanden, und Fürst Heisu und die Kaiserin Meiya waren beide hingerichtet worden, und fünfhundert Männer der kaiserlichen Garde hatten Saukendar gejagt, um ihn zu töten; Saukendar jedoch hatte zwanzig von ihnen auf dem Weg zur Grenze getötet und, wie sie sagten, nicht wenige dahinter, bis er sich in die Einsamkeit der Berge an der Grenze zur Provinz Hoishi abgesetzt hatte und Fürst Ghita und seine Männer eingesehen hatten, daß es klüger war, ihn dort nicht zu belästigen. So war Saukendar. Und wenn er der Welt entsagt und beschlossen hatte, nach Vollkommenheit zu streben, so hatte er vielleicht auch darin Erfolg gehabt, und die Götter waren ihm besonders gnädig. Doch beim zweiten Hinsehen zeigte sich, daß der Mann humpelte; und das Licht erlosch, als er an der Scheune vorbeikam und sich das Pferd dem Zaun näherte: es war gar nicht Saukendar, sondern - bloß ein Bediensteter. Taizu fühlte sich ein wenig genarrt: Natürlich hatte der Waffenmeister, des Kaisers Leibwächter und Kämpe, mindestens einen Diener mitgenommen oder aus dem Dorf unten im Tal zu sich genommen, jemanden, der ihm seine Mahlzeiten zubereitete und sich um die alltäglichen Dinge kümmerte. Saukendar war ein großer Fürst gewesen, mit Land und Dienern. Nicht einmal als Asket würde er daran etwas ändern. Und so trat Taizu ins Zwielicht und ins Freie hinaus, enttäuscht zwar, aber dem gescheiterten Wunder tapfer ins Auge blickend. _*1*_ Shoka hatte die Veranda fast schon wieder erreicht, als die Erscheinung aus dem Wald hervortrat, ein gewaltiger Klotz, der sich auf zwei dürren Beinen bewegte und sich als ein Korb und ein magerer Knabe mit einem Hut herausstellte. Er hatte ihn zunächst aus den Augenwinkeln bemerkt; und eingedenk der Möglichkeit eines Überfalls durch Banditen hatte er dem alten Pferd das Wasser eingegossen, ihm den Hals getätschelt und war mit dem leeren Eimer in der Hand (der als Waffe dienen mochte, wenn nichts anderes zur Hand war) beiläufig zum Haus zurückgegangen, wo sein Bogen lag. Nun erkannte er, daß der Besucher allein war, wahrscheinlich wieder ein neuer Bittsteller. Er tat so, als hätte er ihn nicht bemerkt, und einerseits aus Sicherheitsgründen - die Banditen konnten sehr wohl ein Kind vorschieben -, anderseits aus Verärgerung darüber, daß er angesichts der späten Stunde zu einem gewissen Maß an Gastfreundschaft verpflichtet war, zu einer Schale Tee, einer Schüssel Reis, einem Schlafplatz, hielt er es für ratsam, zunächst zum Haus zurückzugehen. Dem Umfang der Beine nach zu schließen, die den gewaltigen Korb trugen, war der Streuner zu jung, um wieder kehrtzumachen und den Weg bei Nacht zurückzugehen. Darum trat er auf die niedrige Veranda aus verwitterten Brettern unter dem kleinen strohgedeckten Dach, damit er sich für alle Fälle in Reichweite der Tür und seiner Waffen befand; dann setzte er sich auf den Eimer, drehte sich um und sah dem Jungen entgegen, der seine unförmige Last bis zur Treppe brachte. Der Knabe streifte die geflochtenen Tragriemen ab und stellte den Korb auf die Erde, dann verneigte er sich höflich. "Ich bin gekommen, um mit dem Meister zu sprechen." "Du hast ihn gefunden", sagte Shoka und sah, des Sehens müde, wie sich das Gesicht des Jungen hob, sich der Mund öffnete und die Augen vor Abscheu weiteten. "Ich bin Saukendar. Was willst du?" Der Knabe nahm den übergroßen Hut ab und starrte ihn an - ein hagerer und erschöpfter Junge mit einer Narbe, die Shoka noch vor seinem verzweifelten Blick ins Auge fiel. Die Faszination, die von der Narbe ausging, berührte Shoka unangenehm, dem sein eigenes Verhalten sowohl grob als auch gleichgültig erschien, und er bemerkte, daß er dem ganzen Gesicht größere Aufmerksamkeit schenkte, als es bei seinen wenigen Besuchern gewöhnlich der Fall war. "Ich will Gerechtigkeit", sagte der Junge und fesselte ihn noch mehr. "Habe ich dir irgendein Unrecht zugefügt?" fragte Shoka. Der Junge schüttelte den Kopf und sah einen Augenblick lang so aus, als sei er den Tränen nahe und als werde sein Kinn jeden Moment zu zittern anfangen. Dann biß er die Zähne zusammen und stützte sein ganzes Gewicht auf den Bogen, der ihm als Spazierstock diente - der grob gearbeitete Bogen eines Kindes. "Nein, Herr. Ich möchte, daß Ihr mich unterrichtet." Shoka runzelte die Stirn und wich innerlich zurück, verärgert über das Ansinnen und voller Mitgefühl mit dem Jungen, für den er kurz einen Anflug von Interesse verspürt hatte, so als ginge er ihn etwas an. "Schon wieder einer. Hat man dir im Dorf nicht Bescheid gesagt? Oder hast du nicht zugehört?" "Man sagte mir, Ihr wärt ein redlicher Mann. Überall preist man Euch. Es heißt, wenn Ihr noch in Chiya-den wärt, würdet Ihr Fürst Ghita und alle die andren Fürsten um ihn herum töten. Vielleicht wollt Ihr nicht wieder in die Welt zurückkehren, Meister Saukendar, aber Ihr könnt mich unterrichten, dann werde ich es tun, und Ihr braucht niemals von hier wegzugehen. Ich werde für meinen Lebensunterhalt arbeiten. Ich werde für Euch Holz hacken und das Pferd füttern..." "Und ich sage dir, du hättest auf den Rat hören sollen, den man dir im Dorf gegeben hat. Ich habe mit Chiyaden nichts mehr zu schaffen. Ich bin kein Lehrer. Ich bin kein bißchen weise, ich bin kein Heiliger. Ich kann dir nichts geben, und ich hacke mein Holz selbst. Du hast einen langen Weg umsonst gemacht. Scher dich von meiner Veranda! Geh zurück ins Dorf! Dort wird man sich um dich kümmern!" Der Bursche starrte ihn voller Abscheu an. "Verschwinde!" Der Junge wich zurück, drehte sich plötzlich um und stürzte die Treppe hinunter. In dieser Bewegung lag etwas, eine bestimmte Art von Schwung, eine Verlagerung des Gleichgewichts, das Shoka ins Auge fiel und seinen Annahmen zuwiderlief. Ja. Nein. Als ihm der Bursche aus sichererer Entfernung sein herausforderndes Gesicht zuwandte. "Mädchen", sagte Shoka und bemerkte das leichte Flackern in den Augen, Besorgnis, aber kein Zorn. Er schüttelte den Kopf, verschränkte die Arme, während ihm wieder die Banditen und deren Finten einfielen. "Ich bin ein Waffenmeister. Ich wäre blind, wenn ich _das_ nicht sehen könnte. Hast du gedacht, du könntest mich zum Narren halten? Was hast du hier oben im Gebirge verloren? Wer hat dich hergeschickt? Zu wem gehörst du?" "Mein Name ist Taizu. Aus der Provinz Hua. Ich bin gekommen, um Euch zu finden. Man sagt, Ihr wärt der Beste, den es gibt, man sagt, Ihr könntet nach Chiyaden zurückkehren und alles wieder in Ordnung bringen, nur daß Ihr beschlossen hättet, hier zu bleiben, und nichts mehr mit der Welt zu tun haben wolltet. Aber ich schon. Ich habe meine Gründe. Ich werde an Eurer Stelle handeln." Er lachte. So etwas hatte er noch nicht erlebt. "Erzähl mir noch ein Märchen, Mädchen. Was willst du wirklich?" "Ich will, daß Ihr mich im Schwertkampf unterrichtet." "Du bist nicht aus Hua. Du bist aus Hoisan. Du spionierst für die Banditen." "Nein!" "Glauben sie vielleicht, ich täte Kindern nichts?" "Ich bin sechzehn. Und ich bin kein Bandit. Ich wollte Euch nicht zum Narren halten, nur so lange, bis Ihr mich angenommen hättet und bis ich Euch hätte zeigen können, was in mir steckt. Ich habe meinen eigenen Bogen. Ich habe ein Schwert." Sie deutete auf den Korb. "Ich habe meine eigenen Kleider, meine eigenen Decken. Ich habe den Bogen und die Pfeile _selbst_ gemacht." Shoka stieg die Treppe hinunter, nahm ihr den Bogen aus der Hand, besah sich das jämmerliche Ding und gab ihn ihr zurück. "Der eignet sich besser als Spazierstock." Sie blickte mit gerunzelter Stirn zu ihm auf. "Dann zeigt mir, wie man einen besseren macht." "Ich werde dir gar nichts zeigen. Wo kommst du her?" "Aus der Provinz Hua." "Das sind zu Fuß vier Wochen! Lüg mich nicht an." "Ich weiß nicht, wie weit der Weg ist." Ihre Stimme war leise und heiser. Das Kinn zitterte schwach. "Aber ich bin ihn gegangen." "Allein." "Auf den Straßen nach Yijang sind viele Leute unterwegs: Ihre Häuser hat man ebenfalls niedergebrannt. Ich bin mit ihnen gegangen; und dann bin ich mit Leuten gegangen, die zu Verwandten nach Botai wollten..." "Woher kommst du? Wer ist dein Herr?" "Aus dem Dorf Kyutan in Hua. Wir gehörten zum Fürsten Kaijeng. Jetzt ist er tot. Die ganze Familie. Alle. Fürst Gitu kam über die Grenze und brannte die Burg Kaijeng und Kyutang und Jhi und alle anderen Dörfer nieder und tötete alles, selbst die Schweine." Das Kinn des Mädchens zitterte und beruhigte sich wieder. "Fürst Ghita wird nichts unternehmen. Jeder weiß das. Fürst Gitu kann Menschen umbringen, und keiner unternimmt etwas dagegen. Aber ich werde etwas unternehmen. Das habe ich versprochen. Und ich werde mein Versprechen halten." "Man wird dir den Kopf abschneiden. So wird es kommen, Mädchen. Überlaß das Kämpfen den Männern." "Es gibt keine. Es sind keine mehr übrig." Shoka sah sie an, den zerlumpten Mantel, die Narbe, die brennenden Augen, und empfand etwas, das er noch bei keinem der Bittsteller empfunden hatte, die ihn aufgesucht hatten, nicht einmal bei den ernsthaftesten und aufrichtigsten. Er mißtraute dieser Regung. Es konnte sein, daß sie trotz alledem ein Bandit war und hergekommen war, um zu sehen, ob er wirklich allein war; oder sogar um ihn im Schlaf zu töten, wenn er sich übertölpeln ließ. Vielleicht glaubten sie, sein Verlangen nach einer Frau sei so groß. Ihr Akzent stimmte jedoch: sie verschluckte und verkürzte die Endungen, wie es im Ostteil von Chiyaden üblich war, was auch für die Provinz Hua zutreffen mochte, und in Anbetracht dessen konnte sie durchaus ein Spion sein, dem man sicheres Geleit über die Straßen gewährt und auf Befehl von Fürst Ghita persönlich zu ihm heraufgeschickt hatte. Einen Moment lang hielt er dies sogar für wahrscheinlicher, als daß sie eine Banditin war. Andererseits hatte Ghita ihn jahrelang nicht belästigt, und er sah keinen Grund, warum der Regent jetzt damit anfangen sollte. Oder sie war in Wirklichkeit ein Dämon, was ebenfalls möglich war, aber ihre Füße waren nackte menschliche Füße, und ihre Daumen saßen auf der richtigen Seite, und er hielt sich schon neun Jahre lang in diesen Bergen auf, ohne einen zu Gesicht bekommen zu haben. "Komm herein", sagte er widerwillig und deutete auf die Tür. "Du kannst wenigstens etwas essen." "Werdet Ihr mich unterrichten?" Er blickte sie finster an. "Dich unterrichten. Ich habe eine Menge junger Männer abgewiesen, Männer, die klug und ernsthaft waren und fähige Schüler abgegeben hätten - und jetzt soll ich ein Mädchen annehmen? Bin ich denn ein Waffenmeister für Mädchen? Bei den himmlischen Göttern. Komm herein. Du brauchst keine Angst zu haben. Ich werde dich nicht anrühren. Ich habe mich noch nie an Kindern vergangen." Sie rührte sich nicht. "Verdammt." Er stieg die Treppe hinunter, und sie wich zurück, hob im Gehen den Korb auf. "Dummes Ding. Ein Schwert, um Himmels willen. Weißt du, daß dich das mindestens deine rechte Hand kosten würde, wenn die Obrigkeit dahinterkäme?" "Hier gibt es kein Gesetz." "Hier bin ich das Gesetz", sagte er. Und als sie noch weiter vor ihm zurückwich, drohte er ihr mit dem Finger. "Wenn du gehst, dann verschwinde von hier und halt dich nicht auf der Straße auf. Wenn ich feststelle, daß du dich weiter hier herumtreibst, dann wirst du das Gesetz der Berge noch kennenlernen." "Ich will, daß Ihr mich unterrichtet." "Ich hab's dir gesagt: Ich habe schon bessere Jungen als dich abgewiesen. Verschwinde!" "Erst wenn ich erreicht habe, weswegen ich gekommen bin." "Verdammt", murmelte er bei der Vorstellung, daß sie hier herumlungern könnte - der Himmel mochte wissen, mit welcher Absicht. "Wenn du irgend etwas stiehlst oder dich an meinem Pferd zu schaffen machst, werd ich dir zeigen, wozu ich fähig bin." Dann, als er sich zu seiner Beschämung in Erinnerung rief, daß sie nicht der Junge war, der sie zu sein schien, und daß ein einsames Mädchen allen Grund hatte, sich des Nachts vor verschlossenen Türen und einem fremden Mann zu fürchten, sagte er: "Hör zu, wenn du nicht hereinkommen willst, dann bringe ich dir eine Schüssel Reis und eine Schale Tee auf die Veranda. Soviel Gastfreundschaft gewähre ich dir. Du kannst hier draußen schlafen, und niemand wird dir etwas tun. Aber bei Tagesanbruch verschwindest du und machst dich auf den Weg." "Das Essen nehme ich an." Er brachte Tee und Reis auf die Veranda hinaus und stellte alles an der einen Seite der Treppe ab. Sein eigenes Abendessen nahm er zur anderen Seite mit und setzte sich, als das Mädchen die Treppe heraufkam und die Schüssel und die Stäbchen nahm. Sie setzte sich ebenfalls und aß - scheinbar ohne einmal Atem zu schöpfen. Er hatte die zweieinhalbfache Menge gekocht wie üblich und ihr eine gehäufte Schüssel gegeben, die er nun mit verblüffender Geschwindigkeit sich leeren sah. Sie saßen im Zwielicht mit untergeschlagenen Beinen auf der Veranda. Er aß, ohne auf gute Manieren zu achten, und beobachtete sie von der Seite. In ihrem zerlumpten Mantel saß sie da wie ein unförmiger Klotz, den bloßen Kopf tief über das Essen geneigt - das dichte schwarze Haar wie bei einem Bauernjungen zu einem Knoten gebunden, die Hände so mager, daß die Sehnen herausstanden und Schatten warfen, wenn sich die Finger bewegten, die Augen durch die dunklen Ringe noch dunkler, als sie ihn über den Schüsselrand hinweg ansah. "Ich hätte für uns kochen können", sagte sie mit vollem Mund. "Ihr könntet hier oben gut etwas Hilfe gebrauchen, wißt Ihr. Der Reis ist zerkocht." "Deinem Appetit hat es nicht geschadet." "Aber er könnte besser sein. Morgen werde ich Euch zeigen, wie's zu machen ist." "Und ich sage dir, daß es zwecklos ist. Du schläfst heute nacht auf der Veranda. Am Morgen werde ich dich zum Dorf hinunterbringen. Ich werde dafür sorgen, daß dich jemand aufnimmt." Sie schüttelte den Kopf; eine langsame, entschlossene Bewegung. Er blickte sie finster an und dachte an seine Einsamkeit und seinen Seelenfrieden; und an die Nächte. Manchmal verfluchte er die Einsamkeit; aber er hatte feste Angewohnheiten: er stand jeden Morgen auf und versorgte das Pferd und den Garten; oder er jagte und besserte aus, was die Witterung beschädigt hatte, ohne sich um die Welt zu scheren. Er weigerte sich, Bedauern zu empfinden über den Hof von Chiyaden oder die feinen Kleider und die vielgerühmten Männer, die im Augenblick der Gefahr nichts weiter getan hatten, als sich in Sicherheit zu bringen. Bis dieses närrische Mädchen gekommen war, von Gerechtigkeit geredet und ihn in seiner Ruhe gestört hatte, um ihm nun mit ihren leidenschaftlichen dunklen Augen andere Annehmlichkeiten menschlicher Gesellschaft in Erinnerung zu rufen, denen er vor neun Jahren abgeschworen hatte, der ungewaschene dürre Streuner, der sie war. Er versprach ihr bereits Dinge, die er sonst niemandem versprochen hätte, nämlich sie ins Dorf zu begleiten und mit den Leuten zu reden; aber sie hatte für ihren närrischen Plan einen weiten und gefährlichen Weg zurückgelegt - einen sehr weiten Weg von der Provinz Hua bis hierher, und sie hatte es erstaunlich klug angestellt. Niemand mochte in der unter der Bauerntrage und dem Strohhut gebeugten Gestalt im übergroßen Mantel ein Mädchen vermutet haben. Der Korb verlagerte den Schwerpunkt, veränderte den Gang, ließ den Träger geschlechtslos erscheinen. Sogar ihn hatte sie damit getäuscht, bis er sie ohne den Korb hatte gehen sehen. Schlau, dachte er - wenn sie tatsächlich so weit gedacht haben sollte. Aber selbst ein _Mann_ mit einem schmuddeligen Korb konnte unterwegs Banditen und Ärger auf sich ziehen. Vier Wochen. Er konnte sich nicht vorstellen, wie sie überhaupt so weit gekommen war. Es sei denn, sie hatte ungewöhnliches Glück gehabt. Oder sie war tatsächlich ein Spion, und man hatte ihr reichlich Hilfe gewährt. "Ich kenne mich mit Tieren aus", sagte sie. "Habt Ihr Schweine?" "Nein. Ich jage." "Ich kann mich ums Pferd kümmern. Und ich kenne eine Menge Arten, Kaninchen zuzubereiten." "Das ist gut. Dein neuer Herr unten im Dorf wird das gern hören. Und dort hält man auch Schweine." "Ich will, daß Ihr mich unterrichtet." "Worin?" fragte er. "Wie man sich zum Narren macht? Du würdest es nicht einmal zurück bis nach Hua schaffen. Du hattest Glück, daß du überhaupt so weit gekommen bist." "Ich werde es schaffen. Und ich werde mich rächen. Niemand kann mich daran hindern." Die Provinz Hua. Gitu. Die Namen beschworen Bilder herauf, vom - Hof und von Ghita und dessen Anhängern. Die alte Wut regte sich in ihm, Erbitterung über erlittene Demütigungen; er schüttelte sie ab wie unwillkommenen Regen und sagte mit vollem Mund:"Ein Schwert zu tragen. Du kannst _wirklich_ von Glück sagen, daß die Polizei dich in Ruhe gelassen hat. Kennst du denn das Gesetz nicht?" "Darum ist es im Korb." "Du könntest die rechte Hand verlieren, Mädchen. Begreifst du das?" "Nur wenn sie mich kriegen", sagte sie. "Niemand hat mich erwischt. Niemand hat Euch erwischt. Ihr seid einfach weggeritten, die Soldaten hinterher." "Ich bin um mein Leben gerannt, Mädchen. Das ist die ganze Wahrheit." "Ihr habt die Männer getötet, die Euch gefolgt sind." "Ich hatte Glück. Sie hatten einen schlechten Tag. Ich einen besseren. Aber den Rest meines Lebens werde ich humpeln. Ich kenne keine verdammten Geheimnisse. Ich bin kein Meister. Ich lebe einfach hier in Frieden, dem Himmel sei Dank, und brauche weder einen Koch noch einen Schweinehirten." "Ihr werdet Eure Meinung ändern." "Hör zu, Mädchen: Ich werde meine Meinung nicht ändern, ebensowenig wie ich sie in den letzten neun Jahren geändert habe. Das ist eines der Vorrechte, die man genießt, wenn man allein lebt, weißt du. Ich tue, was ich will; und was ich will: diesen Berg für mich haben und meine Ruhe - und kein verdammtes schnatterndes Mädchen, das mir das Leben schwer macht. Du redest zuviel. Du wirst zum Dorf hinuntergehen, und da wird sich jemand um dich kümmern und dir einen Ehemann und ein Dach über dem Kopf verschaffen." "Nein." "Die Straße dort unten ist die Grenze des Reichs. Wenn ich bis zum Dorf gehe, verstoße ich gegen die Bedingungen meines Exils. Aber ich werde dich bis zum Fuß des Berges bringen. Dann folgst du der Straße bis zum Dorf." "Nein." "Mehr kann ich nicht tun. Vergiß Gitu. Vergiß die Provinz Hua. Du bist in Sicherheit. Gitu _und_ Ghita können dir hier nichts anhaben, und du tust gut daran, hierzubleiben." "Ihr braucht mich bloß zu unterrichten. Dann müßt Ihr Euch nicht weiter den Kopf zerbrechen, wie Ihr mich irgendwohin bringen könnt, hört Ihr? Ich kann überall hingehen; und man wird mich nicht festhalten." "Närrin", sagte er. Und dachte, als er sie im weichen Zwielicht betrachtete, daß sie durchaus eine Schönheit gewesen sein mochte, ehe sie verwundet worden war; und daß sie in Anbetracht all dessen, was einem Mädchen unterwegs bei einem Überfall zustoßen konnte, wahrscheinlich tiefer verletzt war, als es die Narbe auf ihrer Wange zeigte... Für eine Unverheiratete war sie alt. Für eine Witwe war sie viel zu jung. Doch es war durchaus möglich. Es war sogar wahrscheinlich, daß sie irgendwo unterwegs vergewaltigt worden war. Er wollte keinen Strom von Tränen auslösen, aber je länger er darüber nachdachte, desto wahrscheinlicher schien es ihm, daß das Mädchen, zernarbt und fremd und sicher keine Jungfrau mehr, im Dorf keinen Mann finden würde, daß sie als Kindermädchen enden würde, als Packesel oder als die rechtlose Konkubine irgendeines Bauern. Er dachte an die furchtbare Bürde, die sie ihm auferlegte; dachte schließlich mit einem angenehmen Gefühl moralischer Selbstaufopferung, wie er es seit Jahren nicht mehr verspürt hatte, daß es in Muigan, ein paar Tagesmärsche im Norden, ein Nonnenkloster gebe und daß die Möglichkeit bestehe, die Götter durch eine gute Tat milde zu stimmen, falls sie sich überhaupt noch um irgend etwas scherten. Das Gold, das er besaß, wäre ihm damals in Chiyaden wenig erschienen, doch in diesen unsicheren Zeiten bedeutete es für die Grenzbevölkerung eine Menge; und wenn er dem Mädchen eine genügend große Mitgift gab, um sie ins Kloster von Muigan einzukaufen, dann würde sie nicht so undankbar sein, ihren Wohltäter zu vergessen; sie würde für sein Wohlergehen und das seines Vaters beten. Auf diese Weise könnte er seinem Vater einen Dienst erweisen und eine Verpflichtung loswerden, die ihn bedrückt hatte, indem er sich selbst einen Dienst erwies, wenn es überhaupt darauf ankam, und ein Mädchen ohne Zukunftsaussichten würde in geordnete Verhältnisse kommen und ein respektables Alter erreichen, ein weit höheres Alter, als sie als Bauersfrau in der Provinz Hua zu erwarten hätte. Der Plan war nicht ohne Risiko. Er würde sie oder das Geld bestimmt keinem Jungen aus dem Dorf anvertrauen können. Er würde selbst nach Muigan reisen und dabei heimlich gegen die Bedingungen seines Exils verstoßen müssen. Aber wahrscheinlich würde der Regent es nicht bemerken, oder er erführe von der ganzen Angelegenheit und verstünde, was dahintersteckte, und wäre feinfühlig genug, die Angelegenheit auf sich beruhen zu lassen und darauf zu verzichten, längst beigelegte Probleme wieder aufzurühren. Es war lange her, daß jemand ihn vor ein Problem gestellt hatte, für das es eine klare und eindeutige Lösung gab. Er kam sich nun ziemlich edelmütig vor, beglückwünschte sich zu seinem Gespür und seinem beispielhaften Verhalten und deutete mit den Eßstäbchen auf das Mädchen. "Ich sage dir, was ich tun werde. Du bleibst ein, zwei Tage lang hier, dann bringe ich dich durchs Gebirge bis nach Muigan in Hoishi. Dort gibt es ein Nonnenkloster..." "Nein." "Hör mir zu, kleine Närrin. Ich werde dich dort einkaufen. Soviel kann ich für dich tun. Du bekommst eine ansehnliche Mitgift. Was hältst du davon?" "Ich will keine Nonnen und Gebete. Die haben mir nichts genutzt. Ich will Gitus Kopf. Ich will seine..." "Ich biete dir eine ansehnliche Mitgift an. Ich biete dir einen sicheren Ort zum Leben an, wo du genug zu essen, gute Kleider und Sicherheit bis ins hohe Alter hast. Denk mal übers Alter nach. Denk mal über dieses Jahr hinaus, Mädchen. Gitus Kopf! Du redest Unsinn." "Ich will keine Nonne werden." "Dann nimm das Geld! Versuch, im Dorf einen Mann zu finden. Nach Hua führt für dich kein Weg mehr zurück; du hattest Glück, daß du lebend bis hierher gekommen bist." "Ich will, daß Gitu stirbt." "Du wirst sterben, das steht dir bevor, wenn du wieder losziehst." "Nicht, wenn Ihr mich unterrichtet." Er beherrschte sich. Er nippte bedächtig am abkühlenden Tee. "Du willst, daß ich gehe. Ist es das? Du willst, daß ich nach Hua gehe und mich für dich zum Narren mache." "Nein." "Ich will dir was sagen. Wenn du Gitu tötest, wird ein anderer von seiner Sorte seine Stelle einnehmen, ehe sein Sitz auch nur kalt geworden ist. Es hängt nicht von einem einzelnen ab. Es ist der ganze verfluchte Hof. Es ist der junge Narr auf dem Thron. Glaubst du, ich wäre nicht dort geblieben, wenn Aussicht auf Änderung bestanden hätte? Es gab keine. Deshalb sitze ich hier, auf diesem Berg. Gitu töten! Geh du ins Kloster, Mädchen, und bete ein langes Leben lang für deine Familie; mehr kannst du für sie nicht tun. _Ich_ kann nichts tun. _Ich_ beabsichtige nicht, mein Leben für einen Narren wegzuschmeißen - weder für dich noch für den jungen Kaiser. Hör zu. Du bist ein tapferes Mädchen. Du hast einen weiten Weg hinter dir. Ich bezweifle nicht, daß du meinst, was du sagst. Aber ich täte dir keinen Gefallen, wenn ich deinem Wunsch nachgäbe. Wärst du ein Junge, würde ich sagen, du bist zu klein. Aber du bist kein Junge, und dein Ansinnen steht ganz außer Frage. Hör zu", sagte er und hob einen Finger, als sie den Mund öffnete. "Morgen sieht alles schon wieder ganz anders aus. Schlaf drüber. Denk darüber nach. Es ist töricht, sein Leben wegzuwerfen. Niemand erwartet von dir, daß du Männerarbeit verrichtest, und wenn du es dennoch tust, laß dir das gesagt sein, dann machst du dich zum Narren. Du brauchst nicht zu sterben; und darauf läuft es hinaus, weil du nämlich auch nicht die geringste Aussicht hast, jemanden mit dir in den Tod zu nehmen. Nimm mein Angebot an und geh nach Muigan. Wenn du etwas lernen willst - die Nonnen werden's dich lehren." "Nein." "Verdammt noch mal, du wirst tun, was ich dir sage. Ich mein's gut mit dir. Das solltest du anerkennen." "Nein." Er fuhr sich mit der Hand durch sein zum Pferdeschwanz gebundenes Haar. "Du bist müde. Hinter dir liegen Strapazen. Hör zu: Soviel tue ich für dich. Du kannst so lange hier bleiben, bis du wieder Vernunft angenommen hast. Ich verspreche dir, daß ich dich nicht anrühren werde. Du kannst schlafen, wo du willst. Es ist Sommer. Die Veranda reicht vollkommen aus und ist ein ganzes Stück angenehmer als die Straße. Du brauchst nichts tun, bis du wieder zu Kräften gekommen bist. Dann wirst du einsehen, daß ich recht habe; und ich werde dich nach Muigan bringen und mich vor meiner Abreise vergewissern, daß es dir gutgeht." "Nein." "Du willst einfach nicht hören, Mädchen! Dein ganzer Plan ist absurd. Es reicht. Du gehst." Er stellte die Teeschale in die leere Reisschüssel, erhob sich, trat zu ihr und nahm ihr das Geschirr ab, in dem kein einziges Körnchen mehr übriggeblieben war. Sie sah ihn ausdruckslos an, als sie es ihm reichte. "Ich bringe dir eine Matte und eine Decke hinaus", sagte er. "Du kannst auf der Veranda bleiben. Oder du kannst vernünftig sein und nach drinnen kommen, da ist es wärmer." Sie schwieg. "Dann also die Veranda", sagte er und ging kopfschüttelnd ins Haus. Er stellte die Schüsseln auf den Tisch, rollte die oberste seiner beiden Schlafmatten zusammen und nahm auch seine oberste Decke mit. "Mädchen", sagte er, als er auf die Veranda hinaustrat. Aber sie war verschwunden, mitsamt dem Korb und dem Bogen. Er warf die Matte und die Decke zu Boden. "Mädchen?" Vielleicht hatte sie ein menschliches Bedürfnis verspürt und war in den Wald gegangen. Aber mit dem Korb? "Mädchen?" Verdammt. Vielleicht mißtraute sie seinen guten Vorsätzen. Der Himmel allein wußte, welche Gründe sie dafür hatte. Vielleicht hatte sie den Korb voller Lumpen mitgenommen, um sich im Wald ein Nachtlager zu bereiten. Oder sie war in den Stall gegangen. In beiden Fällen wäre sie in Sicherheit. Doch er machte sich Sorgen aufgrund ihres Verhaltens, nicht um ihr Leben, sondern weil sie mehr als seltsam war; und wegen der Dunkelheit, denn eigentlich sollte man nicht erwarten, daß sich ein Mädchen, das sich zu sehr vor einem Ehrenmann fürchtete, um auf der Veranda zu schlafen, in einem finsteren Wald oder in einem fremden dunklen Stall versteckte. Verdammt, sie wollte seine Schülerin werden; und sie fürchtete sich, bei ihm auf der Veranda zu schlafen. Ihm war nun selbst ein wenig unbehaglich zumute -wegen des Mädchens, der späten Stunde und ihres sonderbaren Verhaltens. Es widerstrebte ihm, noch einmal zu rufen und seine Besorgnis zu verraten. Er schämte sich, ins Haus zurückzugehen und sein Schwert vom Haken an der Wand zu nehmen; aber er war auch nicht so närrisch, im Dunkeln ohne Waffe in den Stall zu gehen. Jiro war für die Nacht im Stall eingesperrt; nicht in seinem Pferch, wo er mit einem Eindringling hätte fertigwerden können. Zumindest, dachte Shoka, würde er das Pferd freilassen, und das Mädchen wäre schlecht beraten, wenn es dann noch den Pferch beträte oder im Stall Unfug anstellte. Unten am Stall regte sich nichts. Niemand hätte Jiro nahekommen können, ohne daß er Alarm gab, da war er sich sicher. Er mußte jedoch wieder an Banditen denken; an die Möglichkeit eines Feuers, wenn das Mädchen verrückt genug war; und Jiro war das einzige Lebewesen, aus dem er sich etwas machte. Die Vorstellung, daß das Mädchen oder irgendein Komplize dem Pferd etwas antun könnte, war unerträglich. Verdammt, dachte er, das Mädchen konnte den Stall unmöglich betreten, ohne Lärm zu machen. Er machte sich zum Narren. Das Mädchen störte seine Abendruhe und brachte seinen Ordnungssinn durcheinander, und auf einmal schien die ganze Welt voller Geheimnisse zu sein, alte Instinkte erwachten, alte Ängste kehrten zurück. Er gelangte zum baufälligen Stall, ging fast im Dunkeln an der Wand entlang und hörte zu seiner Erleichterung, wie sich Jiro an der gegenüberliegenden Wand ruhig bewegte. Dann traf etwas neben seinem Kopf den Schuppen; und er ließ sich fallen und rollte sich ab und kroch weiter, wobei seine Muskeln handelten, während sein Verstand begriff, daß ein Pfeil mit ihm in den Staub gefallen war, ein Pfeil mit zerfledderten weißen Federn und einer Bronzespitze. Er griff im Dunkeln nach der Stalltür, rollte sich über die Schulter ab und wälzte sich hinein, dann kniete er im Stroh. Jiros ängstliches leises Schnauben bestätigte ihm, daß er selbst die erste und einzige Störung im finsteren Stall darstellte; und er wußte mit absoluter Gewißheit, daß hinter ihm die Luft rein war. Die Bedrohung lag draußen, am Waldrand, im allgegenwärtigen Halbdunkel: dorthin richtete er seinen Blick. "Mädchen!" rief er. "Dein Lager ist verdammt noch mal auf der Veranda, wie ich's dir gesagt habe; ich habe mein Wort gehalten. Treib's nicht so weit, daß ich dir weh tue!" "Ich komme", erscholl die Antwort des Mädchens, von weit her aus dem Wald, "wenn Ihr bei Eurer Ehre schwört, daß Ihr mich unterrichten werdet." "Mädchen, jetzt ist aber Schluß mit dem Unsinn. Du hast es auf eine Tracht Prügel angelegt!" Schweigen. Ein langes Schweigen aus dem Wald. Er verlagerte seine Haltung auf dem Stroh, entlastete das Bein, welches das Messer eines Attentäters gelähmt hatte, lehnte die Schulter an den rauhen Holzpfosten der Tür und spähte durch die dichter werdende Dunkelheit zum Wald hinüber. Abermals dachte er an Feuer, an die Verwundbarkeit all dessen, was er in der Hütte verwahrte. Und an Jiro, der ein Ziel darstellte, das nicht einmal diese jämmerlichen Pfeile verfehlen konnten, wenn er sich draußen im Pferch aufhielt. Aus geringerer Entfernung hätte der gefiederte Pfeil durchaus töten können. Er verfluchte sich, ballte die Fäuste und dachte, er könnte wenigstens den Dreck und das Moos aus den Zwischenräumen der Baumschößlinge lösen, damit er von der rückwärtigen Wand aus das Haus einsehen konnte. Er würde an allen Seiten Löcher machen und die Lichtung so lange im Auge behalten, wie die mondlose Nacht dies zuließ. Ihm kam der Gedanke, daß das Mädchen tatsächlich mit Banditen unter einer Decke stecken könnte; oder aber sie war ein Dämon, den er sich nur einbildete. Aber eine Verrückte, die mit Bogen und wirren Rachegefühlen im Dunkeln herumlief, reichte schon aus, einem Mann den Schlaf zu rauben. _*2*_ Shoka änderte seine Haltung auf dem Strohlager, das er an der Stallwand aufgehäuft hatte, und massierte sich das verkrampfte Bein - die ganze Nacht über erging ihm das schon so; er hatte kaum ein Auge zugetan, und die verfluchten Strohhalme stachen ihn durch das lockere Gewebe des Hemds und der Bundhose. Der Boden bestand aus festgetrampelter Erde und stank, auch wenn er den Stall noch so sauber hielt; es war ein feuchtes und unbequemes Bett, auf dem er die Nacht verbrachte. Er hatte ein Stück Schnur quer über den Türrahmen gespannt und das andere Ende an einem Eimer befestigt. Er hielt Ausschau nach verschiedenen Richtungen und ließ auch den Berghang hinter der baumlosen, abschüssigen Weide nicht außer acht. Er wußte nicht, mit wieviel Gegnern er es zu tun hatte oder ob es in Wahrheit doch nur ein verrücktes Mädchen war; aber er hatte nicht deshalb so lange gelebt, weil er leichtfertig gewesen war. Neun Jahre auf dem Berg hatten ihn gelehrt, sein Mißtrauen abzulegen, nicht gleich bei jedem herabfallenden Blatt eine Hand dahinter zu vermuten, die es abgerissen hatte, und einen Fisch im Bach springen zu lassen, ohne daß er sich versteifte, hatten ihn auf alle die Dinge vorbereitet, welche die Lehren seines Vaters in ihm angelegt hatten, mit Körper und Geist. Immer mit der Ruhe, hatte er sich Jahr für Jahr gesagt, atme den Wind, laß die Blätter fallen, die Jahreszeiten wechseln und leg dein altes Leben ab. Dies war schon die ganze Weisheit, die er auf dem Berg gelernt hatte, die einfache Kunst, nachts fest zu schlafen, ohne irgendwelche Fallen vorbereitet zu haben, die Selbstverständlichkeit, die nötig war, um unbewaffnet zum Brunnen zu gehen, einen Fuchsbau zu beobachten, ohne Sattel auf dem alten Jiro zu reiten und auf der unteren Weide auf dem Rücken liegend zu dösen, während Pferd und Reiter die Sonne, den Sommer und den Geruch des sonnenwarmen Grases genossen. Und nun saß er mit dem Schwert auf dem Schoß im Dunkeln, während ihm das Stroh durch die Kleider stach und die Feuchtigkeit seine vierzig Jahre alten Glieder plagte. Mehr noch: Seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt, und im Bauch verspürte er die alte Bangigkeit, das Gehirn nahm jede Einzelheit der Umgebung und jedes Geräusch wahr. Wie in alten Zeiten. Alles, was er vierzig Jahre lang hatte vergessen wollen, war wieder wach. Dieses verfluchte Mädchen - das dadurch, daß es nichts tat, alles richtig machte: während andere, die es auf ihn abgesehen hatten, dadurch, daß sie _etwas_ getan hatten, _nichts_ erreicht hatten, sondern leichte Beute geworden waren. Er wartete und beobachtete abwechselnd das Haus und die Lichtung, den Wald und die Weide. Nichts rührte sich, und Jiro schlug keinen Alarm, sondern bewegte sich nur leise im Stall. In der Stunde vor Tagesanbruch waren seine Befürchtungen am größten, und er rieb sich die Augen und suchte die Schatten im Stall nach kleinen Bewegungen ab. Ihm gefror das Blut im Leibe bei dem Gedanken - der ihn die ganze Nacht über begleitet hatte -, daß die närrische Kleine, wenn sie es denn auf sein Leben abgesehen hatte, nur den Wald anzuzünden und ihm am Weg aufzulauern brauchte. Wenn sie das täte und es klug anstellte, indem sie an mehreren Stellen der Lichtung Feuer legte, wäre es ein leichtes, ihn und Jiro an einer wurzelüberwachsenen Engstelle des Weges zu überwältigen; wenn sie dies täte, dann kannten seine Feinde auch den einzigen Weg nach unten, und Bogenschützen konnten im Hinterhalt lauern. Er hatte schon schlimmere Situationen erlebt, die Möglichkeit eingeschlossen, daß sie den Wald in Brand setzen könnte; er mußte jedoch lange überlegen, bis ihm eine peinlichere einfiel, als von einem sechzehnjährigen Bauernmädchen eingesperrt worden zu sein. Während die Sonne aufging, kämpfte er gegen die Müdigkeit an, überlegte, ob er irgendeine Möglichkeit übersehen hatte; und auf welchen Wegen sich Banditen oder Ghitas Männer angeschlichen haben mochten und wo sie einen Hinterhalt legen konnten. Als es schließlich so hell geworden war, daß das Grün der Bäume hervortrat und sich die Schatten um den Stall zerstreuten, erhob er sich, gab Jiro einen Eimer Getreide und holte Wasser vom Regenfaß, wobei er ständig den Wald im Auge behielt und das Gefühl nicht loswurde, ein weiterer Pfeil könne auf ihn abgeschossen werden. Jiro wollte aus dem Stall hinaus und trat gegen die Bretter, begierig darauf, an diesem schönen klaren Morgen in den Pferch zu kommen. "Ich weiß", sagte er zum Pferd, redete ihm gut zu und tätschelte ihm den Hals. "Geduld, Geduld." Bloß nichts auf die leichte Schulter nehmen, dachte er. Er kam sich ungeschützt vor, als er durch die Morgenkühle zur Hütte humpelte - leichtsinnigerweise gemächlichen Schritts, da er das Gefühl hatte, sich schon die ganze Nacht über zum Narren gemacht zu haben, und da er meinte, jetzt, da es hell war, die Flugbahn eines Pfeils berechnen zu können: es war gefährlich, doch von jeder möglichen Stelle des Waldes aus würde es einem Pfeil an Durchschlagskraft mangeln. Wenn jemand bei ihr war, dann hatten sie im Dunkeln, als die Gelegenheit am günstigsten gewesen war, nichts unternommen, und inzwischen glaubte er nicht mehr, daß es sich um Banditen handelte: bis Tagesanbruch zu warten, wenn sie bei Nacht hätten aktiv werden können, entsprach nicht ihren Gewohnheiten; und Ghitas Mordbuben hätten sich ebenfalls anders verhalten. Nein, wahrscheinlich war das Mädchen allein, vor dem er sich zum Narren machte und dem er heute morgen eine wehe Hüfte und eine schmerzende Schulter verdankte. Ein Mädchen, das vielleicht verrückt genug war, um es auf die Spitze zu treiben. Aber mit dem Bogen müßte Taizu schon näher herankommen. Es sei denn, sie war in die Hütte gegangen. Er betrat die Veranda von der Seite her, ging bis zur Tür und stahl sich blitzschnell am Türpfosten vorbei ins Zimmer. Leer. Nichts wirkte durcheinandergebracht. Er lehnte sich an die Wand und musterte seine Sachen, ob irgend etwas fehlte oder verändert war; und dachte an Gift und an seine Vorräte, an denen er einmal, vor Jahren, Schutzsiegel angebracht hatte; und er überlegte voller Argwohn, was eine Wahnsinnige in einem so großen Korb alles dabeihaben konnte. Verdammt, nein! Er unterstellte einer Sechzehnjährigen Dinge, die zu einem schlaueren Gegner gepaßt hätten. Er kämpfte gegen sich selbst, gegen das Gespenst, das er letzte Nacht heraufbeschworen hatte. Er kämpfte gegen Saukendar, nicht gegen ein Bauernmädchen mit der bedauernswerten Absicht, seinen Willen bei ihm durchzusetzen. Er schürte die Kohlen in der Kochmulde, entfachte ein kleines Feuer, während er immer wieder nach draußen schaute, und setzte etwas Reis und Wasser in einem Kessel auf. Das Frühstück nahm er im Eingang sitzend ein, von wo aus er die ganze Lichtung und vor allem den Stall überblicken konnte, denn er meinte, der Rauch- und Frühstücksgeruch werde das Mädchen vielleicht ins Freie locken. Er hegte die ernsthafte Hoffnung, sie werde sich bei Tag, wenn alles andere normal war, als vernünftiger erweisen. Aber sie kam nicht. Er stellte die Schüssel hin und überlegte, was er tun sollte, wo sie wohl die Nacht verbracht hatte und wo sie jetzt sein mochte. Wahrscheinlich beobachtete sie ihn vom Waldrand aus, und zum erstenmal seit Jahren wickelte er seine Rüstung aus Seide und Metall aus den geölten Lappen aus, in denen er sie verwahrte, legte den Armschutz und das Panzerhemd an und verschnürte den Körperschutz. Die Rüstung rief unwillkommene Verhaltensmuster wach; eine unnötige Vorsichtsmaßnahme, dachte er. Das Mädchen, das sich wahrscheinlich in Sichtweite der Hütte im Gebüsch versteckt hielt, würde lachen, wenn sie ihn sah, verdammt noch mal, aber er hatte keine Lust, durch die Hand einer Verrückten oder das blinde Glück irgendeines dummen Mädchens zu sterben. Er legte sein Schwert an und ging nach draußen, setzte sich auf die Treppenstufen vor der Veranda und musterte mürrisch sein Königreich, die Freifläche rings um die Hütte und den Stall. Zum erstenmal, seit er ins Gebirge gekommen war, tanzte er nach anderer Leute Pfeife; er wäre gern auf die Jagd gegangen und traute sich nicht, Haus und Stall unbewacht zu lassen; er wäre gern ausgeritten, wollte Jiro jedoch nicht den Pfeilen des Mädchens aussetzen. Somit blieb ihm noch Gartenarbeit übrig - in einer bleischweren Rüstung; oder er konnte herumsitzen und das Sattelzeug ausbessern. Nein, so wollte er nicht tage- und wochenlang weiterleben. Sie hatte sich letzte Nacht nicht gerührt, aber er war sicher, daß sie dort draußen war; und Kinder hatten keine Geduld. Wenn sie ihren Kopf nicht auf mühelose Art durchsetzen konnte, dann ließ sie sich bestimmt eine andere Herausforderung einfallen, und dann immer mehr und mehr, bis sie eine Möglichkeit gefunden hätte, ihn zum Handeln zu zwingen. Und bei diesem kindischen Spiel konnte sehr wohl jemand ernsthaft zu Schaden kommen. Also, dachte er, würde er Bogen und Köcher nehmen und so tun, als ginge er jagen - sollte sie sich ruhig den Kopf zerbrechen, welches Spiel er spielte -, und sich dann einfach irgendwohin setzen und in einem Versteck warten, bis sie ihm entweder zu folgen oder ins Haus einzudringen versuchte. Ein Stück weit den Berg hinauf gab es im Gebüsch eine Stelle, die freie Sicht auf das Haus und den Stall bot, und als er die kleine Bergkuppe erreicht hatte, gab es keinerlei Anzeichen dafür, daß das Mädchen Taizu sie zu ihrem Vorteil genutzt hatte. Er hockte sich nieder, legte Pfeil und Bogen neben sich, lehnte den Rücken gegen einen Baumstumpf und wartete. Die Sonne kletterte höher und überschritt den Zenit, die Luft erwärmte sich, die Büsche summten vor Insekten und raschelten im schwachen Wind. Ohne es zu wollen, nickte er ein, ruckte mit dem Kopf und kämpfte gegen die überwältigende Müdigkeit, während die Zikaden und die Sonne sich miteinander verschworen, um seinen Geist einzulullen. Er döste, ohne richtig zu schlafen, und zwischendurch, während er immer wieder einnickte, beobachtete er die Gegend. Und am Nachmittag war er hungrig, durstig und von Ameisen zerbissen, und nichts hatte sich gerührt außer den Vögeln, den Insekten und Jiro, der aus einer Laune heraus damit begonnen hatte, die Stallbretter anzugreifen. "Ruhig, ruhig", sagte er, Jiro tätschelnd, und das alte Streitroß schlug von neuem aus reinem Mutwillen gegen die Bretter aus, nicht besänftigt durch das Getreide, das Wasser oder die übrigen Aufmerksamkeiten. Kräftiges Striegeln half, aber Jiro hatte die Ohren angelegt und verdrehte andauernd den Hals, um ihn zu beißen, nicht kräftig, gerade fest genug, um ihm zu zeigen, daß er vollkommen närrisch war. Schließlich half nichts mehr, als ihrer beider Fell zu riskieren, Jiro das Halfter anzulegen, auf den ungesattelten Rücken zu steigen und mit ihm aus dem Pferch hinaus und auf die Weide zu reiten, hin und her, hin und her, während er die ganze Zeit über dachte, welch großes Ziel sie beide abgäben; und jedesmal, wenn sie dem Haus und dem Stall den Rücken zuwandten, blickte er sich über die Schulter um - was das Mädchen bestimmt dazu veranlaßte, sich in seinem Versteck vor Lachen am Boden zu wälzen. Alles war aus den Fugen geraten. Jiro war durcheinander, und er selbst machte sich jedesmal Sorgen, wenn er die Augen von der Lichtung, dem Stall oder der Hütte abwandte, und bei jeder Wende fiel ihm ein halbes Dutzend Möglichkeiten ein, wie ein entschlossener Gegner ihn hätte überwältigen können. Er kämpfte wieder gegen sich selbst. Etwas Besseres fiel ihm nicht ein. Und sie setzte ihn unter Druck, ohne überhaupt etwas getan zu haben. Mit geringstem Kraftaufwand. _Sie_ hatte alles richtig gemacht. Falls sie überhaupt dort draußen war. _Verdammt_, dachte er und kämpfte mit sich, wieder und wieder und wieder. Er brachte Jiro ins Schwitzen und führte ihn besser gelaunt in den Stall zurück, rieb ihn ab und bürstete ihn, während er ständig den Waldrand beobachtete und ihm einfiel, daß die einzige Stelle, die er nicht einsehen konnte, die Rückseite der Hütte war, wo der Wald viel näher herankam; und er überlegte, daß es möglich wäre, mittels der Regentonne und des Holzstapels, den er nachlässigerweise hinter der Hütte aufgeschichtet hatte, aufs Dach zu klettern und durch die Luke einzudringen... Saukendar an ihrer Stelle... Er traute sich nicht, hinter dem Haus zu arbeiten und dort etwas zu verändern, denn wenn er dort arbeitete, könnte er die andere Seite nicht einsehen: Wenn sie es auf das Pferd abgesehen hatte, könnte sie ungesehen in den Stall laufen... ...und ihn so durcheinanderbringen, daß er geradewegs in einen Hinterhalt rannte. Sie brauchte ihn nur zu beobachten und festzustellen, was er behütete, um herauszufinden, was ihm etwas bedeutete und wie sie ihn dazu bringen konnte, kopflos zu handeln. Verdammt. Er bereitete sich eine einfache Mahlzeit und verzehrte sie im Eingang der Hütte sitzend, während die Sonne unterging. Er fragte sich, ob Taizu wohl etwas zu essen im Korb hatte und wie sie es schaffte, so lange auszuhalten, und ob sie wußte, wie sie sich auf diesen Bergen Nahrung verschaffen konnte. Aber ein Bauernmädchen würde die Beeren und Wurzeln kennen, die eßbaren und die ungenießbaren... Und die giftigen... Bei diesem Gedanken fühlte sich der Reis ein wenig merkwürdig auf der Zunge an. Er aß weiter. Der Reis war in Ordnung. Auch im Tee war nichts. Es hieß, die Fürstin Bhosai sei in Chiyaden an Gift auf dem Boden einer Teeschale gestorben. Verdammt, er dachte schon wieder an den Hof, an das ganze verfluchte Unheil. An die Lehren seines Vaters, die mitternächtlichen Übungen, an die Fallen, die ihm sein Vater gestellt hatte... ...an die Dinge, die ihn am Leben erhalten hatten, während drei der alternden Freunde des Kaisers Unfällen zum Opfer gefallen waren. Den Tod des Fürsten Riga hatte er aufgedeckt, die Verbindung des Mörders zu Ghita jedoch nicht beweisen können... Er hätte Ghita töten sollen, solange er die Möglichkeit dazu gehabt hatte. Doch da Ghita nur einer von vielen gewesen war und da der alte Kaiser es ihm verboten hatte... Er setzte die Reisschüssel ab und trank seinen Tee, versuchte die Vergangenheit wieder zu verdrängen, während der Panzer ihm schwer auf den Schultern lastete und gegen die Rippen drückte und die Sonne der Dämmerung entgegensank. Das waren die Veränderungen im Gebirge, der Wechsel von Dämmerung zu Dunkelheit und zu neuer Dämmerung, vom Winter zum Frühling und wieder zum Winter - ein Tag war wie der andere, ein Sturm wie der andere, ein Blatt wie das andere, von der Knospe bis zum Herbst. Neun Jahre des Wechsels waren wie ein Tag, ein Jahr, ein Leben; alles reduzierte sich auf kleine Muster. In der Veränderung blieb alles sich gleich. Man wurde ein Teil der Muster, die eigenen Veränderungen wurden Natur, ein vollkommenes Gleichgewicht, so vollkommen, wie es einem Menschen nur möglich war. Doch es war alles ein Tag, war alles ein Jahr, ungeachtet der Tatsache, daß dieser Mensch älter wurde, daß er eines Tages niederstürzen und auf seinem Berg sterben würde, das Gras über sein Gebein wachsen und niemand davon wissen würde... Verdammt, er hatte sich eine Nacht und einen Tag lang mit dieser Störung seines Lebens beschäftigt. Das war bereits zuviel. Früher einmal hatte er viele Tage zur Verfügung gehabt, bevor die Tage wie einer und alle Tage geworden waren. Das begriff er jetzt, und er staunte darüber, daß er keine Geduld erworben, daß er seine Anpassungsfähigkeit nahezu eingebüßt hatte. Er konnte eine Ameise dabei beobachten, wie sie über die Veranda kroch, ohne das Gefühl zu haben, seine Zeit zu vergeuden. Aber mit einer Veränderung in seinem normalen Tagesablauf vermochte er sich nicht abzufinden. Als wäre er ein alter Mann. Ein alter Mann, ein Einsiedler, ein verrückter, einsamer alter Mann von fast vierzig. Der Gedanke schlug ihm auf den Magen. Er verbrachte die Nacht wiederum im Stall. Wie ein Verrückter. Er frühstückte im Hütteneingang sitzend im ersten Licht einer nebligen feuchten Morgendämmerung und überlegte, ob er in den Wald hineinrufen sollte: Komm her, unterhalten wir uns! Der Vorsatz blieb ihm jedoch im Hals stecken. Ebenso wie die beiden Tage mit Reis, ohne Fisch, ohne Kaninchen. Er hatte nur sehr wenig Räucherfleisch und kein eingemachtes Obst: das kam im Herbst, und er bewahrte es für magere Zeiten auf, für die Wintermonate. Im Sommer verließ er sich auf die Natur und seinen Garten. Aber wenn es noch lange so weiterging... Seine Geduld war vollkommen sinnlos. Er mußte das Mädchen aufspüren, an Händen und Füßen fesseln und nach Muigan tragen. Sollten sich die Nonnen um Taizu kümmern. Wenn sie sich am Waldrand aufgehalten hatte, mußte sie unweigerlich Spuren hinterlassen haben; und wenn er erst einmal anfing, sie zu jagen, würde sie in Panik geraten und Fehler machen. Wenn sie überhaupt noch dort draußen war. Wenn sie dort draußen war, hatte sie eine schlimmere Nacht verbracht als er, das war sicher. Sogar im Spätsommer konnte es nachts kalt werden; und wenn sich der Tau setzte, so wie jetzt, da der Regen gerade nach Norden gezogen war, dann bedeutete das feuchte Decken und noch feuchtere Kleider: von den Ästen tropfte einem Wasser in den Hals, und nach wenigen Schritten waren Ärmel, Hosenbeine und Schuhe durchnäßt. Gut. Er hoffte, daß es noch ein paar Tage so bliebe, solange der Nebel nicht schlimmer wurde - ein leichter Dunst, der es ihm erlaubte, bis zum Rand der Lichtung zu blicken. Das war für ihn günstiger als für sie. Solange es nicht schlimmer wurde. Er nahm die Reisschüssel, reckte die Schultern unter dem Gewicht des Kettenhemds, kehrte zur Veranda zurück und ging ums Haus herum, um rasch ein paar Scheite Holz vom Stapel zu nehmen. Mehr als nur ein paar, dachte er. Je mehr Holz er auf einmal zu tragen vermochte, desto weniger häufig brauchte er dies zu tun und die Vorderseite dabei aus den Augen zu lassen. Er sammelte rasch einen Armvoll auf, bog um die Hausecke und trat auf die Veranda. Er vernahm das unverkennbare Zischen eines Pfeils, der auf Hüfthöhe an ihm vorbeiflog. Er ließ das Holz fallen, hechtete zum Eingang, wälzte sich hinein und griff nach Bogen und Köcher, die er zuvor an den Türrahmen gelehnt hatte. "Verdammt!" schrie er in den finsteren Wald hinein. "Du legst es wirklich darauf an, Mädchen! Es reicht. Hör mir zu! Ich will dir nicht weh tun. Ich hatte Geduld mit dir, die Götter sind meine Zeugen. Ich habe dir eine Aussteuer angeboten. Ich habe dir mein ganzes Gold angeboten, weil ich nicht will, daß du zu Schaden kommst. Ich glaube, das verdient ein wenig Anerkennung, meinst du nicht?" Stille. "Sieh mal, Mädchen, ich werde dich zu nichts zwingen. Wenn du nach Muigan willst, ist das deine Entscheidung. Wenn du im Dorf bleiben willst, ist das ebenfalls deine Entscheidung. Du kannst nach Hua zurückkehren. Geh, wohin du willst. Ich verspreche dir, daß ich dir kein Haar krümmen werde. Komm einfach her und sprich mit mir wie ein zivilisierter Mensch, und hör endlich mit diesem Unsinn auf!" Stille. "Verdammt noch mal, du willst Ärger, Mädchen! Ich werde mich nicht zur Zielscheibe einer Verrückten machen." Abermals Stille. Hätte ich das letzte zu einer Verrückten wirklich sagen sollen? dachte er. Er hatte eine recht klare Vorstellung davon, wo sie gewesen war, als sie geschossen hatte, und als er den Pfeil fand, wurde es noch klarer: auf einem dreifach gespaltenen Baum in einem kleinen Dickicht gegenüber dem Haus. Und so zog er seine lederne Bundhose an, die er normalerweise zur Jagd benutzte, die aber mit Hornstücken verstärkt war, besonders an der Vorderseite der Schenkel, so daß sie die Körperteile bedeckte, wo das Panzerhemd nicht hinreichte. Er ließ nur die Schienbeinschützer aus, die für einen längeren Fußmarsch ungeeignet waren, nahm aber seine Trinkflasche und den Bogen mit, als er zum Waldrand ging. Inzwischen war es schon recht hell, nur die Feuchtigkeit hing noch an den Blättern, und es war deutlich zu sehen, daß sie an der vermuteten Stelle gewesen war - sich sogar eine Zeitlang dort aufgehalten hatte, gekommen und gegangen war. Und wieder gegangen war. Es war töricht gewesen, auf ihn zu schießen, solange ihm der Nebel geholfen hatte. Sie hatte einen Fehler gemacht, einen simplen Anfängerfehler - teilweise aufgrund von zuviel Selbstvertrauen, teilweise weil sie die Dinge in Bewegung hatte bringen wollen, als es für ihren Geschmack zu ruhig gewesen war. Als er die Fährte sah, die nicht deutlicher hätte sein können, lächelte er vor sich hin. Wirklich ein Kampf gegen sich selbst. Kein Mensch, selbst wenn er die Umgebung gekannt hätte, konnte sich an einem solchen Morgen durch den Wald bewegen, ohne Spuren zu hinterlassen, und nach dem Tropfenbehang der Blätter vermochte er hinlänglich genau zu schätzen, wann Taizu vorbeigekommen war. Die Fährte führte ihn weg vom Haus und tiefer in den Wald hinein; das gefiel ihm nicht. So bliebe ihr ausreichend Zeit, wieder umzukehren, wenn er sich nicht schneller und sicherer bewegte; und er achtete nicht auf sein schmerzendes Bein und lief über die Lichtungen. Die steigende Sonne löste den Nebel auf, die Wolken rissen auf; und der Vorteil, den ein Flüchtender im Gebirge haben mochte, war bei Tageslicht sehr viel weniger wert. Nachdem er einmal die Fährte entdeckt hatte, war es nicht mehr schwer, den Plan nachzuvollziehen, den sie verfolgt hatte - er entdeckte weitere Hinweise, eine gewöhnliche, über einen Hang führende Fährte mit umgeknickten Pflanzen und gelockerten Steinen und nach einer Weile eine Spur, die deutlich wie eine Straße durchs Gebüsch führte. Es war jedoch weder der passende Ort noch der passende Zeitpunkt, um leichtsinnig zu werden. "Meister Saukendar!" schwebte eine Stimme zu ihm herab. "Ihr müßt mich nicht suchen. Ich komme hinunter. Ihr müßt mir bloß versprechen, mich zu unterrichten. Ihr braucht Euch um mich keine Sorgen zu machen." So einfältig war er nicht, daß er ihr geantwortet hätte. Soll sie sich jetzt ruhig Sorgen machen, dachte er und beschleunigte seine Schritte entlang ihrer Fährte, ohne auf ihre Stimme zuzugehen, die von jenseits der Schlucht eines anderen Berges kam, von einer Stelle, von der aus er sich ihren weiteren Weg gut vorstellen konnte. Wenn sie schlau war, dann wollte sie herausfinden, wo er war, oder sie versuchte ihn von der Fährte wegzulocken, damit er seine Zeit mit dem Wiederfinden ihrer Fährte vertat, die sie gut verwischen würde. Wenn sie sich auskannte. Wahrscheinlich hatte sie im Augenblick große Angst; und auf diesem Hügel gab es Trampelpfade; er hatte sie ausgetreten, und er kannte sie viel besser als Taizu. Wenn er herausfand, auf welchem Pfad sie sich befand, dann konnte er tatsächlich eine Abkürzung nehmen. "Meister Saukendar!" Sehr hoch und weit weg. "Habe ich meine Fähigkeiten nicht unter Beweis gestellt? Mehr wollte ich nicht. Mehr habe ich die ganze Zeit über nicht gewollt. Ich wollte Euch nicht treffen. Ich hätte es tun können. Ich bin keine schlechte Bogenschützin." Er ging weiter. Er hatte jetzt das unbestimmte Gefühl, daß sie wußte, wohin sie ging. Er stieß auf die gleiche Art von Fährte wie vorhin, auf gelockerte Steine und geknickte Pflanzen, von denen einige braune Stengel hatten: nicht erst seit heute morgen, seit sie vorbeigekommen war. _Warum_? "Meister Saukendar?" Er gab keine Antwort. Sie führte ihn vom Haus weg; dann würde sie den bergab führenden Trampelpfad einschlagen und vor ihm zur Hütte zu gelangen versuchen. Doch es gab eine Abkürzung zu dem Weg, auf dem sie sich jetzt befand. Er kletterte neben dem Pfad den Hang hinunter, indem er sich von Baum zu Baum bewegte, um nicht zuviel Schwung zu bekommen. Auf der anderen Seite kletterte er rasch zwischen den Kiefern hinauf, weil ihr Pfad bis zu dieser Stelle herabführte. Auf ihrer Seite gab es nur einen möglichen Abstieg, es sei denn, sie kletterte über den Hang oder machte kehrt; und wenn sie das täte, gab es noch eine andere Stelle, an der er sie sich schnappen konnte. Sie jedoch kletterte den anderen Hang hinunter, weiter oben, wo die beiden Berge zusammenstießen, er hörte das Krachen im Gebüsch und dachte: Nein! Nicht! Er setzte sich erst einmal hin und überlegte, ob er den abwärtsführenden Weg einschlagen und sie abfangen sollte, falls er sich getäuscht hatte; aber vielleicht war es nur ein Baum oder ein großer Stein gewesen, der da gerade den Hang heruntergerollt war. Und wenn er sich getäuscht hatte, dann befand er sich genau an der richtigen Stelle, um sehen zu können, wie sie unterhalb von ihm vorbeikam oder den Hang heraufzuklettern versuchte, um zu dem Weg zu gelangen, auf dem er hergekommen war. Da er jedoch annahm, daß er sich nicht getäuscht hatte und daß der ungewohnte Lärm ein Ablenkungsmanöver darstellte, blieb er sitzen, wartete und versuchte sich auszurechnen, wann sie an ihm vorbeikommen würde, so daß er sie ergreifen und ihr mit seinen Händen demonstrieren konnte, wie es ihr bei einem richtigen Kampf ergehen würde. Doch es blieb still, sehr lange still; und ihm wurde unbehaglich zumute bei dem Gedanken, daß sie tatsächlich einen ganz anderen Weg abseits der Pfade eingeschlagen haben könnte - daß sie den Berg hinaufgeklettert sein könnte, ein durchaus mögliches Unterfangen für junge Beine und flinke Füße. In diesem Moment konnte sie bereits auf dem Weg zur Hütte sein. Oder sie hatte ihn bemerkt, verhielt sich still, und es kam darauf an, daß er so lange wartete, bis sie die Geduld verlor. Verdammt. Dann vernahm er ein Geräusch, eine raschelnde Bewegung im Gebüsch, die Richtung auf ihn nahm. Er duckte sich in dem Versteck neben dem Pfad. "Meister Saukendar?" Die Stimme kam ganz aus der Nähe, von einer Stelle gleich hinter den Bäumen, zittrig und außer Atem. Verdammt, verdammt, verdammt. Er schwieg, hielt den Atem an, wartete und lauschte, wie sich das Knacken im Unterholz bergabwärts über den Pfad entfernte. Er verließ sein Versteck und stürmte auf den Pfad hinaus, wobei sein Blick einen zerschlissenen blauen Mantel zwischen den Blättern erhaschte. Er verdoppelte die Schritte, und sie rannte Hals über Kopf vor ihm her, eilte um die Biegungen des Pfads, ihre Füße in den leichten Schuhen flogen eine Felsgruppe hinauf, darüber hinweg und um eine Biegung - und fast hatte er sie erreicht. Er spürte den Stolperstrick um den Fuß. Er sah den Baum auf sich zukommen, vollführte eine Drehung und eine Rolle, die seine Muskeln kannten und sein Geist vollkommen vergessen hatte; und ein vierzig Jahre alter Körper schlug mit einer Wucht, die ihm die Luft aus den Lungen trieb, auf dem steinigen Pfad auf. Er rollte sich ab und stand wieder auf, zerschrammt und wütend, schob den Köcher die Schulter hinauf und hob den Bogen auf, den er fallengelassen hatte. "Verdammt noch mal, Mädchen!" "Ich habe Euch doch nicht verletzt, oder?" drang die besorgte Stimme auf den Pfad herunter. "Zur Hölle mit dir!" schrie er sie an. Dann kam er wieder zu Atem, ordnete seine Gedanken und entschloß sich zu einer anderen Taktik. "Waffenstillstand. Hörst du mich, Mädchen? Ein kurzer Waffenstillstand. Hör mir zu." "Werdet Ihr mich nicht nach Muigan schicken?" "Hör zu, Mädchen. Du bist ganz schön gerissen. Jemand _hat_ dich unterrichtet, nicht wahr?" "Wir haben Fallen gebaut. Als die Soldaten kamen." "Zum Teufel damit." "Es ist wahr. Das haben wir getan. Ihr seid doch nicht verletzt?" "Nein." "Es war kein großer Baum." "Hör zu, Mädchen..." Er holte tief Luft und bezähmte seinen Ärger. "Das war ein verdammt guter Hinterhalt. Das muß ich zugeben. Du willst also, daß ich's mit dir versuche?" "Ihr sollt mich unterrichten." "Ich biete dir die Möglichkeit, gut. Allerdings unter einer Bedingung." "Und die wäre?" "Daß du in mein Haus kommst. Daß du tust, was ich dir sage. Daß du jederzeit aufhören kannst. Du brauchst es mir nur zu sagen, und ich bringe dich nach Muigan." "Gebt Ihr mir Euer Wort, Meister Saukendar, daß Ihr mich als Schülerin annehmt?" Abermals holte er tief Luft. "Ja, ich gebe dir mein Wort." "Heißt das, daß ich das Bett mich Euch teilen soll?" Er straffte sich und spürte wieder den Schmerz in den Knochen. Daran hatte er bei der Abmachung gar nicht gedacht, der Himmel war sein Zeuge. "Und wenn es so wäre?" schrie er in den Wald. "Dann machen wir so weiter. Ein Versprechen habt Ihr mir bereits gegeben." "Du bist unverschämt!" "Ich bin keine Hure, Meister Saukendar. Ich werde für Euch kochen und saubermachen, aber mehr werde ich nicht tun, um meinen Lebensunterhalt zu bestreiten." Er strich sich das Haar aus den Augen und wischte sich den Schweiß vom Gesicht. Er fühlte sich beleidigt. Außerdem wünschte er, sie wäre weniger tugendhaft gewesen, und mochte sie ein noch so magerer, narbiger Balg sein. Aber sie würde nicht im Gebirge bleiben, darum machte es keinen Unterschied. Sie würde trotzdem zu den Nonnen oder ins Dorf gehen, und er beabsichtigte nicht, sie dort schwanger abzuliefern. "Also gut", sagte er. "So lauten die Bedingungen. Du kochst und machst sauber, und ich unterrichte dich. Und wenn es dir reicht, dann sagst du's mir. Ich gebe dir mein Ehrenwort. Genügt dir das?" Im Gebüsch weiter unten am Pfad entstand eine Bewegung. Kurz darauf kam sie um die Biegung, verschwitzt, zerkratzt und schmutzig, das Haar mit Zweigen und Blättern verfilzt; aber ihre Augen leuchteten. Er sah ihr finster entgegen, legte sich den Bogen über die Schulter und deutete den Pfad entlang. "Du gehst vor", sagte er. _*3*_ Gegen Mittag waren sie wieder bei der Hütte angelangt. Taizu hatte ihm gezeigt, wo sie ihr Gepäck versteckt hatte - an einer von vielen Stellen, wo er gesucht hätte, wenn er das Risiko eingegangen wäre, daß sie ihm währenddessen in den Rücken schoß oder ihn ausplünderte. Der Korb lag in einer kleinen Höhlung unter einer Felsplatte, wie es sie im Gebirge häufig gab und wo sie - das erkannte er an den fehlenden Spuren - darauf geachtet hatte, über das Gestein zu laufen, sofern sie überhaupt häufiger hergekommen war. Sie hatte den unförmigen Korb hervorgeholt, ihn auf die Felsplatte gewuchtet, wo er wartete, hatte ihn geschultert und war vor ihm her zur Lichtung gegangen, fast so wie beim ersten Mal, ein Haufen Flechtwerk, das von zwei mageren, nackten Beinen getragen wurde. Sie warf den Korb auf der Veranda ab und sah ihn an, während ihr der Schweiß über das Gesicht strömte. "Was hast du da drinnen?" fragte er, mit dem entspannten Bogen darauf deutend. "Meine Decke, meine Wäsche, etwas zu essen." "Zeig's mir." Sie packte alles auf den Brettern aus, holte einen Hut hervor, einen Haufen schmutziger Kleider und Decken, das in Lappen eingewickelte Schwert; ein paar Tonschalen, einen Topf aus Zinn, mehrere kleine Pakete, säuberlich mit geflochtenem Stroh verschnürt. "Was ist das?" verlangte er. "Braune Bohnen", sagte sie. "Pilze. Ingwerwurzeln. Beeren.""Zeig's mir!" sagte er. Das erschien ihm nur ratsam. Sie runzelte die Stirn und löste die Verschnürung; und tatsächlich, es war so, wie sie gesagt hatte. Er untersuchte die getrockneten Pilze, und sie schienen alle genießbar zu sein. Er nahm das eingewickelte Schwert, löste die schmutzigen Lappen von einem einfachen festen Griff aus Büffelleder und zog die Klinge aus der Scheide. "Nicht schlecht", sagte er, als er ausprobierte, wie es in der Hand lag. Er steckte es wieder in die Scheide. "Aber du bist noch weit davon entfernt, es zu brauchen." Sie blickte ihn und das Schwert, das er in Händen hielt und offenbar behalten wollte, ängstlich an. "Zunächst einmal", sagte er, während er die Ecke einer ehemals gelben Decke mit der Schwertspitze anhob, "muß das gewaschen werden." Er berührte ihren Arm mit dem Schwert und zupfte am verdreckten blauen Mantel. "Den Bach hast du wohl schon gefunden." Sie nickte. "Gut." Er wühlte in dem Haufen Wäsche, der auf der Veranda lag. Er roch nach Schweiß, Waschküche und Moder. Er rümpfte die Nase und ging ins Haus, lehnte das Schwert an die Wand, nahm einen großen Klumpen Seife aus einem Ledersack, warf ihn in den Waschkübel und nahm eine saubere Hose und ein Hemd vom Haken. Beides reichte er dem Mädchen, das ihm vom Eingang aus zugesehen hatte. "Deine ganzen Sachen, sämtliche Decken und du selbst - ehe du über diese Schwelle trittst. Verstanden?" "Ich bin sehr sauber." Hoffentlich, dachte er. Er hatte gehofft, das Schrubben werde ein Wunder bewirken, aber die Gestalt, die da aus dem Wald hervorstapfte, hatte die Bundhose mit geflochtenem Schilfgras hochgebunden, damit sie nicht über den Boden schleifte; das Hemd hing ihr fast bis zu den Knien hinab. Sie trug einen riesigen Korb, wohl voll schwerer nasser Wäsche, und das Haar bildete noch immer einen Wust. Die Haut war jetzt, da Flecken und Dreckkrusten verschwunden waren, sonnengebräunt - er hatte zwar nicht gerade das Elfenbein und Zinnoberrot einer Kurtisane erwartet, aber dennoch ein wenig Hoffnung gehegt. Damit war es offenbar nichts; und die Narbe war nach dem Schrubben bedauerlicherweise noch häßlicher und röter geworden. Shoka empfand einen mitfühlenden Schmerz im linken Bein. Er war sich nicht ganz sicher gewesen, ob sie nach dem Waschen zurückkommen würde. Wenn sie tatsächlich verrückt war, hätte sie auch wieder von vorn anfangen können; und daher hatte er Jiro nicht hinausgelassen. Aber er hatte auf der Veranda eine Schnur von Pfosten zu Pfosten gespannt, und als sie mit dem Korb ankam, wies er sie an, ihre Wäsche und Decken zum Trocknen aufzuhängen, während er zum Stall ging und Jiro hinausließ. Das alte Streitroß schnaubte und wischte ihm mit dem Schweif eins aus, als es viel besser gelaunt in die Nachmittagssonne hinauslief. Jiro rannte ein wenig umher, dann legte er sich hin und wälzte sich auf dem Rücken, als wäre er soeben nach einem langen Tagesritt nach Hause gekommen. So kam Jiros Welt wieder in Ordnung. Inzwischen hatte das Mädchen die Wäsche aufgehängt und erwartete Shoka auf der Veranda, als dieser über den Hang zum Haus heraufkam. Er legte den Panzer ab und zog ein leichtes Hemd und Stoffhosen an, seufzte erleichtert und ließ sich auf der Veranda nieder, während er das Mädchen zum Unkrautjäten in den Garten schickte - damit kannte sie sich wohl aus, vermutete er, und für den ganzen ungebetenen Ärger war sie ihm ein wenig Arbeit schuldig, zumal er dem Nonnenkloster in Muigan die Einkünfte eines Jahres zahlen würde. Sie erhob keine Einwände. Tatsächlich arbeitete sie sehr gewissenhaft und bot einen reizenden Anblick, während er ein wenig döste und so schwerwiegende Probleme wälzte, so etwa, wieviel Arbeit er ihr für seinen Unterricht wohl abverlangen dürfe; und ob sie wohl ordentlich kochen könne; und, um der Wahrheit Genüge zu tun, wie groß die Aussichten seien, daß sie sich niederließ und eine leidlich tüchtige Bedienstete abgab - denn wenn sie schon keine Lust hatte, Nonne zu werden, konnte sie ebensogut ihm dienen wie irgendeinem Kohlbauern unten im Dorf. Sie war schlau: das hatte sie bewiesen. Eine Dame hätte im Gebirge niemals überleben können, aber ein Bauernmädchen schon; und ihn im Winter wärmen und für ihn kochen und den Garten jäten... Er und Jiro könnten jagen und auf der Weide faulenzen, und er könnte die Hütte ein wenig vergrößern, schließlich war der Umgang mit Holz eine seiner Lieblingsbeschäftigungen... Rache nehmen an Fürst Ghita. Bei den Göttern, auf solchen Unsinn konnte nur ein Kind kommen, das man mißbraucht hatte, das verrückt war vor Trauer um ihre Familie und den Verlust all dessen, was ihm vertraut gewesen war; mehr noch - das wußte er aus eigener Erfahrung -, ihr ganzer verrückter Traum war nur eine Zuflucht und ein Mittel, um nicht den Verstand zu verlieren, nachdem ihr das Schicksal alles andere genommen hatte. Sie brauchte bloß einzusehen, daß sie noch etwas aus ihrem Leben machen konnte und daß ihr verrückter Racheplan für ein Mädchen vollkommen undurchführbar war - übrigens auch für jeden Mann, um genau zu sein; und dann würde sie zur Vernunft kommen. Der Berg würde ihr Frieden schenken. Nahrung, Ruhe, ein Dach über dem Kopf, und ein Leben lang brauchte sie vor nichts mehr Angst zu haben. Wenn sie noch bei Sinnen war, was immer noch die große Frage war. Verdammt, nein, sie war ein halsstarriges Luder. Wenn er eine Frau wollte, dann konnte er sich diese Annehmlichkeit auch im Dorf verschaffen: es gab arme Mädchen, die sich sehr wohl mit dem Leben hier oben abfinden würden und sogar dankbar dafür wären. Es war einfach so, daß ihm dieses Mädchen stets vor Augen war - und sich gerade über das Bohnenbeet beugte - und daß er seit neun Jahren keine Frau mehr gesehen hatte. Er konnte viel hübschere, sanftere und vernünftigere Mädchen haben, wann immer es ihn danach verlangte, sein Leben zu ändern - vielleicht eine gefügige, einfühlsame junge Frau, die gelegentlich kam und wieder ging, vielleicht einen Monat blieb, ein kleiner erfrischender Schauer, bei den Göttern, und kein Unwetter. Er sollte sie zu den Nonnen schaffen. Mit einer guten Ausbeute an Fellen konnte er einem Ehepaar aus dem Dorf ihre Tochter abkaufen, ein dreizehn- oder vierzehnjähriges Mädchen, das ganz zufrieden wäre, seinen Garten zu jäten und für ihn zu kochen, und das seine Berghütte für ein schönes, gemütliches Heim hielte, wenn er sich entschlösse und sie darin wohnen ließe. Aber ungefragt kamen ihm andere, verdrängte Gedanken in den Sinn: ein Kind zu haben... Gütiger Himmel, er hatte kein Anrecht auf einen Sohn, dem er Feinde und Mörder und eine Bauernmutter hinterlassen würde; kein Anrecht auf eine Tochter, deren Leben aus mühsamer Plackerei bei irgendeinem Dörfler bestünde. Das war der eigentliche Grund, erinnerte er sich, warum er sich keine Bauerntochter genommen hatte: das und die Tatsache, daß er sich während der ersten Jahre nie sicher gefühlt hatte und daß eine Frau nur eine potentielle Geisel für seine Feinde gewesen wäre. Später, nachdem er sich an den Berg gewöhnt hatte und zu der Überzeugung gelangt war, daß er in Sicherheit war - inzwischen war er so vereinsamt, hatte er sich so hinter seinem Ruf, unfehlbar zu sein, verschanzt, genoß er bei den Dörflern so großen Respekt -, hätte die Bitte um menschliche Gesellschaft eine zu große Intimität und das Eingeständnis einer zu großen Schwäche bedeutet, als daß er sich jemandem hätte anvertrauen mögen. Außerdem hätte ein Mädchen aus dem Dorf mit seinen Verwandten über ihn geklatscht, Gerüchte verbreitet und ihm irgendwelche fantastischen Ambitionen angedichtet, die sehr wohl Händlern hätten zu Ohren kommen und sich aus dem Mund der Händler bis nach Chiyaden hinein hätten verbreiten können. Und so weckte das junge Mädchen, das im Garten so geschickt Unkraut jätete, Gedanken, die er während seiner jahrelangen Enthaltsamkeit lieber verdrängt hatte, anstatt sie zur Kenntnis zu nehmen. Verdammt. Er änderte seine Haltung, lehnte sich an den Treppenpfosten und beobachtete, wie sie sich umherbewegte und bückte - ohne den Pfeil vergessen zu haben, der erst heute morgen an ihm vorbeigeflogen war; und dachte, daß er in seiner Isolation doch noch nicht ganz zum Mönch geworden war. Verdammt, das konnte er wirklich nicht von sich behaupten. Auch wenn sie ein wenig verrückt war, sprach doch auch einiges für sie - wie die Tatsache, daß sie keine Verwandten im Dorf hatte, denen sie Geschichten erzählen konnte; und daß sie bereits so schlau und tüchtig hierhergekommen war, um für sich selbst sorgen zu können, wenn sie in Schwierigkeiten steckte. Vor allem aber - sie war da, zum Greifen nahe, und kein Mädchen aus dem Dorf war ihm jemals so nahegekommen. Das Abendessen nahmen sie auf der Veranda ein, wie er es am liebsten hatte. Taizu kochte Reis mit Pilzen; und Shoka dachte kurz an Gift, wurde aber ziemlich leichtsinnig heute, eine Gemütsverfassung, die seiner gewissenhaften Art und seinem Ordnungssinn durchaus fremd war. Und die Sonne ging unter und ließ sie im Dämmerlicht auf der Veranda zurück, mit seinem Ehrenwort und ihren bangen Erwartungen. "Entweder die Veranda oder die Hütte", sagte er. "Ich wähle die Hütte", sagte sie und sah ihn rasch an. "Eine Ecke für mich." "Ich hab's versprochen", sagte er bestimmt; und ein Licht flammte in ihren Augen auf, die Schatten zogen sich zurück, sie öffnete sich ihm plötzlich auf eine Art und Weise, die ein paar Herzschläge lang überhaupt keinen Sinn ergab - bis er sich an die Gesichter in den Straßen von Chiyaden erinnerte, an die rufende Menge, an die Verehrung, an die er geglaubt hatte... bis man sie gebraucht hätte, und niemand war da. Er schreckte davor zurück, starrte in den sich verfinsternden Wald und nickte abwesend in Richtung des Eingangs. "Geh abwaschen." "Morgen werdet Ihr mich unterrichten." Er sah sie an mit einer kühlen, der Vernunft entsprungenen Distanz, hörte, was sie sagte, und dachte, er wäre ein Narr, wenn er sie nicht in Kürze zu den Nonnen schaffte. "Wenn du willst, daß ich dich unterrichte, Mädchen, dann fängst du genauso an wie jeder andere Schüler auch; nämlich so, wie du schon angefangen hast. Du arbeitest. Du kochst und machst sauber; und du lernst, keine Fragen zu stellen. Wenn du das begriffen hast, dann fängst du mit den Übungen an. Und wenn du die beherrschst, dann unterhalten wir uns über Waffen. Laß dich bis dahin nicht dabei erwischen,, daß du Hand an das Schwert legst, sonst bin ich von meinem Versprechen entbunden. Hast du mich verstanden?" "Ja." Vielleicht lag noch immer dieser Ausdruck in ihrem Blick. Er sah woanders hin, lauschte auf die Baumfrösche und den Wind. Er blieb lange dort sitzen, bis er ihre Stimme aus seinem Geist verdrängt hatte; und ihre Augen aus seinem Denken; und bis er Chiyaden wieder in weite Ferne gerückt hatte. Als es dunkel geworden war, ging er schlafen, fand seine Matte, zog sich aus und legte sich hin, sich der Gegenwart eines anderen Menschen in der Hütte bewußt, die niemand außer ihm je betreten hatte - und dachte im Dunkeln über das Risiko nach, das er einging. Alle seine Befürchtungen konnten sich immer noch bewahrheiten, die Möglichkeit eingeschlossen, daß sie ein außergewöhnlich gut verkleideter Dämon war, was im Dunkeln und kurz vor dem Einschlafen glaubhafter erschien als noch bei Tag: die Dörfler unten in Mon wußten, daß ein Dämon im Dunkeln größere Macht hatte, und wenn jemand so dumm war, mit einem Dämon zu sprechen, Nahrung mit ihm zu teilen oder von ihm anzunehmen, dann gewann dieser Dämon Macht über ihn; und wenn er genug hatte, dann ließ er seine Verkleidung fallen und zeigte sich in seiner wahren Gestalt, mit Schädeln als Halsschmuck, mit Reißzähnen und durchdringenden Augen... Mit dieser mystischen Angst ließ sich wesentlich leichter umgehen als mit der realen Furcht, das Mädchen könne verrückt genug sein, sich eines Tages gegen ihn zu wenden und Giftpilze in seine Suppe zu tun. Damit ließ sich viel leichter umgehen als mit der Angst, jemand könnte sie geschickt haben. Aber schon vor langer Zeit hatte er gelernt, daß ein Mann an manchen Abenden mit solchen Ängsten einschlafen mußte, weil Körper und Geist nur bis einem gewissen Grad im Halbschlaf zu verweilen und mit einem Auge aufzupassen vermochten. Er schloß einfach die Augen und vertraute darauf, daß er aufwachen werde, wenn irgend etwas nicht stimmte; bis jetzt hatte er das noch immer getan. Manchmal glaubte er, er brauche einen Hund. Es war ihm jedoch keiner zugelaufen, und auf seine einsiedlerische Art hatte er sich nicht einmal diesen Trost vom Dorf erbeten, um seine Ängste nicht zu zeigen. Eine Legende zu sein, bedeutete manchmal eine verdammt schwere Last; aber Leuten, von denen er abhängig war, als Mensch zu erscheinen, war ihm seit Chiyaden allzu riskant erschienen. Er hörte, wie sich das Mädchen regte, und öffnete ein Auge, auf, doch er hatte das Tageslicht, das unter der Tür hereindrang und durch die Ritzen in den Fensterläden sickerte, schon vorher bemerkt. Er beobachtete, wie sie, noch immer vollständig bekleidet, aufstand und mit dem Wassereimer nach draußen ging. Fleißig, fleißig. Das gefiel ihm. Er hatte ihr gezeigt, wo die Latrine war. In Anbetracht ihres Schamgefühls ließ er ihr etwas Zeit; er überlegte, ob er aufstehen und sich ankleiden solle, solange sie draußen war. Nein, dachte er. Sie wollte ein Schüler sein, wollte behandelt werden wie ein Junge, dann würde er sich verdammt noch mal auch keine Umstände machen. Er stand auf und zuckte zusammen - Himmel, die Bewegung gestern, der Ruck und das Abrollen rächten sich heute morgen, und der ganze Rücken tat ihm weh, die Schulter, sein krankes Bein. Er streckte sich und fluchte - verdammt wollte er sein, wenn er vor dem Mädchen umherhumpeln würde. Er wickelte sich in die oberste Decke, unternahm seinen morgendlichen Spaziergang zur Latrine und kehrte zum Regenfaß zurück, um sich zu waschen, als sie mit einem Eimer voller Trinkwasser vom Bach den Hügel heraufkam. Er beobachtete sie aus den Augenwinkeln und duckte sich für eine kurze Dusche unter den Tropfeimer, der an der Ecke neben dem Regenfaß an der Rückwand der Hütte hing. Vom kalten Wasser taten ihm die Knöchel weh, und die Zähne klapperten ihm; er wickelte sich in die Decke und ging - eher ein Humpeln, weil das Zittern sein krankes Bein unsicher machte - wieder auf die Veranda und nach drinnen. Dann legte er die Decke ab und kleidete sich an, während sie den Frühstückstee zubereitete. Sie sah ihn nicht an, abgesehen von einem kurzen Blick und einem Wegzucken. Dann wandte sie ihm den Rücken zu - soweit, so gut. Sie wußte also, daß sie eine Frau war. Er rasierte sich, was er nicht immer tat; und sie gab ihm Tee - etwas Neues für ihn und ein Luxus, dachte er, einen Sommermorgen mit etwas Warmem zu beginnen. Er setzte sich auf die Veranda und nippte am Tee, während sie in der Hütte saubermachte und die Matten zusammenrollte, mit einem Arbeitseifer, der ihn verblüffte. Daran konnte man sich schon gewöhnen. Sein Entschluß, sie zu den Nonnen zu bringen, fiel ihm wieder ein und daß er gute Gründe dafür hatte. Als sie fertig war und auf die Veranda trat, um weitere Anweisungen entgegenzunehmen, sagte er: "Mein Pferd muß getränkt werden. Den Eimer findest du dort drüben am Zaun." Er ging mit ihr zum Stall, reichte ihr den Eimer und pfiff Jiro zu sich, um eine Leine an seinem Halfter zu befestigen. Er fütterte Jiro selbst. Das Pferd hatte es nicht gern, wenn das Frühstück auf sich warten ließ; doch als Taizu das Wasser anschleppte, zeigte er ihr, wo das Getreide war, wieviel sie verfüttern sollte und wie der Behälter wieder verschlossen wurde. Er zeigte ihr auch die Mistgabel und wo sie den Mist hinschaffen sollte, bis die Sonne ihn getrocknet hatte, damit man ihn in den Garten bringen konnte. Für ein Mädchen vom Lande war das jedoch nichts Neues. "Ihr habt den Kürbis zu dicht gepflanzt, wißt Ihr", sagte sie, und mit einem besorgten Stirnrunzeln, das ihn abermals denken ließ, die Nonnen wären vielleicht doch nicht das richtige für sie: "Und die Bohnen stehen nicht gut. Ihr solltet mich den Samen aussuchen lassen, Meister Saukendar. Ein Herr kennt sich darin nicht so gut aus wie ich." Im stillen aber dachte er: Sie ist weg, noch ehe es Vollmond wird. Sie bezirzte sogar Jiro, nachdem er das Pferd so weit beruhigt hatte, daß sie sich ihm nähern konnte, und er ihr den Umgang mit dem Striegel erklärt hatte. Sie entdeckte die Stellen, an denen er gern gekratzt wurde; und bald darauf saß Shoka auf dem Zaun und sah zu, wie Jiro mit angelegten Ohren und halbgeschlossenen Augen dastand, während das Mädchen die zusammengebackenen Dreckklumpen entfernte, die an ihm klebten. Shoka fühlte sich ein wenig betrogen; er hatte gedacht, Jiro werde sie geradewegs über den Zaun werfen. Aber als die Schweinehirtin, die sie war, hatte sie ein Händchen für ihn, und Jiro ließ sie sogar sein Stirnhaar und die Beine bearbeiten - allerdings nicht den Schweif: Jiro klemmte ihn sich zwischen die Beine, und sie konnte nur die Endsträhnen bürsten, doch sein Ausschlagen, als sie ihn freizubekommen versuchte, war nicht ernst gemeint, sondern diente bloß der Klarstellung der Verhältnisse. Das Mädchen sprang nicht einmal aus dem Weg, sie trat einfach rechtzeitig beiseite, und Shoka saß mit den Armen auf den Knien auf dem Zaun, sah sich das an und dachte betrübt, daß Jiro doch allmählich in die Jahre komme - er war ein wenig grau ums Maul geworden und wurde im Ruhestand doch recht behäbig. Das Mädchen duckte sich unter Jiros Hals hindurch, und Jiro reagierte nicht; aber das Mädchen ließ dabei auch seine Hand auf Jiros Schulter, genau so, wie er es ihr erklärt hatte; und Jiro war durchwärmt von der Sonne und träge. Wenn ihm das Mädchen im Haushalt half, dachte Shoka, dann bliebe ihm Zeit, den Stall zu reparieren, aber das tat sich nicht von selbst, indem er hier saß und zuschaute, ebenso träge von der Sonne und verzaubert wie das Pferd, sich vom Tag durchströmen ließ und dachte, daß es alles in allem doch viel angenehmer war, einfach nur dazusitzen. Er saß auf der Veranda, sah ihr beim Arbeiten und Jäten zu und nutzte die Gelegenheit, endlich einmal die Nähte an Jiros Halfter auszubessern, eine Tätigkeit, die sich mit seinen schmerzenden Muskeln und Schrammen vertrug. Und als sie am späten Nachmittag zur Hütte hochkam, verschwitzt und mit verklebtem Haar, sagte er: "Wasch dich." Sie verneigte sich, ging hinein und holte den Eimer. "Zieh saubere Sachen an", sagte er. "Und nimm den Wassereimer zum Nachfüllen mit, damit du nicht zweimal gehen mußt." Auf ihrem Weg über die Veranda verneigte sie sich abermals, ging zurück und kam mit dem Wascheimer voller Kleider zum Wechseln in der einen und dem leeren Wassereimer in der anderen Hand wieder heraus. Und ging an ihm vorbei und blieb am Fuß der Treppe stehen. "Meister Saukendar - wird es nicht allmählich Zeit für meine erste Lektion?" "Wagst du es, meine Unterrichtsmethoden zu kritisieren?" "Nein, Meister Saukendar." "Du warst außer Atem, als du heraufgekommen bist. Du kriegst nicht genügend Luft. Wenn du soweit bist, dort bei den Bäumen ist ein Hang. Lauf bis zur Kuppe, renn wieder herunter. Tu das jeden Abend, bevor du badest." "Ist gut", sagte sie; und stellte die Eimer am Rand der Veranda ab und trabte los. Er sah ihr nach, sah sie zwischen den Bäumen verschwinden und wußte aus eigener Erfahrung, wie hoch der Hügel war und was es bedeutete, bis zur Kuppe zu klettern. Er hatte das unbestimmte Gefühl, sie würde das Tempo etwa einen Steinwurf weit beibehalten, und dann würde sie traben und dann ein Stück weit gehen; und schließlich würde sie den Hügel im Schrittempo erklimmen, wenn sie überhaupt noch soviel Kraft übrig hätte. Es würde eine Weile dauern, dachte er, bis sie zurückkam; und er sah mit leichter Besorgnis zum Himmel auf: Er hatte keine Lust, selbst auf den Hügel zu klettern, nicht einmal im Schrittempo, so steif, wie er war, mit seinem schmerzenden Bein, um das Mädchen zu suchen, wenn es sich im Wald verirrte... Nein, die nicht. Vielleicht kam sie nicht bis zur Kuppe, aber er traute ihr zu, daß sie von selbst zurückfand. Irgendwann. Er saß da und döste auf der Veranda, während die Sonne golden und lavendelfarben unterging, bis es dunkel wurde und er Schritte den Hang herunterkommen hörte; und sie zurückkommen sah - in Schweiß gebadet und auf die Veranda zutaumelnd, ein blaßgesichtiges Gespenst in der Dämmerung. Doch inzwischen war er zur Tür unterwegs. Er sagte kein Wort zu ihr. Er ging in die Hütte. Er hörte, wie sie die Eimer von der Veranda schleppte; und er war hungrig und verärgert über die Aussicht auf ein verspätetes Abendessen. Doch er hängte Jiros geflicktes Halfter an den Haken neben der Tür, zündete die einzige Lampe an und schürte das Feuer. Er hatte Tee aufgesetzt und Reis mit etwas Kürbis aus dem Garten gekocht, bevor sie mit einem Eimer voller nasser Sachen und einem zweiten voller Trinkwasser aus dem Dunkeln angestapft kam. "Du hast dich verspätet", sagte er. "Ich erwarte, daß es bei Anbruch der Dunkelheit Abendessen gibt." "Ja, Meister Saukendar." "Iß." Er schöpfte ihr eine Schüssel voll und schob sie ihr hin, und sie nahm sie mit einem "Danke, Meister Saukendar" entgegen, taumelte auf die Veranda hinaus und setzte sich im Dunkeln hin, wo ein leichter Wind etwas Kühlung brachte. Er nahm sein eigenes Abendessen mit hinaus. "Ich möchte meinen Tee", sagte er. "Ja, Meister", sagte sie; und erhob sich mühsam beim zweiten Versuch, taumelte in die Hütte und holte seine Schale und ihre. "Iß", sagte er, als sie anschließend dasaß, die Schüssel in ihren Händen anstarrte und keine Kraft mehr zu haben schien, sie anzuheben. "Iß, oder haben wir etwa zuviel Essen?" Sie aß gehorsam, einen winzigen Bissen nach dem anderen, und aß nicht auf, was er ihr gegeben hatte. "Das hebe ich mir zum Frühstück auf", sagte sie. Erblickte sie finster an, aß seine Portion zu Ende und sagte: "Du kannst den Topf auswaschen, bevor du dich schlafen legst." Sie nickte, erhob sich und holte den Topf aus der Hütte, taumelte an die Seite der Veranda und ging zur Rückseite der Hütte, wo das Regenfaß stand. Er ging hinein, entkleidete sich und lag in der finsteren Hütte behaglich im Bett, als sie den Topf hereinbrachte. Am Morgen bewegte sie sich steif, ging jedoch bei Tagesanbruch nach draußen, während Shoka in die Decken eingewickelt blieb und sich noch ein wenig Ruhe gönnte. Als sie zurückkam und sich daran machte, das Frühstück zuzubereiten, wusch er sich am Regenfaß und rasierte sich gemächlich. Als er auf die Veranda zurückkam, wartete eine Schale heißer Tee auf ihn. Keine Klagen ihrerseits, keine Einwände. Armes, närrisches Mädchen, dachte er, während er am Tee nippte und Jiro dabei zusah, wie er auf der Weide neben dem Stall Gras rupfte. Daß sie bis zur Kuppe gerannt war, glaubte er nie im Leben; aber wenigstens hatte sie es ernstlich versucht. Der Stall war ausgemistet; der Garten war gejätet. Heute beobachtete er sie, als sie ihm sein Frühstück brachte und sich mit ihrer Portion behutsam an den Rand der Veranda setzte. Wirklich eine arme Närrin. Am ganzen Körper Muskelkater. Er rieb sich sein schlimmes Bein und dachte an die Wunde, die ihn lahm gemacht hatte - an das Handgemenge unterwegs, bei dem es Jiro umgeworfen und er sich unter ihm aufzurichten versucht hatte, an eine Klinge, die an einer Stelle eingedrungen war, wo die Hose nicht verstärkt gewesen war, an einen Stich, der ihm seine Gesundheit und den Glauben an seine eigene Unverwundbarkeit geraubt hatte. Er erinnerte sich auch noch an etwas anderes; und als das Mädchen hinten war, um das Geschirr abzuwaschen, ging er in die Hütte und wühlte in den Töpfen an der Kochgrube, bis er den kleinen Tonkrug mit dem Stopfen aus Bienenwachs gefunden hatte. Darin war eine Kräutersalbe, die er bei Verbrennungen und Sonnenbrand gebrauchte. Sie hatte jedoch noch andere Vorzüge: Mit ihrer Hilfe war seine Verletzung wieder so gut verheilt. "Hier", sagte er, als sie hereinkam, und reichte ihr den kleinen Krug. "Für die Wunde." Er zeichnete den Verlauf der Narbe auf seinem eigenen Gesicht nach. "Morgens und abends. Die Haut dehnt sich dadurch." Sie sah ihn leicht verwirrt an, dann öffnete sie den Krug und roch daran. "Tu, was ich dir sage." Und so nahm sie etwas davon auf die Finger und rieb es sich über die eine Seite des Gesichts und weiter bis zum Hals, so weit die Narbe reichte. Sie seufzte leise auf und dann noch einmal und blickte ihn dankbar an - aufgrund welcher Erleichterung, das wußte er noch gut. "Das ist noch keine vier Wochen her", sagte er, auf ihr Gesicht deutend, weil ihm die kleine Unstimmigkeit Sorgen bereitete. "Nein", sagte sie. "Das war unterwegs." Knapp und bündig. Offenbar wollte sie nicht darüber reden; und so komplizierte sie die Dinge mit Geständnissen und Tränen wenigstens nicht noch mehr. Den Göttern mochte Dank sein! Schluchzende Frauen waren ihm schon immer auf die Nerven gegangen; Narren, die sich Rettung von ihrer Torheit erhofften, machten ihn rasend; und in Anbetracht der Tatsache, daß sie nur ein Mädchen von niedriger Herkunft war, war sie wirklich bemerkenswert, dachte er, in vielerlei Hinsicht bemerkenswert vernünftig. Man konnte nur beten, daß sie nicht schwanger war, das war alles. Als sie ihm den Krug zurückgeben wollte, winkte er ab. "Behalt sie. Ich bekomme sie im Dorf. Brauch sie ruhig auf, wenn du magst. Jiro wartet darauf, gestriegelt zu werden, der Garten muß gegossen werden - der Regen ist ausgeblieben; und wenn du damit fertig bist, zeige ich dir, wie man mit dem Reitzeug umgeht." "Langsamer!" rief er ihr hinterher, als sie ihren allabendlichen Dauerlauf begann: Tag um Tag lief sie, und sie brauchte immer weniger Zeit, ihre Ausdauer nahm zu; aber an diesem kopflosen Losstürmen erkannte er genau, wie weit sie kam - vielleicht ein Drittel der Strecke weit, schätzte er, vielleicht die Hälfte. Sie hatte keine Ahnung, wie man sich seine Kräfte einteilte. "Langsamer! Du mußt das Tempo halten!" Sie wurde langsamer. Er sah ihr von der Veranda aus nach, bis sie im Wald verschwand, dann konzentrierte er sich wieder auf seine Arbeit und trieb mittels Hammer, Block und Locheisen Löcher für Schnürriemen in ein Stück Leder, das nach ein paar Arbeitsstunden ein gutes Paar Schuhe abgeben würde. Das Leder hatte er sich aufgehoben. Aber das Mädchen konnte ja nicht gut barfuß zum Kloster laufen oder ins Dorf oder im Winter auf den Berg. Er hatte den Umriß ihres Fußes mit einem Stück Holzkohle aufgemalt und das Leder am Nachmittag zugeschnitten. Jetzt waren die Nähte an der Reihe. Als sie zurückkam und sich verschwitzt und hustend mit den Ellbogen auf die Veranda stützte, waren die Sohlen fertig. "Ab", sagte er. "Los, waschen Du siehst schmutzig aus." Sie schöpfte Atem, richtete sich auf und besah sich, was er da tat. In diesem Stadium war noch gar nichts zu erkennen. Dies war das letzte Mal, daß er ihr die Stiefel vor der Fertigstellung am folgenden Tag zeigte. Anfangs sollten sie praktisch und schlicht werden, doch dann hatte er sich gedacht, daß ein bißchen Fuchsfell an der Wade nicht schaden könne; und daß ein par zusätzliche Stiche an der Vorderseite das Oberteil widerstandsfähiger gegen Überdehnung machen würden; und da er schon einmal dabei war, konnte er das Muster auch gleich bis zum Spann weiterführen. Er hatte sich nie die Mühe gemacht, für sich selbst Verzierungen anzubringen: es waren eben Stiefel, und das geölte Leder hielt seine Füße trocken, mehr verlangte er nicht; außerdem hatte er nie Zeit dazu gehabt. Jetzt, da der Garten gejätet, die Streu im Stall ausgewechselt, Jiro versorgt und die Hütte wunderbar ordentlich geworden war, nahm er sich die Zeit. Und so stellte er die fertigen Stiefel am Abend auf ihre Schlafmatte, während sie noch über den Hügel lief, und wartete geduldig darauf, daß sie sie entdeckte, wenn sie hereinkam, um zu kochen. Als sie gekommen war, blieb es lange Zeit sehr still, während normalerweise das Klappern von Geschirr und Kochgeräusche zu vernehmen waren. Schließlich kam sie mit den Stiefeln im Arm heraus und verneigte sich förmlich. "Ich danke Euch, Meister Saukendar", sagte sie in einem ungewohnt demütigen, ängstlichen Ton. "Passen sie?" "Ja, Meister Saukendar." "Gut?" "Danke, Meister Saukendar." Sie streichelte das Fuchsfell. Was schon der ganze Dank war, den er bekam, während er doch auf ein wenig mehr gehofft hatte, aber es schien so, als finde sie das Geschenk übertrieben. "Morgen", sagte er, "zeige ich dir das Gebirge." Sie blickte ihn aufmerksam an, und in ihren Augen flammte Erregung auf. "Ich möchte ein bißchen jagen", sagte er. Sie auf die Jagd mitzunehmen, war eine Möglichkeit, sie nicht unbeobachtet mit Jiro und seinen Habseligkeiten bei der Hütte zurückzulassen; besonders kurz vor dem Einschlafen fiel ihm immer noch ein, daß er eigentlich nichts über sie wußte und daß sie einfach nur eine geduldige Gegnerin sein mochte, die auf eine günstige Gelegenheit wartete, ihm etwas anzutun. Tagsüber glaubte er das nicht; sein Unglauben reichte jedoch nicht aus, um ihr stundenlang die Hütte zu überlassen. In Anbetracht dessen schien es nur klug, wenn er herausfand, was sie von der Pirsch wußte (vom Spiel her oder aus einer anderen Quelle) und welche Arten von Fallen sie kannte. Sie wollte sogar ihren Bogen mitnehmen, als er seinen vom Haken an der Tür nahm. "Nein", sagte er, "es sei denn, du brauchst einen Spazierstock." Sie schenkte ihm einen beleidigten Blick. Doch sie ließ ihren jämmerlichen Bogen stehen und folgte ihm in den Wald. An einigen Stellen im Gebirge hatte er Reisig aufgehäuft, und das war hin und wieder gut für ein Kaninchen, wenn man sich leise näherte und das Versteck selbst niemals anrührte, sondern nur hier und da eine Schlinge auslegte. Taizu hielt gut Schritt mit ihm, und sie paßte auf, wohin sie trat. Sie machte wenig Lärm im Gebüsch und wich den Zweigen aus, die beim Berühren mit einem Arm oder Bein ein Rascheln hätten verursachen können. Untypisch für ein Bauernmädchen, dachte er. Ihre Art, sich zu bewegen, war ganz untypisch für ein Bauernmädchen. Er erinnerte sich an die Falle, die sie ihm gestellt hatte, eine verdammt geschickte Falle. Auch das war etwas, worin ein Bauernmädchen sich nicht ausgekannt hätte. Fallen für die Soldaten, hatte sie gesagt. Schließlich hielt er inne, damit der Wald wieder zur Ruhe kam, stieg auf einen felsigen Hang und setzte sich hin; in der Zeit der Muße wollte er ihr ein paar simple Handzeichen erklären, wie es sein Vater bei ihm getan hatte. Sie wiederholte sie, rasch und klar, Zeichen für Aktionen und Richtungen und für die verschiedenen Tiere, die im Gebirge lebten. Dann lehrte er sie das Zeichen für >Mensch<. "Drüben in Hoishi gibt es Banditen", flüsterte er. "Und ab und zu kommt ein Junge aus dem Dorf mit Vorräten hier hoch. Du hast das Dorf gesehen. Die Banditen - sind anders. Ich glaube, du würdest sie erkennen." Als sie nickte, fiel ihm ihr Gesichtsausdruck auf -etwas Wütendes, Hartes, Ungeduldiges lag darin. "Wenn du jemanden siehst, der nicht wie ein Dörfler aussieht, führ ihn nicht zur Hütte; du läßt dich nicht erwischen; und du warnst mich, so schnell du kannst. Verstanden?" Wieder dieser Ausdruck von Konzentration. "Wiederhol die Zeichen!" verlangte er. So hatte es ihm sein Vater beigebracht, hatte ihn alles aufsagen geheißen, als er nicht mehr damit gerechnet hatte. Sie zeigte sie ihm und benannte sie laut, eins nach dem anderen, fehlerlos. Schnell. Verdammt schnell von Begriff. Es war wirklich eine Schande, daß ausgerechnet diese Kleine über Himmelsgaben verfügte, die einen außergewöhnlichen Schüler der Waffenkunde aus ihr gemacht hätten - wäre sie ein Junge gewesen. Aber Jagdkenntnisse nutzten einer Nonne oder einer Bauernmagd gar nichts. Und er stellte sich vor, wie sich die Höflinge in Cheng'di amüsieren würden, wenn sie Saukendar in ein ernsthaftes Gespräch mit einer Schweinehirtin vertieft sehen könnten oder dabei, wie er einer Frau Jagdzeichen beibrachte; und er stellte sich das noch größere Gelächter vor, wenn er damit begönne, ihr kriegerische Fertigkeiten beizubringen oder sie als Partner mit auf die Jagd zu nehmen. Aber wenn er sie ausbildete, wenn er sie bei der Erfüllung seines Versprechens unterstützte, wie sie sich schützen konnte, damit er sich nicht so große Sorgen zu machen brauchte, daß sie zur Geisel wurde oder irgendeinen Banditen aus Unkenntnis zur Hütte führte... Nun, bei den Göttern des Himmels und der Erde, um das Geschwätz bei Hofe brauchte er sich nicht mehr zu scheren, er lebte jetzt nicht mehr in Chiyaden, und wenn Saukendar ein Mädchen zu sich nahm, damit es sein Bett wärmte, und wenn es ihm Spaß machte, einem Mädchen das Jagen beizubringen und es Männerarbeit verrichten zu lassen - dann war das seine Sache und ging niemanden etwas an. Sollte sich ihre Wut ruhig bei harter Arbeit verzehren; sollte sie die Gegend und ihn ruhig liebgewinnen. Dann würden die natürlichen weiblichen Regungen die Oberhand gewinnen, sie würde ihre Rachegelüste aufgeben und sich mit dem Wandel der Jahreszeiten und dem Anpflanzen und Jagen abfinden. Es war verdammt leicht, sich an sie zu gewöhnen. Sie könnte auf dem Berg von einigem Nutzen sein; sie war klug und mutig. Sie... ...war der erste Mensch seit Jahren, der etwas in ihm aufgewühlt hatte, und er hatte keine Lust, sie über eine Straße entschwinden zu sehen, die sie mit Glück und Schlauheit überlebt hatte - diesmal gewappnet mit einem tödlichen Selbstvertrauen. Narren brachten ihn immer durcheinander. Jungen Narren konnte er verzeihen, und junge Narren mit Grundsätzen konnte er sogar bewundern, denn sie erinnerten ihn an seine eigene Jugend und an seinen damaligen Gerechtigkeitssinn... Aber die Welt räumte ihnen keine besonderen Vorrechte ein, die Götter, wenn es sie gab, machten keine Ausnahmen für jugendliches Streben; und das verstanden junge Narren niemals. Am Abend kehrten sie mit einem Kaninchen zurück, das sich in einer Schlinge verfangen hatte: Der Sommer, wenn das Fleisch rasch verdarb, war nicht der richtige Zeitpunkt für größere Unternehmungen. Rehe kreuzten ihren Weg, und sie ließen sie ziehen; die Beerensaison war vorbei, doch es gab Wildgemüse, und sie kehrten gutgelaunt mit den Zutaten für ein leckeres Mahl zurück. "Du kümmerst dich um das Kaninchen", sagte Shoka und verstaute seinen Bogen. "Heute werde ich Jiro versorgen." Was er auch tat, und zwar indem er sich mehr Zeit ließ als gewöhnlich, wenn er jagte. Das Abendessen bereitete sich scheinbar von allein zu, ohne daß er einen Finger zu rühren brauchte, und ihm war wunderbar wohl zumute. Als er den Hügel hinaufkam, empfing ihn Essensduft, und er setzte sich im Zwielicht auf die Veranda, wie er es sich angewöhnt hatte, und bekam seinen Tee und eine Schüssel mit pikantem Reis, Gemüse und Kaninchen. Und genoß die nicht unangenehme Gesellschaft eines Mädchens, das vom Wald sprach und ihn fragte, welche Pilze dort wüchsen, und sie mit den Pilzen aus der Provinz Hua verglich. Sie nannte Pflanzennamen und fragte ihn, ob sie auf seinem Berg wüchsen, und er gestand, daß er nicht alle Antworten kenne. "Das war kein Fachbereich meiner Studien", sagte er, "in Cheng'di oder in Yiungei. Ich kenne die gebräuchlichen Namen und die Pilze, die genießbaren und die giftigen." Sie machte mit vollem Mund ein Geräusch. "Ich kenne mich aus. Das könnte ich für Euch tun." Was bedeutete, daß er sie nicht zu den Nonnen oder ins Dorf schicken sollte. Sie wollte immer noch bleiben, trotz der Arbeit, mit der er sie überhäufte... "Das ist gut", sagte er, an die Schüssel klopfend. "Sehr gut. Du bist eine ausgezeichnete Köchin." Ihr Gesicht verdüsterte sich, als hätte er sie an etwas oder an jemanden erinnert; und er zerbrach sich den Kopf nach einer Frage, um sie abzulenken: _Wonach sollte er sie fragen? Nach ihrer Familie_? _Himmel, nein_. _Nach ihren Heiratsaussichten_? _Keine_. "Du warst heute sehr tüchtig." Sie nickte. Die Masche zog nicht. "Du hast früher schon gejagt." Erneutes Kopfnicken. "Lieber Himmel, Mädchen, rede!" Sie starrte ihn an, erstaunt und verwirrt. "Was", fragte er sie, "hast du in Hua gejagt?" "Kaninchen. Pilze." "Eine flüchtige und heimtückische Beute. Wer hat dir beigebracht, auf die Pirsch zu gehen?" "Meine Brüder." Ihr Mund verhärtete sich. "Sie sind tot." Verdammt. Man konnte sich nicht mit ihr unterhalten, ohne irgendeinen dunklen Punkt zu berühren. Oder vielleicht war es auch nur finster in ihrem Innern. Die nahende Nacht brachte Kühle mit sich. "Bis jetzt", sagte er zwischen zwei Happen, "habe ich noch keinen Anlaß, dich zu den Nonnen zu bringen. Bis jetzt habe ich es noch nicht vor." "Ihr wollt mir zeigen, wie man einen Bogen macht." "Ich kann mich nicht erinnern, so etwas versprochen zu haben." Sie starrte ihn kauend an. "Vor allem darfst du nicht daran herumhacken. Wenn in diesem Holzstück irgendeine lange Faser war, dann hast du sie kaputtgemacht. Was hast du benutzt, eine Axt?" Sie nickte. "Wo ist sie?" "Verloren." "Wo?" "Hab damit nach diesem Mann geworfen." "Nach wem?" "Unterwegs." "Ich habe nicht gefragt _wo_, ich habe gefragt _wer_." "Der Mann, der mich im Wald überfallen hat." Alles mußte er ihr aus der Nase ziehen. "Du machst es einem wirklich schwer. Kannst du nicht mal eine _Geschichte_ erzählen, um Himmels willen?" "Ich soll erzählen?" "Unterhalte mich." "Ich war verdreckt und wurde naß. Ich wollte mir einen Platz zum Schlafen suchen, aber da tauchte dieser Mann am anderen Bachufer auf, und ich konnte nicht reden, sonst hätte er gemerkt, daß ich ein Mädchen bin; darum nahm ich meine Sachen und wollte weggehen, aber er meinte, ich solle bleiben. Ich sagte, verschwinde. Aber er kam über den Bach, und ich schleuderte die Axt auf ihn und lief weg. Ich hatte Angst, noch einmal zurückzugehen und sie zu holen. Ich dachte, er könnte damit hinter mir her sein." Er nickte. "Warum nicht der Bogen?" "Er war naß. Es hat geregnet." Er seufzte, stützte das Kinn auf die Hand, die leere Schüssel im Schoß, und sah sie an, während sie ihn ansah, als hätte er sie vollkommen durcheinandergebracht. _Gütiger Himmel, wer_ ist _dieses Mädchen_? "Er wollte mich überfallen", protestierte sie. "Das glaube ich auch." Sie sah ihn zweifelnd an, senkte den Kopf und stocherte nach den letzten paar Körnern, die am Rand ihrer Schüssel klebten. "Mädchen", sagte er, "ich weiß nicht, was in Hua passiert ist, aber es haben sich nur selten Banditen hierher verirrt. Du brauchst keine Angst zu haben." "Ich habe keine Angst." "Du kannst nicht alle Übel der Welt wiedergutmachen, nicht einmal dann, wenn sie dir widerfahren sind. Glaub mir das. Es sind Leute zu mir gekommen und haben mich gebeten, den einen oder anderen Mißstand zu beseitigen. Das sind alles traurige Geschichten. Aber ich kann es nicht ändern. Das ist die größte Weisheit, die ich auf diesem verdammten Berg gelernt habe: mich um meine eigenen Schwierigkeiten zu kümmern. Friedlich zu leben. Der Sonnenaufgang und der Sonnenuntergang sind wichtiger als der Aufstieg und Fall von Kaisern. Das ist meine ganze Philosophie. Ich gebe sie dir weiter." Sie runzelte die Stirn und starrte ihre leere Schüssel an. "Hast du mich verstanden?" fragte er sie. Manchmal war er nicht sicher, ob sie mit ihrem Akzent seine Sprache und die Worte verstand, die er gebrauchte. Er versucht sich einfach auszudrücken. "Ich habe Euch gehört." "Ich habe nicht gefragt, ob du mich gehört hast, ich habe dich gefragt, ob du mich verstanden hast." "Bringt mir bei, einen richtigen Bogen zu machen. Unterrichtet mich im Schwertkampf. Das will ich." "Mädchen, ich kann dir vieles beibringen..." Sie bedachte ihn mit einem argwöhnischen Blick, die Warnung, die sie möglicherweise dem Mann hatte zukommen lassen, ehe sie die Axt geschleudert hatte. "Unter anderem", beharrte er, "auch die Sanftheit, die ein Mann gegenüber einer Frau an den Tag legen sollte." Sie stand auf, verschwand in der Hütte, kam mit dem Eimer, den sie fürs Trinkwasser benutzten, wieder heraus und stellte ihn auf die Veranda, wie sie es stets tat, bevor sie den Hügel hinaufrannte. "Laß das", sagte er. "Nein", sagte sie. "Ich sagte, laß es. Verdammt, es ist dunkel im Wald. Du bist den ganzen Tag durch den Wald marschiert; du kannst morgen wieder laufen." "Ich habe gesagt, ich würde es machen." "_Ich_ habe gesagt, laß es." Er stellte die Füße auf den Boden neben der Veranda, stand auf und stieg ein wenig steif die Stufen hinauf; so war es jedesmal, wenn er mit untergeschlagenen Beinen gesessen hatte. "Du hast auch gesagt, du würdest tun, was ich dir sage; und du wirst nicht im Dunkeln laufen." Er sah die Angst in ihren Augen und senkte die Stimme. "Mache ich dir Angst? Du brauchst keine Angst zu haben. Findest du, es ist ein Grund wegzurennen, wenn ein Mann sagt, daß er ein bißchen nett zu dir sein möchte?" Die Angst blieb. Sie sah ihn an, als bliebe ihr nur die Wahl zwischen zwei Möglichkeiten, die beide furchtbar waren. "Mädchen, ich habe nicht enthaltsam gelebt, bevor ich hierherkam; und wenn du glaubst, du sähest wie ein Junge aus, und wenn du glaubst, ich könnte nach neun Jahren hier oben auf dem Berg eine Hütte mit einer Frau teilen, ohne bestimmte Regungen zu verspüren, dann mußt du noch eine ganze Menge über Männer lernen." "Ihr habt mich als Schüler angenommen, Meister Saukendar. Welcher Mann rührt schon seinen Schüler an?" "Du bist ein Mädchen! Daran kannst du nichts ändern!" "Als Ihr Euer Wort gegeben habt, war keine Rede davon. Ihr habt eingewilligt. Das ist alles." "Du wirst mir jetzt zuhören, Mädchen. Den Lauf der Natur kannst du nicht ändern. Dein Verlangen ist unvernünftig." "Ihr habt es versprochen." "Um einer Verrückten ihren Willen zu lassen." "Aber Ihr habt es versprochen. Und es geht um Eure Ehre, nicht wahr, und wenn Ihr Euer Wort brecht, werden sich die Götter daran erinnern. Ihr habt versprochen, mich als Schüler anzunehmen und daß ihr mich nicht anrührt. Wollt Ihr Euer Versprechen brechen?" "Närrin! Du wirst nicht lange durchhalten; daran besteht nicht der geringste Zweifel. Höchste Zeit, daß du das begreifst und darüber nachdenkst, wie du deinen Lebensunterhalt bestreiten willst." "Ihr braucht mich bloß zu unterrichten. Und ich bin bis hierher gekommen, Meister Saukendar. Ich habe es aus eigener Kraft bis zu Euch geschafft, und Ihr sagt selbst, daß ich mich im Wald gut auskenne. Ich habe eine Falle gebaut, in die Ihr hineingetappt seid, oder etwa nicht? Und ich habe alles getan, was Ihr mir aufgetragen habt, also habt Ihr keinen Grund, Euch über mich zu beklagen. Unterrichtet mich genauso, wie Ihr einen Jungen unterrichten würdet, und ich werde ebenso gut lernen wie ein Junge." "So wie du auf den Hügel läufst?" "So wie ich auf den Hügel laufe." "Ach, komm schon, Mädchen, lüg mich nicht an. Du hast es doch gar nicht bis nach oben geschafft." "Ich habe es geschafft!" "Verdammt noch mal, du hast die Hügelkuppe nie gesehen. Du setzt dich hin, wenn du außer Puste bist, du ruhst dich aus, bis du glaubst, es sei Zeit, und dann rennst du zurück, und erzählst mir, daß du bis ganz hinauf läufst." "Dann folgt mir." Das saß: Er selbst konnte nicht auf den Hügel laufen, nicht mit seinem lahmen Bein, und er war sicher, daß sie das wußte und daß sie das Argument mit Vorbedacht vorgebracht hatte. Er verschränkte die Arme und blickte sie durchdringend an. "Mädchen, du schwindelst doch." "Ich bin keine Betrügerin." Er starrte sie lange an. "Du bleibst also dabei, daß du bis zur Kuppe läufst. Daß du nicht irgendwo abwartest. Daß du mich nicht anlügst." "Ja." "Aufrichtigkeit gegen Aufrichtigkeit: Ich habe erwartet, daß du es nicht einmal bis zur Hälfte schaffen würdest. Jetzt sag mir, daß es so war, und wir sind quitt, und nichts wird sich ändern. Solange die Sonne am Himmel steht, haben es Schüler mit solchen Finten versucht. Aber bei den Göttern, wenn du mir ins Gesicht lügst und ich dich dabei erwische, sind alle Vereinbarungen ungültig - und ich werde dich erwischen, verstanden?" "Ich lüge nicht!" "Die letzte Gelegenheit." "_Ich lüge nicht_." "Bleib heute vom Hügel weg. Schlaf dich aus. Morgen wirst du den Schlaf brauchen. Oder du sagst mir, daß du gelogen hast. Denn wenn ich herausfinde, daß es so war, dann bin ich aller Versprechen entbunden. Dann ist die Angelegenheit erledigt." Jiro legte die Ohren an, als ihm Decke und Sattel übergeworfen wurden; und er stellte sie wieder auf, als Shoka ihn ins helle Tageslicht hinausführte, wo Taizu sie auf dem Zaun sitzend erwartete. "Nun denn", sagte Shoka, während Jiro bockte und an den Zügeln zerrte, die Shoka straff in der Hand hielt. "Ich lasse dir einen Vorsprung. Bis zur anderen Seite der Weide und dann wieder zurück." Taizu blickte in die genannte Richtung, zum langgestreckten Hang der Bergschulter, wo ein Waldbrand nur wenige Bäume übriggelassen hatte, so daß ein Teil des Hügels baumlos und mit Gras und Unkraut überwachsen war. Er hatte die nachgewachsenen Schößlinge gefällt, die Stümpfe verbrannt und zersägt; die behauenen Bäume hatte er für die Umzäunung verwendet und die Weide Jahr um Jahr erweitert. Jetzt umfaßte sie die volle Fläche eines breiten ansteigenden Hangs, der an den Seiten und am Ende abschüssig wurde. Taizu nickte und lief auf die Pferchumzäunung zu, duckte sich darunter hindurch und nahm die dahinterliegende Weide in gemächlichem Tempo in Angriff. Er führte Jiro durchs Tor und schwang sich in den Sattel, während Jiro mit den Zähnen mahlte und sich in Bewegung setzte. "Schneller!" rief er dem Mädchen zu. Taizu beschleunigte; er ließ ihr einen guten Vorsprung, dann ließ er Jiro seinen Willen. Jiro schnaubte und wollte mehr Zügel. Shoka hielt ihn zurück und in der Art, wie sich seine Ohren aufstellten und die ferne Gestalt des Mädchens einrahmten, merkte er, daß Jiro sich unwohl fühlte. Schneller und schneller wurde er, und während Jiro darum kämpfte, daß er die Zügel lockerte, nahm der Abstand zwischen ihnen und dem Mädchen immer mehr ab. Jiro legte die Ohren wieder an. Das Streitroß kannte bei einer Verfolgungsjagd nur ein Ziel, und es hatte keinerlei Bedenken gegenüber einem Kampf. "Schneller!" schrie Shoka. Das Mädchen sah sich nicht um. Es beschleunigte unvermittelt, und Jiro senkte den Kopf und bemühte sich, mehr Zügel zu bekommen. "Er wird's dir schon zeigen!" schrie Shoka. "Bleib vor ihm!" Sie flitzte um einen der wenigen Bäume herum, und Jiro gebrauchte die Zügel nicht, um ihm auszuweichen und dem Mädchen hinterherzulaufen. Das Pferd kämpfte nach wie vor um mehr Zügel, versuchte es mit sämtlichen Tricks, während das Mädchen den Zaun erreichte, die erste Planke anschlug und wieder zurückstürmte. Die Hälfte der Strecke lag hinter ihr. Jiro wollte wenden und ihr den Weg abschneiden, und Shoka zwang ihn zu einer weiten Kurve, während das Mädchen den ansteigenden Teil der Wiese hinaufstürmte. Verdammt, sie war nicht einmal außer Atem. Er ließ Jiro schneller werden; und das Mädchen schlüpfte zwischen drei hintereinanderstehenden Bäumen hindurch, wich einer Handvoll kleiner scharfer Stümpfe aus, die er noch nicht beseitigt hatte. "Also gut, Mädchen", murmelte er vor sich hin und lockerte die Zügel ein wenig, ließ Jiro den Zickzackkurs in etwas flotterer Gangart nehmen. Das Mädchen aber sprintete plötzlich auf den höher am Hügel gelegenen Stall zu. Verdammt, sie schaffte es. Er gab Jiro die Fersen, jagte in gestrecktem Galopp den Hügel hinauf, um dem Mädchen im letzten Moment den Weg zum Zaun abzuschneiden. Als Jiros Schulter sie beinahe gestreift hätte, wich sie aus, und Jiro fuhr von selbst herum, stellte sich auf die Hinterbeine, während Shoka die Zügel anzog und wieder nachließ. Jiro stürmte dem Mädchen nach, und diesmal rannte das Mädchen in vollem Lauf auf den Seitenzaun zu, doch dann, als Jiro sie fast erreicht hatte, schlug sie einen Haken und versuchte zum Stallzaun zurückzulaufen. "Nein, das tust du nicht!" schrie Shoka und drängte ihr Jiro entgegen, um ihr ein zweites Mal den Weg abzuschneiden, verärgert und verblüfft darüber, daß noch soviel Kraft in ihr steckte. Sie änderte von neuem die Richtung zur Seite, ein plötzlicher Sprint die Wiese hinunter, und er scheuchte sie wieder zurück; ein weiterer Sprint bergauf, und er schnitt ihr abermals den Weg ab. Das Mädchen war jetzt schweißnaß; und sie taumelte zurück, als Jiro ihr mit seiner Schulter nahekam, taumelte zurück und schoß zu Jiros rechter Flanke herum, sauste geradewegs auf den Zaun zu; doch Shoka gab Jiro die Fersen, und Jiro streckte sich im Galopp, schnitt ihr den Weg ab, drehte sich schweratmend und schnaubend wieder um. Sie wäre ihm beinahe unter dem Rumpf hindurchgeschlüpft: Jiro schlug aus, und Shoka lenkte ihn zur Seite, was Jiro für das Signal zu einer erneuten Kehrtwendung hielt, worauf er erneut lossprang, um sie zurückzudrängen. Sie machte abermals kehrt, stolperte diesmal und lief weiter, während er Jiro eine vollständige Kurve beschreiben ließ, um ihn wieder unter Kontrolle zu bekommen, bevor er dem Mädchen erneut nachjagte; und Taizu rannte abermals stolpernd auf den Zaun zu, während er sie umkreiste. Den letzten Sprint, mit dem sie auf die Planken zustürmte, hatte er nicht erwartet. Sie packte den Zaun, versuchte darüberzukommen und fiel im Staub auf die Knie, während sie den Zaun noch umklammert hielt. Einen Moment lang beugte sie sich hilflos, hustend und nach Luft schnappend vor, dann schüttelte sie ihr schweißnasses Haar und blickte ihn von der Seite an, ein Auge vom Haarschopf verdeckt, das andere jedesmal, wenn sie nicht hustete, tadelnd auf ihn gerichtet. Sollte er es bloß noch einmal wagen, sie der Lüge zu bezichtigen! Doch im Grunde seines Herzens wußte er jetzt, daß sie die Wahrheit gesagt hatte. Sie mußte den verdammten Hügel hinaufgelaufen sein, daran gab es keinen Zweifel. Sein Irrtum war ihm unangenehm. Doppelt unangenehm deshalb, weil er, selbst wenn sie eine Närrin oder Schlimmeres war, nach allem, was sie wollte, etwas Unmögliches von ihr verlangt und sie so weit getrieben hatte, so daß sie nun im Recht und er offensichtlich der Schurke war. Verdammt. Und er hatte sein Wort auf den Ausgang verpfändet. "Also gut", sagte er schließlich von Jiros Rücken hinab. "Ich werde dich so weit unterrichten, wie du zu folgen vermagst. Aber wenn du versagst, dann hast du versagt, und ich will keine Ausflüchte hören." Sie versuchte sich aufzurichten. Sie zog sich an den Planken hoch und lehnte sich darüber. "Du wirst Krämpfe bekommen, wenn du dich nicht langsam abkühlst", sagte er. "Geh zum Haus, zieh dir was an, ich setze Wasser auf." Sie nickte, nur diese eine Bewegung des Kopfes, mehr nicht, dann kletterte sie unbeholfen durch den Zaun und taumelte über den Pferch. Verdammt, verdammt, verdammt. Doch er ertappte sich bei dem Gedanken, daß sie es als Schülerin tatsächlich schaffen könnte. Sie war schnell und stark genug, um weit mehr zu lernen, als er gedacht hatte; und vielleicht - hoffentlich - würde sie in der Zwischenzeit wieder Vernunft annehmen. _*4*_ Er schlief nicht gut in dieser Nacht. Ohne den Grund zu wissen, mußte er ständig an Chiyaden denken. Vielleicht, dachte er, lag es daran, daß er sich Gedanken übers Unterrichten machte; und um zu unterrichten, mußte er sich daran erinnern, wie er unterrichtet worden war und was er gelernt hatte; und gelernt hatte er in Chiyaden, in seiner Jugend, von seinem Vater und einem alten Meister aus Yenan, am Hof von Cheng'di. Viele dieser Erinnerungen waren nicht angenehm, zumal er wußte, was aus den Plänen seines Vaters geworden war. Sein Vater hatte ihm vor seinem Tod befohlen, dem alten Kaiser während seiner letzten Jahre zu dienen - und an seines Vaters Stelle hatte er es versucht, ernsthaft versucht, er hatte jedes persönliche Opfer gebracht, er hatte den alten Kaiser vor Attentätern geschützt, hatte alle erdenklichen Vorsichtsmaßnahmen ergriffen, um das Reich und den Frieden zu erhalten. Doch seine Kampfeskraft hatte nichts gefruchtet angesichts der Willfährigkeit eines Thronfolgers, der an der Exekution seiner bestellten Beschützer beteiligt gewesen war und der sich mit aller Kraft bemüht hatte, Saukendar ebenfalls in Ungnade fallen zu lassen. Keine noch so große Klugheit hätte Chiyaden retten können, es blieb nur der Wunsch, der Kaiser hätte einen besseren Sohn großgezogen; der Wunsch, der alte Kaiser hätte Beijun mehr beigebracht und ihn in seiner Jugend weniger gehätschelt, ihn mit starker Hand von seinem schlechten Umgang getrennt... Weiß der Himmel, was geholfen hätte; Shoka hatte dem alten Kaiser bezüglich seines Erben und dessen Gefährten raten wollen, und davor hatte sein Vater dem Kaiser schon den gleichen Rat gegeben, alles umsonst. Mit dem Alter wird er sich ändern, hatte der alte Kaiser über seinen Sohn gesagt. Die Verantwortung wird ihn verändern. Laßt ihm Zeit. In seinen Alpträumen sah er seinen Freund Heisu unter der Axt; und die empfindsame Hofdame, die der junge Kaiser geheiratet hatte... ...die _er_ hätte heiraten sollen, wenn der Kaiser nicht Meiya für seinen Sohn bestimmt hätte... ...und wie Meiya mit dem Giftbecher in der Hand am Gartenfenster saß, zerbrechlich wie Porzellan, elegant wie eh und je. Vielleicht hatte Meiya bis zuletzt gehofft, daß er noch rechtzeitig eintreffen, daß er sich den Weg freikämpfen und sie retten werde. Aber niemand hatte ihm etwas gesagt: Der Befehl wurde vom Kaiser unterschrieben und versiegelt, und die Mörder waren schon unterwegs, als sie den Becher ausgetrunken hatte, während er zwei Tagesreisen von der Hauptstadt entfernt auf einer sinnlosen Mission gewesen war, mit der ihn der junge Kaiser betraut hatte. Das konnte unmöglich der Plan des jungen Kaisers gewesen sein. Zweifellos war es Ghitas Plan gewesen; Shoka hatte neun Jahre lang mit dieser unbeglichenen Rechnung leben müssen, mit der Tatsache, daß er zum Narren gehalten worden war, denn wenn Meiya Ehebruch begangen hätte... ...und sei es bloß im Herzen... Er ballte die Fäuste, wälzte sich auf seiner Matte herum und starrte in die Dunkelheit, in der Meiyas sanfte Erscheinung weniger greifbar schien als in seiner Erinnerung. Du trägst Verantwortung, hatte ihn sein Vater ermahnt, als der alte Kaiser seine Wünsche hinsichtlich der Vermählung seines Sohnes mit Meiya kundgetan hatte; das Wohlergehen des Reiches steht an erster Stelle. Denk an deinen Eid. Shoka hatte gegen diese Entscheidung aufbegehrt: Er hatte dem Kaiser gedient - und das war nun der Dank, Meiya einem Narren zu überlassen, weil der todkranke Kaiser wußte, daß der Sohn starke Ratgeber brauchte; und er hatte Meiya auserwählt und mit Meiya auch ihren Vater, Fürst Peidan; und außer Meiya noch Fürst Heisu von Ayendan und nicht zuletzt Saukendar, den Erben der Provinz Xiungei. Sein Vater hatte ihn in allen Dingen gut beraten, nur das eine Mal nicht, als er dem neuen Kaiser, als es soweit war, ebenso Treue gelobte wie dem alten; als er Beijun langsam zur Vernunft zu bringen versuchte; als er darauf vertraute, daß der Einfluß Meiyas und Heisus und sein eigener ausreichen werde, aus einem dummen Jungen einen Kaiser zu machen. Zumindest wußte er, daß Ghitas Mörder niemals aufgegeben hätten, wenn er rechtzeitig eingetroffen und Meiya ins Exil geführt hätte; und daß er nie so weit gekommen wäre, wenn Meiya ihn unterwegs begleitet hätte. Shoka hatte jedoch zu spät davon erfahren. In den Jahren nach ihrer Vermählung mit dem jungen Kaiser hatte er sich innerlich von Meiya entfernt, so daß ihm die Nachricht, daß Meiya zu den Toten dieses schrecklichen Tages gehörte, weniger wichtig erschienen war als die Nachricht von Heisus und ihres Vaters Tod. Erst später war ihm klargeworden, wie schwer sein Kummer wog. Die Soldaten wie Heisu, die Gelehrten wie Baundi, die kaiserliche Garde und die Gefolgsmänner - sie waren ein Wagnis eingegangen, und die meisten von ihnen hatten Waffen und wenigstens die Möglichkeit gehabt, sich zu verteidigen. Meiya von Kiang jedoch, im Palast eingesperrt und ganz auf ihren Verstand angewiesen, zu solcher Sanftheit erzogen, daß sie niemals die Hand zu ihrer Verteidigung hätte erheben können, war nur der Becher übriggeblieben - als allerletztes Mittel, zu dem sie Zuflucht genommen hatte, als ihr keine andere Wahl mehr geblieben war. Diese Tat verfolgte ihn bei Nacht; der Verdacht, daß sie keinen Anlaß mehr gesehen hatte, bei ihrem Gatten auf Milde zu hoffen, aber dennoch auf Hilfe gewartet hatte; das und die Tatsache, daß er zunächst gar nicht geglaubt hatte, sie könne unter den Toten sein. Die Fürstin Meiya hatte mit dem Giftbecher am Gartenfenster gesessen, das auf die Straße nach Süden hinaussah; und hatte bis zuletzt auf einen Liebhaber gehofft, den sie vor fünfzehn Jahren aufgegeben hatte. Fürst Heisu wurde noch, in derselben Stunde, als man in seine Gemächer eindrang und ihn hinauszerrte, wegen Ehebruchs der Prozeß gemacht; und Ghitas bestochene Richter befanden Heisu aufgrund von Meiyas Selbstmord für schuldig. So wurde am neuen Hof Recht gesprochen, als die Asche des alten Kaisers noch nicht einmal erkaltet war. Man hatte Heisu den Kopf abgeschlagen und diesen am Nordtor von Cheng'di befestigt, an dem Tor, das auf Heisus Provinz Ayendan hinausblickte. Als Shoka davon erfahren hatte, war ihm klargeworden, daß es sinnlos war, in die Hauptstadt zurückzukehren, daß er dort keine Verbündeten finden würde: die Verschwörung war zu umfassend, selbst die Garde und die Armee hatte man mit Gold und Versprechungen gefügig gemacht; es war der Befehl ergangen, ihn als Heisus Komplizen bei der geplanten Verschwörung zu ergreifen. Also hatte das Geschwür, als das ihm der Hof erschienen war, geeitert und war geplatzt, und unter den Fürsten brach keine Empörung aus, es kam nur zu einer allgemeinen Balgerei um eine sichere Position im zukünftigen Regime. Und so war er zur Grenze geflüchtet. Deshalb hatte er sich in Sicherheit gebracht, nachdem er den jungen Kaiser so falsch eingeschätzt hatte: der junge Narr Beijun hatte den Hof wutentbrannt verlassen und bei Ghita Schutz gesucht. Der junge Kaiser hatte vor _ihm_ Schutz gesucht, das war die Wahrheit; und daß Beijun von den Göttern auserwählt und von den Priestern gesalbt war, umgab ihn mit einer Aura von Heiligkeit, was Shoka, selbst in dieser Stunde, nur allzusehr respektiert hatte. Narr, dachte er jetzt. Aber wenn er überlegte, wer sonst den Thron hätte einnehmen können oder wer die Kraft gehabt hätte, ihn zu halten - nach der brutalen Exekution des Fürsten Heisu war keiner mehr geblieben; auch nicht unter den oppositionellen Priestern, den gekauften und den schlichten Gemütern, die naiv und hartnäckig am Himmelssohn festhielten, obwohl er ein Narr war. Es war der Wille der Götter, daß das Reich leiden sollte. Es war der Wille der Götter, daß gemordet wurde. War der Kaiser nicht der Gebieter über das Recht, der Vermittler des Göttlichen, die Brücke zum Himmel? Wie die Priester dachten auch die Leute, die ihre Hoffnung in die Götter setzten und die vor allem hofften, in Ruhe gelassen zu werden; keinesfalls würden sie gegen die Priester kämpfen. Dies war Shoka klargeworden, als mehrere Bauern versucht hatten, die auf seinen Kopf ausgesetzte Belohnung einzustreichen. Er hatte ein Leben lang zuerst an seine Pflichten und seinen Kaiser gedacht; er hatte das Recht verteidigt; er hatte alles für das Wohl Chiyadens und das des Kaisers in Cheng'di aufgegeben; und Chiyaden hatte ihn schließlich verraten. _Was also soll ich dir beibringen, Mädchen? Weisheit? Die habe ich auch hier nicht gefunden_. _Ich hatte unzählige Geliebte. Eine habe ich geliebt. Auf sie habe ich verzichtet. Ich habe meinen Vater respektiert und sie den ihren, wir waren fünfzehn: Was wissen schon Kinder_? Er konnte den Becher, Fürstin Meiya und das Fenster nicht vergessen - dieses einsame, vollkommene Bild, als wäre er selbst dort gewesen, in diesem Zimmer, in dem Augenblick, als sie die Hoffnung aufgab -, auch wenn sich ihre Unterhaltung in den späteren Jahren darauf beschränkt hatte, Pläne zu schmieden, wie man den Thronfolger von seinen ausschweifenden Freunden fernhalten, wie man Fürst Ghita und seine Gefolgsleute überlisten, wie man den sterbenden Kaiser davon überzeugen könnte, irgend etwas gegen die eigene Ermordung zu unternehmen. Wenn sie seine Frau gewesen wäre... Aber Meiya hatte ebenfalls die Pflicht gewählt. Und jetzt war sie tot, und er lebte in lebenslangem Exil und wurde von einem närrischen Bauernmädchen belästigt, das daran glaubte, es könne die Leiden seiner Familie wiedergutmachen, das daran glaubte, daß Blut das Blut seiner Angehörigen rächen werde oder daß die Gespenster der Vergangenheit dann aufhören würden, es im Schlaf heimzusuchen. Narren konnte man nicht helfen. Narren, hatte der alte Meister Yenan immer gesagt, müssen ihre Dummheit überwinden, bevor sie zuhören können. Sie müssen erst wissen, was Wahrheit ist. Das mußte sie also als erstes lernen - ein Mädchen, das kein Mädchen sein wollte, eine Närrin, die nach Rache verlangte, die ihr nichts nützen würde. Das mußte sich als erstes ändern. Gütiger Himmel, er wollte sie schlagen. Und er begriff nicht, warum, außer weil sie eine Närrin war. Daß er mit ihr schlafen wollte - mit einer narbengesichtigen Schweinehirtin -, erschien ihm wie ein Exorzismus, wie der Versuch, sich mit einem möglichst wilden und grobschlächtigen Wesen zu paaren. Shokas Wahl, nicht Saukendars Wahl. Shokas Versuch, sich zu trösten. Mit einer anderen Frau als der, die er hätte haben können. Verdammt, besser eine Frau, die sich an dem Ort, an dem er leben mußte, behaupten konnte, besser eine Frau, die so wirklich war wie Schmutz und Sommerhitze. Meiya war - wie war sie eigentlich gewesen, damals, vor zwanzig Jahren, als er jung und gesund gewesen war, als er geglaubt hatte, daß es gerecht zugehe auf der Welt? Das Mädchen - Taizu - erschien ihm wie eine zweite Gelegenheit. Sie im Schwertkampf unterrichten. Gütiger Himmel! "Die Ferse so", sagte er zu ihr und tippte mit dem Stock auf den Boden. "Zehe." Er schob den Fuß zurecht und ging um sie herum, tippte auf ihren Ellbogen, ein Knie, musterte sie von allen Seiten. "Pause", sagte er dann. "Entspann dich." Und als sie gerade tief Luft geholt hatte: "Nimm wieder die Grundstellung ein." Sie sah ihn an, betrogen, und er schlug sie auf die Waden. "Nimm wieder die Grundstellung ein." Sie nahm schwankend Haltung an. Er schlug sie erneut, diesmal auf eine falsch ausgerichtete Zehe, ein Knie, einen Ellbogen. Die Gliedmaßen nahmen nervös eine Haltung an, an die sie sich noch undeutlich erinnerten. Er brachte sie behutsam wieder in Position. "Bleib eine Weile so stehen", sagte er. "Bis dein Körper es weiß." Und er setzte sich in den Schatten und gönnte sich eine Schale Tee. "Dreh dich! Dreh dich! Dreh dich!" schrie Shoka, und das Mädchen wirbelte herum, nahm die Grundstellung ein und drehte sich wieder und wieder in vollendeter Abstimmung. Sie landete in der Grundstellung, und er ließ seinen Stock gegen ihre Schienbeine vorschnellen. Sie sprang darüber und landete in vorbildlicher Haltung auf weichbeschuhten Füßen. Er schlug versuchsweise von hinten gegen ihre Knie. Sie sprang, die falsche Reaktion auf diesen Angriff. Der Stock traf ihre Beine. Sie fing sich jedoch wieder und landete auf dem Boden. "Nein", sagte er, stützte sich mit beiden Händen auf den Stock und sann über sie nach, über ihre Reichweite, ihren Gleichgewichtssinn. Er hatte nur einen einzigen Schüler gehabt - und Beijun hatte sich vor seinen Übungen gedrückt, hatte gejammert, wenn er hinfiel, hatte sich über den Schweiß und die Erschöpfung beklagt. Ein Rinnsal aus Schweiß lief über Taizus Gesicht. Sie ließ ihre Deckung nicht fallen. Sie wartete. "Nun weißt du alles, was du ohne Schwert lernen konntest", sagte er. "Für diese Bewegungen brauchst du nun ein Gegengewicht. Das Schwert gehört nun her. Das Schwert bildet den entscheidenden Gegenpol für dein Gleichgewicht." Ohne ein weiteres Wort, ging er ins Haus, holte das in Lumpen gewickelte Schwert aus seinem Winkel und brachte es Taizu, die noch immer wartend vor der Veranda stand. Er zog es heraus und warf die Scheide auf die Veranda. "Pause", sagte er. Sie gab die Deckung auf, vorsichtig, auf der Hut. "Ist schon gut", sagte er und reichte ihr das Schwert mit dem Griff voran. "Nimm wieder die Grundstellung ein. Halte das Schwert entspannt, so entspannt wie möglich. Ich lasse dich nur einen Teil des Gewichts halten. Entspann die Finger, hörst du?" Sie nickte, nahm die Grundstellung ein, das Gesicht angespannt und aufmerksam, jedoch ohne danach zu greifen: sie hielt das Schwert genau so, wie es bequem war. "So ist's richtig. Das war die eine Hand. Jetzt die andere." In dieser Stellung gab es nur eine bequeme Haltung. Sie fand sie. "Genau so", sagte er und verspürte eine Genugtuung, wie sie ihm der junge Kaiser niemals vermittelt hatte, eine fast sinnliche Erregung. "Tadellos." Sie hatte es gehört. Sie vollführte ein winziges Nicken mit dem Kopf. Ihre Haltung veränderte sich dabei nicht. "Das ist das Gewicht. Das ist das ganze Gewicht. Achte nicht auf das Schwert. Das Schwert ist dein rechter Arm. Behalt deine Haltung bei. Denk an diese Haltung. Das Schwert spürst du nicht. Fühle, wo dein Schwerpunkt liegt. Wenn du soweit bist, geh die Bewegungen durch." Er trat zurück. "Erst wenn du bereit bist. Fang von vorn an; laß dir Zeit." Sie verharrte mehrere Atemzüge lang. Als sie sich bewegte, tat sie es mit der gleichen vollendeten Ausgewogenheit, die ihre Grundstellung auszeichnete. Jeder Schritt beim Ausfall und bei der Wende stimmte genau. "Schluß", sagte er, und sie verharrte mitten in der Umdrehung in einer Haltung, die sie sehr lange beibehalten konnte. Er hob die Hand. "Bring die Schwertspitze bis an meine Finger." Der Stahl berührte ihn. "Jetzt vollende die Bewegung langsam und halte dabei ständig Kontakt mit meinen Fingern." Er vollendete die Drehung mit ihr zusammen, bis ihre Füße wieder die Grundstellung eingenommen hatten. "Noch einmal", befahl er und ging mit ihr mit. Dies wiederholte er noch siebenmal, langsam, wobei er dann und wann innehielt, wenn sie es tat, und sie keinen Moment lang den Blick von seinen Augen abwandte, wie er es sie gelehrt hatte. Anmutig, dachte er. Wunderschön. Nicht das Gesicht, sondern die vollkommene Balance, die Aufmerksamkeit in ihren Augen - eine unbedingte Aufmerksamkeit. Er zog seine Hand zurück, trat nach hinten und betrachtete sie, erstaunt darüber, daß eine Schweinehirtin sich wie ein flüchtiges Traumgebilde bewegte. Seine Lehren, dachte er. Er war fähig, etwas Derartiges zu erschaffen. Er spürte das Zucken in seinen Muskeln, die sich erinnerten, wie sich diese Bewegung anfühlte, wenn sie richtig ausgeführt wurde. So hatte er sich einmal bewegt. Jetzt war er dazu nicht mehr fähig. Nie wieder würde er dazu fähig sein. Das mußte er sich immer wieder in Erinnerung rufen. "Noch einmal!" sagte er, setzte sich hin und sah zu, wie das Mädchen die Bewegungen übte und in der spätsommerlichen Hitze heftig schwitzte. Er schaute zu, und als sie ihre Übungen beendet hatte und atemlos dastand, faßte er einen Entschluß, erhob sich und trat zu ihr. Er nahm Heft und Faust in die Hand und streckte ihren Arm. "Bleib so", sagte er, ging zurück und setzte sich wieder und fuhr fort, ein Kaninchenfell abzuschaben. Er stank nach Kaninchen. Sie stank nach Schweiß. Es war einer dieser stickigen, fürchterlichen Tage, an denen der Regen mit den Bergen kokettierte und die Luft schwül und unbewegt blieb. Er sah, wie ihr Arm herabsank, beobachtete ihren Kampf mit der Haltung, dann hob er sich wieder. Doch nicht lange, und der ganze Arm begann zu zittern. Er betrachtete sie jetzt genauer, die zusammengepreßten Lippen, ihren Kampf, den Arm mit den Schultermuskel und schließlich mit dem Rücken und der Brust ausgestreckt zu halten. "Pause", sagte er, und sie neigte den ganzen Körper bei dem Versuch, den Arm langsam herabsinken zu lassen. "Noch einmal." Sie versuchte es und hob den Arm. Er begann augenblicklich wieder zu sinken. Darum stand er von der Veranda auf und hielt ihre Hand, betastete ihren Unterarm, den Ellbogen und den Oberarm und sagte: "Es reicht. Geh und bring mir zwei handgroße Steine." "Ja, Meister", sagte sie, steckte das Schwert in die Scheide und ging die Steine suchen. Sie rannte immer noch auf den Hügel. Sie jätete und wusch und schleppte Wasser. Die Stärke ihres Unterarms und ihrer Rippen hielt jedoch nicht Schritt mit den Beinen und dem Rücken, das war das Problem. Sie brachte ihm die Steine, und er holte sich zwei schlanke Holzstöcke vom Stapel hinter der Hütte. "Ich möchte dir etwas zeigen", sagte er. "Meister", sagte sie gewissenhaft; und er reichte ihr einen der beiden Stöcke. "Nimm die Grundstellung ein", befahl er. Bis jetzt hatte er noch nicht mit ihr gefochten. Bisher waren es nur Vorübungen gewesen. Er bewegte sich ganz langsam, berührte ihren Ellbogen mit dem Stock, während sie ihn ansah, als wüßte sie nicht, ob sie etwas tun sollte. "Hoch", verlangte er und brachte ihren Arm in die schwerste und schwächste Position. "Ich werde dich schlagen. Halt den Stock fest." Er schlug von oben nach unten, Holz krachte gegen Holz, und ihr Stock flog weg. Sie legte sich die Hand auf den Arm. "Taub?" "Ja, Meister Saukendar." Er warf den Stock weg. "Gib mir jetzt die Steine", sagte er und zeigte ihr mit einem, wie sie den Arm bewegen sollte. "Tu das möglichst oft", sagte er. Er kehrte zu seinem Kaninchenfell zurück, zum Gestank und dem Dreck. Sie hätte es für ihn abschaben können; aber sie erledigte den größten Teil der Hausarbeiten, Mahlzeiten wurden gekocht, und es widerstrebte ihm, ihr auch noch die Versorgung Jiros zu übertragen - das Pferd freundete sich zu sehr mit ihr an. Und Taizu vergeudete niemals Zeit; entweder arbeitete sie, oder sie übte, oder er unterrichtete sie; und er hatte keine Mühe, dabei noch einer anderen Beschäftigung nachzugehen. Dann und wann gingen sie auf die Jagd - daher die Kaninchenfelle und das Opossum. Sie hatten Wildschweinfährten entdeckt, und die Aussichten standen gut, daß sie sich Fleisch zum Wursten würden beschaffen können, wenn es kälter wurde. In der Hütte war es noch nie so behaglich gewesen, der Garten gedieh, und zwischen ihnen bestand eine Atmosphäre von Gelassenheit. Obwohl er des Nachts in der Hütte an sie dachte. Obwohl er immer noch Wünsche verspürte. Doch es herrschte eine Art Waffenstillstand, und sie zu beobachten hatte auch seinen Reiz, dabei zuzusehen, wie das Mädchen allmählich innerlich zur Ruhe kam, und dabei wollte er sie nicht stören. Die Zeit arbeitete für ihn. Ein zweites Mal flog der Stock in hohem Bogen davon. Er senkte den Arm und stand einen Moment lang da, dann nahm er ihren Arm und betastete ihre Muskeln, die kräftiger waren als zu Anfang, jedoch nicht so kräftig, wie er angenommen hatte. "Geh Stroh bündeln", sagte er und zeigte ihr die Maße mit den Händen, "eine Matte, so dick und so lang, wie ich es bin, aber nur halb so breit. Und flechte fünf so dicke Seile, um es zusammenzubinden. Trag es auf den Hügel." Sie schaute ihn verwirrt an. er beantwortete jedoch in solchen Dingen keine Fragen. Sie ging zur Scheune hinunter. Er nahm einen Stock aus abgelagertem Holz und brachte ihn mit der Axt in Form. Als sie vom Stall kam, trug sie eine riesige Matte zusammengerollt auf der Schulter, Hemd und Haar waren voller Stroh, und die Knie waren schmutzig. Vor ihm lagen ein Haufen Späne und ein sorgsam bearbeitetes Schwert. Er deutete auf den jungen Baum, der am Waldrand stand, in Sichtweite der Veranda. "Wickle die Matte um den Stamm und binde sie oben, in der Mitte und am Boden fest", sagte er und fuhr fort, den Griff zu glätten. Er umwickelte den Griff mit Leder und Schnur. Und als sie fertig war, ging er zum Baum und nahm die Grundstellung ein, machte drei Ausfallschritte, links, rechts und wieder links, auf die den Stamm umhüllende Matte zu, dann richtete er sich auf und reichte ihr das Schwert. "Grundstellung. Links, rechts, links." Sie griff an, wie er es ihr gesagt hatte. "Noch einmal", sagte er. Und: "Noch einmal." In der Hütte stank es nach kochenden Kräutern und Fett, und Shoka rümpfte die Nase, als er mit einem Stock die Lappen nacheinander aus der Mixtur hob und in eine Schüssel fallen ließ. Taizu, die auf der Matte saß, rümpfte ebenfalls die Nase, als er ihr die Schüssel brachte, doch sie leistete nur halbherzig Widerstand. "Runter mit dem Hemd", sagte er; und als sie ihn voller Widerwillen ansah: "Keine Dummheiten, Mädchen. Runter damit! Dein Körper interessiert mich im Moment nicht. Ich behandle dich genauso, wie du es wolltest, und mit Zimperlichen habe ich keine Geduld." Sie wandte ihm den Rücken zu und zuckte zusammen, als sie sich das lose Hemd über den Kopf zu ziehen versuchte. Nicht einmal das schaffte sie. Er stellte die Schüssel ab, schob ihr das Hemd über die Schultern hoch und drückte ihr Gesicht auf die Matte, dann nahm er einen dampfenden Lappen und legte ihn ihr auf den Rücken. "Ai!" schrie sie auf. "Heiß?" Sie gab einen erstickten Laut von sich. Er nahm Lappen um Lappen heraus, fing bei den Schultern an und packte ihr den schmierigen Stoff auf die Gelenke, um den Hals und um die Hände; und legte erst trockene Lappen und dann noch eine Decke darauf, um die Wärme zu halten. "Ich habe einen Topf von dem Zeug gemacht", sagte er. "Am Morgen wirrst du die Lappen einfach hinein. Am Abend wärmen wir sie dann wieder auf." Er tätschelte ihr den verpackten, gutgepolsterten Rücken. "Und mach dir um deine Tugendhaftigkeit keine Sorgen. Diese Salbe würde sogar einem Ziegenbock den Appetit verschlagen." Späne flogen, die Axtschläge hallten von den flammendroten Bergen wider. Es wurde Zeit, den Holzvorrat für den Winter aufzustocken. Shoka fällte zwei Bäume und zerteilte sie, Jiro schleppte die Stämme aus dem Wald hinaus, und dann war Taizu an der Reihe: "Das ist genausogut wie das Schwert. Gut für die Schultern", hatte Shoka gesagt, als er dem Mädchen die Axt reichte. Sie erhob niemals Einwände, wenn er ihr Arbeiten auftrug. Sie griff die Baumstämme auf die gleiche Weise an, wie sie ihr Training oder den Hügel angegangen war. Das Haar reichte ihr inzwischen bis zu den Schultern. Es glänzte vor Gesundheit. Die Narbe war nur dann noch hell, wenn sie schwitzte; und er beobachtete sie jetzt, da die Sonne auf sie fiel, der Wald herbstlich verfärbt - die gute Nahrung, die Sonne und die gesunde Arbeit hatten ihr Gesicht zum Strahlen gebracht, hatten die mageren Glieder mit Fleisch gepolstert, hatten ihre Bewegungen und ihren anmutigen Gang kraftvoll gemacht. Wenn sie nur lächeln würde, dachte er, wenn er sie nur zum Lachen bringen oder auch nur wütend machen könnte, wenn sie nur ihre scheue Zurückhaltung abgelegt hätte. Statt dessen sagte sie: "Ist gut", ganz gleich, wie unverschämt sein Ansinnen war, solange er nur Distanz zu ihr hielt. Nur einmal hatte sie ihn seltsam angesehen: als er den zweiten Baum gefällt hatte. Doch als er sie nach dem Grund gefragt hatte, lautete die Antwort: "Es ist nichts, Meister Saukendar." Das sah ihr gar nicht ähnlich, war etwas anderes als die übliche Schweigsamkeit; es war vielmehr eine nach außen gekehrte Aufmerksamkeit, die ihn zum Gegenstand hatte. Zum erstenmal seit Wochen fielen ihm seine alten Zweifel wieder ein, und er dachte daran, wie sehr er sich an sie gewöhnt hatte, mit welcher Selbstverständlichkeit er ihr den Rücken zuwandte. Abschätzend. So hatte sie ihn angesehen. Und bei diesem Blick hatte er sie an diesem Tag mehrmals ertappt. Und am Abend, als er sich mit seiner Schüssel Reis auf die Veranda setzte, fragte er: "Was, zum Teufel, guckst du?". "Meister?" "Gerade eben. Was hast du angeguckt?" "Nichts, Meister Saukendar." Er blickte sie finster an und zeigte mit den Eßstäbchen auf sie. "Gib mir keine solche Antwort. _Nichts, Meister Saukendar_. Deine Augen waren offen. Du warst wach. Was, zum Teufel, hast du angeguckt?"Sie biß sich auf die Lippen und schwieg. "Geheimniskrämerei kann ich nicht leiden. Haben wir uns schon über Aufrichtigkeit unterhalten? Du wolltest, daß ich dich im Schwertkampf unterrichte. Laß dir eins gesagt sein: Es gehört mehr dazu, als Holz zu hacken oder Hälse abzusäbeln. Du bist zu ehrenvollem Handeln verpflichtet. Wird allmählich Zeit, daß ich dir das beibringe. Wirst du meine Frage jetzt beantworten?" "Mir ist aufgefallen... Ihr rückt ohne Grund von Eurem Schwerpunkt ab, Meister Saukendar." "Was ist mit meinem Schwerpunkt?" Er starrte sie verblüfft an, und sein erster Gedanke war, sie habe den Verstand verloren, und sein zweiter, sie wolle ihn absichtlich beleidigen. "Als Ihr mit der Axt gearbeitet habt. Ihr wart aus dem Gleichgewicht." "Wär ja auch noch schöner, wenn's anders wär. Hast du so lange gebraucht, um zu bemerken, daß ich hinke?" "Das habe ich nicht gemeint." "Was meinst du dann?" Sie sah ihn an, schluckte hart und sagte: "Als Ihr die Axt benutzt habt. Ihr gebraucht sie ziemlich oft. Ihr dreht dabei Euer Knie und Euren Fuß. Das braucht Ihr nicht zu tun." _Unverschämtes Luder_, lag ihm auf der Zunge; seine Worte zum Thema Aufrichtigkeit blieben ihm jedoch im Halse stecken. Er war wütend. Trotzdem mußte er an seinen steifen Rücken denken, der ihm seit dem vergangenen Jahr Sorgen machte. _Ist es das Alter_? fragte er sich über einem Mundvoll Reis. _Hat sie recht_? "Ich wollte nichts Unrechtes sagen, Meister Saukendar." Er funkelte sie nur an. Sie senkte den Kopf und aß. Doch beim Aufstehen horchte er in sich hinein, und als er in die Hütte ging, horchte er ebenfalls; er versuchte festzustellen, wie weit sich seine Beine streckten und ob sich sein Rücken beugte, und konnte es nicht sagen. Auch am nächsten Tag prüfte er sich, als er nach hinten ging, um selbst ein paar Scheite zu spalten, und verflixt, es stimmte, er krümmte die Zehen auf der lahmen Seite, drehte das Knie nach innen, nicht um dem Bein Schmerzen zu ersparen, sondern in Erinnerung an den Schmerz. Das war die jämmerliche Wahrheit. Er holte mit bewußt gestrecktem Bein Schwung und fühlte keinen Schmerz, sondern die Anspannung der geschwächten Muskeln. Dann veranlaßte ihn eine Bewegung an der vorderen Ecke der Hütte, den Kopf zu heben, und er stellte fest, daß Taizu ihn beobachtete. _Verdammt_, dachte er und wußte ohne jeden Zweifel, daß sie begriffen hatte, warum er das Holz heute morgen selbst hatte hacken wollen. Zumal als sie sich schuldbewußt zurückzog, als hätte sie nicht gewußt, daß er hinter dem Haus war. Jedesmal, wenn er eine gewohnte Tätigkeit ausübte, dachte er daran - wenn er Eimer schleppte, die Verandastufen hinaufstieg, wenn er aufstand oder sich setzte. Er zwang sich, beide Beine gleichmäßig zu belasten, und er wußte, verdammt, er _wußte_ es einfach, daß sie sah, wie er aufrechter ging, und den Grund dafür sehr wohl kannte. Also war man aufrichtig. Man zeigte Charakter. Man schlug die Schweinehirtin nicht, weil sie offen ausgesprochen hatte, was sie sah. Man war ihr sogar noch dankbar. Man wollte auf die Jagd gehen, für drei oder vier Tage, ohne diesen hartnäckigen, berechnenden Blick auf sich zu spüren, ob man nun humpelte oder nicht. Aber irgendwann hätte man zurückkommen müssen, und man würde humpeln oder nicht, man hätte entweder angefangen, etwas gegen diese Angewohnheit zu unternehmen oder nicht, und jedesmal hätte einen das verdammte Mädchen angestarrt und gewußt, daß es recht hatte... Also versuchte man, das Bein nicht zu schonen, das war alles; man weigerte sich sogar an einem kühlen Morgen, wenn die alte Wunde schmerzte, zu humpeln. Man ging zum Stall hinunter, wo einen das Mädchen nicht sehen konnte, und machte die Übungen, die man seit Jahren nicht mehr gemacht hatte, bis das Bein so weh tat, daß man die Zähne zusammenbeißen mußte, bis der Rücken schmerzte und man ernstlich wünschte, es wäre einem eine Ausrede eingefallen, um die heißen Kompressen bei sich selbst anwenden zu können; doch auch dies bewies nur, daß Taizu recht hatte... Und Shoka verzichtete darauf. _*5*_ Da kommt ein Junge", sagte Taizu, die von ihrem Hügellauf noch außer Atem war; kein Grund zur Panik, bloß eine Neuigkeit, denn sie hatten beide auf den Besucher gewartet, seit die Blätter sich rot färbten. "Versteck dich", sagte Shoka; das hatten sie so vereinbart. Im Dorf wird gern geklatscht, hatte er gemeint, als er ihr die Angelegenheit erklärt hatte; und Klatsch wird von den Händlern verbreitet, und es ist viel, viel besser, wenn ich nichts Ungewöhnliches tue. Soll das Dorf ruhig glauben, du wärst weg. Laß sie glauben, ich hätte dich wie die anderen weggeschickt. Und als ihm siedend heiß wieder die Banditen einfielen, dachte er: Sie dürfen um Himmels willen nicht erfahren, daß ich ein Mädchen hier oben habe... Denn über Nacht war ihm klargeworden, daß sie nicht mehr die magere Streunerin war, als die sie auf den Berg gekommen war - das Haar staubig, stumpf und gestutzt, der Körper unter dem verdammten Korb gebeugt. Das Mädchen, das er nun sah, hatte makellose Haut und leuchtende Augen und war besser genährt, ihr schulterlanges Haar glänzte, bei jeder Bewegung schwang sie die Hüften, die ganz anders als die eines Jungen waren. Verdammt! Und mit der gleichen Weitsicht hatte er erkannt, daß es selbst dann Gerede geben würde, wenn man einen der Jungen aus dem Dorf hinaufschickte, die schon einmal auf dem Berg gewesen waren, auch wenn dieser Taizu gar nicht zu Gesicht bekam. Irgend etwas hat sich verändert, würde der Junge gleich nach seiner Rückkehr ins Dorf sagen... Denn in diesem Jahr wirkte die Lichtung tatsächlich gepflegter, so wie der Garten gedieh, mit seinen Stangenbohnen und den in säuberlichen Reihen bepflanzten Kräuterbeeten - er konnte selbst nicht genau sagen, was es war, aber Taizu hatte ein Gespür dafür, den Dingen den rechten Platz zuzuweisen und alles in Ordnung zu halten; sie jätete Unkraut und entfernte selbst die Kletterpflanzen, die auf die Lichtung zu kriechen versuchten, sich um die Zaunpfosten wanden und den Weg bis zum Frühjahr überwachsen hätten; sie brachte Haken an und hängte alle möglichen Sachen auf; sie verwahrte die Hacke und den Rechen wie Waffen; sie hängte Zwiebeln in Ketten, Kräuter und Wurzeln in Bündeln auf. Nicht mehr wie früher, dachte er. Auf dem Berg war nichts mehr wie früher. Und er konnte nicht mehr begreifen, wie er daran hatte denken können, das Mädchen zu den Nonnen zu bringen. Er stellte sich vor, daß sie gerade um die Ecke der Hütte bog, um ihren Beobachtungsposten auf der Hügelkuppe einzunehmen, von wo aus sie den Tauschhandel würde beobachten können. So war Taizu eben. Und er nahm die gebündelten Felle, eine ungewöhnlich gute Ausbeute diesmal, vom Dachbalken und brachte sie hinaus auf die Veranda, während der Junge mit seinem Sack Reis und anderen Gütern näher gestapft kam. "Meister Saukendar", sagte der Junge - Shoka kannte ihn, doch plötzlich kam ihm in den Sinn, daß er sich nie die Mühe gemacht hatte, den Namen des Jungen zu behalten, eines stämmigen, breitgesichtigen Burschen, der sich den Schweiß von der Stirn abwischte und das Gepäck abstellte. "Junge." Shoka nickte höflich, als sich der Knabe verneigte; und überlegte unwillkürlich, zu welcher Familie er wohl gehörte, wer er war, warum gerade er ihm die letzten Jahre über die Geschenke des Dorfs überbracht hatte. Doch es schien zu spät, solche Fragen zu stellen, und Shoka wußte auch nicht, warum es auf einmal wichtig sein sollte oder warum ihm Fragen in den Sinn kamen, an die er noch nie gedacht hatte... ...jedenfalls seit damals nicht mehr, als Saukendar, die rechte Hand des Kaisers, über alles am Hof Bescheid gewußt und sich aufmerksam um alle möglichen Einzelheiten gekümmert hatte; aber Shoka, der Einsiedler, hatte den Hof und alles, was damit zusammenhing, aufgegeben. Darum behielt er seine Fragen und seine Neugier für sich. Er hätte den Jungen nur ermutigt, seinerseits Fragen zu stellen, und das wollte er nicht. Fragen nach der Welt führten zu Antworten über die Welt, und er hatte vor neun Jahren aufgehört, etwas erfahren zu wollen. Und so holte er seine Felle, schichtete sie auf der Veranda zu einem eindrucksvollen Stapel auf und sagte bescheiden: "Ich hätte gern ein paar Bündel Stroh, wenn es möglich ist. Ich muß etwas ausbessern." Das Dorf handelte nie mit ihm. Dieses Jahr bekam es mehr, und zwar in Form von Fellen, weil er mehr Zeit zum Jagen gehabt hatte, und nach den ausgiebigen Regenfälle gab es viele Kaninchen und Füchse; wenn er dieses Jahr ein wenig Stroh erbat, dann sollte das für das Dorf trotz der guten Ernte keine Belastung bedeuten. (Laßt Euch bloß nicht einreden, die Ernte sei schlecht gewesen, hatte Taizu grimmig verlangt. Sie ist gut dieses Jahr, anders kann es gar nicht sein.) "Ja, Herr", sagte der Junge. "Ich werd's ausrichten, Herr. Ich bring's her. Morgen, wenn Ihr wollt." "Braver Junge." Soviel zum harten Feilschen. Er war dem Jungen dankbar; und er sah, wie er errötete, wie seine Augen kurz Shokas Blick suchten und sich scheu wieder senkten, als Shoka das Paket auspackte, das der Junge mitgebracht hatte. Da gab es Reis, da gab es Salz, da gab es Würste, wundervolle Würste, da gab es kleine Tonkrüge mit Eingemachtem und andere Genüsse, welche die Dorfweiber liebevoll zubereitet hatten. Er erinnerte sich an andere solche Geschenke, an kleine Krüge, die bis zum Winter in den Regalen standen, bis er sich einen solchen Luxus gestattete. _Diesem_ Krug zum Beispiel sah er an, daß er eingemachten Ingwer enthielt; seit Jahren bekam er ihn im gleichen kleinen Krug, der mit Wachs versiegelt war; und er war ebenso gut wie der, welcher die Tafel des Kaisers geziert hatte. Seit Jahren schickte ihm irgendeine Frau diesen Ingwer, und er hatte die Geschenke noch nie richtig zur Kenntnis genommen, das Obst und den Ingwer, die kleinen Töpfe mit Soßen und Gewürzen, die Abwechslung in die kargen Mahlzeiten brachten. "Das ist sehr freundlich", sagte er, unerklärlicherweise gerührt. "Das ist wundervoll. Sag ihnen das." "Ja, Herr", antwortete der Junge. _Ach, Junge_, dachte er, in das junge Gesicht starrend, _ich bin kein Held, ich habe das alles nicht verdient, merkst du das nicht_? Aber um das zu hören, war der Junge nicht den Berg heraufgeklettert, und so schuldete er ihm jedenfalls nicht die Wahrheit. "Meine Mutter schickt Euch ein Hemd", sagte der Junge und faltete es auseinander. "Das ist sehr schön", sagte er, die Stickereien betastend. "Sag ihr, daß ich ihr danke." Und als er den Reis in der Hand wog und daran dachte, daß nun zwei Mäuler zu stopfen waren, fügte er leicht verlegen hinzu: "Ich frage mich... Ich könnte wohl noch etwas mehr Reis gebrauchen..." "Ich werde ihn Euch bringen, Meister Saukendar." "Das wäre nett." Diesmal hatte er sechs zusätzliche Fuchsfelle und etliche Kaninchen- und Eichhörnchenfelle für die Dörfler. Er fand das nicht unangemessen. Taizu hatte gemeint, daß es nicht unangemessen sei. Und als der Junge ging, klopfte er dem Jungen wie einem Waffenbruder auf die Schulter, was dieser gut aufnahm. Er hatte nie verstanden, warum ihn das Dorf verehrte. Er hatte nie danach gefragt. Es erschreckte ihn. Und er erinnerte sich daran, daß Bauern versucht hatten, ihn gefangenzunehmen, und daß sich zahlreiche Dörfler seinen Jägern in Chiyaden angeschlossen hatten. Wegen des Kopfgeldes, hatte er gedacht. Aber nicht diese Leute. Taizu war nicht anders als irgendeines der Bauernmädchen, die er gesehen hatte. Und gleichzeitig war sie völlig anders. (Ein geschmeidiger Körper, der einen Stock umherwirbelte, ein Aufblitzen nackter Beine, eine nackte schlanke Taille und ein fliegendes weißes Hemd...) Er hatte das Landvolk nie verstanden. Er hatte die Mentalität der Menschen verstanden, die das Land bestellten und Schweine hielten und die Nahrungsmittel herstellten, die auf den Tischen und in den Getreidespeichern bei Hofe auftauchten. Er kannte ihre Bedeutung für den Krieg. Er kannte die Bedeutung der Versorgung, und er wußte, wie man bei solchen Leuten Truppen aushob, wieviel Kampfkraft eine Gruppe speerbewaffneter Bauern beisteuern konnte und was sie im Kampf mit dem Bogen, den sie führen durften, wert waren und wozu die Gesetze (wenn es Gesetze gegeben hatte) einen Offizier bei den Dörflern berechtigten. Aber er hatte keine Ahnung, warum die Leute unten im Dorf Mon so anhänglich waren, außer daß sie vielleicht mehr in ihm sahen, als er tatsächlich war, und ihm mehr zutrauten, als in seiner Macht stand. Und das machte ihn wütend. Nein, _es_ verletzte sein Ehrgefühl, denn im Grunde seines Herzens hatte er gewußt, was die ganzen Jahre über geschehen war, und er hatte sich nie Gedanken darüber gemacht oder sich gefragt, was der Preis dafür wäre. Und so setzte er sich hin und starrte auf den sich entfernenden Rücken des Jungen, als dieser über den Hügel zur Straße hinunterging; und er bewegte sich nicht, als Taizu wieder an der Veranda auftauchte. "Was hat er gesagt, Meister?" "Nichts", meinte Shoka. "Nichts hat er gesagt. Außer daß er Stroh und noch etwas Reis bringen wird. Dann gehen uns die Vorräte nicht aus. Und wir können das Dach flicken." Taizu blickte ihn merkwürdig an und ging vor der Veranda in die Hocke; er jedoch stand auf und meinte, er müsse arbeiten. Ohne zu wissen, warum er dies tat, nahm er den Abfalleimer und ging in den Wald und weiter zur Kuppe des Hügels, wo die kleinere Wiese und das Dickicht lagen, wo sie die Kürbis- und Bohnenreste hinbrachten. Im nächsten Frühjahr würde es dort um so mehr Kaninchen geben. Selbst ein Mann vom Hof benötigte keine Schweinehirtin, um das zu wissen oder was mit den Kaninchen geschah, die von ihnen abhängig wurden. Und am nächsten Tag stieg er den Hügel hinunter bis zur verabredeten Stelle, einen schmalen Weg, auf dem Jiro ihm nichts genutzt hätte; aber Taizu begleitete ihn. Da lag ein Stapel Strohballen, den die Dörfler auf dem letzten Stück ebener Erde liegengelassen hatten; und da war ein kleiner Steinhaufen, der den Korb Reis schützte. Taizu mußte den Reiskorb tragen; er nahm einen der riesigen Strohballen und ließ sie vorgehen, denn sein lahmes Bein machte ihm bei einem solchen Aufstieg zu schaffen, und er wollte nicht, daß sie hinter ihm herging, auf seine unbeholfenen Gleichgewichtsverlagerungen wartete und ihm sagte: _Ihr bewegt Euch nicht aus dem Schwerpunkt heraus, Meister Saukendar_. Er beschloß, die Last als Folge seiner langwierigen Übungen zur Verbesserung des Gleichgewichts nicht so zu tragen: Er verlagerte die Belastung der Muskeln, bis es weh tat, und er schwitzte, war außer Atem und spürte das Ziehen der alten Narbe, als er die erste Ladung am äußersten Rand der Lichtung fallen ließ. "Du kannst das bis zur Hütte tragen", sagte er, drehte sich um und ging wieder zurück. So blieb ihm Zeit zum Verschnaufen, während sie den Korb zur Hütte bringen und dann wieder herunterkommen mußte, um das Stroh hochzuschleppen. Nun konnte er den Abstieg langsamer angehen und, von keiner Last beschwert, nach Herzenslust humpeln und bei jedem schmerzenden Schritt fluchen. Er war ein Narr. Der Junge hätte ihm helfen und das verdammte Stroh bis zum Stall tragen können. Der Junge hätte das bestimmt getan. Der Junge wäre hocherfreut gewesen, dem großen Meister Saukendar zu helfen, der zu verkrüppelt war, um den verdammten Berg hochzuklettern. Er verfluchte die Kopfgeldjäger, die ihm das angetan hatten. Er sah die Dunkelheit, das Handgemenge vor sich, erinnerte sich an den Hieb, als wäre es erst gestern gewesen, und, schlimmer noch, er war selbst schuld daran gewesen, weil er zugelassen hatte, daß die Wut sein Urteilsvermögen getrübt hatte, und weil er einen Mann von der Seite an sich hatte herankommen lassen. Ein einziger Fehler im Leben. Ein Fehler deshalb, weil es ihm eher ums Töten als ums Überleben gegangen war, weil er an Meiya und Heisu gedacht und geglaubt hatte, er werde ebenfalls bald sterben und seine Schmerzen los sein. Ein Fehler deshalb, weil er ein Mensch war und nicht das große Vorbild, das die Legenden aus ihm gemacht hatten. Und der _Mensch_ humpelte für den Rest seines Lebens und hatte furchtbare Schmerzen und bekam keine Luft, weil er den Hinterhalt überlebt hatte, weil er es bis hinter die Reichsgrenze geschafft hatte, weil er sich zum Leben entschlossen hatte und weil er die Dinge, die ihn kräftigen hätten sollen, nicht mehr tun konnte. Ein wenig Training half. Es kurierte jedoch weder sein Hinken noch seine Schwäche. Nichts und niemand konnte Saukendar wieder zu dem Menschen machen, der er einmal gewesen war. Nichts konnte die Zeit zurückdrehen, die Toten wieder zum Leben erwecken oder den Schmerz verschwinden lassen. Und Taizu, zur Hölle mit ihr, überholte ihn, ehe er unten angekommen war, kletterte wie eine Ziege über den wurzelüberwachsenen Pfad, munter wie ein Reh. Als sie das mannsgroße Bündel schulterte, grinste sie ihn an. _Das ist zuviel für dich_, wollte er sagen, nicht wegen des Gewichts, sondern weil sich das Bündel an überhängenden Ästen verfangen und sie auf dem schmalen Weg aus dem Gleichgewicht bringen würde. So war es ihm jedenfalls ergangen. Als er das nächste Bündel schulterte, spürte er Stiche im Bein, und ihm wurde übel. _Verdammter Dickkopf. Soll sie selbst sehen. Tut ihr gut_. Doch sie machte sich vor ihm auf den Weg und vergrößerte den Abstand, so daß er sich abmühte, mit ihr Schritt zu halten, kämpfte und schwitzte, bis er oben angekommen war und die Luft auf dem Hügel nach Metall schmeckte und die Lichtung hinter einem Muster aus Schweiß und Schmerz verschwamm. Was er sich nicht anmerken ließ. Er warf sein Bündel kurz nach ihr ab und sagte mürrisch: "Das scheint dir Spaß zu machen. Du kannst hinuntergehen und den Rest heraufbringen." Er hob die Ballen an den Schnüren hoch, einen in jeder Hand, und trug sie, ohne zu hinken, zum Stall, während Hütte, Bäume und Stall verschwammen, als blicke er durch Wasser. Er ließ die Last gleich hinter dem Eingang fallen, wo sie ihn nicht sehen konnte, setzte sich nieder und hielt sein Bein, ließ es einfach in Ruhe schmerzen, bis Jiro neugierig hereinkam und ihm mit dem Maul gegen die Schulter stieß. Er tätschelte die dargebotene Wange und rappelte sich auf. Er wünschte, sie hätten ihn getötet, das war es. Das hatte er noch nie gedacht, aber jetzt, da ihm klarwurde, daß seine Jugend vorbei war und daß seine Zukunft hier lag und mit jedem Jahr weniger wurde, wünschte er es. So weit hatte ihn das Mädchen gebracht, daß er wieder die verstrichene Zeit zählte, die Jahreszeiten, daß er die Veränderungen wahrnahm, welche die Zeit in ihm bewirkt hatte und noch bewirkte, bis er dieses Jahr gescheitert war, als er es mit einem sechzehnjährigen Mädchen hatte aufnehmen wollen. Er warf die Strohballen in das abgetrennte Ende des Stalls, außerhalb von Jiros Reichweite, dann kehrte er zum Pfad zurück. Als Taizu ihm mit einem Ballen entgegenkam, lag ein Teil des Abstiegs bereits hinter ihm. Auch _sie_ schwitzte nun und war außer Atem, und so kam er sich halbwegs ritterlich vor, als er sagte: "Das nehme ich. Wie viele sind es noch?" "Noch zwei." "Geh wieder hinunter", befahl er. Er schulterte den Packen, warf ihn am Rand der Lichtung ab und ging wieder über den Pfad hinunter, bis er ihr abermals begegnete, diesmal jedoch viel weiter unten. Als sie sich begegneten, hielt sie an. Sie reichte ihm ihren Ballen und wollte den letzten holen. "Nein", sagte er, sich mit der Last halb umwendend, "das ist zuviel für ein Mädchen. Steig hinauf zum Hügel." "Das schaffe ich schon", sagte sie, und mit schweiß-überströmtem Gesicht und nach Luft ringend fand sie ihr Gleichgewicht auf dem schmalen Pfad wieder und stürmte den Weg zurück, den sie gekommen war. Er starrte ihr nach, schweratmend, erschöpft und mit einem bitteren Kupfergeschmack im Mund. Er sah ihr lange nach, dann schulterte er den Ballen und schleppte sich den Pfad hinauf, ständig mit den überhängenden Ästen kämpfend, bis er vor dem letzten Hang stand, wo der Bewuchs weniger stark war. Er bekam wieder Luft, und nun kam er eigentlich recht gut voran, abgesehen von den Schmerzen im Bein. Er verlagerte die Schnüre auf den Schultern, holte tief Luft und nahm die letzte Steigung im Laufschritt. Er schaffte es bis zur Spitze, fiel auf ein Knie, als sich der Ballen an einem Ast verfing, und hatte einen Moment lang, blind vor Schmerz, nicht die Kraft, sich von dem verdammten Ding zu befreien. Mit einem heftigen Stoß richtete er sich wieder auf. Irgend etwas riß im großen Muskel über dem Knie, und der Ballen stieß mitsamt der Schulter gegen einen Baum, sonst wäre er vor lauter Schmerzen abermals gestürzt. Speichel floß ihm aus dem Mund; die Sicht verschwamm; als er zu sich kam, stand er immer noch an den Baum gelehnt, und die Schnüre schnitten ihm in die Schultern. Er wußte nicht, wie er weitergehen sollte, ohne hinzufallen; aber er wußte, daß das Mädchen bald den Pfad heraufkommen würde, er wollte verdammt sein, wenn er sich so vor ihr sehen ließ. Und so fand er sein Gleichgewicht wieder, stieß sich vom Baum ab und kletterte den Rest des Wegs, indem er sich mit den Händen von Ast zu Ast zog, bis er die ebene Fläche der Lichtung erreicht hatte und sich auf zitternden Beinen der fernen Hütte gegenübersah, nicht sicher, ob das rechte Knie sein Gewicht auch nur noch einen Schritt weiter tragen würde. Es ging, wenn auch mühsam. Er ging - erkannte durch seinen Schmerz hindurch, daß der Stall näher lag und er das Stroh dorthin bringen könnte, aber er wollte auf der Veranda sitzen, das war alles, woran er denken mochte, und unmittelbar vor ihm lag eine Strecke, die er bewältigen sollte; wenn er sich auf dem Bein umgedreht hätte, wäre er womöglich in den Dreck gefallen, und er wollte den Ballen nicht abwerfen und zugeben, daß er nicht mehr konnte. Irgendwie erreichte er die Veranda. Er warf den Ballen ab. Er setzte sich auf den Rand der Veranda und spürte die Kälte des Windes auf den schweißnassen Kleidern. Das Mädchen würde den Hügel heraufkommen und ihn hilflos dasitzen sehen; im Moment konnte er nicht einmal die Treppe hochsteigen, um sich in der Hütte auf seine Matte zu legen; und er hatte keine Lust, die Stufen hochzukriechen und sich dabei erwischen zu lassen. Morgen, dachte er, morgen würde das ganze Bein steif werden. Morgen wäre er _tatsächlich_ ein Krüppel; und er sann über die Erniedrigung seiner Lage nach und verspürte den Wunsch, in den Wald zu gehen, sollte das Mädchen sich nur Sorgen machen, sich einfach zu verstecken, bis die Steifheit vorbei war, und dann zu behaupten, er sei jagen gewesen... _Geht dich nichts an, Mädchen; ich jage, wann mir danach zumute ist_... Welch närrischer Gedanke. Ein Narr wäre ich zu glauben, ich könnte die Wahrheit vor dir verbergen. _Was habt Ihr, Meister Saukendar_? Darum blieb er sitzen und harrte der Dinge, die da kämen; und als er sie über die Böschung auf die Lichtung stapfen sah, zuerst einen Ballen Stroh und dann eine taumelnde kleine Gestalt in einem weißen Hemd, wartete er, rieb sein schmerzendes Bein, während sie näher kam, und sagte, als sie ihren Ballen abwarf, schließlich in sachlichem Ton: "Ich habe mir einen Muskel gezerrt. Mach die Lappen warm, tust du das?" Sie sah ihn daraufhin nicht so an, wie er es erwartet hatte, belustigt oder spöttisch, bloß ein wenig besorgt, mit einer Falte zwischen den Brauen. Sie war bleich und schwitzte. Das Haar klebte ihr an Stirn und Wangen. Sie sah aus, als hätte sie sich am liebsten an Ort und Stelle hingesetzt. Aber sie sagte: "Jawohl, Meister Saukendar", und ging in die Hütte. Verdammt, er wollte auch ihr Mitleid oder ihr Mitgefühl nicht, und bestimmt keine Vorträge nach Weiberart. Er zog sich am Treppenpfosten hoch und humpelte die Stufen zur Veranda hinauf. Doch dann verschwamm die Sicht vor Schmerzen, und der kalte Schweiß brach ihm aus, so daß er einfach dort stehenblieb und zu atmen versuchte, bis sie wieder herauskam und ihn in diesem Zustand antraf. Sie starrte ihn an, eine verschwommene Gestalt in seinem Gesichtsfeld. "Die alte Wunde ist wieder aufgebrochen", sagte er. "Das ist mir schon einmal passiert." Neun Jahre lang nicht, dachte er; jetzt könnte es geschehen, daß er wegen seiner Dickköpfigkeit ein für allemal zum Krüppel geworden war. Doch das sagte er nicht. "Ich werde auch etwas Wasser warm machen", sagte sie und ging wieder hinein. "Ein Bad wird Euch guttun." "Ich brauche deine Hilfe nicht, Mädchen. Ich kann mich selbst um die verdammten Lappen kümmern. Laß mich einfach allein!" Kein Laut drang aus der Hütte. Sie kam auch nicht heraus. "Hast du gehört, Mädchen?" Kein Laut. Dieses Spiel hatten sie schon einmal gespielt. Und sie hatte gewonnen. Es machte ihn wütend. Er hatte sich zum Krüppel gemacht, weil er ihren Rat hatte beherzigen wollen, und in dem Moment, da das kleine Luder ihn hilflos sah, mißachtete es auch schon seine Befehle und tat, wonach ihm gerade der Sinn stand. "Hör mal, Mädchen, wenn du möchtest, daß ich dich unterrichte, dann wirst du _verdammt noch mal_ tun, was ich dir sage, und mich in Ruhe lassen!" Sie erschien im Eingang. "Ist gut, Meister Saukendar. Wenn Ihr darauf besteht. Aber die Lappen werden warm. Soll ich sie herausbringen oder neben Eure Matte legen?" "Neben die verdammte Matte", murmelte er, ließ den Pfosten wohlüberlegt los und humpelte über die Veranda, was er gerade noch schaffte. Sie wollte ihm helfen; er schob sie beiseite, hinkte, eine Hand an der Wand, zur Schlafmatte und ließ sich auf sein Hinterteil plumpsen - anders konnte er sich nicht mehr setzen. Der Schmerz, der vom Oberschenkel und vom Knie ausstrahlte, raubte ihm beinahe die Sinne; und er dachte daran, dem Mädchen den Hals zu brechen. Sie aber brachte ihm die fettigen Lappen, und er raffte sich dazu auf, seine Stiefel aufzuschnüren und abzustreifen und sich die lose Bundhose übers Knie hochzuziehen; dann hockte sie sich auf einmal hin und legte ihm eine Schilfmatte unter das Bein, um das Öl aus den Lappen aufzufangen. Sie fuhrwerkte mit den dampfenden Lappen herum, ordnete sie neu, weil sie mit dem Ergebnis nicht zufrieden war, und stopfte schließlich ein Deckenpolster zwischen seinen Rücken und die Wand, damit er eine Weile ruhig dasitzen und zwischen den mehr oder weniger heftigen Schmerzschüben wieder zu Atem kommen konnte. Er war schmutzig und stank nach getrocknetem Schweiß und Schmerz, seine Kleidung war überall von Strohhalmen durchbohrt, und er wollte in diesem Moment einfach die Hütte für sich und sein Elend allein haben, vielleicht noch einen Krug Wasser neben sich und ein paar alte Fladenbrote oder was immer da war, für die Zeit, die er brauchte, um darüber wegzukommen. Er mußte sich jedoch eingestehen, daß er dennoch froh war, daß sie bei ihm war und daß er sich nicht umherzuschleppen brauchte, um sich das Notwendige zu beschaffen, daß die Lappen jedesmal wieder erwärmt würden, wenn sie abkühlten, und daß er mit Nahrung und Jiro mit Wasser versorgt würde. Als er das letzte Mal krank gewesen war... ...gütiger Himmel, er hatte keine Ahnung, wie er das Wasser damals auf den Hügel geschafft hatte; er konnte sich an diese Tage kaum noch erinnern, nur noch daran, daß er mit dem Gesicht im Dreck zu sich gekommen war, neben dem umgerissenen Zaun unten am Stall, den er eingerissen hatte, damit Jiro sich frei umherbewegen und sich aus dem Regenfaß oder dem Bach mit Wasser versorgen... ...und weglaufen konnte, wenn sein Herr dort sterben sollte. Er schloß die Augen und ruhte sich aus, während der Schmerz kam und ging. Beim nächstenmal, als er Taizu neben sich bemerkte, hatte sie eine Schüssel warmes Wasser und saubere Lappen gebracht, um ihm das Gesicht zu waschen, doch er schickte sie weg und verrichtete es selbst, zog das Hemd aus und wusch zumindest die Halme ab, die ihn zum Wahnsinn trieben. Sie wechselte die heißen Kompressen auf seinem Bein und wärmte die alten Lappen wieder auf. Als zum zweitenmal Wärme eingesickert war, fühlte er sich schon erheblich besser. Er lehnte sich an das Deckenpolster und döste vor sich hin, bis er kochenden Reis roch, die Augen öffnete und Taizu in einem sauberen Hemd Essen zubereiten sah. Er versuchte das Bein zu bewegen. Es mißlang. Doch er versuchte es immer wieder, denn er hatte sonst nichts zu tun, keine Pflichten lasteten auf ihm, für die er seine Kräfte hätte aufsparen müssen. Taizu tränkte das Pferd; Taizu kochte ihm sein Essen; Taizu wärmte die Kompressen auf, damit er sich auskurieren konnte und damit das Bein nicht steif wurde. Er biß die Zähne zusammen und machte am nächsten Tag weiter, setzte sich auf die Veranda und bewegte das Bein mit hartnäckiger Geduld und dachte... Während Taizu Wasser vom Bach holte... ...welch ein Glück er hatte, daß es nicht schlimmer war, vor allem aber daß er nicht allein war, denn er wußte, daß er umhergehumpelt wäre und das Bein nach Möglichkeit geschont hätte, es geschont hätte, so wie er es vorher geschont hatte... _Ihr seid aus dem Gleichgewicht, geraten Meister Saukendar_. Das hatte er schon einmal getan, weil ihm keine andere Wahl geblieben war. Er hatte umhergehen, schleppen und arbeiten müssen, da er nicht verhungern wollte; und Jiros Wunde hatte ebenfalls versorgt werden müssen. Diesen Fehler wollte er nicht noch einmal begehen. Und so lag er da, während ihn eine Frau bediente, lag auf auf der Veranda auf dem Rücken und zog das Bein an, immer etwas mehr, soweit es ihm ohne Schmerzen möglich war. Und dann, von Schmerzen gepeinigt, ungeduldig und neugierig, wie weit es sich biegen ließ, schlang er die Arme um das Knie und zog es an sich, fest und immer fester, bis er einen weiteren Schmerz verspürte, zusätzlich zu dem Schmerz, der ihn fast blind machte. Aber es bog sich, weiter, als er gedacht hatte. Dann hatte er den Eindruck, daß es sich noch ein wenig weiter biegen lasse. Die Zerrung, die er sich vor Jahren zugezogen hatte, war schlecht verheilt. Er sollte das verdammte Ding zerreißen. Dem Bein ein bißchen mehr Spielraum geben. Damit es sich endlich so bewegte, wie es sollte. Und er zog stärker und stärker, während ihm immer wieder die Sicht verschwamm. Er hatte einmal gesehen, wie ein Fuchs in der Falle das eigene Bein benagte, um sich zu befreien. Er war sich nicht sicher gewesen, ob es Dummheit gewesen war oder Mut. Er wußte es immer noch nicht. Er arbeitete, bis er schweißnaß war, dann wickelte er sich in die Decke und lag reglos da und spielte den Invaliden, wenn Taizu in der Nähe war; war sie weggegangen, nahm er die Übungen wieder auf und machte an diesem Tag einen kleinen Fortschritt, einen winzigen Fortschritt, aber immerhin: Den hatte er erreicht. Er machte sich einen Spazierstock. Sobald das Bein steif verbunden war, war er recht beweglich und konnte die Veranda hinauf- und hinuntersteigen, zur Latrine gehen, sich am Regenfaß waschen, sich in der Hütte umherbewegen, wenn es einmal nötig war. Ansonsten ließ er das Bein unverbunden und lag in der Hütte oder auf der Veranda und bewegte es, bis ihm die Tränen aus den Augenwinkeln rannen -während ein närrisches Mädchen, das von den ungerechten, von Priestern bestochenen Göttern mit vollkommenem Gleichgewicht und vollkommener Gesundheit beschenkt worden war, draußen auf dem Hof stand und auf einen Baum eindrosch. "Meint Ihr nicht, Ihr solltet allmählich wieder aufstehen, Meister Saukendar?" tadelte sie ihn am vierten Tag. "Meint Ihr nicht, Ihr solltet wieder gehen? Ihr habt mir erzählt..." "Ich arbeite daran", sagte er kurzangebunden. Doch am nächsten Tag - ihre Vorschläge kamen immer so, daß es aussah, als befolge er ihren Rat, während er tat, was er sowieso getan hätte, und das machte ihn wütend - begann er mit der Bandage umherzugehen; und bückte sich langsam, mit dem Fuß des lahmen Beins auf der ersten Treppenstufe und dem gesunden auf der Erde, wieder und wieder, ohne sich darum zu scheren, daß Taizu ihm dabei zusah, denn entweder hatte er sich an den Schmerz gewöhnt oder dieser hatte nachgelassen, das konnte er nicht genau sagen. Das Knie gerade über dem Fuß, während er das Bein abknickte, so sollte es sein. Wenn das verdammte Knie steif wurde, dann sollte das in der schmerzhaften Richtung geschehen, nicht dort, wo es nicht weh tat; sollte es ruhig steif werden, so daß er nicht mehr die Seitwärtsbewegung ausführen konnte, welche die Sehnen dehnte und ihn aus dem Gleichgewicht brachte. Wenn es diesmal heilte, dann nicht wie damals auf dem Pferderücken, mit verdrehtem Bein; oder als er die Axt geschwungen hatte, um sich den ersten Unterschlupf auf dem Berg zu bauen; oder zusammengekrümmt vor Schmerz und Kälte, weil er zur Regenzeit auf den Berg gekommen war, unter dem provisorischen Schutzdach saß und sich vor dem Erfrieren zu retten versuchte, bis er wieder umherhumpeln und seine Hütte ein wenig stabil bauen konnte. Dem Dorf hatte er es zu verdanken, daß er während der ersten Tage nicht gestorben war, den Dörflern, die ihm die Vorräte in Sichtweite seines Unterschlupfes gebracht hatten; und er hatte ihnen für ihre Mühen nicht einmal ein Wort des Dankes geschenkt. Er hatte gewartet, bis die Jungen wieder verschwunden waren, war dann aus seinem Schuppen hervorgekrochen und hatte sie nach und nach ins Trockene geschleppt, so benommen von Schmerzen und Fieber, daß er sich an diese Zeit kaum noch erinnern konnte. Vielleicht hatten die Einwohner von Mon, als sie ihm beim nächsten Mal Nahrung brachten, nur daran erkannt, daß er lebte, daß die alten Vorräte verschwunden waren und die Hütte größer geworden war. Mindestens dreimal hatten sie ihn besucht und ihre Gaben am Rand der Lichtung niedergelegt, ehe er herausgekommen war und ihnen gedankt hatte. Verdammt, damals war er verrückt gewesen. Sie hatten ihn angestarrt, als wäre er ein Heiliger, und dabei war er doch nur ein Kaninchen, damit zufrieden, sich einzubuddeln und an den Gaben zu knabbern, die sie ihm vorwarfen, und so lange zu überleben, bis die Jäger kamen. Selbst Ghita hatte sich schließlich gesagt, daß er die Mühe nicht wert war. Die Mühe und die Menschenleben und die Berühmtheit nicht, die er erlangt hätte, wenn sie weiterhin versucht hätten, ihn zu töten. Vielleicht hatte Ghita gewußt, daß er ihm sogar noch einen Gefallen getan hätte, wenn er ihm Mörder nachgeschickt hätte - daß er ihn damit aufgescheucht hätte. Vielleicht hätte er länger durchgehalten, wenn er wirkliche Feinde gehabt hätte, anstatt sich nur vor ihnen zu fürchten. Er hatte vorher ein paar von Ghitas Männer erledigt. Aber seine Feinde hätten ihn ergreifen können; wenn Ghita sich wirklich die Mühe gemacht hätte, mehr als nur ein paar Mörder zu schicken, dann hätte er ihn haben können. Und das Dorf hätte einen hohen Preis dafür bezahlen müssen, daß es ihm geholfen hatte; vielleicht würde Fürst Reidi ihn bezahlen - nur deshalb, weil er ihn an seiner Grenze duldete. Verdammt. Geduldig beugte er sich Mal um Mal, das Knie exakt ausgerichtet, diesmal mit dem Fuß auf der zweiten Treppenstufe. Er bandagierte das Bein, wenn er umherging; und er überwand seinen Stolz und benutzte einen Stock, wie ein alter Mann. Taizu sagte kein Wort mehr. Er bemerkte nur einmal, daß sie ihn ansah, und zwar als er den Fuß auf die zweite Stufe stellte und anschließend das Bein bandagierte und das Knie schiente. Sie stand einfach nur da, starrte ihn an und sagte kein einziges Wort. Auch dann nicht, als er ein größeres Risiko einging und sich so tief hinabbeugte, daß er den Stock brauchte, um sich wieder aufzurichten. Aber er schaffte es. Es war mehr, als er in neun Jahren erreicht hatte. Es war ihm entsetzlich peinlich, daß er einfache Übungen machte und einen Stock zu Hilfe nehmen mußte, während das Mädchen wie ein Reh den Hügel hinauflief, während sie auf die Dachsparren kletterte und aufs Dach und die undichten Stellen ausbesserte, während sie seine und ihre Arbeit verrichtete und sich um ihn kümmerte und nach wie vor ihre Schläge übte, Tag für Tag, wie eine verrückte, halsstarrige Närrin, und ihn täglich anklagte, ohne es zu wollen, und ihn daran erinnerte, daß ihn, allem Schmerz und aller Anstrengung zum Trotz, ein Bauernmädchen übertraf. Verdammt wollte er sein. Er fühlte sich ihr gegenüber zu einem gewissen Respekt genötigt, ohne den keine Verständigung mit ihr möglich gewesen wäre, ohne den es jedem Argument, das er gegen ihre verrückten Ideen anführen mochte, an moralischer Überzeugungskraft gemangelt hätte. Verdammt wollte er sein, wenn er sie in dieser Zwangslage bitten würde, bei ihm zu bleiben. Verdammt wollte er sein, wenn er eine Frau bitten würde, zu seinen Bedingungen mit ihm zu leben, solange er sie nicht als Mann, dem es freistand zu wählen, bitten konnte. Und so sehr ihr Anblick seinen Geist auch verlockte, der Körper schmerzte zu sehr, als daß die Versuchung etwas anderes gewesen wäre als bloße Theorie. _*6*_ Shoka beugte sich tief hinab und richtete sich langsam wieder auf, diesmal nicht mit dem Stock, sondern mit dem Schwert in der Hand. Es tat höllisch weh. Er würde erst dann wissen, ob der Schmerz bestehen blieb, wenn er wieder aktiv würde und sich die Muskeln erwärmten. Ein Mann konnte damit leben, wenn er den Körper gerade hielt und ihm die Jugend zurückgab, die er endgültig verloren geglaubt hatte. Er bemerkte, daß Taizu der Bewegung mit den Augen folgte, sah mehr als nur Respekt darin, nämlich eine gewisse Besorgnis, während sie ihr eigenes schlichtes Schwert in Händen hielt und wartete. "Grundstellung", sagte er. Sie hob das Schwert. Sie war jetzt kein Novize mehr. Die Grundlagen waren ihr vertraut. Er sah, daß sie die korrekte Haltung einnahm, und spürte, wie sich nun, da er einem Gegner gegenüberstand, der ihn forderte, seine Muskeln strafften. Auch wenn sie nur eine Frau war, sie strengte sich an, bei den Göttern, sie hatte durch dreimal erneuerte Strohmatten hindurch auf den Baum eingedroschen - _zack - zack - zack _-, bis ihn das Geräusch in den Schlaf hinein verfolgt hatte; und selbst in ausgestrecktem Zustand hatte er Kraft in ihrem Arm gespürt. "Laß es langsam angehen", sagte er und begann die Übungen in gemächlichem Tempo, das ebenso den Gleichgewichtssinn wie die Ausdauer auf die Probe stellte. Es war zwecklos, sich zur Korrektur eines Fehlers auf seinen Schwung oder seine Kraft zu verlassen, wenn man die Bewegungen so leicht und schwebend vollzog, wie ein Blatt zu Boden fällt. Entweder man machte es richtig, oder man blamierte sich. Taizu blamierte sich nicht. Und er auch nicht. Er vergaß den Schmerz über der Freude an der freien Bewegung, über der Freude, seinen Gegner in Bewegung zu sehen und zu spüren, wie sich seine Muskeln nach so vielen Jahren in der alten Weise streckten. Ihr Atem dampfte und gefror im Wind, Stahl passierte lautlos Stahl. Mit der gleichen Langsamkeit ging er von der Finte zur Abwehr und zum Angriff über und sah, in vollkommener Balance, ihre Reaktion, keine Panik, gerade die angemessene Reaktion, eine Bewegung, mit der sie sich ihm knapp entzog. "Knapp", tadelte er sie, als seine Klinge dicht an ihrem Arm vorbeiglitt ("Hast du den kommen sehen?"), ohne die Bewegung zu unterbrechen. "Ja", keuchte sie, und mit dem nächsten Schritt schwang sie ihre Klinge wieder herum, ein Schlag, der leicht zu parieren war. "Ich zeige dir einen andren", sagte er, während er sich langsam unter ihrer Angriffslinie hindurchbog. Sie verteidigte sich nicht; er verharrte, kurz bevor die Schneide seiner Klinge ihre Seite berührte. "Siehst du?" "Ja", sagte sie, ihre Haltung beibehaltend. Er brach ab und ging um sie herum, packte sie bei den Schultern und überprüfte ihr Gleichgewicht, malte mit dem Fuß eine Markierung in den Staub: "Hier", sagte er, trat er wieder vor sie hin und nahm ihre Schwertspitze zwischen die Finger, zog sie zum Wendepunkt. Er brachte eine weitere Markierung für den zweiten Schritt an und führte ihre Bewegung weiter, ganz herum, während sich die Klinge hob. Es war die schwierigste Konterparade, die er ihr je gezeigt hatte. Und noch zweimal, wobei er die Klinge führte. Die Füße landeten einwandfrei auf der Markierung. Verdammt, dachte er, als er sich an seine Mitschüler erinnerte, die sein Vater unterrichtet hatte, an die zahllosen Unterrichtsstunden, in denen sogar die Zerstreuten gelernt hatten, mit dem Meister mitzuhalten und das Gleichgewicht zu wahren, so weit, daß sie sich verteidigen konnten. Dieses Mädchen jedoch hatte nichts Zerstreutes an sich. Man brauchte dem Trottel Beijun nur etwas zu sagen, und die Anweisung versickerte im Nichts seines Ich-will-nicht. _Du darfst nicht denken, wenn ich dich unterrichte_, hatte er zu Taizu gesagt, wie damals zum Thronfolger. _Wenn ich dich unterrichte, dann weiß ich etwas, was du nicht weißt, darum schalte deine Gedanken aus. Wenn in diesem Stadium ein Fehler passiert, dann ist es mein Fehler, und ich zeige dir, wie's richtig zu machen ist_. _Improvisiere nicht, um einen Angriff abzuwehren, den du nicht verstehst, wenn wir langsam üben; verharre in dem Moment, da du ihn erkennst, dann zeige ich dir deine nächste Bewegung. Irgendwann kommt die Zeit, da du improvisieren kannst. Du wirst schon merken, wann es soweit ist. Lerne nicht die Parade. Lerne nicht die falsche Bewegung. Wenn ich dich unterrichte, warte auf meine Anweisungen. Irgendwann wirst du den Unterschied begreifen_. "Noch einmal", sagte er, ohne sie zu führen. Eins, zwei und drei. "Wundervoll." Er nahm seine eigene Deckung hoch, machte den Ausfall mit ihr zusammen, traf mit ihr zusammen und löste sich in dem Moment, als sie die Bewegung begann, mit einer eigenen Drehung, die er langsam, ganz langsam ausführte. "Der Teich reflektiert", sagte er. "Meine Bewegung und deine." Sie hob das Schwert und hielt inne. Er verharrte ebenfalls. "Warum?" fragte er. "Habe ich mein Bewegungsmuster verändert?" "Nein, Meister Saukendar." Leise, bestimmt, ohne die Klinge oder die Augen zu bewegen. "Aber Ihr wollt mich nicht so weitermachen lassen. Was soll ich jetzt tun?" "Du bist sehr direkt." Ebenso leise, Auge in Auge. Aber sie hatte vollkommen recht. "Die nächste Bewegung ist wie die erste. Führ die erste noch einmal aus. Sei mein Spiegelbild, bis ich dir etwas anderes sage." Eins, zwei und drei. Eins, zwei und drei. "Weiter", sagte sie. "Noch einmal", sagte er. Und als sie innehielten, murmelte er: "Ungeduld ist ein Makel. Wenn du etwas richtig tust, bleibt immer genug Zeit, nicht zuviel und nicht zuwenig. Dein Schwert hat keine Klinge. Es ist Träger deiner Absicht. Wenn die verlorengeht, hast du keine Waffe mehr. Mach weiter." Eins, zwei und drei. Wie Meister Yenan es ihn gelehrt hatte. Während die Blätter fielen und der erste Frost den Garten braun färbte. "Hoch!" sagte Shoka und ließ das Schwert unter Taizus Füßen hindurchsausen, wirbelte es aus der Drehung heraus herum und brachte es hinter ihren Rücken, hob es, bereit zum Zuschlagen, während sie die richtige Parade ausführte und innehielt, als sie das Bewegungsmuster vollendet hatte. "Und wie geht es jetzt weiter?" fragte er sie. "Ihr greift von unten an", sagte sie. "Vielleicht auch nicht." "Es ist schwer, aus dieser Richtung anzugreifen." "Deshalb würde ich's vielleicht tun. Es könnte dich überraschen." "Es ist auch gefährlich." "Ich bin der Beste. Was also werde ich tun?" "Etwas ganz anderes. Etwas weniger Schwieriges." Er war belustigt, erfreut, doch er lachte nicht. Er gab seine Deckung vor ihr nicht auf. So lauteten die Regeln dieses gefährlicheren Spiels. "Was tue ich also?" "Ihr könntet wieder umschwenken und mich dazu veranlassen, Euch zu folgen." "Wozu wäre das gut?" "Das Folgen erfordert Aufmerksamkeit. Es endet, wenn der Gegner es will. Der Wille ist die Klinge." Die alte Litanei, geflüstert an einem kühlen Morgen, unter einem grauen Herbsthimmel. "Noch einmal", sagte er und begann die Bewegung wieder von vorn. Sie trugen nur Hemd und Hose. Trotz der Kälte glänzte Schweiß auf ihrem Gesicht und ihrem Hals; das weiße Hemd klebte an ihr und flatterte, während sie sich drehte und zuschlug und abermals drehte. Er verlor sich in der reinen Schönheit des Augenblicks, dem Rausch der Bewegung, seiner und ihrer Bewegung. Das gab sie ihm zurück. Während er sie unterrichtete, lernte er auch selbst. Es machte ihr Spaß. Schon bald würde _er_ sich einen Spaß erlauben. Und mit den Narrheiten wäre Schluß. Er drängte sie auf den alten Baum zu, der die Hütte überschattete. Sie leistete Widerstand und versuchte wieder an Boden zu gewinnen, von den Baumwurzeln wegzukommen. "Ha!" rief er und wich zurück, ließ ihr mehr Raum. Ohne sie unter Druck zu setzen, ohne die Novizin in gefährliche Situationen zu bringen, ohne sich über sie lustig zu machen, um ihres Stolzes willen. Er erwies ihr Respekt. Sie jedoch forcierte es. Als sie ihn dazu brachte, daß er zurückwich, wollte sie ihm nachsetzen, und es war die Entscheidung eines Augenblicks, daß er Taizu zu ihrem eigenen Wohl ihren Willen ließ, ihr den Raum gab, den sie wollte, und zurückwich. Bei seinem zweiten Schritt wandelte sie das Schema ab. Er reagierte instinktiv und schlug zu, während sein Herz einen Satz tat, sah sie herumfahren und sich drehen. "Bleib stehen!" rief er. Sie hielt inne. Er sah das Blut auf ihrem Ärmel. Das Herz pochte ihm in der Brust. Sie schien nur ein wenig verwirrt. "Du bist getroffen, Mädchen." Sie blickte an sich hinunter, während das Blut über die Hand rann, welche das Schwert hielt, und konnte die Wunde immer noch nicht finden, obwohl das Blut in den Staub tropfte. Er nahm ihren Arm und fand den Schnitt, während sie sich den Kopf verrenkte, um einen Blick darauf zu werfen. Das Hemd war naß von Blut. Er packte es in Höhe der Taille und zog es ihr über den Kopf, während sie protestierte und es aus Schamgefühl an die Brust drückte. Die Wunde befand sich auf der Unterseite ihres Arms, einen Finger lang, gottlob nicht tief. "Ich habe gar nichts gespürt." "Närrin." Er schüttelte ihren Arm. "Versuch das nicht noch einmal bei mir." "Es tut mir leid, Meister Saukendar." "Ist nur ein flacher Schnitt. Ich hätte dich ernstlich verletzen können." "Ja, Meister Saukendar." Er ließ sie los und holte seine Scheide, während sie das Hemd wieder überstreifte und es ihm nachtat. "Komm hinein", sagte er. "Verdammt, das ist ein gutes Hemd." "Es tut mir leid." Er geleitete sie hinein, zog das Hemd aus, salbte ihren Arm ein und verband ihn. Inzwischen, das wußte er aus eigener Erfahrung, würde sie den vollen Schmerz spüren. "Tut es weh?" "Ja", sagte sie. Sein Puls hatte sich wieder beruhigt, und er war ganz ruhig. Er zog sie am Hemd, mit dem sie ihre Blöße bedeckte, dicht an sich heran. "Es hätte der ganze Arm sein können, du Närrin. Du darfst mich _niemals_ drängen." "Ja, Meister Saukendar." "Geh und wasch dich. Und wasch das Hemd. Du bist völlig verdreckt." Sie ging. Er sah ihr stirnrunzelnd nach und sagte sich, daß kein Schaden entstanden war. Doch als er sich hinter der Hütte am Regenfaß wusch, wurde ihm der Moment wieder bewußt, dieser kurze Augenblick, da er hatte reagieren müssen und da er erkannt hatte, daß er mit einer Attacke reagiert hatte, gegen die sie sich nicht verteidigen konnte und die ihr, mit voller Kraft ausgeführt, den Arm gekostet hätte. Bei dem Gedanken wurde ihm übel. Er mußte immer wieder daran denken: Als sie drinnen - bei diesem kalten Abendwind nicht auf der Veranda - zusammen aßen, sah er sie von Zeit zu Zeit an, weil der Anblick ihres gesunden Körpers Balsam war für die Bilder, die an seinem geistigen Auge vorüberzogen: Taizu in ihrem Blut auf dem Boden liegend, für immer ein Krüppel, obwohl er nur mit zurückgenommener Kraft zugeschlagen hatte... Und wenn er es nicht getan hätte... Zwischendurch sah sie ihn an, besorgt, wohl wissend, dessen war er sicher, daß er über sie nachdachte, daß er vielleicht etwas zu der Situation zu sagen hatte; vielleicht glaubte sie, sie habe sich einen unverzeihlichen Fehler zuschulden kommen lassen, was nicht der Fall war. Es war ein typischer Schülerfehler. Es war sein Fehler gewesen - er hatte nicht mehr damit gerechnet, daß sie solche Dummheiten machen könnte. Es machte ihm _Spaß_, sie zu unterrichten, er freute sich auf die Übungen, er erfreute sich an Dingen, die er seit Jahren nicht hatte tun können, und das alles rief Erinnerungen an seine Jugend wach - nicht an die schrecklichen Jahre, die Duelle, das Blut und den Schmerz, sondern an die ungetrübte Freude des Lernens und Übens. Die Stimme' seines Vaters. Die Stimme seines Meisters Yenan. Den staubigen grauen Hof von Cheng'di mit den roten Drachen am Tor. Gesichter von Freunden, von denen die meisten inzwischen tot waren. Taizu, die sich im Sonnenschein bewegte, Taizu mit erhobener Deckung, jede Linie an ihr wunderschön, angefangen von der Drehung der schlanken Knöchel, über die Haltung der Hüften bis zum leuchtenden Haar... Diese Anmut verdankte sie ihm. Er konnte sich kaum noch an die Schweinehirtin erinnern. Und die Narbe war ein Teil von Taizu. Sie besaß eine bestimmte Symmetrie: sie _gehörte_ zu ihr, sie war ein Teil ihres Gesichts und ihrer Person, von deren Anwesenheit er abhängig geworden war, bei Tag und bei Nacht... Ghita töten. Gütiger Himmel. Den Berg verlassen, über Land ziehen, ihr Leben wegwerfen... Den Teufel würde sie tun. Zum Teufel - er würde sie nicht fortgehen lassen. "Es tut mir leid", sagte sie irgendwann im Verlauf des schweigenden Mahls. Er warf ihr einen finsteren Blick zu. "Ich weiß, was ich getan habe." _Frag mich, meinte sie damit_. Dann würden sie darüber reden, und alles wäre wieder gut und wieder so, wie es früher gewesen war. Bis etwas Schlimmeres passierte. "Was hast du getan?" "Ich wollte besonders schlau sein. Ich wollte herausfinden, ob meine Überlegungen richtig waren: daß man deshalb nach Schematas lernt, weil sie sich in Übereinstimmung mit der Fußstellung befinden, und daß Ihr mir dadurch, daß Ihr Euch von mir habt zurückdrängen lassen, eine Falle stellen wolltet - darum dachte ich, ich könnte das durch einen Wechsel verhindern." Er starrte sie während des langanhaltenden Schweigens mit gerunzelter Stirn an und ließ sich jedes ihrer Worte noch einmal durch den Kopf gehen. Dann sagte er: "Du hast nachgedacht." "Ich..." Sie preßte die Lippen aufeinander und war einen Moment lang ganz still, dann nickte sie. "Es tut mir leid, Meister Saukendar." Er stützte seinen Arm aufs Knie, sein Kinn auf den Arm und starrte sie an. "Jetzt hör mir mal zu, Mädchen. Du wolltest, daß ich dich unterrichte. Das habe ich bis jetzt auch getan. Für eine Frau bist du außergewöhnlich gut. Im Formalen wahrscheinlich besser als die meisten Absolventen der Schule von Cheng'di. Aber das wird dir nicht das Leben retten, verstehst du? Ich habe dir mein Versprechen gegeben, weil ich nicht wollte, daß du weggehst und von den Banditen geschnappt wirst oder unterwegs verhungerst. Sieh dich jetzt einmal an. Du bist ein verdammt hübsches Mädchen. Ist es dir bei mir etwa schlecht ergangen?" Ihre Lippen bildeten im Schein der Lampe einen blassen Strich. "Nein", entfuhr es ihnen, fast ohne daß sie sich bewegt hätten, und ihre Nüstern bebten, ihre Augen huschten furchtsam umher wie bei einem gefangenen Kaninchen. "Wenn du dich fürchtest, schnappe ich dich. Bis jetzt hab ich's nicht getan. Nicht, daß es mir leichtgefallen wäre, versteh mich recht. Aber ich habe mein Versprechen gehalten, oder etwa nicht?" Ein Nicken mit dem Kopf, auf die gewohnte Art. "Das hier ist nicht Chiyaden. Eine Frau, die hier oben lebt, täte besser daran, jagen zu lernen; wie man mit dem Bogen umgeht; wie man mit der Axt umgeht und einen Berg besteigt. Die Damen bei Hof lernen den Umgang mit Schwert und Stock. Dagegen ist nichts einzuwenden. Eine Frau sollte fähig sein, für sich selbst zu sorgen..." _Meiya hätte das nichts genützt_. _Wenn ich dort gewesen wäre_... _Wenn ich es hätte kommen sehen_... "...und ich bin in meiner Abgeschiedenheit träge geworden. Die Übungen machen mir _Spaß_. Und wenn ich einer Frau mehr beibringe, als eine Dame normalerweise lernt, dann ist das meine Sache. Aber wenn ich sie unterrichte, dann muß ich ihr auch die anderen Dinge beibringen, wie zum Beispiel so vernünftig zu sein, die eigenen Grenzen zu erkennen." "Ihr habt versprochen..." "Du hörst mir jetzt zu. Wenn hier jemand einen Fehler begangen hat, dann ich, weil ich gehofft habe, du wärst so vernünftig aufzuhören. Ich habe dich wie eine Frau behandelt. Wenn du meinst, du hättest mich zurückgedrängt..." "Ich wußte, daß es nicht so war." "Sehr richtig. Ich hätte dich gleich an den Baum drücken sollen. Genau das meine ich. Vielleicht bist du gut genug, um es mit ein, zwei Bauern aufnehmen zu können. Vielleicht könntest du einen Banditen erledigen. Die meisten sind jämmerliche Schwertkämpfer. Die Leibwache eines Fürsten ist etwas anderes: jeder einzelne von ihnen ist doppelt so schwer wie du und hat eine größere Reichweite. _Vielleicht_ ist er nicht so beweglich wie du, aber verlaß dich nicht darauf - einen Mann, der mindestens eine Stunde pro Tag auf dem Übungshof verbringt, nimmt niemand auf die leichte Schulter, junge Frau, und selbst wenn du einen an _seinem_ schlechten Tag erwischen solltest, wird das seinen drei Freunden wohl kaum gefallen. Gib mir deine Hand. Gib sie mir!" Sie biß sich auf die Lippen und legte ihre kleine Hand behutsam in seine. "Jetzt drück meine Hand hinunter!" Sie versuchte es. Er mußte sich mehr anstrengen, als er gedacht hatte, doch er hielt stand, selbst dann, als sie unerwartet ihre Schulter hineinwarf. Sie richtete sich stirnrunzelnd auf. "Und du willst _mich_ aufhalten?" "Ihr habt gesagt, ich sollte mich innerlich nicht beteiligen." "Manchmal bleibt einem keine andere Wahl. Manchmal hat man es mit fünfen oder sechsen zu tun, und es bleibt einem einfach keine andere Wahl. Manchmal sind es noch mehr, und manchmal bleibt kein Platz, um zurückzuweichen, und man muß sich den Platz nehmen. Ich habe dir die Bewegungen beigebracht, die eine Frau ausführen kann. Aber es gibt noch ein paar andere." "Versucht es." "Was du willst, ist unmöglich, Mädchen. Ein Mann muß nicht unbedingt besser sein, um dich zu schlagen. Es reicht schon, wenn er stärker und nur halb so gut ist - und das bedeutet, daß dir irgendein verdammter Wachposten den Kopf abschlagen kann. Das bedeutet, daß irgendein Trottel von Frontsoldat mit einem billigen Schwert deine Deckung niederhauen kann, und wenn er dich damit nicht erledigt, dann wird es sein Kamerad von hinten tun. So geht's zu in der Welt. Du bist nicht stark genug. Du kannst nicht alles mit der Klinge erledigen, und du kannst nicht allem ausweichen, was auf dich zukommt." "Ich möchte nur so gut sein, daß es für einen reicht." "Du bist verrückt. Du wirst gar nicht erst so weit kommen, du wirst wegen nichts und wieder nichts in irgendeinem verdammten Straßengraben sterben. Wenn du Glück hast." "Ich habe keine Angst." "Dann bist du eine Närrin! Oder eine Lügnerin." "Ihr habt versprochen, mich zu unterrichten. Wenn Ihr mich nicht richtig unterrichtet habt, dann brecht Ihr Euer Wort." In ihren Augen glitzerten unvergessene Tränen. "Und dann wärt Ihr der Lügner, Meister Saukendar." "_Verdammt_!" Ihr Kinn zitterte. Und sie blickte ihn voller Abscheu an. "Jetzt hör mir mal zu, Mädchen. Hör zu. Wenn ich dich voll treffe, was durchaus passieren kann, dann breche ich dir die Knochen. Direkt an der Schulter. Beim ersten ernstgemeinten Schlag, und - _zack! _- weg ist der Arm. Willst du das?" "Wenn Ihr mich so unterrichtet, daß Ihr mich treffen könnt - so ist es doch, nicht wahr? Ihr wollt, daß ich sterbe." "Du verdammte kleine Närrin, ich sage doch, so etwas kommt vor." "Ihr habt es versprochen." "Ich habe dir gesagt, was passieren wird. Hör zu. Du bist gut. Du bist sehr gut. Aber du verlangst etwas Unmögliches. Gegen die Natur kommst du nicht an. Vergiß deinen verrückten Plan. Du hast ein Dach über dem Kopf. Du hast ein warmes Bett. Du kannst bei mir bleiben, solange du willst." Er holte tief Luft und ging das Risiko ein, laut auszusprechen, was er dachte - zum Teufel mit seiner Herkunft und mit dem Gerede, das es in Cheng'di geben würde. Zum Teufel mit dem vorwurfsvollen Blick, mit dem sein Vater ihn angesehen hätte, wenn er noch gelebt hätte; aber sein Vater hatte gottlob auch eine Menge anderer Dinge nicht gesehen. "Als meine Frau oder so dicht daran, wie man nur will. Hier läßt es sich ganz gut leben. Findest du nicht?" "Nein", sagte sie scharf, mit finsterer Miene. "Was - nein? Was willst du sonst tun? In Gitus Burg hineinmarschieren? Dich zur Närrin machen? Man wird Hundefutter aus dir machen." "Ihr habt es geschworen." "Das war ein einfaches Versprechen! Bei einer Verrückten zählt das nicht!" "Nein, Ihr habt einen Eid geschworen. Und ich auch, Meister Saukendar. Ich habe ebenfalls einen Eid . geschworen. Und Ihr werdet mich unterrichten." Er biß sich auf die Lippen, funkelte sie an. "Du bist ein verdammt halsstarriges Luder." "_Ich_ habe es geschworen. Und ich werde es tun. Ihr werdet mich ernsthaft unterrichten." "Ich habe nicht gespaßt!" "Was sonst, wenn ihr Euch bei mir zurückhaltet?" "Du verdammte Närrin! Soll ich dir vielleicht die Knochen brechen?" "Ich will Gerechtigkeit, Meister Saukendar. Ich möchte, daß Ihr Euer Versprechen einlöst. Wenn Ihr mich nicht besser unterrichten könnt, dann liegt es doch wohl an Euch, Meister Saukendar." "Närrin, habe ich gesagt! So etwas kommt vor. Das passiert auch Männern, sogar den besten. Wie groß sind deine Aussichten, was meinst du? Du wirst müde, Mädchen, du wirst müde und machst einen Fehler, du fängst in deinem verdammten Panzer an zu schwitzen, du kannst dich nicht kratzen, irgendein hergelaufener Fußsoldat schlachtet dein Pferd ab - was, zum Teufel, tust du _dann_?" "Das könnt Ihr mir beibringen. Wie Ihr es versprochen habt." "Dummkopf", murmelte er und blieb erst einmal stumm. Schließlich hatte er keine Lust mehr, überhaupt noch etwas zu sagen, ging zu seiner Schlafmatte hinüber und zog sich ohne Rücksicht auf ihre Empfindsamkeit aus, wobei er ihre Anwesenheit geflissentlich übersah, trat dann zur Feuerstelle, schenkte sich etwas Reiswein ein und erwärmte ihn. "Willst du auch etwas?" fragte er barsch und sah zu ihr hinüber. Sie jedoch hatte das Geschirr eingesammelt und legte sich nun vollständig bekleidet schlafen. "Nein", sagte sie, ohne ihn anzusehen, schlüpfte mit dem Rücken zu ihm unter die Decke und zog sie sich über den Kopf. "Der Winter wird lang, Mädchen. Trink etwas Wein mit mir. Wir reden über den Hof. Über alles, was du möchtest." "Nein." Unter der Decke hervor. In unfeine Gedanken vertieft wartete er, bis sich der Wein erwärmt hatte. Dann nahm er den Weinkrug und blies das Licht aus. "Ich gehe zu meiner Matte", sagte er im Dunkeln. Keine Antwort von der anderen Seite des Raums. Und so setzte er sich im Dunkeln hin und trank den Wein bis zur Neige und versuchte, nicht an sie und an das Schwert zu denken, das sie beinahe zum Krüppel gemacht hätte, oder an Chiyaden und Überfälle undankbarer Bauern. Er sah noch hinter verschlossenen Lidern. Er sah den ersten Mann, den er jemals getötet hatte. Er sah noch viele andere, sah, was ein Schwert aus einem Menschen machen konnte. Aus guten Männern. Die verstümmelt im Dreck lagen und schrieen. Er hatte wieder eine Frau und kam mit ihr ebenso wenig zurecht wie mit der ersten. Er hätte mit Meiya schlafen können, sagte er sich, ein Gedanke, der ihm noch nie gekommen war. Es wäre zu einem Skandal gekommen. Sie hätten geheiratet. Und Meiya, entjungfert, bevor der Kaiser sie für seinen mörderischen Narren von Sohn hätte beanspruchen können, wäre alles, was ihr Mann ihr später angetan hatte, erspart geblieben. Er sollte nicht einen solchen Unsinn denken, er sollte es bei Taizu auf die direkte Art versuchen, zu ihr hinübergehen und ihr zeigen, was Prüderie gegenüber der Stärke eines Mannes ausrichten konnte: Nach ein, zwei Nächten würde sie warm werden, zur Vernunft kommen, würde sie einsehen, daß ein Ehrenmann anders war als die Männer, die sie gekannt hatte... Das alles klang durchaus vernünftig. Bis er an Taizu dachte. Bis ihm einfiel, was sie im kritischen Moment zu ihm sagen würde: _Ihr habt Euer Wort gegeben, Meister Saukendar_. "Wie geht's deinem Arm?" fragte er sie beim Frühstück. "Gut, Meister Saukendar." Er aß noch ein paar Bissen. "Ich kann heute wieder üben", sagte sie. Er schwieg. "Ich bin nicht steif, Meister Saukendar. Ich bin wieder gesund. Ihr habt mich beinahe verfehlt." "Ich habe den Schlag gebremst, ich habe meine Deckung weit geöffnet, ich habe meinen _Hals_ riskiert, damit das einmal klar ist." "Ich hätte Euch nicht getroffen..." "Was glaubst du eigentlich, wozu das Schwert in deiner Hand gut ist, _verdammt noch mal_?" Taizus Mund stand offen. Sie klappte ihn rasch wieder zu. "Also gut", sagte er, sie anstarrend. "Du möchtest, daß ich dich wie einen Mann unterrichte, du hast es so gewollt." Das Kettenhemd reichte ihr bis zu den Knien. "Es ist _schwer_", sagte sie und schwankte, als er es an ihrer Hüfte zusammenschnürte und über der Brust übereinanderschlug, weil es überlappen mußte, damit es richtig paßte; ihre Arme und Beine hatte er mit Leder und alten Lumpen verpackt, weil die Panzerärmel und Schienbeinschützer nicht in Frage kamen. "Du willst, daß ich dich unterrichte", sagte er. "Was werdet Ihr tragen?" "Ich mache mir keine Sorgen", sagte er. "Du bist diejenige, die Gefahr läuft, eine Hand zu verlieren." Er trat zurück, nahm sein Schwert und deutete damit auf ihres. "Du bist dran. Grundstellung." Sie bewegte sich zunächst ein wenig schwankend, aber sie wurde sicherer. Am nächsten Tag setzte er sie auf Jiros Rücken, damit sie einen Eindruck davon bekam, wie es war, mit dem Metallgewicht zu reiten, denn bis jetzt hatte sie nur auf Jiro gesessen, wenn er auf der Weide herumtrödelte. Sie fiel nicht herunter. Jiro war allerdings auch brav. "Wenn du ein Herr werden willst", neckte er sie, "dann mußt du reiten lernen." Und er schwang sich an ihrer Stelle hinauf, nahm die Zügel in die Hand und sagte: "Reich mir meinen Speer. Du mußt eine Menge lernen, Mädchen. Wir wollen doch mal sehen, wie du mit einem Reiter zurechtkommst." Auch an diesem Abend wurden Lappen aufgewärmt. "Willst du aufhören?" fragte er sie. Sie wandte ihm ein dunkles und vorwurfsvolles Auge zu, mit dem Gesicht auf der Matte, während er ihr Kompressen auf die Kniekehlen legte. "Nein", sagte sie. Und er: "Es kann nur noch schlimmer werden." Der Pfeil flog davon, der Hirsch schreckte beim Geräusch von Shokas Bogensehne hoch, und der Pfeil drang dem Hirsch mitten ins Herz - sie jagten nicht zum Vergnügen, sondern um Fleisch für den Winter zu bekommen, und sie gingen kein Risiko ein. Der Hirsch sprang vor, als er getroffen wurde, rannte ein paar Schritte weit und brach in einem verschneiten Gebüsch zusammen. Shoka schnitt ihm obendrein noch die Kehle durch, und Taizu schlang ihm ein Seil aus Rohleder um die Füße und warf das andere Ende über einen Ast. Wildbret für den ganzen Winter. Leder, Horn und Knochen für ein schönes Paar Hosen und einen Messerknauf und was sich sonst noch an Winterabenden herstellen ließ. "Ich habe noch nie Wildbret gegessen", hatte Taizu ihm anvertraut. In Wahrheit aß er meistens Wildschweine. Aber dieses Jahr waren zwei Mäuler zu stopfen, der Hirsch hatte sich angeboten, und zu zweit schafften sie es, ihre Beute heimzutragen. Einen Großteil des Fleisches räucherten sie, machten Würste, beizten die Haut und hängten den Rest gefroren auf die Veranda. Und an den Winterabenden, als draußen Schnee lag und Jiro gut versorgt im Stall stand, zeigte er ihr, wie man Pfeile herstellte und einen Bogen formte - Männerarbeit; doch damit kannte er sich eben aus, es vertrieb die Zeit, machte dem Mädchen Freude und sorgte für Unterhaltung. Sie ließ seine Finger nicht aus den Augen; und er betrachtete den Glanz in ihren Augen und das winzige Lächeln, das sie ihm neuerdings gelegentlich schenkte. Und nachts folgten ihr seine Gedanken. Von Zeit zu Zeit versuchte er sie ein wenig aufzulockern, durch ein Kompliment, ein kurzes Streicheln mit der Hand, während sie arbeitete. Dann zuckte sie zusammen und sagte auf die eine oder andere Weise _nein_. Und so verging der Winter: ein verschneiter Tag nach dem anderen, während sie in der gemütlichen Hütte blieben, es sei denn um Jiro Wasser zu bringen, ihn zu striegeln, an die frische Luft zu lassen und dafür zu sorgen, daß er es in seinem Stall bei Nacht behaglich hatte. Er zeigte ihr, wie man eine Bogensehne drehte und befestigte. Er erklärte ihr, warum manche Pfeile bestimmte Federn und Spitzen hatten, wie man die Federn auswählte und wie man sie befestigte. Er zeigte ihr - auf dem mit Strohmatten gepolsterten Erdboden der Hütte - ein paar der elementaren Fertigkeiten, die Meister Yenan ihm beigebracht hatte: wie man einen Schlag mit den Finger abwehrte, wie man mit einem Stück Holz, der bloßen Hand oder dem Fuß ein Glied lähmen und jeden beliebigen Angreifer abschrecken konnte. Dinge, die die Nonnen ihr beigebracht hätten... Er erinnerte sie daran; und sie sagte: "Ich wäre nicht lange genug dort geblieben." "Wo wärst du hingegangen?" wollte er wissen. "Ich weiß es nicht", sagte sie, der Frage ausweichend. Sie mied seinen Blick, und so machte er sich seinen eigenen Reim darauf; wahrscheinlich wäre sie wieder auf die Straße gegangen und ein Opfer der Stärkeren und Schnelleren geworden, und diese Vorstellung behagte ihm nicht. Er erzählte ihr Geschichten und sie ihm, über den Kaiserhof und über Hua. Sie verblüfften sich gegenseitig; zumindest machte sie große Augen, wenn er vom Hof und der Tafel des Kaisers erzählte, wo die Gerichte mit Pfauenfedern dekoriert wurden und geröstete Schweine sogar Zuckerburgen auf dem Rücken trugen, mit Flügeln aus Schwanenfedern und echten Rubinen als Augen. "Wir hatten gut zu essen", erinnerte sie sich, als sie von Hua erzählte, und ihren Worten entnahm er, daß sie einen blühenden Hof und eine große Familie gehabt hatte - meine Brüder, sagte sie manchmal und nannte ab und zu Namen, wie Jei und Mani. Sie erzählte von einem zahmen Reh, das die Tochter des Fürsten Kaijeng hielt, bis Kaijengs Jäger es versehentlich töteten, und dann (alle Geschichten von Taizu gingen traurig aus) berichtete sie, daß die Fürstin und ihr Mann tot seien, daß die Fürstin sich umgebracht habe und daß ihr Mann beim Kampf um die Burg gefallen sei. Nie vergoß sie Tränen. Sie wurde nur melancholisch; und er dachte an Meiyas Tod und wurde seinerseits melancholisch. Aber er erzählte ihr nie von Meiya. Sie war ein Kind. Er war kein Kind mehr und brachte es nicht über sich, ihr diese verworrenen und schmerzhaften Erinnerungen anzuvertrauen, nicht einmal dann, wenn er ein wenig betrunken war. Statt dessen brütete er vor sich hin, und dann herrschte eine Weile lastendes Schweigen. Eines Nachts, während der Wind um die Hütte heulte, war sie selbst ein wenig betrunken. Sie bekam gute Laune und zeigte ihm ein Spiel, das sie in Hua gespielt hatte, wenn der Schnee kam, aber er kannte das Spiel bereits, denn es wurde bei Hofe gespielt. Also hatten sie immerhin eine Gemeinsamkeit. Während sie mit ihren provisorischen Spielmarken spielten, erinnerte er sich an eine Welt, in der er mit Marken aus Elfenbein und Jade um hohe Einsätze gespielt hatte, während sie vielleicht an ihr Zuhause dachte, an Spielmarken aus Stein und an eine Schar Brüder und an ihre Eltern. Sie jedoch spielten darum, wer den Eimer tragen und wer das Frühstück zubereiten mußte. Er schlug ihr einen anderen Einsatz vor, doch sie funkelte ihn an, und er versicherte ihr, er habe nur gescherzt. "Also gut", sagte er, "wenn du verlierst, dann wärmst du mich heut nacht. Mehr nicht. Ich werde dich nicht anrühren." "Das tue ich nicht", sagte sie entschlossen. "Womöglich wollt Ihr mich hereinlegen." "Wobei? Außerdem legt ein Ehrenmann niemanden herein." "Hm", machte sie, die Arme um die Knie geschlungen. "Was heißt das?" "Ich weiß, was Ihr wollt. Und Ihr werdet es nicht bekommen. Ich lasse nicht zu, daß Ihr Euer Wort brecht. Punktum." "Du schadest dir nur selbst", sagte er. "Die Nacht ist kalt." Sie schüttelte den Kopf. "Ihr wollt spielen?" fragte sie. "Der morgige Abwasch dagegen, daß ich das Pferd striegele." "Das tust du sowieso. Das ist kein Einsatz." "Dann spielen wir darum, wer als nächster das Feuerholz hereinholt." "Einverstanden", sagte er. Und so spielten sie in jener kältesten Nacht des Jahres, während der Schnee fiel und sie noch ein wenig tranken. "Komm schon!" sagte er, als sie zu ihrer Matte taumelte und er schon auf seiner saß, mehr als nur ein bißchen betrunken. Er klopfte auf den Platz an seiner Seite. "Es ist bitterkalt. Es ist sinnlos, sich das Leben schwer zu machen. Ich verspreche dir, daß es mir nur um die Bequemlichkeit geht. Ich werde nichts tun, was du nicht willst." Sie war noch nüchtern genug, um _nein_ zu sagen, ging allein zu ihrer Matte und vergrub sich vollständig bekleidet unter einem Wust von Decken. _*7*_ Der Eiszapfen in der Ecke der Veranda wuchs auf eindrucksvolle Größe an, fiel eines Nachmittags schließlich mit einem vernehmlichen Krachen herunter und blieb als einsamer Dorn inmitten eines Haufens von Splittern in der sich erwärmenden Sonne liegen. Alles war voller Matsch, doch der Wind hatte gedreht und schmolz den Schnee mit erstaunlicher Geschwindigkeit, und Jiro schlug aus wie ein junges Füllen, richtete den Schweif auf und hüpfte ausgelassen auf der Weide herum. Er sehnt sich nach einer Stute, dachte Shoka wehmütig angesichts des Pferdes und des Mädchens, das ihn versorgte und ihre Spielschuld einlöste, indem sie den Eimer den aufgeweichten Weg entlangtrug und Jiro den Dreck abbürstete, obwohl er sich bestimmt gleich wieder darin wälzen würde. Ein harter Winter, ein noch härterer Frühling. Er setzte sich auf die Veranda und schabte sich die Stoppeln vom Kinn, tauchte die Klinge in einen Tiegel mit warmem Wasser und sann mürrisch über das Tauwetter nach, das den ganzen Hang in einen Liebestaumel stürzen würde, wenn die Knospen aufbrachen und die Natur Amok lief, um sich fortzupflanzen und auf Dauer zu erhalten. Shoka seufzte, blickte unter einer zottigen Haarsträhne hervor zu der schlanken, weitentfernten Gestalt hinüber und fand, daß er sich die beste Gelegenheit hatte entgehen lassen, als sie im Winter miteinander getrunken hatten. _Tut mir leid, Mädchen, aber ich habe den Kopf verloren_. Er stellte sich vor, wie sich ihre Einstellung am folgenden Morgen grundlegend geändert hätte, wie sie alle ihre dummen Gedanken aufgegeben und sich nur noch ihm gewidmet hätte. _Zack_! fiel ein weiterer Eiszapfen herunter. Im Grunde jedoch wußte er nicht, wie sie reagieren würde, wenn er sie anrührte, und jetzt, bei Tageslicht betrachtet, erschien es ihm nicht sonderlich wahrscheinlich, daß sie ihre Einstellung schlagartig ändern würde. Er hatte nie versucht, wie ein Schweinebauer zu denken, der geschworen hatte, den Fürsten von Chiyaden zu töten. Aber er versuchte jetzt häufiger, so wie Taizu zu denken, und sie einmal zum Lächeln oder zum Lachen zu bringen, war schon schwer genug. Taizu... Er hatte keine Ahnung, was sie tun würde. Er bezweifelte allerdings, daß es friedlich _oder_ angenehm wäre. Dieses närrische Mädchen. Dieses närrische Mädchen, das ihm ans Herz gewachsen war. Und nach neun Jahren Enthaltsamkeit... Abermals seufzte er. Man konnte meinen, daß es vor allem darauf ankam, ein Mädchen ins Bett zu kriegen. Aber das war eine Lüge. Den ganzen Winter über hatte er an die Möglichkeit gedacht, daß sie ihm auf der Stelle davonlaufen könnte, und dann hätte er sie zum Beispiel jetzt dort draußen nicht sehen können, niemals mehr; und die Vorstellung, seine Abendmahlzeiten in unaufhörlichem Schweigen einzunehmen, war unerträglich. Je länger sie blieb, desto mehr gewöhnte sie sich an ihn. Je mehr sie sich an ihn gewöhnte... Die Damen in Chiyaden hatten ihn sehr stattlich gefunden. Und bei den Göttern, er hatte das kleine Luder mit aller Zuvorkommenheit behandelt, die er ihr begreiflich machen konnte. Sieh sie dir an, dachte er - wie sie in einem der Hemden, die sie miteinander austauschten, durch den Matsch stapfte, barfuß und bis zu den Knien verdreckt: es war schon ein Wunder, daß sie keine Erfrierungen bekam. Aber sie war ja barfuß von Hua hierhergekommen, und die Stiefel, die er für sie angefertigt hatte, waren wahrscheinlich der erste Luxus, den ihre Füße kennengelernt hatten. Schüler von vornehmer Herkunft mußten arbeiten, um ihre Hände und Füße abzuhärten. Taizu war abgehärtet; und vom Schwert hatte sie Schwielen an den Händen. Seide hätte sich daran durchgescheuert. Aber, dachte er, bei Taizu war das in Ordnung. Eine wie sie gab es nur einmal. Trotzdem versuchte man es weiter. Es war ein langwieriges Unterfangen. Beim Abendessen sagte er: "Wir sollten wieder jagen gehen." Die Überreste des Hirsches waren längst etwas für die Vögel und Opossums, und heute hatte er sie fortgebracht, um die Plagegeister von der Hütte fernzuhalten. Sie nickte und blickte mit leuchtenden Augen über den Rand ihrer Schüssel. "Die Damen in Chiyaden benutzen Stäbchen aus Elfenbein, weißt du. Sie nehmen kleinere Bissen. So." Er zeigte es ihr. Sie lachte ihn aus, Fältchen in den Augenwinkeln, als sei das alles nur eine Geschichte, wie die von den Schweinen mit den Rubinaugen. "Sogar die Herren nehmen kleinere Bissen", sagte er, denn er meinte, wenn sie schon ein Herr sein wollte, dann könnte sie wenigstens _etwas_ von den höfischen Sitten übernehmen, "und sie benutzen Servietten anstelle ihrer Ärmel." _Waskönnen die schon mit Rubinen anfangen_? war ihr Kommentar zu den Schweinen gewesen. Taizu kam immer gleich zum Kern der Sache. Und sie wartete immer noch auf eine Geschichte. Das sah er ihr an. "Weißt du eigentlich, wer die Eßstäbchen erfunden hat?" "Nein." "Eine gierige Frau, die nicht so lange warten wollte, bis der Reis abgekühlt war. Sie wollte sich die Finger nicht verbrennen." Sie schaute ihn neugierig an. "Aus welcher Provinz kam sie?" "Wahrscheinlich aus Hua." "Das stimmt nicht", sagte sie bestimmt, als ob sie es sonst gewußt hätte. Er unterdrückte ein Lachen, während er sich den Mund vollstopfte, und sagte: "Na ja, vielleicht war sie ja auch aus Yiungei." Taizu sagte: "Habt Ihr schon gehört, wie der Hund in den Mond kam?" "Ich wußte gar nicht, daß _es_ im Mond einen Hund gibt." "Natürlich gibt es einen. Man kann ihn sehen." Sie beugte sich vor und zeigte darauf. "Das ist eine alte Frau." "Dieselbe, die die Eßstäbchen erfunden hat?" "Wahrscheinlich." "Er hat der alten Frau das Abendessen gestohlen, und sie hat ihn mit ihrem Stock gejagt. So ist er dorthin gekommen. Der Hund ist sehr hungrig. Jeden Monat magert er bis aufs Skelett ab, aber die Götter haben jedesmal Mitleid mit ihm und füttern ihn, darum bleibt er immer da." Das war eine optimistische Geschichte. Er lachte. "Ich habe gehört, in der Provinz Kiang sei es ein Kaninchen. Es ist dort hinaufgesprungen." "Warum?" "Wahrscheinlich, weil der Hund es gejagt hat." Sie sah ihn merkwürdig an. "Ich schwör's", sagte er. "Das habe ich jedenfalls gehört." So sollte es immer sein, dachte er. Sie sollte immer hier sein. Jeden Abend. Für alle Zeit. "Ich glaube, Ihr macht Euch über mich lustig." "Das täte ich nie. Mein Ehrenwort." Sie blickte ihn stirnrunzelnd an. Er grinste. Sie erhob sich und ging hinein. "Taizu?" _Oh, verdammt_. "Taizu." Er stand auf und ging ihr nach. Sie hob gerade den Reistopf auf, um ihn abzuwaschen. "Ich habe mich nicht über dich lustig gemacht, verdammt noch mal. Darf man sich nicht mal einen Spaß erlauben?" "Ich weiß nicht, wann Ihr scherzt", sagte sie störrisch. "Ich glaube, Ihr habt mir überhaupt nie die Wahrheit gesagt." "Wann zum Beispiel?" "Als Ihr von Chiyaden erzählt habt." "Nein, das stimmt. Das mit den Schweinen und den Rubinen. Und das mit den Stäbchen aus Elfenbein." Sie warf ihre Schale in den Topf und verspritzte Wasser. "Seid Ihr fertig? Dann nehme ich Eure Schüssel mit." "Es ist dunkel draußen, und du bleibst hier. Du könntest von einem Bären gefressen werden." "Dasselbe wie mit den Schweinen. Ich kann selbst auf mich aufpassen." "Daran zweifle ich nicht. Das wird ein schlimmer Tag für den Bär. Komm wieder auf die Veranda. Du bist töricht. Ich habe dich nicht ausgelacht. Ich habe einen Witz gemacht." "Also habt Ihr doch über mich gelacht." "_Ich habe nicht über dich gelacht_! Nennst du mich etwa einen Lügner?" "Nein, Meister Saukendar. Ihr seid ein Ehrenmann. Ihr würdet niemals lügen." Er versperrte Taizu, die den Topf voller Wasser in Händen hielt, den Eingang. Und auf einmal kam ihm der Gedanke, es könnte gefährlich sein, diese Haltung beizubehalten. Er las in ihren Augen, was sie dachte. Er sah sie an, damit sie sah, was er dachte. Und so standen sie da, wie halsstarrige Trottel dastehen würden. "Wir können die ganze Nacht hier stehenbleiben", sagte er. "Ja, Meister Saukendar." Er seufzte, bedeutete ihr, vorbeizugehen. "Ich habe dich nicht ausgelacht!" schrie er ihr nach. "Du bist ein undankbares Luder." Sie stieg von der Veranda hinunter und verschwand im eisigen Dunkel. Er erwärmte den Wein, schenkte sich ein wenig ein und legte sich schlafen. Sie kam leise zurück, blies das Licht aus und ging zu ihrer Matte. Am Morgen war sie ausnehmend freundlich. Zum Frühstück gab es Wurst. Den Streit erwähnte sie nicht. Er schwieg ebenfalls, starrte sie bloß an, während sie aß. Sie schien sich unbehaglich zu fühlen und verschwand, um zu arbeiten. In gewisser Weise war es ein Sieg, dachte er. Sie hatten im Schnee geübt; sie hatten auf der Veranda und die Treppe hinauf und hinunter geübt - du kannst ebensogut lernen, was man mit einem Geländer machen kann, hatte er gesagt. Jetzt, da nur noch an schattigen Plätzen Schnee lag und die höhergelegenen Stellen des Hofs trocken waren, übten sie wieder beim alten Baum, Dampfwolken vor den Mündern und verdreckt bis zu den Knien. Man hat nicht immer einen sicheren Stand, sagte er. Wenn möglich, sucht man sich den Untergrund aus. Aber das ist nicht immer möglich. Taizu rutschte auf einer nassen Stelle empfindlich aus. Er setzte mit dem Schwert nach, um den Treffer anzubringen, sprang zurück, als sie nach seinen Beinen schlug, rollte sich ab und richtete sich wieder auf. "Verdammt gut!" schrie er und schwang sein Schwert, um sie an der Schulter zu treffen - was auch gelungen wäre, wenn sie sich nicht geduckt und beidhändig mit einem Aufhaltstoß gekontert hätte. "Pause, Pause, eine verdammt nachlässige Verteidigung." "Ich lebe", sagte sie. "Du hättest mich fast aufgespießt! Und was ist mit dem Mann hinter deinem Rücken?" "Hinter mir ist niemand!" "Wenn ich's sage! Werd ja nicht frech." "Es ist gelungen", keuchte sie. "Willst du etwas lernen oder mit mir streiten?" Ihr Atem beruhigte sich, und sie wischte sich mit dem lederumwickelten Handgelenk übers Gesicht. "Ja, Meister Saukendar." "Was denn nun?" Sie schnappte noch einmal nach Luft und nahm wieder ihre Haltung ein. Sein Bein schmerzte. Er war außer Übung. "Langsamer jetzt. Nicht improvisieren. Hast du gehört?" Sie nickte. "Ich hab's gehört. Könnt Ihr mir zeigen wie man das macht?" "Du bist noch nicht soweit, du bist hingefallen. Spiel nicht den Hanswurst, wenn du hinfällst." Er begann mit einer langsamen Bewegung, wiederholte die Eröffnungsschläge. "Ich habe nicht - den Hanswurst gespielt. Was soll ich eigentlich tun - wenn etwas passiert - worauf Ihr mich nicht vorbereitet habt?" Und er dachte an den Frühling, ans Tauwetter; und mit einem kalten Schauder: _Sie spricht vom Weggehen_. "Du bist noch nicht soweit. Bei weitem noch nicht." Sie runzelte die Stirn. Ihm wurde noch kälter. _Zeig ihr was anderes_, dachte er; und beobachtete ihr Gesicht, sah den unterdrückten Ärger in den zusammengepreßten Lippen. Übungsschlag auf Übungsschlag. Während die Ungeduld in ihr schwelte. Das sah er ihr an. "Eile - tötet, Mädchen. - Vergiß das nicht. - Davon steckt mehr in dir - als dir gut tut." "Was tue ich - wenn ich hinfalle - Meister Saukendar?" "Pause", sagte er und vollendete die vorschriftsmäßige Bewegung. Er war geneigt aufzuhören. Es war immer noch kühl. Er hatte sich nicht besonders angestrengt. Sein schlimmes Bein tat höllisch weh. Aber: _Zeig's ihr_, dachte er. _Zeig dem verdammten Mädchen etwas, das sie nicht so schnell lernen kann_. Er warf seinen Übungsstock auf die Veranda, ging ihm hinterher und hob sein Schwert auf. Sie folgte ihm und nahm ihres. "Werdet Ihr es mir zeigen?" "Ich zeig's dir", sagte er ruhig. Er kehrte zurück zum Baum und baute sich abwartend vor ihr auf. "Entscheide du, wie du angreifen willst." Sie hob behutsam die Klinge, blanker Stahl. "Schneidet mir nicht die Füße ab." "Mach dir deswegen keine Sorgen. Bestimm du die Geschwindigkeit." Sie fing an, in einem vorsichtigen, moderaten Tempo, Ausfall und Parade. Er wich ihr aus, stieß vor, wich aus, stieß vor, abermals mit voller Kraft. Verdammt, es würde weh tun. Er wählte seinen Zeitpunkt, wählte seine Stelle, verlagerte das Gewicht auf sein gesundes Bein, ging schwer zu Boden und benutzte den Schwung, um sich auf ein Knie aufzustützen und wieder auf die Füße zu kommen, so schnell wie eh und je. Sie sprang zurück, fuhr herum und griff erneut an, und er bremste seinen Schlag ab, machte ihn langsam, immer langsamer. "In Ordnung", sagte er keuchend. "Jetzt du." Sie sah ihn an mit einem Ausdruck düsterer Hoffnungslosigkeit. "Ein langer Winter?" neckte er sie. "Ich werd's versuchen." Abermals hob sie das Schwert. Er hob seins und begann den langsamen Tanz. "Benutze den Schwung deines Falls. Wenn du fällst, dann wehr dich nicht dagegen. Roll dich auf die rechte Schulter. Stemm dich gleich wieder mit dem rechten Knie hoch." Sie fiel. Sie stemmte sich fast ganz hoch und schlug nach ihm. Er wich zurück, das Knie war steif, aber er gelangte außer Reichweite ihres Schwerts. "Daneben." Als sie sich hochrappelte. Sie fiel wieder hin. Und blieb japsend unter dem Gewicht des Körperschutzes liegen. "Es reicht", sagte er. "Ich kann es schaffen." "Es _reicht_, habe ich gesagt." Er holte seine Schwertscheide, steckte die Klinge hinein und hob den Stock vom Boden auf. "Geh dich waschen." Das Essen wurde von Schweigen begleitet, von unversöhnlichem Schweigen. Und er wünschte sich nichts sehnlicher, als eine Kompresse auf sein schmerzendes Bein zu legen, wollte ihr gegenüber jedoch nicht zugeben, daß er sich zu jeder Bewegung überwinden mußte. Und so trank er ein wenig, indem er sich den restlichen Wein einteilte bis zu dem Zeitpunkt, da der Dorfjunge zurückkommen würde. Er legte sich wortlos schlafen und versuchte eine Haltung zu finden, bei der ihm das Bein nicht weh tat. Wenn es der kleinen Närrin einen gesunden Schrecken eingejagt hatte, war es die Sache wert gewesen. Sollte sie es ruhig weiter versuchen. Sollte sie sich doch den Rücken quetschen und Angst kriegen und sich eine Muskelzerrung holen. Er schaffte es immer noch im Panzer. Wenn das Knie nicht versagte. Verdammt wollte er sein, wenn er ihr das nicht beweisen würde. "Grundstellung", sagte er. Das Schwert hob sich. Er führte die Übungen langsam aus, ausgewogen und genau. Der Wind war heute bis zum Abend wärmer gewesen als sonst. Der Himmel über dem Berg hing voller grauer Regenwolken. Es herrschte kein Zwielicht, nur Düsternis, und gelegentlich fiel Regeln auf den festgetrampelten Boden. Sie wollte die Übungen beschleunigen. Er widerstand. Das Knie schmerzte. Das geschah immer dann, wenn das Wetter umschlug. Er hätte wissen müssen, daß mehr als nur eine Zerrung dahintersteckte. Und er hatte keine Lust, das gestrige Manöver zu wiederholen. "Nein", sagte er. "Geduld, Geduld." Sie nickte. Sie hielt das Tempo, das er vorgab, mindestens drei Durchgänge lang durch; dann wurde er schneller. Und schneller. Grundschlag und Grundschlag und Grundschlag und Variation. Dann ließ sie sich plötzlich fallen, kam wieder hoch und wechselte die Taktik."_Verdammt_!" Er sprang zurück, holte wütend mit dem Schwert aus und hielt inne. Sie desgleichen, den Schwertarm nach hinten haltend, aus der Angriffslinie heraus. Er verspürte ein Stechen im Bein, seitlich am Oberschenkel. "Verdammt noch mal!" schrie er, als sie aufstand. Er sah nach der Wunde: bei Langschwertern war das angebracht. Man konnte ein ganzes Glied verlieren, ohne es gleich zu spüren. Nicht tief, dem Himmel sei Dank. "Es tut mir leid." "Jetzt hast du's also geschafft, daß ich blute. Meinen Glückwunsch. Ich hätte dir den Kopf abschlagen können. Hörst du?" Sie schwieg. "Du glaubst mir nicht, Mädchen?" "Ich glaube Euch", gab sie leise zurück. Er betastete die blutende Wunde. Und funkelte sie an. Verdammt wollte er sein, wenn sie ihm glaubte. Er hob seine Schwertscheide auf. "Ich hole was zum Verbinden", sagte sie. "Es ist nichts." "Es blutet..." "_Sei still_!" Er rammte das Schwert in die Scheide und blickte sie direkt an. Um sie herum prasselte Regen nieder und überzog den Boden mit dunklen Flecken. "Ich habe dir eine Anweisung gegeben. Du hast dich darüber hinweggesetzt. Und jetzt bist du verdammt stolz auf dich. Du glaubst, du hättest mich übertölpelt. Jetzt meinst du, du könntest deinen Feinden gegenübertreten." "Das habe ich nicht gewollt." "Du bist ein eingebildetes kleines Luder, Mädchen. Ich beklage mich nicht über unangemessene Behandlung. Mein Bein ist noch am Körper. Das haben schon bessere Leute versucht als du. Ich habe mich bei dir immer zurückgehalten, und jetzt auch, und nur deshalb hast du noch deinen _Kopf_, Mädchen, und deshalb bin ich es, der blutet. Es gehört schon etwas dazu, sich klarzumachen, was ich weiß und du nicht, und sich ständig zurückzuhalten. Ich sehe ein, daß ich einen Fehler gemacht habe. Es hat mir _Spaß_ gemacht, dich zu unterrichten. Ich hab's dir schon einmal gesagt: Für eine Frau bist du gut. Aber der erste _Mann_, auf den du triffst, wird dir den Kopf abschlagen. Das habe ich dir von Anfang an gesagt. Du wolltest nicht auf mich hören. Und ich habe einen Fehler gemacht. Ich habe einen schweren Fehler gemacht, als ich dachte, du würdest Vernunft annehmen. Und einen zweiten, als ich das Unterrichtstempo deinen Fähigkeiten angepaßt habe. Jetzt glaubst du, du könntest es mit Männern aufnehmen, die den Schwertkampf ein ganzes Erwachsenenleben lang studiert haben. Aber das kannst du nicht. Wenn du so, wie du bist, von hier weggehst, dann bist du beim ersten Mal, da du es mit einem gewöhnlichen Banditen aufzunehmen versuchst, tot, für nichts und wieder nichts tot." "Ihr habt mir etwas anderes gesagt." "Ich sage dir, _hör auf_, Mädchen. Ich sage dir, gebrauch deinen Verstand und gib deinen verrückten Plan auf. Dort draußen ist für dich nichts zu holen. Bring den ganzen verdammten Haufen ruhig um, aber es gibt immer irgendwelche Schmarotzer, die nur darauf warten, ihren Platz einzunehmen. Du allein kannst nichts ausrichten. Es wird bloß ein schlechtes Ende mit dir nehmen, und niemand hat etwas davon." "Ihr habt mir Euer Wort gegeben." "Ich habe dir mein Wort gegeben. Aber unter einer Bedingung. Wenn du _versagst_, Mädchen, dann hast du versagt, und die Abmachung gilt nicht mehr." "Ich habe nicht versagt." Er holte tief Luft und sah sie unverwandt an, während seine eigene Schöpfung den Blick erwiderte. "Mädchen", sagte er und zog sein Schwert aus der Scheide, "ich habe nicht gekämpft. Ich habe unterrichtet. Du sollst den Unterschied kennenlernen. Grundstellung." Sie schüttelte den Kopf. "Nein." "_Grundstellung, verdammt noch mal_!" "Ich darf Euch nicht treffen! Ihr tragt keinen Panzer!" "Du glaubst, der könnte dir helfen. Den Teufel wird er tun, Mädchen, bei einem richtigen Schlag! Und bei einem Anfänger brauche ich keinen." Sie warf ihr Schwert weg. "Hörst du auf?" fragte er sie. "Gilt die Abmachung nicht mehr?" "Nein." Er steckte das Schwert in die Scheide und hob den Stock auf. "Ich lasse dir einen noch größeren Vorteil. Nimm das Schwert, oder du bist draußen. Hast du verstanden?" Sie bückte sich und hob es wieder auf. Der Regenschauer wurde plötzlich zum Platzregen. Er nahm die Grundstellung ein. Sie ebenfalls. Sollte sie sich Gedanken machen; sollte sie sich beruhigen. Das gestand er ihr zu, während der Regen den Untergrund tückisch machte. Ihr Gesicht war wachsbleich, der Mund ein schmaler Strich. "In Ordnung", sagte er und begann mit einer langsamen Bewegung. "Ich darf Euch nicht treffen." "Du kannst es versuchen. Möchtest du die Waffen tauschen?" "Nein." "Nur damit du Bescheid weißt, Mädchen. Willst du deinen Stock holen? Na los! Ich warte solange." Sie nahm die Deckung herunter und wollte sich umdrehen. Er griff an. Sie wich ihm mit einer heftigen, unausgewogenen Drehung aus und nahm ihre Deckung wieder hoch, während ihre Augen vor Entrüstung funkelten. "Du glaubst deinem Gegner?" fragte er. "Das ist wirklich dumm." Er griff erneut an, immer wieder, und stieß den Stock durch ihre Deckung hindurch, schlug ihr aufs Bein, auf den Arm, wich einem verzweifelten Konter aus, fuhr herum und schlug ihr mit dem Stock hart in die Seite. Sie stürzte. Sie rollte sich ab, kam halb wieder hoch, und er schlug sie erneut, mit beiden Händen. Das Schwert fiel ihr aus der Hand. Er schlug sie wieder. Und ein viertes Mal. Sie versuchte den Schwertgriff zu packen, doch als sie das Schwert hob, trat er es ihr aus der Hand. Sie wälzte sich ihm hinterher, und er ließ sie nahe herankommen, ehe er sie im Sprung niederschlug und sie mit dem Gesicht nach unten durch den Dreck schlitterte. Dann rührte sie sich nicht mehr. Er stand da, während ein sengender Schmerz vom Knie bis zum Rückgrat ausstrahlte und sein Herz vor Angst so lange hämmerte, bis sie sich .regte, die Füße bewegte und die Arme unter sich zog. "So erginge es dir", erklärte er. "Du wärst jetzt tot. Keine Ausreden. Keine Vorgaben. Die Welt hat kein Mitleid mit dir. Verdammt will ich sein, wenn ich dich in die Welt entlasse, solange du glaubst, du könntest es im Kampf mit einem Mann aufnehmen. Du bist nicht stark genug. Du wirst es nie sein. Also, das war's dann." Er warf den Stock weg. Er trat an ihr vorbei in den Regen hinaus, ließ sie liegen, damit sie sich ausweinen und mit sich zu Rate gehen konnte, stieg die Veranda hoch und ging hinein, merkte beim Treppensteigen, daß sein ganzer Stiefel voller Blut war; und als er die Hose aufgeschnürt hatte, um das Bein zu verbinden, stellte er fest, daß er zitterte. Das Mädchen würde wahrscheinlich abwechselnd heulen, ihn verfluchen und sich die Seele aus dem Leib kotzen. Aber er hatte ihr keinen Knochen gebrochen. Er hatte sie nirgendwo getroffen, wo sie dauerhafte Verletzungen davontragen konnte. Das wußte er. Und die Gedanken, die ihr jetzt durch den Kopf gingen, beanspruchten Zeit. Dabei mußte man allein sein. Und so nahm er den Salbentopf, bandagierte sich das Bein und schürte das Feuer, da er meinte, sie werde die Lappen brauchen, wenn sie hereinkam. Es donnerte. Regenschauer schlugen aufs Dach. _Sie wird dort draußen erfrieren_. Er humpelte zur Tür und öffnete sie. Sie lag nicht mehr dort, wo sie zuvor gelegen hatte. Sie stand draußen im Regen, hieb mit mächtigen, wuchtigen Schlägen auf den Baum ein, links, rechts, _wumm. wumm. Wumm_. Und taumelte beim Ausholen. _Verdammt_. "Taizu!" Er war sich nicht sicher, ob sie ihn durch den Regen hindurch, in ihrem Zustand gehört hatte. Er fluchte und trat auf die Veranda hinaus. "Taizu!" _Wumm. wumm. Wumm_. "Verdammt, Taizu!" Er ging zu ihr hinüber, im strömenden Regen, die Stufen hinunter und über den Hof. "Taizu, um Himmels willen..." Sie drehte sich um, den Schwertstock erhoben in beiden Händen. Er blieb stehen, als er sah, wie wütend sie war und wie sehr sie sich schämte - und daß sie ihm drohte. "Ich könnte dich überwältigen", sagte er, "sogar mit bloßen Händen. Du wirst nie die nötige Kraft besitzen. Es war ein dummer Entschluß. Muß ich dir das wirklich beweisen?" Sie warf den Schwertstock weg, in die Pfützen und in den Dreck, und begann an Ort und Stelle, im strömenden Regen, mit Händen und Zähnen den Panzer zu lösen. Er half ihr nicht. Er stand einfach nur da und sah zu, wie sie ihn in den Dreck warf. Sie sah aus, als weinte sie, aber der Regen wusch die Tränen weg. Seinen Panzer behandelte sie genauso. Er jedoch schwieg, stand einfach nur da. Sie nahm die Polster von den Armen ab, während der Regen ihr das Hemd an den Leib klatschte und über ihr Gesicht strömte, streifte die Polster bis zu den Füßen ab. Als sie den Schwertstock packte, begriff er endlich. "_Ohne den verdammten Panzer_!" schrie sie ihn an, und er wich erst nach hinten, dann zur Seite und wieder nach hinten aus, doch sie ließ ihm keinen Raum, sich neu zu sammeln. "Verdammt!" schrie er, als ihm einfiel, daß sein Schwert im Schlamm lag; er täuschte einen seitlichen Ausfall an, warf sich nach vorn und packte es. Er schlug nach ihren Beinen; sie wich aus, und er verschaffte sich Raum, richtete sich wieder auf und konterte mit einem Angriff auf ihren Stock, wobei er versuchte, sie _nicht_ zu treffen, ein Vorsatz, den sie nicht erwiderte. Als er ausrutschte, traf sie seinen Arm. Sie glitt ihrerseits aus, und nun, da sie quitt waren, hielt er inne. "Also gut", sagte er zwischen zwei Atemzügen und forderte sie mit einer verächtlichen Geste seiner freien Hand heraus. Dann ein gegenseitiges Abtasten von Haltung und Deckung, ein jäher Angriff, der ihn plötzlich in die Defensive und zu einer Drehung zwang, zu rasch aufeinanderfolgenden Ausfällen, die eine Weile geräuschlos und ohne Körperkontakt vonstatten gingen. _Du Närrin_! dachte er, duckte sich unter ihrem Angriff hindurch und drängte mit aller Macht auf sie ein. Sie fiel den Hang hinunter und rutschte durch den Schlamm. Sie hatte sich gerade halb aufgerichtet, als er sie einholte und ihr mit halber Kraft in den Rücken trat. Diesmal schlug sie mit dem Kopf auf. Sie blieb aus-gestreckt liegen, mit dem Kopf nach unten, während der Regen auf sie niederprasselte und die Schlitze ihrer Augen unter den Blitzen weiß aufleuchteten. "Du verdammte Idiotin!" schrie er sie an. "Es regnet!" Sie schnappte mit offenem Mund nach Luft, drehte sich herum und glitt auf die Knie. Seine Hand erwartete sie bereits. Sie funkelte ihn an, und er zögerte nicht länger, sondern packte sie beim Arm und zog sie hoch. Ihr Körper brannte, als hätte sie Fieber, ihre Seiten bebten von der Anstrengung des Atmens. "Komm", sagte er und zog sie auf die Hütte zu, den Hang hinauf. Sie stieß sich von ihm ab und stieß mit dem Knie nach ihm, ohne ihn zu treffen. Er ließ sie los, weil sie es so wollte, und sie fiel im Schlamm des Abhangs auf alle viere nieder. "Na gut", sagte er. "Bleib liegen." Er stapfte davon, hob am Baum seine Sachen auf und brachte sie zur Hütte, die Treppe hinauf und auf die Veranda, erst dann schaute er sich in der fallenden Dunkelheit und im Zucken der Blitze um und sah sie dort sitzen, wo sie hingefallen war, eine unförmige kleine Gestalt unter dem knorrigen alten Baum. "Ach, was soll's", murmelte er, ließ den Körperschutz fallen und schwankte zurück, packte sie beim Arm und zog sie abermals hoch, doch diesmal spürte er die Kälte in ihren Gliedern. Er hielt ihre Arme fest und zerrte sie mit sich, bis er merkte, daß sie zu gehen versuchte. Dann hob er sie hoch und trug sie, rutschte im Schlamm aus und kam auf der Treppe ins Stolpern. Ein stechender Schmerz fuhr durch sein Bein. Beinahe hätte er sie fallen gelassen. Doch er schaffte es bis zur Tür und trat sie auf, trug sie ins Warme und Helle und brach mit ihr vor dem Feuer zusammen. Sie zitterte. Er hielt sie fest, die Arme um sie geschlungen, bis sie ihn wegstieß. Daraufhin ließ er sie los und zog die nasse Kleidung aus, trocknete sich das Haar mit einer Decke ab und wickelte sich darin ein, bis die Zähne zu klappern aufgehört hatten und er zu ihr ging. Das Wasser hatte gekocht. Er goß es in einen Eimer mit kaltem Wasser und legte die Öllappen zum Aufwärmen hinein, dann kniete er nieder und trocknete ihr das verdreckte Haar mit einem Zipfel seiner Decke ab. "Laßt mich in Ruhe." "Kommt gar nicht in Frage." Er packte ihr nasses Hemd und zog es ihr über den Kopf, während sie sich mit klappernden Zähnen wehrte. "Das ist keine Vergewaltigung, Dummkopf, du bist naß. Dann zieh es selbst aus." "Laßt mich _in Ruhe_!" Er riß das Hemd endgültig herunter. Auf dem Rücken und den Armen hatte sie bläulich verfärbte Blutergüsse, alte und neue Schrammen, die sich erst noch entwickeln würden. Er berührte sanft ihren Rücken. Er wrang die Lappen aus dem Eimer aus und wusch ihr die Schultern und den Hals, während sie sich verkrampfte, bis sie in seiner Umarmung erschlaffte, die Arme schützend vor der Brust verschränkt, mit angezogenen Knien, am ganzen Leib zitternd. Aus der Hose troff eine schlammige kalte Pfütze. Er löste den Riemen und hatte sie halb heruntergezogen, bevor sie auch nur merkte, was vor sich ging: er hielt sie mit einem Arm fest, verlor die Decke und zwang sie beide auf die Knie, ehe ihr Widerstand heftig wurde. Er umklammerte sie und zischte ihr ins Ohr: "Mädchen, mir ist kalt, ich bin müde, du hättest mich beinahe ernstlich verletzt, und wenn du den verdammten Eimer umstößt, dann lasse ich dich darin erfrieren. Beruhige dich, _beruhige_ dich, mein Ehrenwort, daß ich's nicht auf deinen mageren Körper abgesehen habe, wirklich, also beruhige dich." Er hörte auf zu zerren, sie hörte auf, Widerstand zu leisten, und er wickelte sie beide in die Decke ein und hielt sie, während sie von neuen Krämpfen geschüttelt wurde, einfach nur im Arm, ohne sie irgendwo anzufassen, wo es ihr nicht recht gewesen wäre, obwohl die Gedanken gegenwärtig waren. Aber ganz nüchtern sagte er sich auch, daß er es ihr schwer genug gemacht hatte, daß sie sich kurz vor dem Zustand befand, da sie ihm nicht mehr verzeihen könnte, und daß das Aufgeben ihrer Gegenwehr ein Ausdruck des letzten Restes von Vertrauen war, das sie ihm noch schenkte. Und so hielt er sie wie etwas Zerbrechliches und streichelte ihr nur das nasse Haar und saß da, während seine Gelenke steif wurden und ihm dort, wo die Decke nicht mehr hinreichte, die Schulter fror. Schließlich nieste er und zuckte zusammen, und sie bewegte sich. "Laßt mich los", sagte sie matt. Er löste seine Umarmung. "Da. Du bist frei." Sie stand mühsam auf und stieß gegen den Schnitt an seinem Bein; er brummte und packte ihre Arme, während sie sich von ihm zu lösen versuchte, ohne ihn anzufassen. Er reichte ihr die Decke. Sie warf sie sich um und wandte den Blick von ihm ab, setzte sich mit dem Rücken zu ihm. Die Lampe flackerte und warf tanzende Schatten. "Ich habe nicht aufgegeben", sagte sie mit dünner, heiserer Stimme, die ihn auf andere Weise erschauern ließ. "Ich habe dich geschlagen", erwiderte er, vernünftig und verzweifelt, "mit einem Angriff, den du nicht kanntest. Ich übe das schon mein Leben lang. Es wird immer einen Ausfall geben, den du nicht kennst. Und ich hätte dich auf hundert verschiedene Arten schlagen können. Verstehst du? Es ist hoffnungslos. Niemand würde ehrenhaft mit dir kämpfen. Das käme niemandem in den Sinn. Wenn du Glück hast, stechen sie dich ab. Das ist die Wahrheit, ganz gleich, was du willst. Ich kann dir nicht genug beibringen. Ich will nicht, daß du stirbst. Du wolltest mir nicht glauben. Du wolltest nicht auf mich hören. Hör mir jetzt zu. Du bist gut. Du bist wahrscheinlich der begabteste Schüler, der mir je untergekommen ist, ich selbst _eingeschlossen_. Aber bei solchen Männern, bei solchen Aussichten nutzen dir deine Fertigkeiten gar nichts. Ich habe gedacht, du würdest vernünftig werden und das einsehen. Aber das hast du nicht getan. Du hast _mich_ unter Druck gesetzt, und du bist bereit, es mit allen anderen aufzunehmen; und du hättest es nicht eingesehen, wenn ich mich nicht gewehrt hätte." Sie wandte sich halb um und blickte ihn aus den Augenwinkeln an. "Ich habe nicht aufgeben." "Sei keine Närrin", sagte er. "Also könnt Ihr mich schlagen. Das ist nicht neu. Was habt Ihr eigentlich erreicht? Das Bedauern, daß ich einen Fehler gemacht habe? Daß ich den Fehler gemacht habe, Euch zu treffen?" Ihr Stimme wurde zu einem Krächzen, dann verstummte sie und wandte sich wieder ab, zog die Decke um sich zusammen, während er ohne einen Faden am Leib im Kalten saß. Sie jedoch starrte mit bebendem Kinn ins Leere, während ihr die Tränen am Mund hinunterliefen. "Ihr habt nicht geglaubt, daß ich Euch noch einmal treffen könnte. Ich habe gewußt, daß ich es kann. Ihr erinnert Euch nicht mehr richtig." Er beherrschte seinen Ärger, stand auf, holte sich eine Decke von seiner Matte und legte sie sich um. "Da ist etwas Wahres dran. Aber so ganz stimmt es nicht. Hör mir zu, Mädchen. Das verdammte Bein hat gehakt. Ich habe es überlastet, und es hat versagt. Ich war nicht ich selbst. Aber du kannst nicht immer Glück haben. Und wenn du ins eigene Verderben laufen willst, werde dir nicht dabei helfen." "Wenn Ihr jetzt aufhört", sagte sie, "dann gehe ich mit dem fort, was ich weiß." "Du rennst ins Verderben!" "Vielleicht." Ihre Stimme krächzte und brach erneut, ihr Gesicht, die unversehrte Seite, war im flackernden Lampenschein wie ein Bild aus Jade. "Aber _ich_ halte meine Versprechen." Das saß. Er starrte sie lange Zeit an, und als er sprach, krächzte er ebenfalls. "Darüber sprechen wir noch. Morgen, nicht heute. Leg dich auf den Bauch. Ich bringe dir die Lappen. Bist du irgendwo verwundet?" Sie schüttelte den Kopf, schüttelte die nasse Hose von den Knöcheln ab und erhob sich, wobei sie die Decke festhielt. Sie versuchte aufzuräumen - hob ihre und seine tropfnassen Sachen auf und legte sie auf dem Weg zu ihrer Matte auf einen Haufen neben die Tür. Er erhob sich ebenfalls, wickelte sich anstandshalber ein Tuch um die Hüfte und zog sein zweites Hemd an, ehe er die restlichen Lappen zum Wärmen auf die Kochstelle stellte und ihr die heißen brachte. Als er die Decke ein Stück hochzog und die Kompressen auflegte, wehrte sie sich nicht. Und obwohl es verlockend war, jetzt, da sie sich beruhigt hatte, mit ihr zu reden, ahnte er, daß sie vernünftigen Argumenten noch nicht zugänglich war. Er klaubte ihr einen Dreckklumpen aus dem Haar - sie hatte die Decke ebenso verdreckt wie den Panzer, der auf der Veranda im Regen lag; und er wagte es, ihr das nasse Haar aus dem Gesicht zu streichen. Die Narbe hob sich deutlich ab von ihrer Blässe. Und sie zuckte zurück vor dieser behutsamen und einzigen Berührung, die nichts zu tun hatte mit der Behandlung ihrer Verletzungen, zuckte zurück und wandte das Gesicht ab. "Bist du so böse mit mir", sagte er, "nur weil ich dir die Wahrheit gezeigt habe?" Sie gab keine Antwort. "Nun", sagte er, "dafür bekommt man in Chiyaden den Kopf abgeschlagen. Ich kann nicht behaupten, daß du anders bist als der Rest der Welt." Er legte ihr die Hand auf die Schulter und tätschelte sie kurz, sei es auch nur, um sie zu ärgern, dann stellte er den Lampendocht nach und holte weitere Kompressen, während er fror und sich wünschte, jemand erwiese ihm den gleichen Dienst. _*8*_ Am Morgen bewegte sie sich schon wieder recht gut. Er war derjenige, der humpelte, und er setzte sich behutsam vor seine Schüssel Reis. Angesichts der morgendlichen Kälte aßen sie drinnen auf den Matten, aber die Tür und die Fensterläden waren geöffnet, damit Licht hereinkam. Sein Panzer war noch immer naß und unbrauchbar, und es würde lange dauern, bis der schmutzige Haufen auf der Veranda wieder verwertbar wäre. Er hatte Taizus verdreckte Sachen ausgewrungen und sie vor dem Schlafengehen neben der Feuerstelle zum Trocknen ausgebreitet, und jetzt konnte sie sie wieder anziehen. Die Hütte war ein Schlachtfeld, die Matten und Decken waren mit modrigen Blättern und Blut verkrustet, und die Lappen und Eimer wetteiferten mit dem Reistopf um einen Platz am Feuer. Er hatte auch das Frühstück zubereitet. An diesem Morgen hatte er nichts von ihr verlangt. Er erteilte ihr keine Befehle. Wenn er sich nach dem Grund gefragt hätte, hätte er ganz im stillen zugeben müssen, daß er es zu weit getrieben und etwas Schlimmes getan hatte, als er das Mädchen zu verzweifelter Gegenwehr getrieben hatte, und daß er sich nun in der Defensive befand: nicht weil er schwach geworden und sich nicht zu verteidigen gewußt hätte, sondern weil er nur allzugut wußte, daß er im Irrtum war und ihr nicht im Gegenzug wiederum weh tun wollte. Aber, sagte er sich, sie war kein Schüler, sie war ein Mädchen, und niemand hatte ernsthaft damit rechnen können, daß ein Mädchen Amok laufen würde. Niemand, der so erfahren war wie er, durfte sein Können gegenüber einer Frau ausspielen. Darum hatte er sich instinktiv am Bein verletzen lassen, darum war er zurückgewichen. Er hätte ihr das Schwert abnehmen können. Das hätte er tun sollen. Bei einem Jungen hätte er es getan. Darum war er zurückgeschreckt. Sonst hätte er den ersten Schritt rückwärts niemals getan. Oder den zweiten. Verdammt. Er hatte den leeren Wäscheeimer gestern abend wie aus versehen vor die Tür gestellt und versucht, wachzubleiben oder wenigstens nicht tief zu schlafen, aus Angst, sie könnte nachts entwischen. Nicht aus Angst, umgebracht zu werden. Er hielt es für ausgeschlossen, daß sie damit Erfolg hätte; außerdem hatte er etwas Besseres verdient, auch wenn sie eine Bäuerin und eine Frau war, ohne jede Vorstellung von ehrenhaftem Benehmen. Aber er hatte schreckliche Angst davor, daß sie verschwinden könnte, ohne ihm vorher Gelegenheit zu geben, sich ihr zu erklären. Die Sturheit, ihn mitten in einem Unwetter zu verlassen, war ihr zuzutrauen. Verdammt. Er war ein Narr, daß er sie ermutigt hatte. Ein Narr, daß er sie unterrichtet hatte. Ein Narr, daß er sie nicht mit Gewalt genommen und mit ihren Dummheiten Schluß gemacht hatte. Er würde sie schon noch zur Vernunft bringen. Die Lust würde sie von ihren Tollheiten abbringen. Da stimmte überhaupt etwas nicht mit ihr. Ihre erste Erfahrung mit einem Mann hatte sie entsetzt, hatte sie allem Fraulichen entfremdet und ihr Denken verwirrt. Das konnte er ändern. Keine Frau, mit der _er_ geschlafen hatte, hatte sich jemals darüber beklagt. Und sie würde es auch nicht tun. Verdammt, verdammt, verdammt. Er sollte es dem Luder einfach mal zeigen. Ihr wenn nötig Hände und Füße binden. Und keine Diskussion mehr. Warum in aller Welt war er bloß zurückgewichen und mit dem Schwert auf sie losgegangen, um mit ihr gleichzuziehen? Konnten neun Jahre einem Mann so zusetzen? _Ihr seid aus dem Gleichgewicht, Meister Saukendar_... Sie hatte bis jetzt noch kein Wort gesprochen, hatte sich ebensowenig gewaschen wie er, er war nur aufgestanden und hatte sich angezogen, dann hatte er die Fensterläden geöffnet und das Frühstück bereitet, bevor er Taizu ihre Sachen gebracht hatte. Sie hatte nichts zu Abend gegessen, es war ein kalter und feuchter Morgen, und sie hatte sich angekleidet und auf die Matte gehockt, nicht weit vom Feuer und nicht in seiner Nähe. Doch als er ihr das Essen brachte und sich setzte, reagierte sie wenigstens und aß mit Appetit. "Ich habe vorgeschlagen, wir sollten uns unterhalten", meinte er nun. Sie sah ihn weder an, noch hörte sie zu essen auf. "Ich habe versucht, es dir mit Worten zu erklären", sagte er. "Du wolltest nicht auf meine Worte hören. Du willst mir nicht glauben. Du bestehst darauf, ein Mann zu sein. Dann steck die Prügel ein wie ein Mann, beherzige meinen Rat wie ein Mann und hör auf mich, wenn ich dir sage, daß dir die nötige Reichweite fehlt, das Gewicht und die Kraft, und im Gegensatz zu einem Jungen wirst du sie mit der Zeit auch nicht bekommen. Du kannst es nicht schaffen. Es gibt noch andere Dinge im Leben. Andere Ziele, die sich lohnen." Ein langes Schweigen. Sie nahm noch einen Bissen und sah ihn nicht an. "Ich möchte, daß du hierbleibst", sagte er. "Ich werde dich weiter unterrichten. Ich werde dir so viel beibringen, wie du lernen kannst. Aber verzichte auf deine Rache. Damit machst du dich nur unglücklich. Eines Tages wirst du sehr gut sein. Eines Tages könntest du einen Sohn oder eine Tochter haben, die du unterrichten kannst." Sie sah von ihrem Essen auf und blickte ihn an wie ein Tiger. "Ich bin sehr stolz auf dich", sagte er. Auch das brachte ihm keine andere Reaktion als nur dieses Starren ein. "Habe ich es verdient, daß du mich haßt?" wollte er wissen. Er hatte Streitfälle vor dem Kaiser und hohen Beamten vertreten und war sich dabei weniger gefährdet vorgekommen. "Du kommst auf meinen Berg, du störst meinen Frieden, du verlangst dies, du verlangst das, du willst, daß ich dich nicht anfasse, was ich dir alles zugestanden habe; und da soll ich diesen Blick verdient haben?" Ihr Mund straffte sich. Sie blinzelte. "Oder schmollst du deshalb, weil du verloren hast? Also, das ist bestimmt kein männliches Verhalten. Oder gelten jetzt andere Regeln?" Der Mund zuckte. Die Augen funkelten. "Ihr habt mich mit einem verdammten Trick hereingelegt. Ich habe nicht verloren. Ihr habt gemogelt." "Hier geht es nicht um Spielchen, Mädchen. Es geht darum, einen Menschen zu töten. Ist er ein ehrlicher Mensch? Nicht daß ich wüßte. Was soll also das Gerede von Spielregeln und Tricks? Welcher Mann würde sich schon mit einer Frau duellieren? Dich töten, ja. Sich ehrenvoll mit dir zu messen, würde ihm sein Stolz nicht erlauben. Dir die Hand abhauen, weil du eine Waffe trägst. Das wird er tun. Aber ich habe dir nicht beigebracht, aufrechte Männer zu töten. Das sind die einzigen, die dich ehrenvoll behandeln würden. Verlaß dich niemals auf das Wort deines Gegners. So lautet die Lektion." Ihr Gesicht hellte sich ein wenig auf. "Aber es gibt noch eine Lektion", sagte er. "Und die lautet, daß du dafür nicht geschaffen bist. Gib deinen Plan auf. Bleib hier. Ich bin kein grausamer Mensch. Alles, was ich getan habe, habe ich getan, um dich vor einem Fehler zu bewahren. Ich verlange nicht einmal, daß du das Lager mit mir teilst, aber ich behaupte auch nicht, daß ich mir das nicht wünsche." Sie schüttelte den Kopf. "Nein", übersetzte er. "Nein - als Antwort worauf?" "Nein." "Taizu, um Himmels willen, red mit mir." Sie stellte ihre Schüssel vor sich auf die Matte. Und starrte sie stirnrunzelnd an. "Taizu..." Sie hob die Hand, bat um Ruhe. Also schwieg er und wartete, und nach einer Weile sagte sie: "Werdet Ihr mich unterbrechen?" "Nein", sagte er. Einen Moment lang blickte sie zu Boden, die Hände auf den Knien. Dann: "Ihr habt mich getäuscht, um mich zu schlagen. Das habe ich von meinem Lehrer nicht erwartet. Ich hätte es erwarten sollen, da habt Ihr recht, und das werde ich auch nicht vergessen, Meister Saukendar. Jedem anderen hätte ich nicht vertraut. Es war aber sonst niemand da." Ihr Kinn bebte, und sie hob die Hand, damit er weiter schwieg, bis sie sich wieder beruhigt hatte. "Ich habe Euch meine Bedingungen genannt. Ich werde kochen, und ich werde saubermachen. Und ich möchte noch ein Jahr bleiben. Ich habe nicht aufgegeben. Ihr werdet mich weiter unterrichten, und Ihr werdet mich nicht täuschen; lehrt mich, was ich brauche, um siegen zu können. Was immer es ist." _Sie ist erwachsener geworden_, dachte er entsetzt. _Soviel hat sie also gelernt. Na gut. Noch ein Jahr, und in der Zeit wird sich vielleicht alles von selbst regeln. Sie wird Vernunft annehmen. Sonst findet sie womöglich einen Weg, um zu entwischen. Und ich will verdammt sein, wenn ich sie dann suche_. "Ich habe nicht aufgehört. Ihr steht immer noch im Wort." "Du hast versagt, Mädchen. So lautet die Abmachung." "Nein. Bis ich aufhöre, habt Ihr versprochen. Daran ändert sich auch dann nichts, wenn Ihr jetzt einfach etwas anderes behauptet." "Verdammt, _aufhören_ bedeutet, wenn du nichts mehr lernen kannst. Und an diesem Punkt bist du jetzt angelangt. Du rennst in dein Verderben." Sie schüttelte feierlich den Kopf und blickte ihn mit Tränen in den Augen vorwurfsvoll an. "Verdammt", sagte er laut, "du hättest dir den Rücken brechen können. Oder den Schädel." "Nur wenn Ihr es geschafft hättet, mich zu treffen." "Wenn ich es _geschafft_ hätte! Mädchen, bedauerlicherweise befindest du dich im Irrtum." "Vielleicht stimmt das. Ich weiß es nicht, Ihr habt gesagt, Ihr hättet nicht ehrenvoll gekämpft. Vielleicht habt Ihr nicht die Wahrheit gesagt. Vielleicht habt Ihr mich in diesem Punkt ebenfalls angelogen. Woher soll ich das wissen?" "Du bist wirklich unverschämt." "Ich habe nicht aufgehört. _Das_ ist die Wahrheit, Meister Saukendar." Abermals schwieg er, sein Frühstück, das inzwischen kalt geworden war, hatte er kaum angerührt. Er stocherte darin herum, dann stellte er die Schüssel mit einem seltsamen Gefühl im Magen ab. "Werdet Ihr Euer Wort halten? Man sagt, Ihr lügt nicht." "Ich habe mein Wort gehalten." "_Werdet_ Ihr es halten?" Mit dem Rücken zur Wand: "Ja." "Werdet Ihr mich noch einmal zu täuschen versuchen?" "Du mußt Respekt vor deinem Lehrer lernen, Mädchen. Dein Versagen ist nur natürlich, dafür kann ich nichts. An deinem Unvermögen kann ich nichts ändern." "Ihr habt Euch ein Jahr lang bemüht, mich umzustimmen. Oder wie würdet Ihr es nennen, daß Ihr mich alles gelehrt habt, nur um mich zu schlagen, damit ich meine, ich hätte verloren?" "Du _hast_ verloren, Dummkopf. Ich habe genau das getan, worum du mich gebeten hast. Du hast ein Jahr gebraucht, um so gescheit zu werden, um das zu erbitten, was du brauchst, anstatt es mir zu sagen. Schweig", sagte er und hob eine Hand, als sie den Mund öffnete. "Und hör mir zu. Ich habe dich auch ausreden lassen. Wir sollten uns zuhören, findest du nicht? Du willst in eine Burg hineinmarschieren und einen Mann umbringen. Wie willst du das anstellen? Vors Tor treten und rufen: _Da bin ich, eine Frau, die den Fürsten Gitu zum Duell herausfordern will_! Ist das dein Plan? Er hat schlimme Lücken, Mädchen." "Ich warte, bis er jagen geht. Dann brauche ich nicht durchs Tor." _Aha. Wir machen uns also Gedanken. Dann bringen wir's ihr eben richtig bei, auf die langsame Art. Und lehren sie um Himmels willen Vernunft. Das entspricht ihren Fähigkeiten. Genau das braucht sie. Vernunft, Geduld und eine Vorstellung davon, worauf sie sich da einläßt_. "Beruhige dich und _denk nach_, Mädchen - über die wirkliche Welt und nicht über deine Einbildungen. Du willst ihn also im Freien stellen. Er sitzt auf einem Pferd. Um ihn herum mindestens zwanzig Männer. Besser, du erschießt ihn aus dem Hinterhalt. Das verspricht am ehesten Erfolg. Und dann mußt du machen, daß du wegkommst, denn diese zwanzig Männer werden dich jagen. Hast du ein Pferd?" Sie sah ihn jetzt an, die Augen feurig und dunkel und rotgerändert von zurückgehaltenen Tränen. "Ich will ihn _töten_. Er soll wissen, daß er sterben wird. Ich will, daß er mich deutlich sieht." Angesichts dieses Hasses verkrampften sich seine Eingeweide. Er versuchte, nicht an die Zeit zu denken, als er einen solchen Haß empfunden hatte; einen Moment lang verspürte er ihn jedoch wieder mit aller Macht. "Hör zu. Als ich ausgebildet wurde, gab es einen Jungen. Sein Name war Abi. Seine Familie hatte Feinde. Eines Tages nahm er ein Schwert und griff ihr Haus an. Die Wächter töteten ihn. Das ist das Ende der Geschichte. Er wurde nie erwachsen. Er wurde nie klüger. Seine Feinde sind reich, und seine Familie fiel in Ungnade." "Meine Familie ist tot", sagte sie. Er hatte sie darauf gebracht. "Dann denk wenigstens an deinen Lehrer und mach mir nicht durch deine Dummheit Schande. _Irgend jemand_ trägt Verantwortung für dich. Und wenn du schon alles weißt, kann ich dir nichts beibringen. Du bist aus dem Gleichgewicht gekommen - hier drinnen." Er tippte sich auf die Brust. "Und alles ist weg. Nur dein Mut ist dir geblieben, weil du keine Angst vorm Sterben hast. Aber es kann gut sein, daß du am Ende tot bist, ohne etwas erreicht zu haben." Sie blickte ihn finster an. "Als erstes", sagte er, "überleg dir, wie du danach flüchten kannst." Ihr Gesicht verfinsterte sich noch mehr. "Denk an die _Zukunft_, Mädchen. Denn es _gibt_ ein _Nachher_, auf die eine oder andere Art - und eine Rache, die deinen Feinden die Möglichkeit gibt, sich an _dir_ zu rächen, ist keine Rache. Denk ans _Nachher_, sage ich. Mach einen Plan, um zu überleben." Etwas Eigenartiges lag in ihrem erschreckten Blick, eine panische Angst, die auch auf ihn übergriff, klar und scharf, als wäre sie noch immer gegenwärtig - so daß sein Herz klopfte und er spürte, wie ihm das Blut aus den Händen wich. Es überraschte ihn, wie stark sie war, jetzt, am hellichten Tag, es überraschte ihn, daß ein närrisches Mädchen die alte Wunde wieder aufrühren konnte. _Ihre Angehörigen sind tot. Und es ist, als ob uns die Toten auf der Straße ausgesetzt, der allgemeinen Verachtung preisgegeben hätten. Oder als hätten wir unsere Toten irgendwie im Stich gelassen. Ich weiß, wo du bist, Mädchen. Ich bin selbst diese Straße entlanggegangen_. Sie blickte ihn trotzig an. Und dachte sich ihren Teil, unerreichbar für ihn. "Ich will dir etwas erzählen", flüsterte er, der solche Dinge noch nie ausgesprochen hatte, der niemanden gehabt hatte, dem er sie hätte erzählen können, und dem es jetzt, da er sie vor einem Bauernmädchen aussprach, das ihn wahrscheinlich auslachen und für einen Feigling halten würde, vor den eigenen Toten peinlich war. Doch es war ein vernünftiger Rat, und er entsprach der Wahrheit - im Gegensatz dazu, wovon die Balladen sangen und die Philosophen redeten. "Du sollst noch etwas erfahren, was ich in den neun Jahren auf diesem Berg gelernt habe, Mädchen, nämlich daß es keine Schande ist, zu schlau gewesen zu sein, um zusammen mit seinen Verwandten und Freunden zu sterben. Ich hätte zurückkehren können. Wenn ich Glück gehabt hätte, wäre ich bis zu Ghita vorgedrungen und hätte ihn getötet. Aber ich wäre nicht wieder entkommen, und ein Dutzend Halunken hätten mich überlebt. Ich wäre doch verrückt gewesen, wenn ich ihnen das Vergnügen gegönnt hätte, _meinen_ Hals auf den Block zu legen. Ich ärgere meine Feinde dadurch, daß ich lebe. Ein toter Mann macht keinen Ärger. Ebensowenig ein totes Mädchen, dessen Namen niemand kennt. Also sei klug. Leb hier bei mir. Werde zu einem Gerücht, das den Schlaf deiner Feinde stört... und nicht zu einer Erinnerung, an die niemand denkt. Weißt du, was man sagen wird, wenn du tot bist? _Sie war ein verrücktes Mädchen vom Lande_. Mehr nicht. Das ist auch schon alles. Und irgendein anderer Schurke wird Gitus Platz in Angen einnehmen und zehnmal schlimmer herrschen als er, bis andere Attentäter anfangen, sich Gedanken zu machen. Nichts wird besser werden. Höchstens noch schlimmer." Sie wurde blaß. Sie hört mir zu, dachte er. Zum erstenmal verstand sie überhaupt, was er sagte. Doch dann sagte sie: "Nein", und schüttelte heftig den Kopf. "Denk drüber nach. Du wirst einen Mann unschädlich machen. Das ist alles. Vielleicht ein paar Leibwachen. Das lohnt sich nicht. Dadurch ändert sich nichts. Beherzige meinen Rat. Werde ein Gerücht. Gerüchte lassen sich schwerer umbringen." Erneutes heftiges Kopfschütteln. Sie schaute ihre Hände an und sah dann zu ihm auf, ein Auge von einer schmutzigen Haarsträhne verdeckt. "Ich bin nicht wie Ihr." "Du kannst das gleiche sein wie ich. Ein Geheimnis. Sollen sie sich ruhig fragen, wo du steckst." Erneutes Kopfschütteln, ein angespannter, erschrockener Blick. "Nein." Sie biß sich auf Lippen, dann sagte sie voller Selbstvertrauen: "Ich bin nicht wie Ihr, aber der Mann, dem ich das hier zu verdanken habe..." Sie faßte sich an die Wange. "Ich würde mir keine Gedanken darüber machen, ob er tot ist. Er konnte mit dem Messer nicht umgehen. Er dachte, er könnte es. Viele Männer sind wie er." "Nicht alle." "Aber ich bin gut. _Ich bin besser als diese Männer_." "Natürlich bist du das." Immer noch flüsternd, die größtmögliche Vertraulichkeit. Er besaß ihre Aufmerksamkeit. Er gewann an Boden bei ihr, das spürte er. "Was dir fehlt, ist die Erfahrung - und eine Auswahl an Tricks für den Fall, daß du vom Weg abkommst. Du wolltest, daß ich dich unterrichte. Damit habe ich gestern angefangen. Ich will dir noch etwas sagen. Was immer man dir angetan hat, diese äußere Narbe ist nicht dein Problem. Dein Problem ist die Angst. Die Art Panik, die das Urteilsvermögen trübt und einen zu Heldentaten verleitet. Du mußt deine Angst vor Männern loswerden, Mädchen. Ich sage nicht, daß du mit mir schlafen sollst. Aber ich sage dir, daß es weder deinen Arm sicher macht noch dein Urteilsvermögen schärft, wenn du Angst hast. Du hast eine fürchterliche Angst vor mir. Du hast Angst, von diesen Männern erwischt zu werden, weil du weißt, was dann geschehen kann. Auf dieser Basis kannst du keine guten Entscheidungen treffen. Ich glaube, das kannst du auch im Moment nicht. Wenn du keine Angst hättest, könntest du viel klarer denken. Und du liefest nicht mehr vor mir weg." "Ich habe gesagt, ich würde für meinen Lebensunterhalt arbeiten! Ich bin keine Hure!" "Das ist nicht das Schicksal, das ich dir angeboten habe. Das glaubst du nur. Angst ist ein schlechter Lehrmeister. Wenn du Angst hast, triffst du Entscheidungen, von denen dir die Vernunft abraten würde. Laß dich nicht von der Angst unter Druck setzen, verstehst du mich? Solange du das nicht überwunden hast, solange du nicht selbst über dein Schicksal entscheidest, wird dein ganzes Handeln von deinen Feinden bestimmt. Und am Ende wirst du scheitern, da besteht kein Zweifel." Sie wandte sich von ihm ab, stand auf und ging zur Tür, ohne ihn auch nur eines Blickes zu würdigen. "Der Schwertkampf ist nicht die höchste Kunst", sagte er. Einen Moment lang befand er sich wieder in Yiungei, zu Hause, am Hof aus fahlem Stein. Er vernahm die Stimme seines Vaters. "Er ist nur ein Schatten der wahren Kunst. Das, worauf es ankommt, liegt in dir selbst." Verärgert und verwirrt wandte sie sich um. "Das Schwert ist nicht die Waffe", sagte er. "Die bist du. Begreifst du endlich? Ich kann dich das höhere Wissen lehren, aber ich kann dir nicht versprechen, daß es für dich einen Sinn ergibt. Schau nicht so finster. Erweise deinem Lehrer Respekt. Gütiger Himmel, vor allem mußt du gute Manieren lernen. Eine Barbarin möchte ich nicht unterrichtet haben." "_Ja_, Meister Saukendar." "Sprich nicht in diesem Ton mit mir. Ich hatte Geduld mit dir. Du bist heute gefährlich nahe daran, dir Ärger einzuhandeln. Du bittest mich um einen Gefallen, du bittest mich, dich zu unterrichten, und das gehört nun einmal dazu. Geh abwaschen. Und räum diesen Saustall auf. Ich jedenfalls tu's nicht." Sie verneigte sich, ihr Mund ein schmaler Strich. Und sie nahm wortlos den Kochtopf, die Wäsche und einen Eimer und machte sich auf den Weg zum Bach. Aus diesem Mädchen wurde man einfach nicht schlau. Sie war tatsächlich verrückt. Und er ebenfalls, wenn er sich auf solche Dinge einließ wie gerade eben. So brütete er während seines einsamen Frühstücks über einer kalten Schüssel Reis. Er hatte Angst, sie könnte es sich anders überlegen, hatte Angst, sie könnte vom Bach nicht wieder zurückkommen, hatte Angst, daß sie eines Tages zu dem Schluß gelangen könnte, sie wisse genug, daß sie sich mit ihrem Schwert und ihren wahnwitzigen Plänen bewaffnet auf den Weg machen würde. Sie schlug ihm auf den Magen. Und raubte ihm den Schlaf. So erging es einem mit bohrenden Problemen, dachte er, tagsüber ließen sie einen in Ruhe, und im Dunkeln fielen sie über einen her. Hätte nicht Taizu ihm gegenüber geschlafen, dann hätte er das getan, was er in den schlimmsten Nächten getan hatte, in den ersten Jahren und manchmal auch noch später: Er hätte die Lampe angezündet und sich irgendeine Beschäftigung gesucht und hätte tagsüber geschlafen, bis die Gespenster und Dämonen wieder verschwunden waren. Das ließ sein Stolz jedoch nicht zu, und vom Wein war nicht mehr viel übrig. _Was habt ihr, Meister Saukendar_? Er lag reglos da, starrte mit pochendem Herzen an die Decke und erinnerte sich daran, wie es war, wenn man haßte und sämtliche Menschen verloren hatte, die einem etwas bedeuteten auf der Welt. Und wenn er nicht daran dachte, dann durchlebte er noch einmal den Augenblick, als er vor einem verrückten Mädchen mit einem hölzernen Schwert zurückgewichen war. Dumm war das gewesen, tadelte er sich. Oder er überlegte, warum er am Ende auf all ihre Forderungen eingegangen war. Doppelt dumm. Er konnte sich nicht mehr erinnern, was er ihr versprochen hatte, so war das. _Er_ wußte nicht mehr, was er eigentlich gesagt hatte. Man wußte einfach nicht, was man mit so einer Frau anfangen sollte. Sie mit Prügel zur Vernunft bringen, vielleicht. Das war seine Absicht gewesen. Aber der Umgang mit ihr, das war so, als versuchte man, Wasser mit der Faust festzuhalten: Die ausgestreckte Hand war die einzige Möglichkeit. Also streckte man die Hand aus. Mehr nicht. Man nahm die Möglichkeit ernst, daß sie aus einer Laune heraus weggehen könnte, und man hoffte, man werde ihr genug beibringen können, um sie zu retten. Man mußte sein seelisches Gleichgewicht bewahren und durfte die alten Zeiten nicht wieder wachrufen. Das bedeutete zuviel Wut und zuviel Schmerz; und es verstörte ihn, daß er anscheinend noch immer nicht darüber hinweggekommen war. Es hatte ihn vollkommen überrumpelt, als sie auf ihn losgegangen war, und ihr Zorn hatte ihn sehr beeindruckt. Es war so lange her, seit er sein Können zum letzten Mal erprobt hatte, daß er sich angesichts dieses Mädchens, das er nicht verletzen wollte, instinktiv geweigert hatte, dieses Können anzuwenden. Zu dieser Erkenntnis gelangte er im Dunkeln, nach langen Stunden des Nachdenkens. Er hatte die Herrschaft über seine Kunst verloren. Das war die Kehrseite der Medaille. Die Fertigkeiten waren noch da, aber etwas Wesentliches war verschwunden: das, was sie beherrscht und zu einem Ganzen gemacht hatte. Das war nicht ihre Schuld. Er hatte die Herrschaft schon damals verloren, als er eingesehen hatte, daß er nichts tun konnte. Anschließend hatte er allem mißtraut, hatte nicht mehr an eine göttliche Ordnung geglaubt, sondern nur noch an das Chaos. Wenn es Dämonen gab - und er glaubte nur im Dunkeln an sie -, dann regierten sie die Welt und hatten es immer schon getan. Doch obwohl er seinen Fehler nun erkannt hatte, vermochte er ihn nicht zu beheben. Zum Teufel damit. Er hätte mit Meiya schlafen sollen; er hätte Riga bei seinem Versuch, den jungen Kaiser abzusetzen, unterstützen sollen; er hätte in allem genau den entgegengesetzten Pfad einschlagen sollen und nicht jenen, den er um der Ehre willen gewählt hatte. Auch bei der Unterweisung des Mädchens ging es ihm um die Ehre - wenn er es ihr überhaupt versprochen hatte, was sie behauptete. Verdammt noch mal, etwas anderes zu tun, war ihm damals gar nicht erst in den Sinn gekommen. Wenn er immer schon ein Narr gewesen war, dann hatte er auch gar keine andere Wahl gehabt; und wenn er sich so weit vergaß, daß er sich einem Mädchen mit einem Stock anvertraute, dann war er womöglich schon so weit gesunken, daß ihn das Leben an sich anwiderte. So hatte er sich seit den ersten Jahren nicht mehr gefühlt, seit jener langen Nacht im ersten Winter, als Kälte und Erschöpfung und Einsamkeit ihm das Messer in die Hand gelegt hatten und als Götter und Teufel oder wer auch immer ihn daran gehindert hatten, es zu gebrauchen. Seitdem hatte es mit ihm ein paarmal auf Messers Schneide gestanden, allerdings in den letzten Jahren nicht mehr. Nicht in diesem seltsamen, anderen Jahr, als er plötzlich angefangen hatte, sich wieder für die Welt zu interessieren, als die Mauern, die ihn vor der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft schützten, um ihn herum eingestürzt waren. Er hatte gewußt, welches Risiko er einging und daß er sich gefährlicheren Dingen aussetzte als nur den Stockhieben und Launen eines Mädchens. Schon seltsam, daß ein Mensch so zerbrechlich werden konnte. Es war gut, daß ihm das wenigstens bewußt war, damit er die Mauern wieder aufrichten und die vernachlässigten Fertigkeiten zurückerlangen konnte. Das war die Entschädigung, die sie ihm bot. Er wäre wirklich ein Narr, wenn er sich die Gelegenheit entgehen ließe, eine schöne Zeit war die Schmerzen wert. Und nichts, was er ihr mit Gewalt nehmen konnte, war es wert, daß sie ihren Aufenthalt verkürzte oder daß der Frieden zwischen ihnen gestört wurde. Falls sie ihn verließ, konnte er sein Leben wieder ordnen. _Wenn_ sie ihn verließ. Nur ein romantischer Träumer konnte etwas anderes erwarten. Er könnte sich irgendeine Bedienstete im Dorf kaufen. Es gab immer zu viele Töchter. Ein Dorfmädchen würde vor ihm niederfallen und ihm für die Ehre danken, die Konkubine eines Fürsten aus Chiyaden sein zu dürfen. Zum Teufel mit Taizu! Egal. Er konnte jederzeit eine andere Schweinehirtin finden und unterrichten. Vielleicht sollte er gleich auch noch ein, zwei Schweine dazukaufen. Vielleicht, dachte er im Widerspruch dazu, würde die Frühjahrsaussaat bei diesem Bauernmädchen häusliche Gefühle wecken. Vielleicht sollte er wirklich ein paar Schweine kaufen. Ihr bei der Gartenarbeit helfen. Vielleicht war ihr das Leben durch seine Versuche, sie zum Aufhören zu bewegen, allzu hart erschienen. Vielleicht sollte er sich mehr um alles kümmern und sanfter mit ihr umgehen. Den Versuch war es wert. "Ich will keine Schweine", sagte sie zu seinem Vorschlag. "Ich möchte sie lieber jagen." Soviel zu diesem Thema, dachte er. Doch er nahm die Hacke, um im Garten eigenhändig Furchen zu ziehen: Jiro war nicht so alt geworden, um einen Pflug zu ziehen; für ein altes Streitroß reichte es, ab und zu einen toten Baum zu schleppen; und Jiro graste friedlich auf der braungewordenen Weide, während die Menschen schwitzten. "Ihr setzt die Furchen zu dicht", sagte sie, vom Stall näher kommend. Er blinzelte gegen den Schweiß an, wischte sich übers Gesicht. "Das hättest du früher sagen können", entgegnete er mit - wie er meinte - beachtlicher Selbstbeherrschung, "nicht erst jetzt, da ich fast fertig bin." "Ihr solltet sie so weit auseinandersetzen." Sie zeigte es ihm mit den Händen. "Na gut." Sein Bein schmerzte. Das Hacken hatte ihm noch nie gelegen. Und er hatte sich dieses Jahr ganz schön angestrengt, die Furchen gerade hinzubekommen. "Ihr humpelt", sagte sie."Der Boden ist weich", sagte er. Und fluchte vor sich hin und fing wieder von vorn an. Das Schwert glitt an ihr vorbei. "Drehung", sagte er. "Zeig's mir. Jetzt." Ihr Schwert schwenkte herum und kam bis zu seinen Fingern. Er führte es. Und hielt inne. "Halt", murmelte er, stand mit dem Schwert in den Händen da und sann über ihre Haltung und die angemessene Erwiderung auf einen solchen Schlag nach. Sie _behielt_ die Bewegungen, die er ihr zeigte. Sie konnte sie wiederholen. Er verlagerte ihren Ellbogen, verbesserte eine Linie, so wie ein Bildhauer den Ton formt. Ein kleinerer, leichterer Mann würde einen kräftigen Hieb mit schräggestellter Klinge abwehren, so daß die Kraft am Stahl entlanglitt; ein Schwertkämpfer mit ausgezeichnetem Gleichgewichtssinn folgte der Kraft und schlüpfte darunter hindurch. Das war nicht die Lehre seines Vaters. Das war die Kunst von Meister Yenan. _Verzeiht mir_, sagte er im stillen zu den Gespenstern der Vergangenheit. Es war nicht die reine Form. Es war ein ständiger Kompromiß, der Beweglichkeit und ausgezeichnete Körperbeherrschung erforderte, über die das Mädchen, dem Himmel sei Dank, in ungewöhnlichem Maße verfügte. Es erforderte stilistische Vollkommenheit und warf sie gleichzeitig wieder über den Haufen, Dinge zu tun, die eher in Tavernen zu finden waren als in den Lehren der Meister. _Was hat Philosophie mit Schweinen zu tun_? _Welche abstrakten Begriffe versteht sie schon, außer dem der Rache_? "Noch einmal." Er nahm die Grundstellung ein. Er folgte der vollkommenen, schulmäßigen Linie, der natürlichen Bahn der Klinge. Er ließ das Schwert hart herunterfallen. Es glitt ab. "Noch einmal." Härter diesmal. "Noch einmal." Mit voller Wucht, während ihm das Herz bis zum Hals klopfte. Stahl rieb sich an Stahl, blitzte um ihn herum auf und kam wieder hoch, mit dem ausholenden Schlag, den er ihr beigebracht hatte. Es war, beglückwünschte er sich selbst, eine Bewegung nicht ohne Anmut. Ihre Augen leuchteten. Vor Hoffnung, die ihm den Magen zusammenzog. _*9*_ Nacheinander schlugen die Pfeile ins Ziel ein, vier, fünf, sechs. Der Schütze stand mit gesenktem Bogen da, spürte den Windstößen nach, die den von der Sommersonne beschienenen Grashang kräuselten, und ein siebter Pfeil folgte. Mitten ins Ziel, jeder einzelne. Eine kleine Frau mit einem ungewöhnlich kräftigen Bogen, den sie unter seiner Anleitung selbst hergestellt hatte. Shoka stützte sich auf den eigenen Bogen und beobachtete die Konzentration auf den achten Schuß, dann legte er rasch einen Pfeil auf die Kerbe und feuerte, von den Böen unterstützt, gerade in dem Moment, als sie im Begriff war, ihren neunten loszulassen. Sie schoß trotzdem, und als die beiden Pfeile Seite an Seite einschlugen, schaute sie ihn belustigt an. "Verdammt gut", sagte er und stützte sich wieder auf seinen Bogen. "Du hast nicht geschwindelt." "Ich weiß, daß es an Euch liegt", erwiderte sie. "Gut. Woher weißt du das?" Sie deutete über die Weide, dorthin, wo Jiro friedlich am Hang graste. "Er weiß es." Er lachte. "Einverstanden." "In Chiyaden werde ich allerdings niemanden an meine Flanke heranlassen." Das Gelächter erstarb. "Das solltest du auch nicht tun", sagte er, nahm seinen Bogen und ging. Hinter ihm blieb es still, weder das Geräusch des Bogenspannens noch Einschläge waren zu hören. Sie holt ihre Pfeile, dachte er. Er für seinen Teil ging weiter, hängte seine Ausrüstung an den Haken und holte ein paar Kürbisse fürs Abendessen. Als der Junge mit neuem Reis und Wein und ein paar Krügen mit eingemachtem Obst wiederkam, verfärbten sich schon die Blätter. "Ich danke dir", sagte Shoka und verneigte sich höflich, der Junge verneigte sich ebenfalls und nahm die Liste der Wünsche entgegen, die angesichts des drohenden Winters kurz war. Ein wenig Stroh. Das Hüttendach hielt recht gut dicht. Eine zweite Portion Reis und Wein. Doch er hinterlegte für den Jungen einen hübschen Haufen Felle und etwas Rauchfleisch. Und Taizu kam heraus und sah den Jungen den Berg hinuntergehen, während sie, die Arme auf die Knie gestützt, auf der Veranda hockte. Sei nicht so ängstlich, dachte Shoka, der sie von hinten beobachtete, die kleine Gestalt mit dem Zopf zwischen den Schultern. Mehr aus Neugier als aus Sorge... Womöglich wußte Taizu gar nichts von der Veränderung, die in ihr vorging. Er jedoch sah, wie sie langsam und unausweichlich vonstatten ging, so subtil wie die Veränderungen in ihrem Körper - die von Muskeln verbreiterten Schultern, die kräftigen und wohlgeformten Beine, so wie sie auch noch andere, weiblichere Konturen bekommen hatte. Er hatte zahllose Kurtisanen gekannt, weichhäutige und blasse Frauen, die sicherlich nie einen unschönen breiten Rücken zur Schau gestellt oder eine solch unschickliche Haltung eingenommen hätten. Gewiß nicht Meiya. Aber, gütiger Himmel... Den Winter über vertrieb er Taizu und sich die Zeit mit Geschichtenerzählen, mit erbaulichen Geschichten, die Meister Yenan ihm erzählt hatte; manchmal aber auch mit Berichten vom Hof und von Dingen, die er keiner Kurtisane und auch keinem Mann jemals erzählt hatte - von Duellen, die er ausgefochten hatte, und von Auseinandersetzungen mit den Verschwörern, die den alten Kaiser während der Zeit seines Niedergangs geplagt hatten. Er erzählte diese Geschichten jemandem, der außerhalb des Hofes und über der Politik stand und dessen Augen verständnisvoll aufleuchteten, wenn er diese oder jene Schwerttaktik erwähnte oder erklärte, was sein Gegner falsch oder richtig gemacht hatte - nicht indem er prahlte, sondern indem er sein ganzes Wissen vor dem einzigen Menschen ausbreitete, zu dem er seit dem Tod seines Vaters Vertrauen gefaßt hatte. Immerhin wußte sie, welchen Ruf die Männer hatten, die er erwähnte. Das überraschte ihn. "In Hua erzählt man sich Geschichten", sagte sie eines Abends, als er sie darauf ansprach, belustigt und ein wenig verstimmt. Und er kam sich seltsam entblößt vor, als er entdeckte, daß die Nachricht von einer simplen Streiterei bei Hofe sich so weit verbreitet hatte und in den Versionen, die _sie_ erzählte, maßlos ausgeschmückt worden war. "Zauberei, Blödsinn", bemerkte er zum Tod der Fürstin Bhosai. "Sie hat Fürst Ghita erpreßt. Sie trank aus der falschen Teeschale. So ging's zu in Cheng'di, das kannst du mir glauben. Man durfte sich auf nichts und niemanden verlassen. Das alles geschieht ihnen ganz recht." Sie blickte ihn verwirrt an. "Die Guten haben sie umgebracht", fügte er hinzu. "Die Fürstin Bhosai gehört allerdings nicht dazu. Fürst Riga indessen..." Er schnitzte gerade an einem Einsatz für die Tür, da sich aufgrund der Kälte eines der Türbretter verbogen hatte. "Ich hätte Riga unterstützen sollen. Er wollte den Thronfolger stürzen. Verdammt, wenn ich's nur getan hätte..." Er schälte einen langen harten Span ab. "Nun ja, dann hätte ihn eben jemand anders erwischt. Riga war ein Mann mit Grundsätzen. Mehr nicht. Besonders klug war er nicht. Schlimmer als der junge Kaiser hätte er jedenfalls nicht sein können. Aber er hätte nicht einmal den Tag überlebt, an dem er sich zum Herrscher ernannt hätte. So wie die Dinge lagen, kam ihm Ghita auf die Schliche und brachte ihn um. Ich konnte beweisen, wer's getan hat. Die Verbindung mit Ghita konnte ich nicht beweisen." Er hob den Blick und sah, daß sie angespannt zuhörte, ohne Fragen zu stellen. "Das alles gehört der Vergangenheit an", erklärte er und schälte einen weiteren Span ab. "Vergangen und vergessen. Ich weiß nicht, ob ich überhaupt etwas hätte ausrichten können. Jedenfalls nicht für mich. Und auch für - niemanden sonst." Meiyas Namen hatte er niemals erwähnt. Und Taizu hörte noch immer aufmerksam zu, und die Nacht und der Sturm beteuerten ihm, sie werde es begreifen, es werde sich vieles für sie erklären, und er wollte, daß sie es erfuhr. Doch er brachte Meiyas Namen nicht über die Lippen. Und Taizu stellte keine Fragen, obwohl diese Geschichte ihren Leuten sicherlich bekannt gewesen war. "So sah der innere Hof aus", erklärte er und formte aus Eßstäbchen ein Rechteck. Es war immer noch Winter. Die Nacht und der Wind blieben draußen; und sie arbeiteten bei einem guten Mahl und ein wenig Wein. Die Geschichten wurden zu taktischen Problemen, zu Ereignissen, deren Zeuge er gewesen war. Er legte Kiesel auf den Boden. "Tore." Er steckte Zweige aufrecht hinein. "Wachen." Ein Blatt mit einem Kiesel darauf. "Fürst Hos in seinem Bett." Sie lachte grimmig auf und er demonstrierte ihr einen Mordversuch, bei dem die Attentäter gescheitert waren. Bei dem es größere Schwierigkeiten gegeben hatte, als Fürst Kendi erwartet hatte."Die Mauern sind zusätzlich abgeschrägt. Mit einem Haken und einem Strick kann man hinaufklettern. In dieser Wand gibt es Fenster. Zwei Fenster." "Wie groß?" "Groß genug für einen schlanken Mann." Sie nickte, paßte genau auf. "Also. Über die Mauer. Durch die Fenster hinein..." "Gibt es einen Hund?" "Einen Affen. Er wird wach." "Im Dunkeln. Die Wachen werden im Nu da sein." "Hast du deinen Strick dagelassen?" "Hab ich. Ich habe ihn nicht abgenommen. Ich glaube, ich sollte besser machen, daß ich dort hinauskomme." "Das meine ich auch. Aber die Wachen sind jetzt da..." Er verrückte zwei Zweige. "Mit Spießen bewaffnet." "Ich habe den Bogen." "Kannst du zwei erledigen?" Sie nickte. Er verrückte weitere Zweige. "Bis jetzt hast du dich klüger angestellt als der Mörder. Aber zwei Wachen haben sich dir von hinten genähert." "Keine Pfeile in der Hand. Ich sollte mich um die Ecke verdrücken." Er stellte noch zwei Zweige auf. "Tut mir leid. Von der Wand aus konntest du sie nicht sehen. Beide haben Bogen." "Dann anders herum, hinunter und abrollen, bis zur Tür." "Der Affe macht einen Höllenlärm." "Der alte Mann ist wach. Ich bin durch diesen Gang gerannt. Die Wachen stürmen herein. Ich bin da mit dem Bogen, hinter ihnen." "Gar nicht schlecht." "Ich warte einfach auf den Rest von ihm. Nur noch diese beiden." "Die kleine Tochter des Mannes kommt in die Vorhalle gerannt." Ihr Gesichtsausdruck verdüsterte sich. "So etwas kommt vor", erläuterte er. "Das ist hinterhältig, Meister Saukendar." "Willst du wegen dieses Mädchens sterben?" Sie zuckte die Achseln. "Soll sie doch schreien. Wie der Affe. Dann kommt ihr Vater." "Du wirst ihn vor ihren Augen erschießen." "So etwas kommt vor", sagte sie. "Noch zwei Wachen." "Wenn das Mädchen noch schreit, gut. Sollen sie hereinkommen." "Das tun sie auch." "Sie sind tot. Ich laufe zur Mauer." "Blödsinn - geh durchs Vordertor! Dann nimm dir ein Pferd." "Auch dort können Bedienstete sein. Ich laufe zur Mauer. Ich bin oben und darüber hinweg." Er nickte. "Außer der Tochter hast du keine Augenzeugen zurückgelassen." Und mit wohlberechnetem Nachdruck: "Angenommen, sie verfolgt dich." Abermals umschatteten sich ihre Augen. "Gitu hat keine Tochter. Das ist nicht anständig, Meister Saukendar." "Nichts ist _anständig_, Mädchen." "Außerdem habe ich's nicht auf den armen Fürsten Hos abgesehen, sondern auf Gitu. Es gibt keine Tochter, um die ich mir Sorgen machen müßte. Wenn es eine Tochter gäbe, dann hätte sie sich bestimmt von ihm losgesagt." "Er hat zwei Söhne und einen Haufen Krieger." "Darum will ich nicht zu ihm in die Burg. Ich werde ihm im Freien auflauern. So werd ich's machen." "Mit dem Schwert wirst du ihn niemals erwischen. Nimm den Bogen, ich sag's dir. Das ist deine beste Waffe. Laß dir eines gesagt sein..." Er holte tief Luft. "Tu's, und dann mach, daß du wegkommst. Komm hierher zurück. Hier bist du in Sicherheit. Überleg dir, wie du deinen Feind überleben kannst, verdammt." In dem Moment, als er sie aufforderte, zu ihm auf den Berg zurückzukehren, schlug sie die Augen nieder. Das saß. "Ich bin immer noch der Schuft, nicht wahr?" "Nein, Meister Saukendar." "_Meister Saukendar_. Das ist mein offizieller Name, wenn man _über_ mich reden will. Von Angesicht zu Angesicht hat man mich Shoka genannt. Mir war's lieber, du tätest das auch." "Ich bin Eure Schülerin, Meister Saukendar." Ohne den Blick zu heben. "Ich weiß. Du willst nicht mit mir schlafen. Das habe ich mir gemerkt - so lange ist es noch nicht her. Das wollte ich gar nicht wissen. Ich habe dir bloß erklärt, daß ich diesen Namen nie mochte. Saukendar ist ein verdammter Narr. Eine Geschichte, die man sich erzählt. Ich bin Shoka, schon seit ich ein Junge war. Saukendar hat mich meine Mutter genannt, wenn ich zu spät zum Abendessen kam." Sie erzeugte ein eigenartiges Geräusch. Es hätte ein Lachen sein können. Sie hob den Blick nicht von den Händen im Schoß. "Ich hatte eine Mutter", sagte er. "So unwahrscheinlich dir das auch vorkommen mag. Ihr Name war Jesai. Sie starb an einem Fieber. Als ich zwölf war. Danach hatte mein Vater nur noch Bedienstete." Sie sah ihn nicht an. "Ein Onkel, eine Tante, zwei Vettern", fuhr er fort. "Mein Vater war schon alt, als ich geboren wurde. Seine Eltern habe ich nicht mehr kennengelernt. Ich erinnere mich nur noch an die Familie meiner Mutter. An weitere Vettern. Einige leben vielleicht noch." Sie reagierte nicht. "Sogar bei Hofe", sagte er, "hatten wir Verwandte. So etwas gibt es nicht nur in Hua." Immer noch keine Reaktion. "Verdammt noch mal, Mädchen - Taizu! Ich bin dir in anderthalb Jahren nicht ans Fell gegangen, meinst du, ich würde jetzt zudringlich, bloß weil ich von meinen Verwandten spreche? Ich bin kein verdammtes Denkmal." "Nein, Meister Saukendar." "Shoka, verflucht! Du könntest mich wenigstens beim richtigen Namen nennen." "Dann also Meister Shoka." Er seufzte und stützte einen Ellbogen aufs Knie, die Hand im Nacken. "Gütiger Himmel." Sie erhob sich und floh zu ihrer Matte, auf ihre Seite des Raums, und nahm darauf Platz, ohne ihn anzusehen. Nicht lange, und sie hatte eine Beschäftigung gefunden und flocht an dem Seil weiter, dessen Ende sie am Fußende ihres Betts an der Wand befestigt hatte. "Mädchen. Taizu." Ihre Finger flogen. Das Seil verlängerte sich wie von Zauberhand. Sie sah nicht zu ihm her. "Du stellst meine Geduld wirklich auf eine harte Probe", sagte er. "Verdammt, ich könnte zur dir hinüberkommen und genauso unhöflich sein. Wo bleiben deine Manieren? Du verhältst dich wie ein furchtsames Kaninchen!" Das Seil verlängerte sich abermals um die Länge einer Hand. Und ihre Finger hielten inne. "Ich habe zuviel Respekt vor Euch", sagte sie, ohne ihn anzusehen. "Ich will ja tun, was Euch glücklich macht. Aber ich will nicht mit Euch schlafen. Das tue ich nicht. Das ist alles." "Danke", sagte er kühl. Und dachte, mit einem Ziehen im Bauch, daß sie zum ersten Mal Zuneigung gezeigt hatte. Es war jedoch nicht die Art von Zuneigung, die er sich erhofft hatte. Immerhin besser als Haß. Aber es wärmte ihm nachts das Bett nicht. Sie hatten im Schnee geübt; sie hatten auf der Veranda geübt, die Treppe hinauf und hinunter, als Ersatz für schwierigen Untergrund. Dann übten sie wieder im Hof am alten Baum, bis zu den Knien verdreckt, während ihr Atem in der Luft gefror. Taizu fiel in den Morast. Er folgte ihr mit dem Schwert, während sie bei dem Versuch, sich in Sicherheit zu bringen, ein zweites Mal ausglitt. Sie hatte Schlamm wurfbereit in der Hand, warf ihn jedoch nicht. Er legte den Kopf zur Seite und blickte auf sie hinunter. "Du hättest es tun sollen", sagte er. "In deiner Lage gibt es nichts Wirkungsvolleres." "Dann hätte ich zwei Hemden waschen müssen." Er lachte und reichte ihr die Hand. "Auf! Versuch's noch einmal." Sie reichte ihm den Schwertarm, und er zog sie auf die Beine, selbst bis zu Knien verdreckt. Und als er ihr half, wurden auch seine Hände schmutzig. Und sie sann über den Dreck in ihrer Hand nach, schüttelte sie und wischte sich die Finger an seinem Hemd ab. Sie mußten ihre Sachen kochen, um sie wieder sauber zu bekommen. Dennoch war es ein guter Tag gewesen, denn Taizu hatte gelacht. Es gab noch Hoffnung. "Meister Shoka", fragte sie am nächsten Tag, "kann ich das haben?" Sie hielt das Fell des Wildschweins hoch, das sie erlegt hatten. "Natürlich. Wofür?" "Für ein Hemd", sagte sie. Und faßte sich an die Schulter. "Wenn ich es zweilagig vernähe, habe ich einen gewissen Schutz. Ohne das Gewicht des Panzers. Nach dem gestrigen Tag glaube ich, daß es besser für mich wäre." Nach kurzem Nachdenken nickte er grimmig. "Nun gut", sagte er und holte das Hirschfell, das beste Fell, das sie hatten. "Hat keinen Sinn, irgend etwas zusammenzuflicken." Und so schnitzte er am Abend fortan kleine Knochenplatten, von denen kein Stück größer als ein Fingerglied war, passend zum Futter des Panzers, den er für sie anfertigen wollte: an der Außenseite und an den Schultern Wildschweinhaut, weiches Hirschleder an der Innenseite und kleine Knochenpailletten für die Schultern, den Rücken, den Brustkasten und den Saum, die er ins Futter einnähen wollte. Eine Rüstung für eine Frau, leicht und schmiegsam, zum Schutz vor Streifschlägen, ohne daß die Beweglichkeit eingeschränkt worden wäre. Für den Fall, daß Banditen auftauchten, dachte er. Selbst wenn sie ihn nicht verließ, konnte sie die Rüstung gut gebrauchen, falls die Räuber aus Hoishi sie einmal überfallen sollten. Verdammt. Jiro schnaubte und wiegte sich im Takt des Striegelns, der große Fettkloß, der er geworden war, gutgenährt und wohlversorgt, und Shoka striegelte ihn, bis das Winterfell in Flocken durch den Sonnenschein flog, der durch die Ritzen der Stallwände drang. Noch ein Jahr auf dem alten Kameraden. Um die Schnauze herum war immer mehr Weiß zu entdecken, das Shoka zu übersehen versuchte. Doch als er fertig war, lehnte er sich an den Hals des Pferdes, tätschelte es kräftig und wünschte... Ach, wenn die Zeit doch stehenbliebe! Wenn der Tod doch an ihm vorüberginge! "Ich habe eine Närrin am Hals", sagte er zum Pferd. Es war dumm, sich mit einem Pferd zu unterhalten. Aber das tat er schon seit Jahren, weil er sonst keine Gelegenheit gehabt hatte, seine Stimme zu gebrauchen. Bis sie aufgetaucht war. Und sein Leben verändert hatte. "Ich unterrichte sie", sagte er zum Pferd, das ihm teilnahmsvoll ein Ohr zuwandte, "weil sie nur deshalb hierbleibt. Ich mache ihr einen Panzer, damit sie sich nicht umbringt. Was bleibt mir anderes übrig? Hm?" Jiro drehte den Hals und berührte mit den Lippen seinen Hemdsaum. "Die Frau ist eine verdammte Närrin", sagte er, wie besessen bürstend und striegelnd. "Sie ist noch nicht soweit. Nicht einmal annähernd. Irgendwann wird sie zur Vernunft kommen und es einsehen. So weit hat sie's immerhin geschafft. _Männer_ sind ihr Problem. Es ist nicht Gitu, der ihr Alpträume bereitet, sondern jeder Mann, der es wagt, sie anzuschauen. Dorthin zurückkehren! Wo es vor Banditen nur so wimmelt. Gütiger Himmel!" Pferd und Reiter polterten die abschüssige Sommerweide hinauf, und Shoka, der die Ellbogen auf die Knie gestützt hatte, sah vom Zaun aus zu, wie Jiro sich in Schlangenlinien den beiden Männern aus Lumpen und Stroh näherte, wie sich das Schwert aufrichtete und Taizu sich im Sattel vorbeugte und nach dem einen Mann schlug, während Jiro erneut die Richtung änderte... _Träges Pferd_, dachte Shoka, als er sah, daß Jiro wieder in einen Trott gefallen war. Er wußte, wann er Strohpuppen vor sich hatte. Gelernt war gelernt. Die Schwerthiebe jedoch erfolgten sehr präzise auf die farbigen Linien, die sie auf die Gestalten gemalt hatten. Hin und her, hin und her, von den Strohpuppen an diesem Ende der Weide zu den Strohpuppen am anderen Ende, bis sein Hinterteil des Sitzens müde war und Jiro schäumte und schwer atmete. "Zeit zum Abendessen!" rief Shoka, als sie an ihm vorbeikam und abermals wendete. "Reite im Schritt hinunter!" Sie zog die Zügel straff, und Jiro tat einen Satz, schnaubte und wollte immer noch auf die Puppen losgehen. Sie verminderte die Geschwindigkeit bis zum Schritt und ritt zu den Strohpuppen am Ende der Weide und zum Zaun hinunter, dann zog sie erneut die Zügel straff. Eine Verschnaufpause, dachte er. Von dieser Stelle aus überblickte man das ganze Tal, den Gebirgsrand im Westen, den Sonnenuntergang und die vergoldeten Wolken. Sie schaute jedoch nur kurz dorthin. Dann blickte sie nach Osten, zur stumpfen, dunklen Seite des Himmels; saß einfach eine Weile da und starrte in diese unheilverkündende Richtung. Er glitt beunruhigt vom Zaun und wartete, bis sie Jiro schließlich herumlenkte. Am liebsten hätte er so getan, als hätte er nichts bemerkt. Sie jedoch zügelte Jiro abermals und drehte ihn herum und blickte noch einen Moment in die Richtung, bevor sie zum Stall zurückkam. Von Jiros Rücken aus sah sie ihn auf die gleiche seltsame Weise an. Da wußte er, daß sie an Aufbruch dachte. Jetzt, da die Sonne sich von ihrer nördlichen Bahn wieder südwärts wendete und es Herbst wurde. An einem Tag wie diesem war sie angekommen. An einem Abend wie diesem, als die Sonne alles golden umrahmt hatte. Daran erinnerte er sich noch. Während des Abendessens auf der Veranda sprach sie nicht darüber. Auch nicht beim nächsten Frühstück, und dennoch umgab sie eine stille Traurigkeit, die ihm sagte, daß sie mit sich zu Rate ging. Vielleicht, dachte er, sich an diese Hoffnung klammernd, war sie dabei, es sich anders zu überlegen. Vielleicht waren ihr Schweigen und ihre Traurigkeit ein gutes Omen für ihn. Er traute sich nicht, sie zu fragen und einen Streit heraufzubeschwören: sie war dickköpfig. Aus Sturheit könnte sie das genaue Gegenteil davon tun, was er wollte. Sie kämpfte mit ihrem Pflichtgefühl. Vielleicht war es Zuneigung. Oder es widerstrebte ihr, auf Annehmlichkeiten zu verzichten und einen Mann zu verlassen, der zumindest ihr Lehrer war. Das wog sie ab gegen den Zorn, gegen die Trauer und gegen das Gelübde, das sie als Kind getan hatte. Und dieses Kind hatte keine Ahnung von dem Preis gehabt, den es als Frau einmal würde bezahlen müssen. Er hatte sie gelehrt, alles gegeneinander abzuwägen. Er hatte sie gelehrt, alles zu durchdenken, und jetzt kam es darauf an, daß er sich ruhig verhielt, daß er so tat, als merke er nicht, daß etwas nicht stimmte, daß er sie einfach _tun_ ließ, was er ihr beigebracht hatte, und ihr Gelegenheit gab, das Problem von allen Seiten zu beleuchten. Und darauf vertraute, daß sie zu guter Letzt ihren Verstand gebrauchte. Er traute sich jedoch nicht, die Hütte zu verlassen, aus Angst, sie könnte sich plötzlich ohne ihn entscheiden, ihn wie das Kind, das sie manchmal war, einfach verlassen. Schon die bloße Vorstellung tat weh. Ein Tag verging, dann noch einer. Allmählich vermutete er, sich in ihr getäuscht zu haben - oder sie hatte es sich anders überlegt. Dann kam er eines Tages den Hang heraufgestapft und fand sie an der Kochstelle vor, wo sie eine Portion Rauchfleisch in Leder einwickelte. Neben ihr lagen weitere Portionen. "Was tust du da?" fragte er herausfordernd; er kannte die Antwort bereits. Sie sah ihn nicht gleich an. Sie rollte das Fleisch fertig ein und legte es zu den anderen Portionen. Dann sah sie zu ihm her, so als falle es ihr sehr schwer. "Ich gehe weg", sagte sie. "Du bist noch nicht soweit." "Wie lange soll es denn dauern? Bis Gitu an Altersschwäche stirbt?" "Zwei Jahre reichen nicht. Wie lange, glaubst du, geht ein Mann bei einem Meister in die Schule? Drei oder vier Jahre. Mindestens. Was meinst du, wie lange Gitu gelernt hat?" Sie zuckte die Achseln, drehte sich um, wickelte die Pakete in ein altes Tuch und verschnürte es. "Ich habe doch nicht zwei Jahre darauf verwandt, eine Närrin zu unterrichten!" rief er. "Wenn man dich in diesem Aufzug erwischt, wird man dir die Hand abhacken." Sie sah ihn nicht an. "Man. wird dich schnappen, Mädchen. Du gehst nicht wie ein Bauer, du siehst nicht aus wie ein Bauer, du bewegst dich anders, und du siehst auch nicht mehr wie ein Junge aus. Hab ich recht?" "Doch, wenn ich will." "Ach, _verdammt_, Mädchen, du hast keine Aussicht auf Erfolg. Du bist nicht wie ein Junge gebaut, und du gehst auch nicht wie ein Junge. Auch nicht wie ein Mädchen vom Lande. Was willst du also tun?" Sie runzelte die Stirn. "Im Wald bleiben. Mich an Trampelpfade halten." "Wo die Banditen leben. Ein famoser Plan." Sie starrte ins Leere. "Kann ich die Matte und die Decke mitnehmen?"Er winkte ab, im Moment war ihm nicht nach Reden zumute. Seine Kehle war wie zugeschnürt. Er lehnte sich neben der Tür an die Wand, verschränkte die Arme und starrte zu Boden. "Kann ich die Matte mitnehmen?" "Verflucht noch einmal, nimm, so viel wie du willst. Bloß Jiro nicht. Es ist mir egal." Lange Zeit blieb es still. Dann schniefte sie, und als er aufsah, stellte er fest, daß sie weinte. "Du mußt ja nicht weggehen", sagte er. "Niemand zwingt dich dazu. Ich will nicht, daß du gehst. Ich bitte dich, es nicht zu tun. Was soll ich sonst noch sagen?" Sie hob das Bündel auf, ging zu ihrer Matte und ließ es darauf fallen. "Heute bleibe ich noch hier", sagte sie. "Heut nacht werde ich mit Euch schlafen. Ein nächstes Mal wird es nicht geben." Er sog erschauernd den Atem ein. "Ich verstehe dich nicht, Mädchen." "Ihr habt gesagt, ich soll mich nicht fürchten. Darum möchte ich, daß Ihr mit mir schlaft. Damit ich mich unterwegs daran erinnern kann. Wenn ich jetzt schwanger werde, wird mich das nicht aufhalten. Nichts kann mich aufhalten. Ich werde es schaffen. Ich werde aufpassen, so gut ich kann. Wenn möglich, komme ich hierher zurück." "Du willst das tun und dann einfach weggehen." Sie nickte, ruhiger jetzt, und er starrte sie verzweifelt an. Dann trat er zum Wandbrett in der Ecke, nahm den Panzer herunter und warf ihn auf seine Matte. "Dann kannst du genausogut gleich zweimal packen, Mädchen." "Nein!" "Wie, _nein_? Ich überlasse dich nicht den Banditen. Erzähl mir nicht, du hättest es nicht von Anfang an darauf angelegt gehabt." "Ich habe _nein_ gesagt!" "Tut mir leid." Er nahm sein Schwert und legte es zusammen mit Bogen und Köcher neben die Tür. "Ihr lebt in Verbannung! Sie werden Euch töten!" "Sollen sie es nur tun." Er holte tief Luft und schaute sich in der Hütte mit ihren Wandbrettern und den Habseligkeiten um, die er im Lauf der Jahre angesammelt hatte, ein vertrauter Ort und vertraute Dinge. Er verspürte eine Art Panik, so als schwebe er am Rande eines tödlichen Abgrunds. Doch der Schritt fiel ihm leicht. Sehr leicht. Das hatte er von Duellen, Gerichtsurteilen und Gefechten gelernt. Wenn man keine andere Wahl hatte, dann bewegte man sich, das war alles. Er nahm den ganzen Haken mit dem Rauchfleisch ab und legte ihn auf den Ofen. "Kein Grund zu fasten." "Verdammt, ich habe Euch nicht darum gebeten!" Er sah sie an und lächelte, lachte, schüttelte den Kopf. "Ich will das nicht! Ich will _Euch_ nicht!" "Schon gut. Ich verzeihe dir." Er fand seine lederne Hose, die über einem Dachsparren hing, zog sie herunter und warf sie auf die Matte. "Haben wir saubere Hemden?" "Verdammt noch einmal!" "Du hast dir eine grobe Ausdrucksweise angewöhnt, Mädchen." "Ich will nicht, daß Euch jemand tötet!" "Das ist ein löblicher Vorsatz. Das Vernünftigste, was ich seit langem von dir gehört habe." Er nahm ein überzähliges Hemd vom Haken und warf es auf den Stapel. "Ich will nicht, daß dir irgendein Beamter die Hand abhacken läßt. Um das zu verhindern, komme ich mit; außerdem befindest du dich noch in Ausbildung. Es könnte zu Zwischenfällen kommen. Werde nicht übermütig! Nimm Hilfe an, wenn du sie brauchst." Sie wischte sich die Tränen ab, durchquerte. den Raum mit energischen Schritten und wollte seinen Panzer aufheben. Das vereitelte er mit einer kleinen Handbewegung. Und sie wußte es besser, um es auf die Spitze zu treiben. "Nein", sagte er bestimmt. "Mädchen, du kannst losgehen und unbemerkt verschwinden, aber ich werde dich trotzdem finden. Also, warum ersparen wir uns das nicht und brechen morgen gemeinsam auf wie zwei vernünftige Menschen?" "Es geht um meine Rache, um mein Leben, meine Familie. Ihr habt in Hua nichts verloren!" "Du bist _meine_ Familie", sagte er. "So ist das. Du hast es so gewollt. Na schön, dann sollst du es auch bekommen." Er nahm ihre Hand. Sie war eiskalt und schlaff. "Bringen wir's hinter uns wie zwei vernünftige Menschen. Schlaf dich ordentlich aus. Morgen geht's los." Als er ihr die Hand auf die Hüfte legte, zuckte sie zusammen. "Hast du's dir wegen heute nacht anders überlegt?" "Ich..." Ihre Zähne schlugen aufeinander. "Ich will dir etwas sagen: Ich hätte damals in Chiyaden fast geheiratet. Fürstin Meiya und ich - wir waren in jeder Beziehung ein Liebespaar, abgesehen von der geschlechtlichen Vereinigung. Außer Kurtisanen hatte ich anschließend keine anderen Frauen mehr. Ich sage die Wahrheit. Ein Junge war in ein Mädchen verliebt, das die Frau des Kaisers wurde. Der Junge und das Mädchen waren Narren - die sich die Gelegenheit entgehen ließen, glücklich zu werden. Die Ehre bedeutete ihnen alles, obwohl sie ihren Gemahl verachtete. Und der Himmel allein weiß, wie sehr _er_ den Kaiser verachtete. Vielleicht taten wir recht daran. Oder vielleicht bin ich auch ein zweifacher Narr, weil ich auf dich gewartet habe - aber ich bin es gewöhnt, auf Frauen zu warten, weißt du. Und ich werde weiterhin warten, bis du in _mein_ Bett kommst. Wenn du heute nacht nicht kommst, in Ordnung. Wenn du überhaupt nicht kommst - auch gut. Daß wir miteinander schlafen, ist nicht das Entscheidende. Entscheidend ist der Grund, warum ich mit dir komme. Das allerwichtigste ist der Kern all dessen, was ich dich gelehrt habe. Weißt du, was das im Moment bedeutet? Weißt du, warum ich mit dir komme?" Sie rückte, biß sich auf die Lippen und brach in Tränen aus. Sie umarmte ihn und hielt ihn lange Zeit fest. Er wäre ein Schuft gewesen, dachte er, hätte er die Erschöpfung und Verwirrung eines Mädchens ausgenützt, das mit allem allein hatte fertigwerden müssen. Auch wenn er es wollte. Auch wenn diese Gelegenheit niemals wiederkehren würde und sie keine Ahnung hatte, was sie überhaupt wollte. Darum hielt er sie wie ein Bruder in den Armen und wiegte sie, bis er sie wegschob und sagte: "Laß uns zu Abend essen. Nachdem du zwei Jahre gewartet hast, wollen wir nicht wie die Verrückten Hals über Kopf aufbrechen. Ich halte dich nicht hin. Ich meine bloß, wir sollten in Ruhe packen und nicht müde aufbrechen. Morgen, wenn alles in Ordnung ist, oder übermorgen, wenn noch etwas fehlt. Einverstanden?" Sie rieb sich die Augen, wandte verlegen das Gesicht ab und löste sich von ihm, nicht gewaltsam, bloß ohne ihn anzusehen, auch dann nicht, als sie sich hinhockte und am Ofen zu schaffen machte, wobei sie sich ab und zu mit dem Ärmel über die Augen rieb. Er ging zu ihr und hockte sich auf Bauernart so hin, daß er ihr Gesicht sehen konnte. "Ich will dich immer noch", sagte er, für den Fall, daß sie ihn mißverstanden hatte. Ja, es stimmte. Er hoffte bloß, daß er seinen Argumenten nicht zuviel Nachdruck verliehen hatte. "Ich möchte dich bloß zu nichts drängen. Du entscheidest selbst. Einverstanden?" "Ich habe mich entschieden", sagte sie mit zusammengepreßten Zähnen, sich die Augen reibend. "Du hast keine Angst mehr vor mir. Nach allem, was passiert ist." Sie schüttelte heftig den Kopf. Sie lügt, dachte er. Bestimmt hatte sie ihren ganzen Mut zusammengenommen, und er hatte das Falsche getan. Er streichelte ihren Nacken. Ihre Muskeln waren steinhart. Doch sie duldete seine Berührung und arbeitete weiter, maß den Reis ab, ohne ihn zu beachten. "Zum Teufel mit dem Abendessen", sagte er. Sie schüttelte seine Hand mit einem Achselzucken ab, ohne ihn anzusehen, drehte sich um und griff nach dem Schöpflöffel. "Du hast Hunger, was?" murmelte er. "Immer mit der Ruhe", sagte sie und schlug ihn mit seinen eigenen Argumenten. Beim Abendessen, das sie draußen auf der Veranda einnahmen, herrschte eine angespannte Atmosphäre. Ihre Hände zitterten. Seine ebenfalls, wenn auch nicht verräterisch. Sie wechselten kaum ein Dutzend Worte. Sie sah ihn kaum an; und er betrachtete den Hof, den Stall, alles, was sein Zuhause gewesen war. In Gedanken war er bereits auf dem Weg nach Hua, erwog bereits die Möglichkeit, von dort wegzukommen und wieder zur Straße zu gelangen. Wie er es Taizu beigebracht hatte, plante er den Rückzug schon mit dem Einsatz. Und er schalt sich wegen der düsteren Wendung, die seine Gedanken genommen hatten. Doch es war ein weiter Weg nach Hause zurück; und Taizu und er würden nach allem, was sie in Hua getan hätten, nicht mehr der Mann und die Frau sein, die sie beim Aufbruch gewesen waren. Oder nach allem, was ihnen dort angetan worden war. Sie spülte die Schüsseln, und er zündete die Lampe an und bereitete ihnen das Nachtlager, indem er beide Matten zusammenrückte. Als sie zurückkam und sah, was er mit ihrer Matte getan hatte, schien sie gleich wieder aus der Tür stürzen zu wollen; statt dessen stellte sie die Schüsseln ab und sah ihn an, dann ging sie zu ihrer Seite des Raums, wo sie ihre Ausrüstung aufgehäuft hatte, und kleidete sich mit dem Rücken zu ihm aus. Er entkleidete sich ebenfalls, und als sie trödelte und sich mehr Zeit ließ, als sie eigentlich brauchte, ging er zu ihr, und als er sie von hinten umarmte, spürte er, daß sie von Kopf bis Fuß angespannt war. "Ist schon gut", flüsterte er ihr ins Ohr. "Bisher hat sich noch keine Dame über mich beklagt." Er streichelte über ihre Haut, die unter seinen schwieligen Händen so weich war wie die einer Hofdame, und spürte, daß sie wie ein Kaninchen zitterte. "Wir haben keine Eile." Nach zehn Jahren auf diesem Berg konnte er sich ruhig noch ein wenig gedulden. Er konnte ihr ebensogut die Zeit lassen, die sie brauchte. Ein, zwei Stunden, wenn es denn sein mußte. "Ich hole dir etwas Wein", sagte er und versetzte ihr einen kräftigen Klaps auf den Rücken, wie er es ein paarmal getan hatte, als sie miteinander geübt hatten. Sie zuckte zusammen. "Für uns beide, einverstanden?" Sie blickte ihn entsetzt an - wohl in ihrem jugendlichen Stolz verletzt, wie er dachte. Er holte den Wein und schenkte einen Krug voll ein. Und lächelte ihr zu, während sie ein wenig verwirrt und mit besorgtem Ausdruck dastand. "Das ist kein Duell", sagte er und nickte zu ihrer Matte hinüber. "Komm her!" Sie kam. Sie setzte sich mit untergeschlagenen Beinen hin, wie es ihre Art war, und er nahm einen kräftigen Schluck aus dem Krug, setzte sich ebenfalls und reichte ihn ihr. "Einen großen", sagte er. Sie nahm zweimal den Mund voll und schluckte, dann blinzelte sie und reichte ihm den Krug. Er trank und reichte ihn zurück. Sie trank noch zwei Schluck. "Das müßte eigentlich reichen", sagte er und trank noch einmal. Sie sah bleich aus, als sei ihr übel. "Komm her!" verlangte er und streckte die Hand aus. "Dreh dich um! "Was _habt Ihr vor_?" "Nichts. Mach schon!" Sie wandte ihm den Rücken zu. Er rieb ihren Rücken und ihre Schultern, spreizte die Beine und zog sie an seine Brust. Er spürte ihre Panik und verlagerte seine Arme, damit sie ihre frei bewegen konnte. "Siehst du." Er streichelte sanft über ihre Haut. Ihre Arme ruhten auf seinen, und nun seufzte sie auf, als hätte sie lange Zeit den Atem angehalten, und ihre Schultern entspannten sich. "Gut so", sagte er und ließ seine Hände herabsinken, während er an etwas anderes zu denken versuchte, denn dies würde eine lange, langsame Nacht werden. Er redete mit ihr, irgendwelchen Unsinn. Ihr Zittern wurde jedoch schwächer, und sie erschauerte seltener, selbst dann, als er sie zwischen den Beinen berührte; und plötzlich zuckte sie, krümmte sich zusammen und wäre ihm beinahe entschlüpft. Verdammt überrascht, dachte er. Als sie sich umdrehte und ihn ansah, lag jener gewisse Ausdruck auf ihrem Gesicht. Er spürte, wie die eigenen Reaktionen ihm entglitten. "Komm", sagte er und zog sie an sich. Sie verstand sofort, was er meinte. Er wollte, daß sie oben lag. Sie drehte sich zu ihm um, und mit dem letzten Rest an Selbstbeherrschung drang er behutsam in sie ein. Eine Weile rührte sie sich nicht. Dann begann er sich zu bewegen und wurde schneller fertig, als ihm lieb war. Doch sie umschlang ihn mit kräftigen Beinen und drückte ihn an sich und hielt ihn fest, hielt ihn einfach fest, lange Zeit, bis ihm schließlich klarwurde, daß er auf ihr lag, und er sich herumrollte und sie sanft auf die gleiche Weise umfangen hielt. "War es schlimm?" fragte er. "Nein", sagte sie nach einer Weile. "Habe ich dir weh getan?" "Nein." Er lag ganz still da und überlegte, ob er die Befragung wirklich fortführen sollte. Verdammt, es war wichtig. Aber er würde ihr nicht Antwort für Antwort aus der Nase ziehen. Sie verstärkte den Druck ihrer Arme um seinen Hals, umarmte ihn mit beachtlicher Kraft - nicht schmerzhaft: um ihm etwas zu sagen, dachte er, das zu kompliziert war, als daß sie es einem Mann hätte erklären können. Und er umarmte sie mit sanftem Druck, in zu komplizierte Gedanken vertieft, als daß er sie einer so jungen und so alten Frau hätte anvertrauen können. Er glaubte zu wissen, was sie ihm sagen wollte: Sie waren so verschieden und doch einander so ähnlich; es war nichts, wovon die Dichter sangen, es brachte keine körperliche Entspannung, löste keine Probleme. Es brachte bloß etwas in Gang, das zwischen ihnen alles nur noch schwieriger machen würde, als es bisher schon gewesen war. Aber sie war froh, hier bei ihm zu sein, das spürte er. Vielleicht war sie froh, daß er mit ihr kam. Vielleicht auch nicht. Vielleicht wußte sie, daß sie eine Närrin war. Vielleicht war er ein älterer, weiserer Ratgeber, als sie wahrhaben wollte. Vielleicht hatte sie ihn liebgewonnen, und er war mehr als nur ein alter Mann für sie, ein Ersatz dafür, was sie verloren oder sich in ihren Jungmädchenträumen vorgestellt hatte. Man wurde älter. Man wurde es müde, sich zu sehr einzulassen. Man wurde weiser und endete schließlich auf einem verdammten Berg, wo man womöglich einsam starb. Es gab viel schlimmere Dinge, als einem närrischen Mädchen nach Hua zu folgen. Gewiß, es konnte ein schreckliches Ende nehmen; aber so ging es eben zu im Leben; das Frühjahrskaninchen endete als dunkler Flecken im Schnee, aber die Welt scherte sich nicht darum, und das Kaninchen konnte sich auch nicht mehr erinnern. _*10*_ Er hatte nicht erwartet, daß am Morgen irgend etwas anders sein würde, er hatte lange genug mit Taizu zusammengelebt, um es besser zu wissen: Bei Taizu war alles wie immer. Sie stand auf und weckte ihn mit ihren Bewegungen, sie sagte, sie werde sich waschen gehen, alles so sachlich, als wäre nichts geschehen. Er packte sie beim Handgelenk. "Und?" "Und?" erwiderte sie in besorgtem Ton. Sie hob sich als Schatten vom Licht ab, das unter der Tür hindurchsickerte und durch die Ritzen der Fensterläden drang. "War es gut?" fragte er sie. Eine Bewegung mit dem Kopf, die er nicht zu deuten vermochte. _Ja_, dachte er. "Bekomme ich keine Antwort?" fragte er. Sie nahm seine Hand, die ihr Handgelenk gepackt hielt, und löste seine Finger. Dann hielt sie seine Hand mit beiden Händen. Im Lauf der Nacht hatten sie sich noch einmal geliebt. Er war sich nicht sicher, wer damit angefangen hatte. Vielleicht sie. Er hatte jedenfalls keinen besonderen Anlaß gebraucht, ob sie nun zu ihm gerückt war oder nicht, und diesmal hatte er es langsamer angehen lassen, um ihr die Befriedigung zu schenken, die ihr beim erstenmal entgangen war. Hinterher war er wieder eingeschlafen, bis sie sich bewegt und ihn im Morgengrauen aufgeweckt hatte. Sie antwortete ihm auch jetzt nicht, nur der Druck ihrer Hände verstärkte sich. Vielleicht war das Antwort genug - nicht das oberflächliche 'Gewiß, mein Herr' einer Kurtisane. Taizu dachte tagelang nach, ehe sie den Mund öffnete. Er konnte sich die Denkfalte auf ihrer Stirn und den fest zusammengepreßten Mund gut vorstellen. Dann löste sie sich von ihm, hob auf dem Weg zur Tür ihre Sachen auf und floh ins helle Tageslicht hinaus. Und so setzte Shoka sich in der morgendlichen Kühle auf die Veranda. Die polierte Bronzeschale war am Pfosten aufgehängt; er hatte eine Schüssel warmen Wassers vor sich und schabte sich behutsam die Stoppeln vom Kinn. Das tat er fast jeden Tag, wenn er dazu kam. Doch diesmal hatte er seinen Haarschopf, der noch so schwarz und dicht war wie der irgendeines Jüngeren, am Scheitel hochgebunden, so daß ihm der Rest auf den Rücken hing. Sein Gesicht war vom Wetter gegerbt, um die Augen und an den Mundwinkeln hatten sich Runzeln eingegraben; vor allem jedoch bemerkte er eine verblüffende Ähnlichkeit mit einem gewissen jüngeren Mann, und er dachte: _Hast du eigentlich gar nichts dazugelernt_? Er wurde gerade fertig, als Taizu vom Baden den Hang heraufkam - aus irgendwelchen Gründen zog sie den Bach immer noch vor; ihm jedoch war die Regentonne lieber, weil ihm hinterher der kalte Spaziergang erspart blieb. Als sie seine alte Erscheinung dort sitzen sah, blieb sie stehen und schaute ihn mit großen Augen an, während sie das nasse Hemd gegen den Körper preßte. Er schüttelte das Wasser vom Rasiermesser und trocknete es ab, geschmeichelt und erfreut und alles in allem auch ein wenig bedauernd ob dieses Blicks, der eine Leere in ihm füllte, von der er gar nichts gewußt hatte: Verdammter Unsinn, dachte er im selben Moment, denn es war nicht Shoka, den sie sah. Es war Saukendar, der Narr. Als den alle Welt ihn kannte. Sie jedoch wirkte nicht erfreut. _Was in aller Welt ist jetzt wieder los_? dachte er und erstarrte, von plötzlicher Furcht erfüllt, obwohl er die Antwort nicht kannte. Sie hat Angst, dachte er. _Wovor? Vor Adligen_? Dazu hatte sie auch allen Grund. "Hast du was?" fragte er. "Nein, Meister." "Meister, verdammt! Edler Herr, wenn du unbedingt willst. Oder Shoka." Er legte sich die Hand mit dem Rasiermesser aufs Knie. "Was letzte Nacht angeht..." "Mir ist kalt. Ich möchte mich anziehen." "Mädchen, ich habe dich mehr als nur gern, wenn du das noch nicht bemerkt haben solltest. Wenn du willst, nehme ich dich zur Frau." Sie sah ihn weiterhin reglos an, seufzte erst einmal, dann noch einmal und richtete sich auf. Sie stand da und schaute ihn an, sichtlich um Fassung bemüht. Dann biß sie sich auf die Lippen, rannte die Treppe hinauf und an ihm vorbei. "Willst du nicht wenigstens darauf antworten, Mädchen?" Er hörte, daß sie stehenblieb. Er hörte, daß sie an der Tür stand, ihr leises Atmen vor dem Hintergrund der morgendlichen Stille. "_Ich bin keine Dame_." Er wandte sich zu ihr um und sah sie an, versuchte zumindest ansatzweise dahinterzukommen, was mit ihr los war. "Meine _Frau_ ist das, was sie sein möchte. Meine _Frau_ ist eine Dame. Das ist es, was ich dir anbiete, verdammt noch einmal. Ich glaube nicht, daß ich dich damit beleidigt habe." Lastendes Schweigen. Sie blickte lange zur dunklen Türöffnung hinüber, nicht zu ihm. Und sie hob die Hand zu ihrer Narbe, an die er, der Himmel war sein Zeuge, weder letzte Nacht noch heute morgen gedacht hatte. Diese verdammte Narbe und alles, was damit zusammenhing. Keine Tränen. Er fürchtete, sie könnte jeden Augenblick zu weinen anfangen, und seine Eingeweide zogen sich zusammen; aber sie behielt die Fassung. Und sah ihn nicht an. "Meister Shoka, bitte kommt nicht mit mir! Laßt es mich allein tun. Anschließend komme ich zurück und werde Eure Frau. Ich werde sein, was immer Ihr von mir verlangt. Aber _mischt Euch nicht in meine Angelegenheiten_!" Er saß schweigend und ruhig da, während ihn diese junge Frau auf eine Art und Weise kränkte, wie er es von niemand anderem auf der Welt und auch von ihr nicht hingenommen hätte - wenn er nicht ihren Schmerz gespürt und gefühlt hätte, daß es ihrer Frauenehre zuwiderlief, von einem Mann, der das Lager mit ihr geteilt hatte, morgendliche Versprechen anzunehmen, die er womöglich in ein paar Stunden wieder vergessen hätte. "Ich stelle keine Bedingungen", sagte er. "Ich konnte dich nicht daran hindern, hierherzukommen. Jetzt kannst du mich nicht daran hindern, diesen Ort zu verlassen. Du siehst, es ist sehr schwer, irgend etwas zu _verhindern_. Das habe ich dich gelehrt. Darum lasse ich dich gehen. Und jetzt kannst du _mich_ nicht aufhalten." "Ja, Meister Shoka." Mit heiserer, hohler Stimme, so als ahne sie ihre Niederlage voraus und spiele das Spiel anstandshalber weiter. "Ich bin kein Narr, Mädchen. Es ist lange her, seit ich erwachsen wurde. Das solltest du mir zugestehen." Schweigen. "Das glaubst du doch, hab ich recht? Daß ich ein Narr bin?" "Nein, Meister Shoka." Er wurde von Bitterkeit überwältigt, als er sich plötzlich an Meiyas ernstes, sorgfältig geschminktes Gesicht erinnerte, an ein Treffen im Garten, im Palast: _Verheirate dich. Um Himmels willen_... Und der schmerzhafte Gedanke, daß Meiya ins verschwommene Niemandsland der Legenden Eingang gefunden hatte, eine verdammte Romanze, die sich die Bauern im Winter erzählten, Saukendar und Meiya. Als ob er, der einfache Shoka, nicht das Recht gehabt hätte, den Verlauf der Geschichte zu ändern. _Meister Saukendar_... _Und wenn ich nun eine Schweinehirtin an Meiyas Stelle will, ist das nicht mein gutes Recht_? _Ich wollte nie eine verfluchte Legende sein_. "Zieh dich an!" befahl er scharf. "Und dann los. Oder sag es mir, wenn du's dir anders überlegt hast. Niemand zwingt dich dazu, dich zur Närrin zu machen. Aber wenn dein Entschluß feststeht, dann brechen wir heute auf. Ganz, wie du willst." Sie ging hinein. Er hob sein Hemd von den Brettern auf, zog es an, gürtete es diesmal und hob den Kopf, als in der Hütte erst ein Poltern und dann ein Krachen ertönte. Ihr Temperament. Ja. Er legte die Armschützer an und verschnürte sie, und dann kamen die Schienbeinschützer mit ihren Verschlüssen an die Reihe, als Taizu wieder herauskam und ihre zusammengerollten Schlafmatten auf die Veranda fallen ließ. "Komm her!" verlangte er und deutete auf die Treppe zu seinen Füßen. Sie runzelte die Stirn und trat näher. "Setz dich!" befahl er und fügte hinzu: "Bitte." "Was habt Ihr vor?" "Setz dich." Sie setzte sich, und er löste ihr nasses Haar und kämmte es behutsam - dann drehte er sie an den Schultern zu sich herum und nahm sein Rasiermesser. "Was tut Ihr da?" schrie sie. "Ganz ruhig..." Er nahm erst eine Strähne und dann die andere, kämmte sie zurück, dann schnitt er die nächste ab und formte nach und nach einen Pony. Als das Haar herabfiel, kniff sie die Augen zusammen und rümpfte die Nase. Drei, vier vorsichtige Schnitte, dann nahm er eine Metallspange und eine Nadel und drehte sie abermals herum, kämmte das lange Haar hoch und steckte es fest. "Ihr verschwendet Eure Zeit", sagte Taizu. "Warum?" "Ihr werdet es nicht schaffen, eine Dame aus mir zu machen." "Das mag schon sein. Aber ich will auch nicht, daß man dich für einen Banditen hält." Er drehte sie abermals herum, kämmte ihr restliches Haar locker über die Ohren, wobei er sie am Kinn festhielt. "Verdammt, das ist gar nicht schlecht." Sie preßte die Lippen zusammen. In ihren Augen waren Blitze und eine Andeutung von Regen zu sehen. "Dann sieht man die Narbe um so besser." Er kniff sie ins Kinn. Schüttelte sie. "Was ist das für eine Einstellung? Halt den Kopf hoch. Zum _Teufel_ mit der Narbe und zum Teufel mit den Leuten. Dein Gesicht wird man bestimmt nicht mehr vergessen. Also halt das Kinn hoch! Vor wem fürchtest du dich?" "Vor niemandem." "Vor welchen Worten fürchtest du dich?" "Vor keinen." "Hm, ich dachte, sie hießen: _Schlaf mit mir_." Sie zuckte vor seiner Hand zurück und funkelte ihn an. Er lächelte. "Du bist verdammt hübsch." "Meister Shoka, Ihr seid ein Lügner." "Mädchen, Mädchen, das verstehst du falsch: Ein Mann belügt eine Frau, _bevor_ er mit ihr geschlafen hat, nicht hinterher." Das saß. Ihre Nüstern blähten sich, und sie preßte die Lippen zusammen. "Wir packen besser, bevor wir uns zu sehr verzetteln", sagte er. "Und sattle Jiro. Ich hoffe, du weißt, daß er nicht viel Gepäck trägt. Er ist kein Packpferd, und seine volle Ausrüstung hat ein ordentliches Gewicht." Immer noch das finstere Gesicht. "Armer Kerl", fügte Shoka hinzu. "Du tust ihm wirklich etwas Schreckliches an, weißt du." Damit wollte er sie necken. Doch er empfand auch so. Als er das Metall spürte, legte Jiro die Ohren an, blies sich auf, schüttelte den Kopf und stampfte - alles nur, um das Satteln zu erschweren. "Ich glaube, du weißt Bescheid", sagte Shoka zum Pferd und tätschelte ihm den leder- und stahlgeschützten Hals. "Es geht wieder los. Wenn wir Glück haben, sind wir im Frühjahr zurück." Einem Pferd konnte man alles mögliche versprechen. Jiro hörte sowieso nicht zu. Er bewegte nur die Ohren und schmollte. Ein Mensch, dachte Shoka, hätte es eigentlich besser wissen müssen. Er faltete die Rüstung auf der Veranda auseinander und legte sie an. Sie war ein wenig abgewetzt, ein wenig verschmutzt vom Blut, das er in den Jahren vergossen hatte, aber die goldgewirkten Drachen leuchteten noch immer, und ihre grünen Augen waren ungetrübt. Wolken und Drachen auf dem Gewand und rote Nähte auf der Bundhose, die er trug und deren Farbe stark verblaßt war - schwer zusagen, wie sie früher einmal ausgesehen hatte. Er schnürte den Gürtel und die Schärpe, legte den Körperschutz an und seufzte, verknotete die Seitenriemen, während Jiro unten im Stall vor Ungeduld stampfte und schäumte. Das Seidengewebe des Panzers war früher einmal rot gewesen. Das Gewebe des Körperschutzes wirkte jetzt fast braun - besonders seit er schmutzig geworden war. Er verknotete die letzten Schnürbänder auf der Brust und blickte Taizu entgegen, die mit ihrem Bogen, den Köchern, dem Schwert und den Bündeln herauskam, in denen sie ihre Nahrungsvorräte, die Töpfe, Pfannen und persönlichen Habseligkeiten verstaut hatte. Beim zweitenmal brachte sie ihren Panzer mit, setzte sich hin und legte ihrerseits Schienbeinschützer und Ärmel an; beim Rest half er ihr. "Gar nicht wie ein Bandit", sagte er. Er fand, daß er bei ihrer Ausrüstung wirklich gute Arbeit geleistet hatte - kleine Hirschhornplättchen in allen möglichen Brauntönen, die zu Mustern angeordnet waren. Bei den Sachen, die er aus Chiyaden mitgebracht hatte, entdeckte er eine rote Seidenschnur und hieß sie stillstehen, während er ihr das Haar band. "Ein wenig Zierrat", sagte er, "zeigt deinem Gegner, daß du zuversichtlich bist, weißt du. Das verunsichert ihn." Sie blickte ihn mißtrauisch an. "Das kannst du mir ruhig glauben. Vor wem würdest du dich fürchten? Vor einem schäbigen Banditen? Oder vor jemandem, der sich Zeit für sich und seine Ausrüstung nimmt? Ein, zwei Seidenbänder, und schon wirkst du glaubhafter." _Wumm_. Unten im Stall bekundete Jiro mit einem Tritt gegen die Stallwand seine Ungeduld. "Du bist verflucht hübsch", sagte er und berührte die Narbe auf ihrem Gesicht. "Trag sie wie ein Banner, Mädchen. Wie eine Herausforderung. Du hast es überlebt. Du bist etwas Besonderes. Hast du gehört?" _Wumm_, vom Stall. Taizu biß sich auf die Lippen. Nicht wütend, o nein! Sondern aufmerksam. "Du bist meine Schülerin", sagte er. "Daß du mir keine Schande machst! Ich vertraue auf dich." "Dann bleibt hier!" "Hm, das bedeutet keinen Mangel an Vertrauen. Meinst du nicht, daß die ganze Provinz Hua ein bißchen viel für ein Mädchen ist? Du brauchst zumindest jemanden, der dir den Rücken frei hält." "Ihr macht Euch über mich lustig." "Nein. Ich bin fest entschlossen, dich lebend wieder zurückzubringen. Das bedeutet mir sehr viel. Du hast versprochen, daß du bei deiner Rückkehr meine Frau wirst." "Ich...!" "Ich finde das ausgesprochen vernünftig. Sieh dir nur an, was ich dir alles bieten kann. Ein schönes Haus. Einen ganzen Berg, um darauf zu jagen. Gute Gesellschaft. Willst du wirklich nach Hua gehen?" "Ich weiß, was Ihr vorhabt. Ihr wollt den ganzen Weg nach Hua über mit mir streiten. Und im letzten Moment werdet Ihr eingreifen und Gitu töten. Und das werde ich Euch nie verzeihen." _Wumm_. _Wumm_. "Das liegt nicht in meiner Absicht. Ich werde dich ein bißchen beraten. Ich glaube, das ist nur..." _Wumm_. "...vernünftig. Du kannst Gitu haben. Um einen solchen Preis werde ich nicht mit dir wetteifern. Sind wir soweit?" Shoka, der Jiro führte, sah sich nicht um. Er wußte auch so, was er gesehen hätte: Heimat, bloß leer und tot - und ein solcher Anblick bot keinen Trost. Taizu jedoch blickte zurück. Zumindest war es ihr nicht gleichgültig. Beim Abstieg legte Jiro die Ohren an und verdrehte die Augen, bis das Weiße sichtbar war. Sie kamen nur ruckweise voran. Jiro pflanzte seine Füße auf den schmalen Weg und beäugte die nächste steile, wurzelüberwachsene Kehre; ein kurzes Vorwärtsstürmen, bis Jiro wiederum auf dem nächsten ebenen Flecken vernarrte und den nächsten Steilhang mißtrauisch begutachtet. Der Aufstieg war Shoka weniger schlimm vorgekommen. Oder er hatte damals weniger wahrgenommen - als er hierhergekommen war, sich für einen bestimmten Berg entschieden und ein erheblich jüngeres Pferd hinaufgeführt hatte. Er fühlte sich erleichtert, als Jiro endlich wieder ebenen Boden unter den Füßen hatte, ohne sich die Beine gebrochen zu haben, und dessen eingedenk ließ er den alten Burschen ein wenig verschnaufen und ging neben ihm unter den grünen Blättern her, bis die Bäume auseinanderrückten und sie zu den Feldern gelangten. "Gehen wir durchs Dorf?" fragte Taizu. Darüber hatte er unterwegs nachgedacht, hatte überlegt, wie groß die Wahrscheinlichkeit war, daß ein Mann und ein Mädchen in Rüstungen nach Hua gelangten, ohne während dieser Wochen gesehen zu werden. Darüber hatte er sich seit dem Augenblick Sorgen gemacht, da ihm klargeworden war, daß er den Berg würde verlassen müssen - über dies und andere Dinge. Vielleicht war er den Dorfbewohnern in Wirklichkeit gar nichts schuldig. So hatte er es auch nie betrachtet: Sie versorgten ihn im Austausch gegen gute Felle mit Nahrung, sie profitierten voneinander. Dennoch mußte er immer wieder an den Jungen denken, der die Felle geholt hatte, und an die Frauen, die ihm Eingemachtes schickten, und an die Bauern, die den Reis anbauten. Und der Gedanke daran, was sie oder die Banditen unternehmen würden, wenn sich die Nachricht von seinem Verschwinden erst einmal verbreitet hatte, bedrückte ihn. "Wir gehen durchs Dorf", sagte er, hielt an und befreite Jiros Sattel von dem Gepäck, das sie quer darübergelegt hatten. "Für dich." Er reichte ihr die zusammengerollten Matten und das Schlafzeug, die Bogen und Köcher; die restlichen Packen, die nicht mehr in Jiros Satteltaschen gepaßt hatten, band er hinter dem Sattel fest. Dann saß er auf. Das war schon Anlaß genug, daß die Bauern von den Feldern und die Leute aus den Häusern gerannt kamen - sicherlich der seltsamste Anblick, der ihnen auf der einzigen staubigen Straße bislang zuteil geworden war: ein Edelmann in einer verblichenen Rüstung auf einem graunasigen Pferd, mit einem ungewöhnlich kleinen und überladenen Gefolgsmann. Anfangs schienen sie ihn gar nicht zu erkennen, oder er hatte sich in den zehn Jahren stärker verändert, als er gedacht hatte; doch dann sagte jemand in der Menge: "Das ist Meister Saukendar!", und das ganze Dorf umringte sie, machte Jiro nervös und drängte Taizu gegen den Steigbügel. Anfangs kam nur das junge Volk. Aber auch die Dorfältesten kamen heraus und verneigten sich, und Shoka verneigte sich im Sattel. _Sind die Banditen da_? hörte er in der Menge fragen. "Kommen die Banditen?" Er fühlte sich schuldig. "Was führt Euch zu uns, Herr?" fragte der Dorfälteste mit einer Stimme wie das Rascheln des Windes im Schilf. "Was können wir für Euch tun?" "Ehrwürdiger", sagte er, sich abermals verneigend, "das ist meine Frau. Ihr Name ist Taizu." Gemurmel und Verbeugungen. Taizus Gesicht sah er nicht. Wahrscheinlich war es auch besser so. Er stellte sich ihre finstere Miene vor, dazu angetan, dem Teufel das Fürchten zu lehren. Sie verhielt sich jedoch ruhig, während die Dorfweiber sie mit großen Augen anstarrten und sich das ganze Dorf in höflich gedämpftem Ton und nicht ohne Besorgnis fragte, wo Meister Saukendar seine Frau bloß herbekommen hatte und was für eine Frau das wohl sein mochte. Zweifellos betrachteten sie Taizus Hände eingehend, um zu sehen, wie die Daumen angeordnet waren. Und wenn Taizus Miene seinen Vorstellungen entsprach, würde sie ihnen ebenfalls kein Vertrauen einflößen, so wie sie in ihren Stiefeln dastand, das Schwert verkehrt herum in beiden Händen haltend. Die Ältesten und die übrigen Dorfbewohner verneigten sich tief vor ihnen. "Wir haben gar nicht gewußt...", stotterte der Dorfälteste. Beinahe hätte er erwidert: _Ihr kennt sie. Sie war der Junge, der vor zwei Jahren ins Dorf kam_. Klugerweise hielt er seine Zunge jedoch im Zaum - selbst auf die Gefahr hin, pietätlos zu erscheinen. "Meine Frau wünscht ihre Heimat wiederzusehen", sagte er. "Darum gehe ich für eine Weile fort." Er vernahm das entsetzte Gemurmel und bahnte sich rasch einen Weg durch die Menge. "Ich habe etwas zu erledigen. Darum bin ich gekommen, Euch meine Aufwartung zu machen und mich für Eure Freundlichkeit zu bedanken..." Die Ältesten verneigten sich. Die übrigen Dorfbewohner desgleichen, ein Nicken und Wispern wie Wind in einem Kornfeld. "Aber wer wird jetzt die Banditen fernhalten?" fragte ein Ältester, worauf andere in die Frage einstimmten, ein Chor flehender Stimmen. "Ruhe!" rief der Dorfälteste und stieß mit dem Stock auf den Boden. "Ruhe!" Es dauerte eine Weile. Sie waren außer sich. Sie fürchteten sich und warfen Taizu Blicke zu, in denen sich Neugier mit Groll mischte, und die Unruhe übertrug sich auf Jiro, er stampfte und mahlte auf dem Gebiß; Shoka zog die Zügel straff, aus Angst, das Pferd könne jemanden beißen - doch niemand wagte sich so nahe an ihn heran. "Verzeiht", sagte der Älteste und verneigte sich, "verzeiht, edler Herr, edle Dame, aber wer wird uns nun beschützen? Sobald Ihr weg seid, edler Herr, werden sie sich auf uns stürzen. Sie wissen, daß wir wohlhabend sind, sie wissen, daß wir eine gute Ernte einführen..." Aus dem Tonfall des alten Mannes sprach Panik. Bleiche Gesichter umringten sie, geweitete Augen und ein Flüstern abgrundtiefer Verzweiflung. "Bleibt bei uns!" jammerten die Leute. "Schweigt!" rief Shoka, und jedermann verstummte, abgesehen von den Kindern, die zu weinen angefangen hatten. "Hört mir zu. Ihr seid wohlgenährt, wohlhabend, und ihr seid den Banditen, die bisher nicht den Mut hatten, euch anzugreifen, zahlenmäßig überlegen. Ich bin sicher, daß ihr in zehn Jahren nicht verlernt habt, wie man mit dem Bogen und dem Stock umgeht. Wenn von euch jemand zur Hütte hinaufsteigen und etwas mitnehmen will - ich habe nichts dagegen; den Durchreisenden würde ich erzählen, daß die Dämonen zwar keinem aus dem Dorf etwas tun, daß sonst aber keiner hinaufgehen sollte. Dort leben furchtbare Wesen. Ihr habt sie im Gebirge heulen gehört, Dämonen mit Augen wie Lampen und Fingern wie Eis. Doch das Dorf ist vor ihnen sicher. Es steht unter einem besonderen Schutz, und jeder, der etwas aus diesem Dorf stiehlt, und jeder, der dem Dorf irgendeinen Schaden zufügt, wird seines Lebens nicht mehr sicher sein. Meine Frau und ich werden zurückkommen und ihn aufspüren. Habt ihr gehört?" Die Leute rissen die Augen auf. Sie verneigten sich, bleich im Gesicht, und die Mütter hielten den Kindern die Hand vor den Mund. "Erzählt das jedem Durchreisenden", sagte er. "Sorgt dafür, daß sie die Nachricht verbreiten." Weitere Verneigungen. "Ich wünsche euch Glück", sagte er abschließend und ließ Jiro weitergehen. Die Ältesten machten unter wiederholten Verbeugungen den Weg frei, und die Leute wichen zurück. So gingen sie durch die Straßen, von einer Menge begleitet, die ihnen Glück und baldige Heimkehr wünschte, Tücher schwenkte und ihnen Seidenbänder und Blumen schenkte. "Sie glauben, ich sei ein Dämon", sagte Taizu, als die letzten Dorfbewohner hinter ihnen zurückgeblieben waren; nur ein Hund rannte ihnen noch bellend nach und ärgerte Jiro. Taizu blickte ihn zornig an. "Wenn du so ein Gesicht machst, ist das auch kein Wunder." "Verdammt, ich bin nicht Eure Frau!" "Dämonen können ihre Daumen richtig herumdrehen, wenn sie einen Fluch aussprechen. Habe ich recht?" "Was Ihr getan habt, ist niederträchtig! Ihr habt diese Leute _angelogen_!" "Inwiefern? Glaubst du nicht an Dämonen?" "Mit Dämonen soll man nicht spaßen!" "Vielleicht meinen das die Banditen auch. Das wäre doch kein Schaden, findest du nicht?" Taizus Mund stand offen. Sie klappte ihn zu und ging eine Weile schweigend weiter. "Ich verlasse sie", sagte er, "um dich nach Hua zu bringen. Die Geschichten, die man sich von mir erzählte, waren ihr einziger Schutz. Also ist es nur gerecht, daß ich ihnen als Entschädigung eine Geschichte hinterlasse. Oder etwa nicht? Sie verlieren die Felle, die ich ihnen immer gegeben habe. Das bedeutet eine Menge Geld für sie." "Das weiß ich!" "Sie verlieren meinen Schutz." "Das ist nicht meine Schuld! Ihr müßt mich nicht begleiten!" Sie drehte sich um und schwenkte ihren Bogen, so daß Jiro scheute. "Kehrt um! Geht zurück!" "Mit dir oder hinter dir, Mädchen. Du wärst verdammt schwer aufzuspüren, aber schließlich könnte ich dich immer noch in Hua erwarten. Ich könnte vor Gitus Tor treten und mich erkundigen, ob er eine Dämonenfrau gesehen hat, die nach ihm sucht..." "Macht keine Witze!" Sie schlug ein Zeichen gegen Teufel. "Ihr habt diese Leute _angelogen_!" "Ich bin sicher, sie werden Reis und Wein für die Dämonen bereitstellen. Ich bezweifle, daß die Dämonen Einwände dagegen haben. Wer weiß, vielleicht beschützen sie den Ort sogar." "Das bedeutet Unheil!" "Für die Banditen, ja. Wer weiß, vielleicht geht sogar meine Frau auf sie los." "Das ist nicht _komisch_, Meister Shoka!" Ihr Gesicht war vor Zorn gerötet. In ihren Augen glitzerten Tränen. "Man wird sie umbringen, weil sie Euch glauben!" Er schaute sie betrübt an. "Ich weiß. Aber sie werden besser kämpfen, wenn sie Hoffnung haben. Eine Lüge ist immer noch besser als nichts. Und etwas anderes als eine Lüge, liebe Frau, war es nicht, woran sie geglaubt haben. Welchen Unterschied macht da schon ein weiteres Märchen?" Sie war entsetzt. Sie wandte den Blick ab, marschierte unter ihrer Last dahin und schüttelte den Kopf. Schließlich hielt sie an, sah sich nach ihm um und sagte ruhig und gefaßt: "Geht zurück, bitte, geht zurück..." "Kommst du mit?" fragte er, während Jiro, verwirrt von dem ständigen _Hü_ und _Hott_, den Kopf herumwarf und an den Zügeln zerrte. "Nein, das tue ich nicht. Aber niemand kennt mich. Euch wird man erkennen, und die Soldaten werden uns jagen, und wir werden keinen Erfolg haben." Er lächelte. "Du machst dir Gedanken. Gut. Also mußt du auf mich aufpassen. Und wenn du wegrennst, dann bleibt mir nichts anderes übrig, als in Hua nach dir zu suchen." "Man wird uns beide töten! Kehrt _bitte_ um." "Nein", sagte er in ihrem Tonfall, genau in ihrem Tonfall; und sie holte lange und zitternd Luft, drehte sich um und stapfte weiter. Und so folgte er ihr in einem Tempo, mit dem Jiro recht zufrieden war, bis jenseits der Felder und der nächsten Berge, hinter denen die Handelsstraße sich in einen staubigen Pfad verwandelte, der zwischen Wiesen, Felsen und verstreutem Gehölz hindurch der allgemeinen Richtung des kleinen Flusses folgte. Sie befanden sich nun _innerhalb_ von Chiyaden, in der Provinz Hoishi, auf dem Weg, den die Karawanen nahmen, die vom Königreich Shin durch das Barbarenland Oghin zum zivilisierten Herzen des Reiches zogen, dem Schoß des Himmels. _Nach Hause_, dachte Shoka immer wieder, ohne es zu wollen, denn sein Zuhause lag hinter ihm im Gebirge, es hatte nichts zu schaffen mit Chiyaden und dessen Nöten, und er wehrte sich gegen den Doppelsinn, den er diesem Wort unbewußt verlieh. Am Abend schlugen sie im Windschatten eines Felsens ihr Lager auf, an einer Stelle, wo die Berge nahe an die Straße heranrückten, wo es einen Bach gab und eine flache Stelle, auf der schon viele Reisende gelagert hatten. "Hier ist es zu ungeschützt", wandte Taizu ein. Worauf er die Achseln zuckte und entgegnete: "Das mag sein. Hast du jetzt schon Angst? Willst du wieder nach Hause?" "Ich _gehe_ nach Hause", gab sie zurück, setzte sich und packte aus. Und so sattelte er Jiro ab und legte das Zaumzeug auf die Felsen zum Trocknen aus; dann zog er seine Rüstung aus und rieb Jiro mit einer Handvoll Gras ab, ehe er daran dachte, sich selbst den Staub abzuwaschen. Funken stoben von dem kleinen Feuer auf, das Taizu mit ihrer Ausrüstung entfacht hatte und das sie mit Gras, kleinen Zweigen und größeren Äste nährte, die sie aufgelesen hatte. Er wusch sich gerade am Bach, als sie mit dem Kochtopf Wasser holen kam. "Wasch dich", sagte er großzügig und mit der Absicht, Frieden zu schließen. "Zieh die Rüstung aus. Ich koche." Sie redete immer noch nicht mit ihm, überließ ihm aber das Kochen und legte die Rüstung ab - ein Zeichen, daß sich ihre Laune gebessert hatte, vermutete Shoka, doch als sie frisch gewaschen und von der Last befreit zum fertigen Abendessen kam, war ihre Stimmung unverändert schlecht. "Mm", war ihre einzige Äußerung, bis Reis und Tee verbraucht waren; anschließend seufzte sie und saß mit der Schüssel in Händen einfach nur da. "Ich sage dir etwas", meinte er. "Ich werde nicht mehr vom Umkehren sprechen, wenn du wieder sprichst. Ein Wort von dir genügt. Also, willst du?" "Gestern habt Ihr gesagt, Ihr würdet nicht davon reden!" "Das tue ich auch nicht. Ich habe bloß gefragt. Hier. Gib mir die Schüsseln. Ich wasche sie." "Das ist nicht Eure Aufgabe!" Sie erhob sich, nahm seine Schüssel und stapfte zum Bach. Daraufhin löste er die Verschnürung ihres Bettzeugs. Im Gebirge war es kühl, zumal jetzt, da es Nacht wurde. Er rückte die Matten zusammen und legte zwei Decken darüber, und als sie abgewaschen hatte, war das Nachtlager schon bereitet. "Ich bin müde", sagte sie und packte die Schüsseln und das Essen weg. "Ich will heute bloß schlafen. Laßt mich bitte in Ruhe. Einverstanden?" "Gewiß", sagte er versöhnlich. "Wie du willst. Aber du hast doch hoffentlich nichts dagegen, daß wir nebeneinander schlafen. Es wird eine kalte Nacht." Sie schnaubte. Und als sie sich hingelegt hatten, wandte sie ihm demonstrativ den Rücken zu. Na gut, dachte er, stellte jedoch fest, daß es ihn nicht so gleichgültig ließ, wie er gehofft hatte, und rückte schließlich näher an sie heran. Taizu mußte nachdenken. Jeden Moment konnte sie ihre Meinung ändern und auf den Berg zurückwollen, was ja nur zu wünschen war. Darum würde er sich in Geduld üben. Aber er konnte sich nicht den ganzen Weg bis nach Hua über gedulden. _Verdammt_. Wieder dachte er an Gewalt. Doch davon hatte Taizu mehr als genug gehabt, bei den Göttern, und einen Mangel an Geduld würde sie ihm nicht verzeihen. Er hatte zwei Jahre Geduld gehabt. Er konnte wieder zum Asketen werden und sich weiterhin gedulden. Gütiger Himmel. Er schaute zu den Sternen hinauf. Mit vollendeter Selbstbeherrschung sagte er leise: "Du frierst doch bestimmt, nicht wahr?" "Nein." "Die Sache mit den Dämonen tut mir leid." "Redet nicht davon." "Warum nicht?" "Weil ich schlafen möchte." "Glaubst du an Dämonen?" "Natürlich glaube ich daran. Hört auf, davon zu reden! Wollt Ihr sie etwa reizen?" "Also, ich nicht. Ich lebe seit zehn Jahren auf dem Berg und habe noch nie einen gesehen. Du etwa?" "Nein, und darüber bin ich froh!" "Die Leute aus dem Dorf glauben, daß überall in den Bergen Dämonen leben. Aber es gibt dort keine Dämonen. Sonst hätte ich sie gesehen. Jiro hätte sie gerochen." Sie schwieg. "Taizu." "Ich hätte nicht mit Euch schlafen sollen. Jetzt erzählt Ihr im Dorf Lügen über mich und versucht mir Angst zu machen." "Was hat denn das eine mit dem anderen zu tun? Ich dachte, es hätte dir gefallen." Ein langes Schweigen. "_Hat_ es dir gefallen?" "Beim zweitenmal war es besser." "Das lag auch an dir. Das macht etwas aus." Er fuhr mit der Hand an ihrer Schulter hinunter. "Man kann nie wissen - wie viele Gelegenheiten es gibt. Das wissen allein die Götter... Es soll dir Spaß machen, Taizu. Sonst taugt es nichts." Schweigen. "Verdammt, du könntest mir wenigstens antworten." "Ich versuche zu schlafen." "Also, ich kann nicht schlafen." Er erhob sich und stieß sie sanft an. "Steh auf. Gib mir meine Matte und eine Decke. So wird das nichts." "Ihr habt gesagt, es würde kalt." "Soll es doch. So friert mich bei weitem mehr." "Ich bin _müde_", sagte sie, setzte sich auf, schlang die Arme um ihn und lehnte den Kopf an seine Beine. "Also gut. Ist schon gut. Wenn Ihr wollt, habe ich nichts dagegen." Nun tat es ihm leid. Er wickelte sie beide in die Decke, streichelte ihr Haar und hielt sie umarmt, wobei er dachte, daß es ein langer Weg gewesen und für ein Mädchen eine große Anstrengung gewesen war. Wahrscheinlich taten ihr von der Rüstung die Gelenke weh. Jedenfalls schmerzten die seinen, der Himmel war sein Zeuge, und er hatte den ganzen Tag auf dem Pferd gesessen. "Schlaf", sagte er. "Mehr braucht ein Mann nicht, nur eine vernünftige Antwort." Sie legte ihm die Arme um den Hals und klammerte sich an ihn. Er spürte, wie ihre Schultern sachte bebten. "Weinst du?" Keine Antwort. "Weshalb?" fragte er nach einer Weile. "Ist es meinetwegen?" Sie nahm eine Handvoll von seinem Haar, umarmte ihn fester und schüttelte den Kopf. Was immer das heißen mochte. Sie schniefte. "Müde?" fragte er. Sie nickte an seiner Schulter und ließ ihn nicht los. Und so saß er eine Weile verlegen da, mußte jedoch feststellen, daß selbst ein Stück von Taizu noch recht gut gegen die nächtliche Kälte half. Er lehnte den Kopf an ihren, seufzte und stellte sich darauf ein, so lange sitzen zu bleiben, bis sie getröstet war. Doch dann tätschelte sie sein Gesicht und sagte: "Wir können es machen. Es macht mir nichts aus." "Verdammt noch einmal, Mädchen." Denn inzwischen war er nicht mehr in der Stimmung. "Sei brav. Sag mir ein für allemal, ob du jetzt willst oder nicht. Überleg's dir nicht noch einmal anders. Meine Geduld geht langsam zu Ende." "Ich habe ja gesagt. Ich hab's so gemeint!" "Gütiger Himmel." Er nahm sie erschöpft in die Arme und spürte, wie sie erschauerte. "Du fürchtest dich doch nicht?" "Mir ist kalt." Ihre Zähne schlugen aufeinander. Er legte sie auf den Boden und deckte sie zu. Erschöpft, dachte er. Und verängstigt. So hielt er sie, bis sie aufhörte zu zittern. Und bis dahin waren beide halb eingeschlafen. "Verflucht", murmelte er, "wir probieren es morgen wieder." _*11*_ Am Morgen schmollte Jiro. Ein bißchen Anstrengung und ein interessanter Ausritt in den Bergen waren keine schlechte Sache, aber allmählich wurde ihm klar, daß er sich weiter und weiter von zu Hause entfernte, und fernab von seinem Stall und seiner Weide aufzuwachen, warf ihn vollkommen aus der Bahn. Abermals gepanzert zu werden mißfiel ihm, und er legte nicht nur die Ohren an, sondern schlug aus und schnappte. Kluges Pferd, dachte Shoka, der an diesem Morgen ein Stechen im Bein verspürte, so daß es ihm schwerfiel, nicht zu humpeln, während ihm ein durchdringender Schmerz durchs Knie fuhr, als er den Sattel hochhob und ihn Jiro überwarf. Er bemerkte mit einer gewissen Genugtuung, daß sich Taizu heute ein wenig langsamer bewegte, sich beugte und streckte und das Gesicht verzog, als sie sich die Schultern massierte und den Armschutz anlegte. Merklich langsamer als beim letztenmal. "Siehst du", sagte er, "du solltest jede Nacht mit mir schlafen. Das ist gut gegen Steifheit." Sie schnitt ihm eine Grimasse. Er grinste und warf Jiro die Satteltaschen über. "Ich werde einen Köcher nehmen." "Meinetwegen." "Ich könnte auch die Hälfte des Bettzeugs tragen." "Ich habe nichts dagegen." Kein einziges Mal bat sie darum, reiten zu dürfen - weil er, dachte er, in Kürze angefangen hätte zu humpeln. Und nie sprach sie ihn darauf an, nicht einmal dann, wenn er sie reizte, obwohl er sie zu ermüden und zur Umkehr zu bewegen versuchte: sie hätte es tun können, dachte er, wenn sie nicht im Kern gut gewesen wäre. Zweifellos begriff sie sehr wohl, was er tat, und hatte ihn letzte Nacht mit einiger Berechtigung abgewiesen. Er rollte die Schlafmatten noch einmal getrennt ein und half ihr beim Kämmen. Er gab ihr noch zwei Seidenbänder, die ihm die Dorffrauen geschenkt hatten, ein rotes und ein hellfarbenes. Sie lächelte über sein Geschenk, band sich die Haare damit zusammen und sah ihn besorgt an, als wüßte sie nicht genau, ob sie sich lächerlich machte. Er lächelte. Ihre Augen leuchteten. Und er ging zu seinem Pferd und saß auf, bevor ein Wort einen neuen Streit auslösen konnte. Es wurde warm, und die Straße führte eben dahin, zwei Wegspuren aus seidigem gelbem Staub inmitten des wilden Spätsommergrases. "Möchtest du eine Weile reiten?" fragte Shoka schließlich, doch Taizu schüttelte den Kopf und wischte sich den Schweiß von der Schläfe. "Nein", sagte sie. "Danke, Meister Shoka. Es geht schon." "Jiro kann das Schlafzeug tragen." "Nein", sagte Sie munter, sogar fröhlich. Sie rückte sich das Schlafzeug höher auf die Schulter. "Eine Matte ist nicht so schwer." Heute hatte er noch nicht einmal gesagt, daß sie umkehren sollten. Sie hatte seit dem Morgen noch kein böses Wort gesagt. Es war ein verführerischer Frieden, der einen dazu verleiten konnte, einfach so weiterzumachen, koste es, was es wolle. Weil es jedoch um Taizus Haut ging, war er dazu nicht bereit. Seit gestern waren deutlich erkennbare Wagenspuren auf der Straße, im gelben Staub; stellenweise waren das Gras und das Unkraut niedergedrückt, umgeknickt, aber noch nicht braun. "Da ist jemand vor uns", meinte Taizu irgendwann. "Ich habe mich schon gefragt, wann du es bemerken würdest." Sie drehte sich um und blickte ihn stirnrunzelnd an. "Das hätten sie uns im Dorf auch sagen können." "Wir haben nicht danach gefragt, oder?" "Es wäre nett gewesen, wenn sie es uns gesagt hätten!" "Schon möglich. Aber ich bin ein Herr aus Chiyaden. Wer redet mit den Herren schon über solche Kleinigkeiten? Dafür haben wir unsere Lakaien. Das ist eine Frage der Hierarchie." Sie machte ein finsteres Gesicht. "Brauchen Herren denn nicht zu wissen, was vor sich geht? _Ich_ hätte es gesagt, und ich komme vom Land. _Ich_ finde, es wäre zuvorkommend gewesen zu sagen, daß jemand auf der Straße unterwegs ist." "Natürlich hättest du das", sagte er. "Du würdest bis an die Steigbügel gerannt kommen und es dem Herrn sagen." "Hm. Nein. Ich würde ihn durch eine kaputte Brücken fallen oder auf Fremde stoßen lassen. Wenn er mir nicht gefällt, würde ich das tun." Shoka lächelte. "Das würdest du." "Natürlich würde ich das." "Ist das in Hua so Sitte?" "Wir würden unseren Fürsten niemals durch eine Brücke fallen lassen. Wir würden sagen, Fürst Kaijeng, Ihr solltet sie reparieren. Fürst Kaijeng, hier kamen Fremde vorbei." "Fürst Kaijeng war ein guter Mensch." "Habt Ihr ihn gekannt?" "Nicht besonders gut. Ich bin ihm ein paarmal begegnet. Abgesehen vom Jahr der Überschwemmung hat er sich nie am Hof aufgehalten. Damals bat er um Hilfe." "Da war ich noch nicht geboren." Shoka bedachte dies und schüttelte wehmütig den Kopf. "Also, damals war ich am Hof. Das war noch unter der Herrschaft des alten Kaisers. Fürst Kaijeng erstattete dem Kaiser Bericht. Er hat mich beeindruckt. Er war ein bescheidener Mann. Er bat darum, ihm für dieses Jahr die Steuern zu erlassen. Er kaufte sechs Wagenladungen Reis und Kleidung und schickte sie seinen Lehnsmännern, damit die Bauern, wie er sagte, bei Kräften blieben: es sei eine Menge Wiederaufbauarbeit zu leisten, und wenn das Land verwüstet sei, gliche eine wohlgenährte Bevölkerung Soldaten bei einem Feldzug. Damit beeindruckte er den Kaiser so sehr, daß er seinerseits zehn Wagenladungen Kleidung und Reis schickte; und im nächsten Jahr schickte Hua die vollen Steuern zurück, außerdem als Geschenk das Beste, was das Land zu bieten hatte, für die Tafel des Kaisers." "Davon habe ich gehört." Er konnte ihr Gesicht nicht sehen. Ihr Tonfall war unbeschwert. Tatsächlich war es das erste Mal, daß sie über Hua sprechen konnte. Er wollte den Bogen nicht überspannen. "Anständiges Verhalten zahlt sich aus", sagte er. "Eine Dame sollte sich das merken." Das brachte ihm einen finsteren Blick von Taizu ein, den sie ihm unter ihrer Schlafmatte und dem Schwert, dem Bogen und dem Köcher hervor, die sie geschultert trug, zuwarf. "Daß Ihr ihnen bloß keine Lügen über mich erzählt!" "Was soll ich ihnen denn sagen? Verzeihung, Ihr Herren, aber ich bin Saukendar aus Yiungei und begleite dieses Bauernmädchen zurück nach Hua, damit sie Fürst Gitu umbringen und mich heiraten kann. Aber sicher doch."Sie machte den Mund zu und funkelte ihn an. "Nun?" fragte er. "Ich halte es für besser, daß du meine Frau bist, jedenfalls in den Augen der Leute, die uns begegnen. Solange du anständig verheiratet bist, kommt niemand auf krumme Gedanken." Taizu blickte rechtzeitig wieder nach vorn, um einer großen Pflanze ausweichen zu können. "Wenn ich Euch nicht dabei hätte", sagte sie bissig, "würde ich bis zum Abend zurückbleiben und dann im Dunkeln an ihnen vorbeigehen." "Und erschossen werden." "_Im großen Bogen_ an ihnen vorbeigehen. Ohne Lärm zu machen. Ich wüßte mir schon zu helfen." "Davon bin ich überzeugt, aber ich dachte, wir hätten beschlossen, nicht mehr darüber zu streiten." "Ich nicht. Das wart Ihr." "Das habe ich anders in Erinnerung. - Siehst du das?" Am fernen Horizont, wo die Straße am Flußufer eine Biegung machte, war ein dunkler Fleck. Taizu hielt Ausschau, ging eine Weile auf Zehenspitzen und reckte sich, um besser sehen zu können. "Bauernvolk oder Händler", sagte sie schließlich. "Mehrere Wagen." "Händler, denke ich. Eine ganze Menge Wagen. Wir werden den ganzen Tag brauchen, um ihren Vorsprung aufzuholen, schätze ich, und sie gegen Abend erreichen..." "Das wird ihnen nicht gefallen." "Das kann ich ihnen nicht verdenken." Mindestens zehn, elf Personen, schätzte Shoka, als sich die Bodenwellen allmählich verschleierten und die Karawane vor ihnen auftauchte - die sie jetzt am späten Abend bestimmt mit einiger Besorgnis beobachtete. Der Hoi befand sich links von ihnen. Die Berge reckten ihre kahlen Flanken empor, sie waren zu steil und zu steinig für Bäume: Ödland nannten die Einheimischen diese Gegend an der Grenze zwischen Hoishi und Hoisan, ein verdächtiger Ort für das Auge des Soldaten - oder für das eines Händlers, der zweifellos fürs Reich bestimmte Wagen voller Jade oder auch Eisen und wertvoller Metalle mit sich führte. Darum war es nicht verwunderlich, daß die Karawanenwächter zurückblieben und ihnen entgegensahen, gepanzerte Wachen auf struppigen Steppenponys mit Bogen in den Händen und angelegten Pfeilen. "Beweg dich vorsichtig", sagte Shoka und hob die Hand, um zu zeigen, daß sie leer war. Die Wachen machten keine solche Geste. Das hatte er auch nicht erwartet. "Wir können einen Bogen schlagen", sagte Taizu. "Setzen wir uns einfach ab. Es wird ihnen nicht gefallen, wenn wir an ihren Wagen vorbeikommen und spionieren." "Es ist ebensogut unser Weg wie ihrer." "Ich will mich nicht von Pfeilen spicken lassen!" "Und ich will nicht, daß sich Jiro die Füße verletzt. Das ist verdammt schweres Gelände dort draußen." "Ihr wollt bestimmt auch nicht, daß Jiro einen Pfeil abbekommt. Er ist ein großes Ziel. Ihr sitzt darauf. Ich gehe neben ihm." "Ruhig, nur ruhig. Ich dachte, du hättest vor nichts Angst." "Doch vor Pfeilen", murmelte Taizu. "Ich mag Pfeile nicht." "Nun, sie schießen nicht, oder?" Er ritt mit erhobener Hand weiter. Die Karawane hielt an, einer der Reiter preschte an die Spitze der Kolonne, und bald darauf kam ein anderer Mann zurückgeritten, ein rot und grau gekleideter Mann. "Das ist bestimmt der Karawanenleiter", sagte Shoka, als zwei der Wächter von den stehengebliebenen Wagen herangeritten kamen, in gemächlichem Tempo, das ihrer eigenen stetigen Annäherung angepaßt war. "Laß uns freundlich sein, hörst du?" Und laut: "Guten Tag! Wir sind Reisende wie Ihr. Mit Eurer Erlaubnis werden wir Euch überholen." Die Reiter kamen knapp bis auf Hörweite heran und blieben stehen, als Shoka anhielt. "Reisende mit demselben Weg", sagte Shoka. "Mit Eurer Erlaubnis reiten wir an Euch vorbei." "Ihr seid aus Chiyaden?" rief einer der Wächter. "Das stimmt. Shoka aus der Provinz Tengu. Das ist meine Frau Taizu. Und euer Herr?" "Meister Yi. Meister Lun Yi aus dem Königreich Yin." Der Sprecher verneigte sich; Shoka verneigte sich; Taizu ebenfalls. Und so wurde es ihnen gestattet, zusammen mit den Wächtern an den Wagen entlangzureiten, während die Wagen stehenblieben und ihnen der Karawanenleiter entgegenritt. Sie und der Karawanenleiter nahmen auf Matten Platz, und während dieser sie nach Neuigkeiten ausfragte, tranken sie Tee. "Ich habe nur sehr wenig zu berichten", sagte Shoka. "Meine Frau und ich lebten seit den Unruhen in meiner Heimat abgeschieden am Rande von Hoishi. Und deshalb..." Er zuckte die Achseln, ohne Taizu anzusehen. "Was soll man machen? Entweder eine unglückliche Frau oder eine beschwerliche Reise." Der Karawanenleiter sah Taizu kurz an, und was immer ihm zu einer nörgelnden Frau einfallen mochte, blieb ungesagt; er verschloß den Mund, und nach einem Moment zuckte er die Achseln und sagte: "Nun, ich habe _vier_ Frauen. Und sie alle muß ich ernähren, sonst würde ich dieses Risiko nicht eingehen, und das ist die Wahrheit." "Schlimm, wie?" "Schlimm." Meister Yi deutete mit knochiger Hand auf die Straße und das umliegende Land. "Fünf Überfälle in diesem Jahr. Ich reise mit professionellen Wächtern, wie Ihr seht." Ein weiterer Handschlenker in Richtung der Karawane und der stehenden Wagen, in deren Schatten die Reisenden saßen. Es waren mindestens fünfzehn Wächter, bemerkte Shoka, die mit ihrer einfachen, zusammengewürfelten Bewaffnung wie Mietlinge aussahen. "Kostet mich ein Vermögen", sagte Meister Yi. "Und so ist es nicht nur in Hoishi, sondern auf dem ganzen Weg, von hier bis nach Ygotai. Banditen. Verbrecher. Man reitet ahnungslos dahin, und - _wusch! _- kommt aus dem Gebüsch ein Pfeil angeflogen. An Eurer Stelle würde ich mir Sorgen machen, das könnt Ihr mir glauben." "Wir machen uns Sorgen", sagte Shoka. "Bis Ygotai, meintet Ihr." "Und noch weiter! Schwere Zeiten, das könnt Ihr mir glauben. _Schwere_ Zeiten. Früher war landauf, landab Polizei. Heutzutage ist man auf sich allein gestellt, sobald man die Stadt verläßt. Haltet gar nicht erst Ausschau nach dem Gebietsfürsten, der die Straßen in Ordnung hält! _Seine_ Truppen hat er alle nach Cheng'di geschickt." "Zum Kaiser." "Wohin sie der Kaiser auch schicken mag. Überall Söldner. Und keine Polizei. Gut für den Handel in der Stadt. Aber ein Unglück für die Provinzen. Eine kleinere Karawane wäre ernstlich in Gefahr. Ich sag Euch was, Ihr solltet mal mit Eurer jungen Frau sprechen. Ihr solltet Euch ernsthaft mit ihr unterhalten. Heimweh ist etwas Verständliches. Aber diese Straße ist sehr gefährlich. Sehr gefährlich. Wenn Ihr meinen Rat hören wollt, dann kehrt nach Mon zurück und verbringt keine Nacht länger auf diesem Weg, um Eurer jungen Frau willen." "Wir schaffen es schon", sagte Taizu scharf. Die Augen des Karawanenleiters wanderten zu Taizu und verweilten auf ihr mit einiger Besorgnis, während er Einzelheiten in sich aufnahm, zu denen gewiß auch die Narbe gehörte; und vielleicht auch ihre allgemeine Erscheinung, die Rüstung, den kleinen Knoten aus Seidenbändern und ihr Haar, das kürzer war, als bei einer Frau üblich. Er räusperte sich. "Wir sind ehrliche Leute", sagte Shoka. "Ihr braucht Euch keine Sorgen zu machen, Meister Yi. Wir sind keine Spione. Fragt mich nach Cheng'di, soviel Ihr wollt, und ich werde Euch antworten - jedoch keine Neuigkeiten verraten. Wir waren lange weg; und wir sind gespannt darauf, was Ihr uns zu erzählen habt." Der Blick des Händlers wanderte zu Jiro, der neben ihrem Gepäck graste - ein Punkt zu ihren Gunsten, dachte Shoka: Jiros kostbare Ausstattung, sein Akzent und seine prächtige, wenn auch abgenutzte Rüstung paßten zu seiner Geschichte von einem Herrn, den es aufs Land verschlagen hatte, und _das_ paßte wiederum zu den politischen Wirren, während Taizus Narbe und ihre Diktion - die unter seiner Anleitung einige Veränderungen erfahren hatte, jedoch immer noch nicht ganz der des Herzlandes entsprach - sowie ihr ungewöhnlicher und sehr sachlicher Aufzug vielleicht nicht gerade auf ein Banditentum, aber immer noch auf etwas Beunruhigendes hindeuteten. Wenn sie beide Männer gewesen wären, dann hätte man Söldner in ihnen vermuten können. Professionelle. Und man hätte den kleineren mit dem finsteren Gesicht für einen von der verrückten Sorte halten können, der im Lager wüste Kämpfe anzetteln und Blut vergießen mochte, bevor alles vorbei war. Was ihn zu einem größeren Verrückten machte als seine Frau und sie beide möglicherweise noch gefährlicher als Banditen erscheinen ließ. "Was ist mit den Straßen nach Ygotai?" fragte Shoka. "Bis Mandi in Ordnung. Dann unsicher. Wollt Ihr dorthin? Woher stammt Eure Frau?" "Aus Hua." "Hua!" "Wie sieht es dort aus?" fragte Taizu. Sie hatte die Fäuste auf den Knien geballt. Sie verneigte sich höflich. "Bitte." "Das kann ich nicht sagen. Ich weiß es nicht." Meister Yi verneigte sich ebenfalls. "Was ich weiß, beruht auf Hörensagen. Es heißt aber, im Osten und Norden Mandis sei es sehr schlimm. Ihr wärt gut beraten, wenn Ihr auf Euren Mann hören würdet. Täglich kommen Menschen auf den Straßen um. Es passieren schreckliche Dinge." "Der Regent ist immer noch an der Macht?" fragte Shoka. "O ja. O ja. Daran ändert sich nichts." Ein neuerlicher merkwürdiger Blick. "Wir waren sehr isoliert", sagte Shoka und hielt seine Schale hoch, während der Laufbursche des Karawanenleiters frischen Tee einschenkte. "Danke. - Ihr seid also kürzlich auf dieser Straße gereist?" "Zweimal dieses Jahr. Unsere letzte Reise war vor dem Winter. Aber wir sind in Shotai einer Karawane begegnet..." Er ließ sich einschenken. "Und man hat uns unmißverständlich gewarnt. Es geht ums Geschäft. Ums Geschäft. In Chiyaden herrscht Knappheit. Wo Knappheit herrscht, läßt sich verkaufen. Das ist meine Politik. Das ist meine ganze Politik." "Ihr seid ein kluger Mann. Die Götter meinen es gut mit Euch, Meister Yi. Wir wünschen Euch alles Gute." "Ich sag Euch was", meinte Meister Yi. "Wenn Ihr keinen Rat annehmen und nicht umkehren wollt -wenn Ihr mit uns reist, wäre es für Euch sicherer. Für einen ehrenwerten Mann wie Euch und für Eure Frau, die Ihr eigene Ausrüstung und, wie ich annehme, eigenen Proviant dabei habt, wäre das kostenlos. Weil ich ein gutes Herz habe, mache ich Euch dieses Angebot." Shoka verneigte sich. "Das ist sehr großzügig von Euch." Taizu funkelte ihn an. "Nein." "Ich werde mit meiner Frau sprechen", sagte Shoka. "Ich bin geneigt, auf Euren Vorschlag einzugehen, Meister Yi. Das ist sehr freundlich von Euch." "Es ist zu langsam!" sagte Taizu, und Shoka sagte: "Entschuldigt mich", verneigte sich vor dem Karawanenleiter, erhob sich und packte Taizu am Handgelenk, zog sie hoch und beiseite, um in Jiros Deckung ein Wörtchen mit ihr zu reden. "Das ist nur vernünftig!" sagte Shoka. "Geschwindigkeit reicht nicht aus. Wir können bis Ygotai mit dieser Gruppe zusammen reisen! Denk mal nach, Mädchen!" "Dieser Mann hat schon Verdacht geschöpft! Wenn wir hierbleiben, wird er sich Gedanken machen und bald auf die Idee kommen, daß Ihr gesucht werdet und daß man mit uns Geld verdienen könnte!" Das _war_ ein Gedanke, verwegen und gewunden, ein Gedanke, der eindeutig auf Taizus Mist gewachsen war. "Ich vertraue _uns_!" sagte Taizu. "Ich vertraue _Euch_, ich vertraue weder diesem Meister Yi noch seinen Leuten. Das sind Barbaren! Weiß der Himmel, was in ihren Köpfen vorgeht. Sie könnten Angst bekommen, wenn sie auf die Idee kommen, daß Ihr gesucht werdet! Sie könnten alles mögliche tun, und wenn wir bei ihnen schlafen und mit ihnen zusammen essen, müssen wir uns unmöglich verteidigen! Das gefällt mir nicht, gefällt mir nicht, gefällt mir nicht." Mit Arglist kannte sie sich aus. Sie hatte es schließlich lebend von Hua bis nach Hoishi geschafft. Und bei den Göttern - wenn fremdländische Reisende sein Gesicht oder seine Ausrüstung auch nicht kannten, dann vielleicht jemand, dem sie unterwegs begegneten, und wenn er redete, könnte ein fremdländischer Händler sich durchaus überlegen, was sein Leben in Gold wert sein mochte... In gewisser Weise bedeutete er für Taizu eher eine Gefahr denn Schutz; insofern hatte sie recht; und das ärgerte und bedrückte ihn. "Also gut", sagte er. "Also gut. Ich gebe dir recht." Sie holte rasch Luft und ließ sie wortlos wieder entweichen. Und er führte sie zu Meister Yi zurück und verneigte sich. "Meister Yi, ich danke Euch, aber meine Frau hat eine Scheu vor Fremden, und bislang hatte ich Geduld mit ihr. Ich danke Euch aufrichtig für Euren guten Rat, aber als verheirateter Mann versteht Ihr sicherlich, wie das ist mit den Frauen..." Zweifellos vermutete Yi, wie es mit dieser sein mußte. Shoka machte ein betrübtes Gesicht und bemühte sich, möglichst verlegen zu erscheinen, indem er es vermied, Meister Yi gerade in die Augen zu blicken, jedoch ohne daß ihm dessen Kopfschütteln entgangen wäre. "Mein Herr, ich hoffe, Ihr wißt, was Ihr tut. Ich kann Euch nicht zwingen." "Frauen", sagte Shoka. Er verneigte sich wieder. "Ich bewundere Euch." Und beim Weggehen: "_Vier_ Frauen. Das ist wirklich erstaunlich." "Ich empfehle den Stock", rief Meister Yi ihm nach. Taizu wollte sich umdrehen. Shoka packte sie an der Schulter und führte sie zu ihrem Gepäck. Er saß auf, während Taizu die Arme durch die Stricke der Schlafrolle und der restlichen Ausrüstung steckte, dann ritt er mit einer weiteren Verneigung vor Meister Yi davon. "Kein Wort", sagte er halblaut. "Nicht _ein_ Wort, Taizu." Sie gehorchte und ging mit gesenktem Kopf an der Karawane vorbei, indem sie sich einen Weg durch das Gebüsch und die Steine am Wegesrand bahnte und sich zwischen den Wagen hindurchschlängelte, wenn auf der anderen Seite mehr Platz war. Die Reisenden starrten sie an. Nicht wenige grinsten Taizu anzüglich zu, und zwei Männer sagten etwas in ihrer fremdländischen Sprache und lachten. Es war kein leichter Gesang. Törichterweise überlegte er, ob er sich das lachende Paar vornehmen sollte, um zu sehen, ob ihnen bei einer Tracht Prügel das Lachen vergehen würde. Genugtuung zu verlangen war jedoch zu gefährlich. Sie schritten an der langen, langen Wagenkolonne vorbei, bis sie wieder freien Weg vor sich hatten und um den Fuß des Hügels bogen. Dann drehte Taizu sich halb herum und sagte empört: "Sie haben sich über Euch lustig gemacht!" "Wenn wir wollen, daß sie uns dem nächsten Magistrat melden, dann kann ich ja umkehren und sie den richtigen Respekt lehren: dann machen unsere Beschreibungen schneller die Runde, als wir denken können." "Ihr hättet Euch nicht vor ihnen verneigen sollen!" "Liebes Weib, ich dachte eigentlich, ich hätte meine Sache recht gut gemacht. Wir sind ihnen ein gutes Stück Weges voraus, und wenn sie uns dem Magistrat in Ygotai melden, dann wollen wir hoffen, daß dabei von einem senilen Narren und seiner verdorbenen Frau die Rede ist, deren Gebeine wahrscheinlich im Wald gelandet sind. Shoka hieß ich bei meinen Vertrauten, nicht bei der Menge, und ich bezweifle, daß sie den Namen mit Saukendar in Verbindung bringen werden - dazu hätte es aber kommen können, wenn ich ihnen die Köpfe eingeschlagen hätte. Meinst du nicht?" Sie machte noch immer ein finsteres Gesicht, erhob jedoch keine weiteren Einwände. "Auf die Dämonengeschichte habe ich verzichtet." "O nein, die _nächste_ Karawane, die durchs Dorf kommt, wird sie aufschnappen, dann werden wir berühmt!" "Ein weiterer Grund, warum ich dir darin recht gegeben habe, daß wir auf dieser Strecke Tempo machen müssen. Wahrscheinlich wird man davon ausgehen, daß wir uns vor der Karawane nördlich nach Ygotai gewandt haben - _falls_ man dahinterkommt, wer ich bin. Über Hua haben wir ihnen die Wahrheit gesagt. Und genau das wird man für eine Lüge halten. Darum wird man auf dieser Straße nicht nach uns suchen." Abermals drehte Taizu sich mit funkelnden Augen im Gehen um. "Ebensogut könnte man meinen, Saukendar lügt nicht." "Ich vertraue auf meinen Ruf, ein kluger Mann zu sein. Paß auf den Busch auf!" Sie blickte wieder nach vorn und wich ihm und dem dahinterliegenden Felsen aus. "Also, wenn _ich_ der Magistrat in Ygotai wäre und man mir erzählte, hier draußen triebe sich ein Mann mit einer kostbaren Rüstung herum, dann würde ich mißtrauisch werden und wüßte, daß es Ärger gibt, und ich wüßte auch, daß es keinen Fürsten Shoka gibt, denn das ist kein richtiger Name." "Er würde sie für zwei Söldner halten, einer davon weiblich." "Die nicht bei der Karawane anheuern wollten." "Weil sie anderswo bessere Aussichten hatten. Gitu hat sie vor zehn Jahren angeheuert. Ich glaube nicht, daß er sich verändert hat. Und Ihr, _mein Herr _- jeder in voller Rüstung würde genommen werden. Ich bin immerhin ein _Söldnerhauptmann_, und das ist mehr, als Meister Yi sich leisten kann. Und das weiß er. Wenn er die Ehegeschichte glaubt, um so besser; wenn nicht, wird er uns für Söldner halten..." "Und wer hat nun zugelassen, daß uns diese Idioten auslachen!" "Sie werden heute nacht nicht gut schlafen. Das kannst du mir glauben. Es war dumm von ihnen, uns in ihre Nähe zu lassen und uns zu zeigen, wieviele sie sind. Deshalb habe ich den Narren gespielt, und sie haben darüber gelacht. Wenn sie sich an die Art der Ausrüstung und alles andere erinnern, werden sie sich so ihre Gedanken machen, die alle nicht zusammenpassen und Meister Yi von jetzt ab verdammt nervös machen werden, viel nervöser, als wenn wir einfach nur zwei Raufbolde gewesen wären, die sie an Ort und Stelle hätten teeren und federn können. _Wir_ sind weggeritten. Das hätten sie nicht zulassen dürfen. Und jetzt werden sie mit Sicherheit darüber nachdenken und hoffen, daß wir Narren waren." Sie blickte ihn mit offenem Mund an, seitlich hinter ihm gehend. "Ihr seid so wirr! Ihr habt ihnen so viele Dinge erzählt, daß sie bestimmt Verdacht schöpfen werden!" "Sie werden nicht darauf kommen, wer wir sind. Jedenfalls so lange nicht, bis irgendwelche anderen Händler es ihnen sagen. _Dann_ werden sie Bescheid wissen, und bis dahin sind wir den Gerüchten weit voraus." Er überlegte, ob er sie erneut mit dem Vorschlag peinigen sollte, umzukehren. Und dachte: _Es führt kein Weg mehr zurück, bei den Göttern. Ghita wird es früher oder später erfahren. Und die Meuchelmörder werden wiederkommen. Nicht einmal auf dem Berg gibt es noch Sicherheit_. _Aber das habe ich von Anfang an gewußt. Das läßt sich nicht ändern. Nichts läßt sich mehr ändern_. _Schnurstracks rein und gleich wieder raus, und vielleicht, mit sehr viel Glück - zurück nach Süden und ins Gebirge und unsere Spur verwischen, dort, wo nicht einmal die kaiserliche Garde hinkommt_. _Ein verfluchtes Schlamassel, das diese Frau mir da eingebrockt hat_. Die Sonne verwandelte sich hinter den Bergen am anderen Flußufer in ein goldenes Glühen und überzog die Hügelkuppen, die zu ihrer Rechten emporragten, mit einem goldenen Schein. Auch dieser erlosch, als sie zu der Stelle gelangten, wo der Fluß geräuschvoll über Felsen dahinfloß und die Hügel des Ödlands dicht an ihn herantraten. Dahinter kam man im Dunkeln nicht weiter voran, der Weg wurde schmal, ein für Hinterhalte geeigneter Ort, und der Fluß schoß in einer manchmal von Bäumen gesäumten Rinne dahin, der Boden war steinig, und die Hügel zu beiden Seiten waren zerklüftet und verwittert. "Hier rasten wir", sagte er, als sie nach einer Biegung stehenblieben. "Das habe ich im Dunkeln auch getan", sagte Taizu. "Aber ich hatte kein Pferd, und ich habe mich versteckt, wann immer es ging." Bei dem Gedanken an ihren riesigen Korb, mochte er auch nicht schwer bepackt gewesen sein, schüttelte er den Kopf; und er stellte sie sich vor, allein an einem Ort, der für Hinterhalte wie geschaffen war. Und er stieg ab und führte Jiro zu einer Stelle, wo es nicht so steinig war. "Ich habe eine Idee", sagte Taizu, als sie ein wenig Wasser kochten: wie schon gestern gab es Reis, Trockenfleisch und Tee. "Der Himmel steh uns bei. Wie lautet sie?" "Zu den Pfeilen. Wir machen folgendes..." Sie hockte auf den Fersen und steckte kleine Zweige in das winzige Feuer, während er im Schneidersitz nahebei auf den Schlafmatten saß. "Wir machen folgendes: _ich_ gehe vor, unmittelbar den Weg entlang, und ich mache eine Menge Lärm wie ein Narr. Und wenn jemand da ist, seid Ihr da und könnt ihn abschießen. Das ist besser, als wenn wir beide angeschossen werden oder wenn Jiro getroffen wird." "Nein, man wird dich auf der Stelle erschießen. Von weitem siehst du nicht aus wie eine Frau." Sie sah ihn beleidigt an. "Ich dachte, es _gefiele_ dir, wie ein Junge auszusehen", neckte er sie. "Die Idee ist gar nicht so schlecht, abgesehen davon, daß du dich zur Zielscheibe machst. Wir können immer noch auf Meister Yi warten. Ich wußte, daß das irgendwo vor uns lag. Ich habe mich daran erinnert, aber jetzt im Zwielicht gefällt es mir noch weniger." "Ich traue diesem Mann nicht. Ich traue keinem seiner Leute. Und sie werden uns nicht trauen. Wie Ihr schon sagtet, sie hatten Zeit zum Nachdenken und möchten uns bestimmt wieder in Reichweite wissen. Sie machen mir fast soviel Sorgen wie die Banditen." Er runzelte die Stirn, dachte darüber nach und auch über Taizu, von der er schon lange wußte, daß sie nicht auf den Kopf gefallen war, aber bei den Göttern, allmählich wurde ihm klar, welcher Weg hinter ihr lag und wie sie ihn bewältigt hatte. Ein verflucht schlaues Mädchen. Verflucht schlau. Man mußte sie sehr ernst nehmen. Auch wenn er am liebsten mit dem Händler gereist wäre und notfalls ein paar Schädel eingeschlagen hätte. In freiem Gelände besaß Taizu all die Geduld, die ihr sonst fehlte. Paradox. "Ich kannte einmal einen Jungen wie dich. Für ihn waren die Dinge nie real, bis er mit seiner Kraft am Ende war. Erst dann hat er seinen Verstand benutzt." "Er ist tot", vermutete Taizu. "Alle Eure Geschichten laufen darauf hinaus." Er schüttelte den Kopf. "Er ist geweihter Priester. Nur das hat Ghita davon abgehalten, ihn zu köpfen - das letzte, was ich von ihm gehört habe. Du weißt ja, wenn du nach Muigan gegangen wärst, wärest du als Äbtissin geendet." Sie rümpfte die Nase und streute Tee ins Wasser. "Die Nonnen hätten dich fechten gelehrt. Genau wie ich." "Zuviel tu dies, tu das. Und zuviel des Betens." Sie verzog das Gesicht. "Nichts für mich." "Und Enthaltsamkeit. Ich glaube nicht, daß dir das gefallen hätte." Wieder schnitt sie eine Grimasse. "Ich habe gesagt, heut nacht. _Nach_ dem Abendessen. Ich bin hungrig." "Vielleicht bin ich dann nicht mehr in Stimmung. Wer weiß?" Ihr Blick wurde schalkhaft. "Meister Shoka, Ihr seid in Stimmung, seit ich Euch kenne. Hier." Sie hielt ihm die Kanne hin, um Tee einzuschenken. Er hielt ihr seine Teeschale hin und vertraute auf ihre Treffsicherheit. "Das heißt _Shoka_", sagte er. "Einfach nur Shoka, bitte." Ein besorgter Blick unter ihren Brauen hervor. Das Lächeln war verschwunden. "Ich wünschte, Ihr wärt umgekehrt, Meister Shoka. Jetzt habe ich Angst, daß sich herumspricht, daß Ihr den Berg verlassen habt. Und was dann?" "Sie haben es schon früher versucht. Sie haben es mehrmals nach meiner Ankunft versucht, als sie mich gefunden hatten. Sie haben es aufgegeben. Es wurde ihnen zu kostspielig." "Diesmal geben sie vielleicht nicht auf." "Kann sein. Dann gehen wir eben in den Süden. Wir gehen durch die Berge. Wir suchen uns weiter weg einen anderen Berg." Sie sah ihn lange Zeit an. "Dein Essen wird kalt", sagte er und steckte sich ein Reisbällchen in den Mund. Das Essen war natürlich schon kalt. Zwischen Schlucken Tee verzehrte sie lustlos ihren Reis und das Trockenfleisch. Er aß mit Appetit, brühte ein zweites Mal Tee, lehnte sich zurück und trank ihn, während sie ihr Mahl schweigend beendete. "Gib's zu", sagte er. "Durch meine Unterweisung bist du ein wenig zur Vernunft gekommen. Ich sage kein Wort. Du weißt schon alles, was ich dir sagen könnte. Plane deinen Rückzug. Halte dir immer eine Möglichkeit zum Rückzug offen. Ich habe meinen mit eingeplant. Glaub ja nicht, das hätte ich nicht getan." Eine verdammte Lüge. Er lehnte den Kopf an den Felsen und hoffte, daß sie heute mit keiner neuen Ausrede ankäme, daß ihre Stimmung sie nicht davon abhielte. Sie geriet so leicht in eine düstere Stimmung. Er hatte mehrere Jahre gebraucht, um Abstand von den Toten zu bekommen und zu der Überzeugung zu gelangen, daß es auf den jeweiligen Tag und den Augenblick ankam. "Genieße das Leben, Mädchen. Oder du läßt zu, daß sie dich tagtäglich töten. Und diese Genugtuung gönne ich den Schuften nicht. Nimm, was der Tag dir bringt. Genieße den Sonnenuntergang. Genieße den Regen. Oder einen Mann, der dich liebt. Teufel noch eins. Ich glaube, so schlecht bin ich auch wieder nicht. Oder doch?" Sie blickte ihn über den Rand der Teeschale hinweg an und dann wieder zur Seite, seine Worte bedenkend, wie es ihre Art war. Ein kleines Lächeln kräuselte ihre Mundwinkel, und eine Braue hob sich. "Nein, das seid Ihr nicht." Das Lächeln verschwand. "Ich bin auf dem Land aufgewachsen. Ich weiß, wie es zugeht in der Natur. Ich habe gesehen, wie sich die Ziegen und Schweine vergnügen. Ich hatte vier Brüder, zwei davon verheiratet." Der Mund zitterte. "Und was ich bekommen habe, war etwas anderes. Versteht Ihr? Das kann ein Mädchen vom Lande nicht überraschen. Ziegenböcke sind auch nicht höflich. Aber was soll's! Meister Shoka..." Sie riß eine Handvoll Gras aus und schleuderte es weg. "Mein Pech. Oder nicht? Sollen sie's jetzt doch ruhig versuchen. Wirklich. Mir wär's recht." Er ließ seinen Atem behutsam entweichen. Verdammt noch mal, gab es denn keine Verschnaufpause bei ihr? "Ich hoffe, du beziehst mich in diese Aufzählung nicht mit ein." Sie biß sich auf die Lippen. "Nein, Meister Shoka. Ich möchte bloß, daß Ihr wißt, daß ich nicht mit Euch schlafe, weil ich Eure Frau bin, sondern weil ich Angst habe und keine Angst haben will, darum tue ich es, bis die Angst aufhört. Ihr aber glaubt, es sei Euretwegen. Aber ich will Euch nicht anlügen. Ich mag nicht lügen. Ich bin keine Jungfrau. Ich bin niemandes Weib. Es ist meine Schuld, daß Ihr den Berg verlassen habt, und ich wünsche mir nichts sehnlicher, als daß Ihr dorthin zurückkehrt! Wenn Ihr umkehrt, dann verspreche ich Euch, daß ich versuchen werde, am Leben zu bleiben und zurückzukommen, und dann werde ich Euch heiraten, dann werde ich den Rest meines Lebens alles tun, was Ihr von mir verlangt. Ich will bloß nicht, daß Ihr meinetwegen getötet werdet. Das habe ich nie gewollt. Ihr seid dumm, und das hasse ich! Ich bin nicht das, wofür Ihr mich haltet. Ich bin nicht Eure Frau. Ich bin ein Mädchen vom Lande. Man wird Euch auslachen, wenn Ihr etwas anderes behauptet. Genau wie diese Leute vorhin. Und das will ich nicht!" Ihr Gesichtsausdruck war vollkommen beherrscht, ihre Hände ruhten auf den Knien, ihre ganze Haltung war entspannt. Nur ihre Stimme zitterte und brach. Lange Zeit schwieg er. Er entdeckte einen Zweig zwischen seinen Fingern und schnippte ihn weg. "Weil du so schonungslos offen bist, will ich dir etwas sagen; ich war ein verdammter Narr, daß ich nicht darauf bestanden habe, daß Meiya mit mir schlief. Denn dann hätte sie den Kaiser niemals geheiratet. Ich war ein noch größerer Narr zu glauben, daß es etwas gäbe, wovor der Kaiser zurückschrecken würde, und daß ich sie mir nicht geschnappt und über die Grenze geflohen bin. Aber inzwischen, verstehst du - inzwischen war sie die Frau des Kaisers. Und man hätte mir eine Armee hinterhergeschickt; und sie wäre trotzdem umgekommen. Aber Tatsache ist..." Dieser Gedanke war seit Monaten in ihm herangewachsen, ein bitterer Gedanke, der einen Teil seines Lebens verdüsterte. "Ich glaube nicht, daß ich sie all die Jahre über geliebt habe. Ich glaube nicht, daß sie mich jemals geliebt hat. Wir waren Kinder. Wir waren vernarrt ineinander. Ich habe sie auf Anordnung des alten Kaisers verloren. Das war romantisch, und ich war traurig und in meinem Stolz verletzt. Was blieb mir also anderes übrig, als ein Gefühl zu hegen, von dem ich nicht genau wußte, ob es jemals real gewesen war? Kannst du das verstehen? Es ist wahrscheinlich das, was du mit mir erlebst. Du verstehst es, und auch wieder nicht. Einerseits, andererseits. Aber damals mußte es für mich real sein. Sie haßte ihren Gatten. Ich war ihr Freund. Wir haben nie zusammen geschlafen. Hätten wir's getan, dann wohl deshalb, um die Vergangenheit wiederauferstehen zu lassen. Um der Vorstellung willen, es sei mehr gewesen als bloße Zuneigung. Am Tag, als sie starb..." Er spürte eine Verengung in seiner Kehle und räusperte sich. "Sie hat auf mich bis zuletzt gewartet, da bin ich mir sicher, denn ich war ihr Freund. Weil sie wußte, wenn jemand kommen würde - dann ich. Aber mittlerweile war zwischen uns alles nur noch Politik, ein einziges Ränkeschmieden, wie man den einen oder anderen Fürsten dazu bringen könnte, das Nötige zu tun - nichts als Politik. Wir waren kein Liebespaar, wir waren eine Fraktion, die Ghita zerschlagen mußte - ich, Meiya und Fürst Heisu. Daß er mir keinen Ehebruch nachweisen konnte, das lag daran, daß wir zu vorsichtig waren. Daß man ihn Heisu nachweisen konnte - das kam daher... weiß der Himmel, ob sie es getan hat. Ich würde ihr daraus keinen Vorwurf machen. Ich könnte mir den Grund denken... weil sie mich für einen verdammten Ehrenmann hielt. Und sie wußte wohl, wie närrisch und wie gefährlich es gewesen wäre. Aber wenn sie mit Heisu geschlafen hat - dann deshalb, weil sie sich nichts aus ihm gemacht hat, nur als Ratgeber und Freund, und weil ihr Gatte sie nie angerührt hat. Weißt du - Menschen tun sich Dinge an, die ebenso schlimm sind wie das, was auf Schlachtfeldern geschieht. Das ist die Wahrheit. Du hast dir nicht ausgesucht, wie die Dinge gelaufen sind. Ich bin für das Schlamassel verantwortlich, unter dem ich gelitten habe. Und wenn ich mit dir schlafe - dann deshalb, weil ich mit den Jahren klüger geworden bin. Ich nehme, was die Götter mir schenken. Ich verlange nicht zuviel. Ich mag dich wirklich. Ich habe noch nie mit einer Frau geschlafen, aus der ich mir etwas gemacht habe. Mit keiner einzigen - bis du kamst." Es wurde zu peinlich, so zu einem sehr jungen, sehr nüchtern denkenden Mädchen zu sprechen, auch wenn es kein Kind mehr war. Er griff nach dem zerbrochenen Zweig und stieß ihn ins Feuer, wobei er nicht zu ihr hinsah, nur auf das Feuer, das kurz mit hellen Flammen und ein paar Funken in die fallende Dunkelheit aufloderte. "Das sind jedenfalls meine Beweggründe. Damit brauchst du dich nicht zu belasten." Er nahm einen neuen Zweig und warf ihn ins Feuer. "Wenn ich mich richtig an meine Landkarten erinnere, dann sind die Berge im Süden Huas bewaldet. Es ist nicht leicht, jemanden dort zu finden. Dorthin will ich mich absetzen. Und du kommst mit..." Sie war aufgestanden. Er meinte, er habe sie verärgert und sie werde weggehen. Statt dessen kam sie zu ihm, hockte sich hin, nahm seine Hand und hielt sie fest, die Arme zwischen den Knien. "Laßt uns zusammen schlafen. Einverstanden?" Er blickte in ihr ernstes, vom Feuer beschienenes Gesicht, das sich dicht vor seinem befand. Sein Herzschlag beschleunigte sich. "Ist gut", sagte er und verstärkte den Druck seiner Hand. Und dachte an die nahen Wälder und die Beschaffenheit des Landes. Zum Teufel damit. Er begann ihre Schnüre zu lösen, und sie half ihm dabei, und sie schälten sich aus ihren Rüstungen wie zwei Halbwüchsige in einem Gebüsch. Anschließend bedeckte er das Feuer mit Erde, breitete die Decken um sie aus und sagte: "Wir wollen uns nicht beeilen. Laß mich dir erst die Feinheiten erklären." "Tut es einfach!" "Nein, nein, nein, so geht das nicht." "Mmmn", machte sie nach einer Weile und schrie auf. Die Damen in Chiyaden waren diskreter. Er konnte nicht behaupten, daß sie ihm lieber gewesen wären, um so weniger, je mehr Taizu Lust bekam, ihre eigenen Ideen auszuprobieren. "Mmmn", machte er. "Gütiger Himmel." "Hat das weh getan?" "Nein", keuchte er und brachte sich in Position. "Und jetzt?" Ihre Nägel auf seinem Rücken taten höllisch weh. Er achtete nicht darauf. Jiro schnaubte. Laut. Er verharrte. Sie ebenfalls. Auf den Felsen über ihnen rollte ein Stein. "Verflucht noch mal!" flüsterte er ihr ins Ohr und spürte den Druck ihrer Hände an seinen Armen. "Da oben ist jemand." Sie drückte einmal fest zu. "Mmmn", machte sie geistesgegenwärtig. "Mmmn", erwiderte er, ließ sich seitwärts fallen und tastete in der Dunkelheit nach seinem Schwert, während sie sich zu ihrer Ausrüstung rollte und Jiro aufgeregt schnaubte und stampfte. Er _brauchte_ seine Rüstung, verdammt noch mal, aber das Schwert war das einzige, das er einigermaßen lautlos erreichen konnte. Er hoffte, Taizu wäre so vernünftig, sich nicht weiter vom Fleck zu rühren. "Mmmn", machte sie wieder. Dann hörte er, wie sich jemand an der Flanke des Hügels bewegte. Mindestens einer war dort oben. Und mehr als einer zu ihrer Rechten. Er hörte sein Ziel, sah den Schatten und schlug wie ein Flüstern zu. Es gab nicht einmal einen Aufschrei. Zwei Gegenstände fielen zu Boden, ein kleiner und ein großer. Ein Geräusch von oben. Ein Stein polterte herunter, ein anhaltendes Prasseln, während ein Heulen menschlichen Kehlen entstieg und zu ihrer Rechten Schattengestalten auftauchten. Die ersten drei schlug er mit jeweils einem Streich nieder: verfehlte den vierten, als er ihn daran zu hindern versuchte, an ihm vorbeizukommen, griff den fünften an und hörte Taizu schreien: "Du Bastard!" - Als etwas gegen Stahl und Fleisch schlug und ein Mann im Dunkeln aufschrie; Shoka wirbelte herum und schlug zu, und seine anfängliche Furcht verwandelte sich in rasende Wut. Er hörte den Mann die Bergflanke herunterstürmen, hörte ihn kommen und wirbelte herum und schlug zu, wirbelte aufgrund des Klirrens von Stahl zu seiner Linken abermals herum, griff einen anderen an und stürmte seinerseits auf die von stahlglänzenden Schatten umringte bleiche Gestalt zu. "Heiaaa!" brüllte er, die Aufmerksamkeit auf sich lenkend und sich einen Weg freischlagend; er hörte Taizu aufheulen, jedoch nicht vor Schmerz, sondern wie ein rasender Teufel. Und die letzten verbliebenen Schattengestalten gaben Fersengeld. "_Feiglinge_!" schrie sie ihnen nach. Shoka atmete aus und spürte, daß er von Kopf bis Fuß zitterte, das bekannte Gefühl, das mit einem Kampf einherging, wenn das Herz pochte und die Muskeln bereit zum Zuschlagen waren. "Hol einen Bogen, verdammt noch mal!" Er packte Taizu am Arm und stieß sie zurück zum Hügel, wo ihre Ausrüstung lag. Er rannte zu Jiro, band ihn los und zog ihn dicht an die Bergflanke, wobei er über Geröll hinwegtrampelte, das sich vor dem Kampf noch nicht dort befunden hatte. Taizu hatte seinen Befehl ausgeführt, hatte sich in die Deckung der Flanke begeben und die Bogen gespannt. So nackt, wie die Götter sie erschaffen hatten. "Bist du verletzt?" fragte er. "Nein. Und Ihr?" "Nein." Er tastete nach den Kleidern. "Zieh dich an. Wir schlafen abwechselnd. _Verdammte Hunde_!" Er stellte fest, daß er noch aus einem anderen Grund zitterte. Er sah noch vor sich, wie sie dort umzingelt gewesen war. Und stellte sich vor, was alles hätte geschehen können. Und was sie _getan_ hatte, bei den Göttern. Er zog sie an sich. "Irgendwelche Schrammen?" fragte er. "Nein." Ihre Zähne klapperten. Er spürte, wie sie zitterte. Er hielt sie fest und dachte... Dachte, daß sie jetzt tot wäre, wenn sie nur einen einzigen Fehler gemacht hätte. Dachte, daß er dann den ganzen verdammten Wald angezündet und allein auf Gitu und Ghita und den Kaiser und seinen verfluchten Hof losgegangen wäre. Er drückte sie fest an sich. "Willst du umkehren?" "Nach Hua", sagte sie. _*12*_ Vom Himmel fiel ein schwacher Lichtschein in die Schlucht und auf eine flache, steinige Fläche, die mit den Leichen der Erschlagenen übersät war, mit Fleischfetzen und abgetrennten Gliedmaßen. Kein guter Ort für den Sonnenaufgang - wo sie der Gestank des Todes umgab und der Tag allmählich enthüllte, wie ein Langschwert einen Körper zurichten konnte, trotz Panzer und allem. Kein schöner Anblick für ein Mädchen, dachte Shoka, doch sein zweiter Gedanke war: Sie hat es so gewollt. Er wischte sich das angetrocknete Blut von den Händen, rieb über die Stoppeln in seinem Gesicht und entdeckte auch dort Blut. Taizu, die vielleicht gar nicht geschlafen hatte, machte den Eindruck, als ob sie erwachte; er sah ihre dunklen Augen, die feuchten Schlitze im Schatten, ihr Gesicht, das ebenso verschmutzt war wie sein eigenes. Jiro döste noch in ihrer Nähe, im Schutz der Felsen. Sie hatten sich in der Nacht nicht gewaschen. Sie hatten ihre Rüstungen angelegt, waren nahe bei den Felsen geblieben und hatten abwechselnd geschlafen - _falls_ sie geschlafen hatte. Vielleicht war es ihr vor lauter Angst nicht möglich gewesen. Er hoffte, daß das der Grund war. Er hoffte, daß die Dinge so einfach, so natürlich waren. Er fuhr ihr mit den Fingern durch die Haare. "Wir stehen besser auf", sagte er. "In aller Frühe. Bevor unsere Gegner munter werden." Er erhob sich. Auch sie stand auf und blickte sich um, nahm ihr Schwert und ging zu den Toten, stupste eine Leiche an und ging weiter - blieb stehen, um einen Dolch und eine Scheide aufzuheben, die sie sich unter den Gürtel steckte, ihre Gegner ungerührt ausplündernd. Mit einem düsteren, kalten Gesichtsausdruck, der ihn erschauern ließ. Doch was sie tat, war eine praktische Maßnahme. Er zuckte die Achseln, wischte sich das Blut von den Fingern und schritt zwischen Leichen und abgehackten Körperteilen hindurch, auf der Suche nach etwas Wertvollem. Ein guter Dolch für sie, ein Ledergürtel und eine Seidenschnur - das sollte man sich nicht entgehen lassen: Seile verschlissen, und Schnüre rissen. Zwei nützliche Helme. Seinen hatte er vor zehn Jahren im Getümmel verloren, und sie hatte noch nie einen besessen. Ein goldenes Medaillon. "Hier", sagte er und warf es ihr zu. "Aber trag es innen. So was kann dazu führen, daß dir die Kehle durchgeschnitten wird - in mehr als einer Beziehung." Mit staunend aufgerissenem Mund betrachtete sie, was sie aufgefangen hatte. Sie legte es nicht an. Sie stopfte es in einen Beutel, den sie einem der Toten abgenommen hatte. Ein wenig Silber. Ein wenig Kupfer. Eine silberne Haarspange. Ein seidenes Halstuch. Das war ihre restliche Beute. Neun Leichen im Morgenlicht. Er zählte sie. Taizu wahrscheinlich auch. "Wir haben den Reisenden auf dieser Straße keinen schlechten Dienst erwiesen", sagte er, als er Jiro sattelte und Taizu ihr Gepäck aufsammelte. "Das ist bestimmt ein gut Teil der Banditen von Hoisan." "Hm", machte sie. Wenigstens sagte sie nicht, das sei nichts. Wenigstens sagte sie nicht, es habe ihr Spaß gemacht. Beides hatte er bei Jungen, die ihren ersten Kampf hinter sich hatten, schon erlebt. Sie jedoch war anders. Vielleicht wie die Klügsten, die bei allem, was sie taten, ihr seelisches Gleichgewicht beibehielten: das war es, was er sie gelehrt hatte - _Deine Seele hat einen Mittelpunkt, Mädchen, ebenso wie dein Körper. Laß dich durch nichts von diesem Mittelpunkt abbringen_. _Wo bist du heute morgen, Mädchen_? _Oder hast du davon in Hua schon genug gesehen_? Taizu, die zwischen den Toten wandelte. Taizu, die den Leichen die Waffen abnahm, die kaltblütig diesen oder jenen blutigen Fleischfetzen umdrehte, um nachzusehen, ob sich darunter etwas erbeuten ließ... _Gütiger Himmel, was ist bloß aus Chiyaden geworden, daß es ein solches Mädchen hervorgebracht hat_? Die im frühen Morgenlicht vor ihnen liegende Straße war ein unerfreuliches Durcheinander von herabgestürzten Felsen, verkrüppelten Kiefern, Gestrüpp und Buschwerk, das dort, wo sich die Schlucht verbreiterte, kleinen Bäumen Platz machte. Ein kleiner Wald, ein kleines Dickicht, eine Menge Felsen, zwischen denen sie sich hindurchschlängeln mußten, was weit mehr Zeit erforderte, als Shoka recht war, da sie an Felsen vorbeikamen, die groß genug waren, daß sich drei oder vier Männer dahinter verstecken konnten. "Nicht sprechen", sagte er. "Jiros Gehör und Jiros Nase sind die beste Verteidigung, die wir haben." Sie nickte kurz. Das war alles, bis sich der Weg wieder verbreiterte und sie im hellen Tageslicht neben dem Fluß einhergingen. Taizus Vorschlag, als Vorhut vorauszugehen, wurde verworfen. Die Banditen wußten, daß sie zu zweit waren. Das wußten sie bestimmt; und Shoka musterte ständig die in Schußweite liegenden Kuppen, mit gespanntem Bogen, einen Pfeil angelegt und zwei weitere in der Hand."Ich glaube, die wollen eine leichtere Beute", sagte er schließlich. "Vielleicht waren es gar nicht so viele", meinte Taizu. Er verspürte ein Prickeln im Genick, das so stark war, daß er sich im Sattel umdrehte. Doch da waren nur Bäume und Felsen und der schmale Durchgang der Straße. Er blickte wieder nach vorn und wünschte mit ganzem Herzen, er hätte Jiro zu einer schnelleren Gangart antreiben können. Angesichts ihres Gewichts und dem ihrer Ausrüstung und ihres Proviants war das jedoch ausgeschlossen: Jiro konnte zwar das Gepäck tragen, kam damit jedoch nicht schneller voran als in diesem Tempo; oder er konnte damit rennen und sich umbringen. Immerhin kamen sie schneller voran, als Taizu es bisher geschafft hatte. "Gib mir die Trage", sagte er, und als sie den Mund aufmachte: "Reich sie hoch." Sie zog ihren Arm unter einem der Stricke hervor, nahm den Bogen in die andere Hand, befreite den anderen Arm und behielt nur den Köcher, während sie ihm die Trage reichte. "Los", sagte er. "Beweg dich, Mädchen. _Lauf_!" Sie bewegte sich, trabte in gleichmäßigem Tempo dahin, und Jiro schnaubte und wechselte zu einer schnelleren Gangart über, ohne daß er ihn auch nur mit der Hacke berührt hätte - das alte Jagdspiel. So passierten sie die Anhöhen, unterbrochen von Ruhepausen, die sie in der Nähe der Felsen einlegten. Schließlich gelangten sie zum breiteren Flußtal. Taizu blieb keuchend stehen, der Schmutz und das angetrocknete Blut auf ihrem Gesicht waren von Schweißrinnsalen durchzogen, das Haar klebte ihr im Gesicht. Er hatte das Gefühl, sie hätten eine Tür durchschritten - eine, durch die es kein Zurück gab. Er tat es mit einem Achselzucken ab. "Ich werde die Ausrüstung eine Weile tragen", sagte er. "Hier bleiben wir nicht. Geh weiter." Sie sah ihn mit offenem Mund an, als vermutete sie dahinter eine Art Rache. "Los!" sagte er. Nun schien sie zu begreifen. Sie atmete tief ein, drehte sich um und rannte weiter. Sie mußten jetzt öfter rasten - wann immer sie zu einem Felsen kamen, der ihnen Deckung bot. Taizu war schweißnaß und atmete in rauhen Stößen. Zuletzt ging sie dicht neben Jiros Flanke und hielt sich an den Satteltaschen fest, teilweise deshalb, weil sie sich kaum noch auf den Beinen zu halten vermochte, aber auch um Jiros Rumpf von der gefährlichen Seite abzuschirmen, als sie an den letzten Anhöhen vorbeikamen. Dahinter, wieder in freiem Gelände, taumelte sie vor Erschöpfung, und als sie zu einer breiten, freien Stelle neben dem Fluß gelangten, krächzte sie: "Meister Shoka, können wir hier eine Weile rasten?" "Wir werden bald rasten", sagte er, saß ab, ließ Taizu aufsitzen und ging seinerseits zu Fuß weiter, während Taizu auf dem Sattel schwankte - zu stolz, um zusammenzubrechen, dachte er. Als sie jedoch zur Furt gelangten, an eine kleine Kiesbank, wo der Fluß Holz angeschwemmt hatte, das in der Sonne getrocknet war, bestand er darauf, ein Feuer zu machen. Er legte seine Rüstung ab und wusch sich mit eiskaltem Wasser, und sie tat es ihm nach, in einiger Entfernung von ihm und ohne ihn anzusehen. Er sah sie an - wie sie mit untergeschlagenen Beinen dasaß, sich Wasser über Haar und Schultern schöpfte und _es_ sogar in dieser unvorteilhaften Pose schaffte, sein Interesse zu erregen - einen Augenblick lang fühlte er sich beunruhigt, weil sie so klein war, so verbohrt und ihm so wichtig geworden war. Daß der Tod und das Töten sie abstoßen könnten - diese Illusion gab er endgültig auf, wenngleich es ihn nach wie vor erschütterte, wie sachlich sie damit umging. Mädchenhaft sittsam am hellichten Tag. Und so gewissenlos wie eine Soldatenprostituierte. Er hätte Abscheu empfinden sollen. Doch er empfand etwas anderes. Er fühlte sich - zu ihr hingezogen. Und dachte, wenn sie ein Junge wäre, würde er sie wegen ihrer Ruhe und ihrer Gewandtheit für außergewöhnlich halten und wissen, daß er hier den seltenen Fall eines Schülers vor sich hatte, der zu selbstbeherrscht war, um Dummheiten zu machen. Ein Schüler, der im _Weg_ ruhte. _Genau das, was ich sie gelehrt habe_, war der eine Gedanke. Und der andere - daß es weibliche Grausamkeit war, von der Sorte, wie er sie bei Huren aller Schichten kennengelernt hatte. Das eine respektierte er; das andere stieß ihn ab. Er wußte weder, woran er bei ihr war, noch was er sie gelehrt hatte; und sein Körper sagte, daß er sie liebte, was ihn noch mehr verwirrte - _Ihr seid aus dem Gleichgewicht, Meister Saukendar_... Dieses _verfluchte_ Mädchen. Er _wollte_ nur das Beste von ihr denken. Das wollte er wirklich; und dennoch... Das Beste von ihr zu denken bedeutete, zu glauben, daß sie fähig war, den _Weg_ zu beschreiten; und das hieß, daß er sich ein vollkommen anderes Bild von ihr machen mußte als von jeder anderen Frau; schlimmstenfalls bedeutete es, daß er ein Narr war, seine Kunst einer Schülerin zu vermitteln, die sie mißbrauchen könnte, und sei es um Rache zu nehmen - und die von Anfang an nicht das gewesen war, was die verwundbare Phantasie eines einsamen Mannes aus ihr hatte machen wollen. _Erheblich aus dem Gleichgewicht, Meister Saukendar_... An der Existenz von Dämonen zweifelte er. Doch daß er sich an eine Frau gebunden haben könnte, die ebenso zerstörerisch für ihn war - diesen Gedanken wurde er nicht los. Es war ihm wenig mehr geblieben als sein Ruf. Und er hatte ihn nicht nur mit ihr verbunden. Er hatte ihn ihr vollständig überlassen, so daß sie damit in die Welt hinausgehen und Gutes oder Böses damit anrichten konnte... Vielleicht sollte er zu dem uralten Heilmittel gegen Dämonen greifen und ihr den Kopf abschlagen, wenn sie ahnungslos dasaß, und mit unbeschädigtem Ruf wieder nach Hause ziehen: im Dorf würde man sich Legenden darüber erzählen, wie knapp er ihrem Zauber entronnen war. Er verspürte jedoch kein Verlangen danach, ihr den Kopf abzuschlagen. Kein Verlangen, sie gewaltsam nach Hause zu bringen, kein Verlangen, noch länger auf dem Berg zu warten, denn jetzt wußte er, worauf er wartete, und wenn sie nicht mehr bei ihm wäre -dann wäre da für den Rest seines Lebens gar nichts mehr. Und so saß er da und fror vom kalten Wasser und vor Verlangen nach einer Frau, die es mit jedem der jungen Kämpfer aufnehmen konnte, die er je gekannt hatte - was ihm beinahe so vorkam, als fühlte er sich zu einem besonders hübschen Jungen hingezogen -, und gleichzeitig war sie eine Heilige, die sich durch seine Lust bestechen ließ - oder eine gewissenlose Frau, die sich unweigerlich an seinen Namen heften und das Ende des Rufs bedeuten würde, der ihm geblieben war... Nicht, daß ihm das etwas ausgemacht hätte. Aber, verdammt noch mal, er hatte nie ein Heiliger oder ein Held sein wollen, und wenn die Götter seinem Schicksal diese Wendung gegeben hatten und er versucht hatte, seinen Namen sauber zu halten und anderer Leute Erwartungen nicht zu enttäuschen, dann war es ein _verdammt_ schäbiger Trick seitens der Götter, ihm jetzt eine solche Versuchung zu senden... Vielleicht sollte er es _wirklich_ den Heiligen aus den Legenden gleichtun, ihr den Kopf abschneiden und in seine tugendhafte Abgeschiedenheit zurückreiten. Doch das widersprach dem Wollen seines Fleischs, dazu fehlte ihm die nötige Kraft und Überzeugung; er brächte sie nicht einmal dann auf, wenn sie sich plötzlich in den Dämon verwandelt hätte, für den das Dorf sie hielt - wenn sie sich auf einmal mit Reißzähnen und stechendem Blick zu ihm umwandte, dann würde er Zeit zu gewinnen versuchen und hoffen, daß sie sich wieder in Taizu verwandeln würde. So schlimm stand es um ihn. Schließlich glaubte er doch noch an Dämonen, hielt sie für einen Dämonen, der gekommen war, seine Seele zu rauben und ihn ins Verderben zu stürzen. Und vor seinem geistigen Auge sah er sie unter der aufgehenden Sonne zwischen den Toten wandeln, so kalt wie das Herz eines Teufels, sah er, wie sie hin und wieder einen der Körper anstieß und umdrehte, auf der Suche nach Wertsachen... Das war kein Verbrechen. Es war nur vernünftig. Aber sie hätte ein wenig Bedauern zeigen sollen. Ein wenig Angst. _Etwas ähnlich Mädchenhaftes wie ihre Sittsamkeit_. Verdammt noch mal, wenn sie des Nachts mit Reißzähnen zu ihm käme, dann würde er sie dennoch besitzen wollen. Er konnte nicht begreifen, wie es mit ihm so weit hatte kommen können oder warum es ihm ohne sie gleichgültig war, ob er weiterlebte oder starb. Vielleicht deshalb, weil es ihm schon seit langem egal war. Das war ein bitterer Gedanke. Doch er schien wahr. Er seufzte und bespritzte sich mit kaltem Wasser, um das Blut von letzter Nacht und den Schweiß und den Schmutz vom heutigen Tag abzuwaschen. Ein verfluchtes Schlamassel, in der Tat. Sie teilten sich ein Stück geräuchertes Dörrfleisch und ein wenig Wurst; Taizu machte sich Hoffnungen auf ein richtiges Abendessen und sagte, sie würde Reis kochen, den sie in Blätter einrollen und morgen unterwegs essen konnten, wenn sie hungrig wurden. "Das Schlimmste haben wir hinter uns", sagte er, "bis wir nach Ygotai kommen." "Vielleicht", sagte sie schroff, "haben die Banditen aufgegeben." "Verlaß dich nicht darauf", sagte er. "Vielleicht haben wir sie aber so weit gebracht, daß sie es sich überlegen, ob sie einen erneuten Angriff wagen sollen." "Ihr macht Euch immer Sorgen." "Ja, ich mache mir immer Sorgen. Ich habe dem Kaiser gedient. Das ist eine Angewohnheit von mir." Sie schnitt sich ein Stück Wurst ab und nickte ernst. "Ich habe mir auch Sorgen gemacht. Darum bin ich so weit gekommen. Ich dachte, ihr würdet mich lehren, mich nicht mehr zu sorgen. Das war dumm von mir." "Das war ein kindlicher Gedanke. So denkst du viel zu selten." Sie sah ihn lange an. Dann: "Mit diesen Männern war nicht viel los." "Hast du das erwartet?" "Was ist mit Gitu?" "Er ist wesentlich besser. _Erheblich_ besser. Gitu hat den Schwertkampf studiert. Außerdem ist er inzwischen zehn Jahre älter. Vielleicht ist er mürbe geworden. Aber ich habe dir schon gesagt, daß du dich darauf verlassen kannst, daß das nicht für seine Leibgarde gilt. Die sind viel besser als die Leute von Meister Yi. Viel besser als die Banditen. Rechne nicht damit, daß es anders ist. - Bist du soweit? Kannst du weitergehen?" "Ja", sagte sie, packte den Proviant ein und sammelte ihre Sachen auf. Die Gegend wurde wieder flacher, und die Straße kreuzte den kleinen Fluß an einer seichten Stelle, an der Taizu das Wasser bis zur Hüfte ging; sie legte die Rüstung ab und führte Jiro hinüber, wobei sie mit bloßen Füßen die Festigkeit des Bodens überprüfte, während Shoka ritt und alles trug. An einer Stelle sank sie bis zur Hüfte ein, glitt aus und tauchte mit dem Kopf unter. Jiro schnaubte und scheute, während Shoka ihn am kurzen Zügel hielt und ihm für einen Moment das Herz stehenblieb, bis der Fluß sie durchnäßt und wütend wieder ausspie. "Verdammt!" Sie hielt immer noch Jiros Zügel. Und sanft fügte sie hinzu: "Schlamm." Sie führte Jiro weiter. Shoka kam trockenen Fußes hinüber; an der tiefsten Stelle hatte er die Beine angezogen, nur der Sattelgurt war naß. Taizu hingegen war vollkommen durchnäßt. Aber sie bot auch einen interessanten Anblick. Er starrte sie gebührend an, als sie ihm Jiros Zügel hinaufreichte; sie blickte an sich hinunter und zog sich das nasse Hemd vom Leib. "Denkt Ihr eigentlich _nie_ an etwas anderes?" Er grinste. "Nicht, wenn ich so etwas zu sehen bekomme." Das fand sie lustig. Ein Lächeln breitete sich langsam aus, so hell wie der Sonnenaufgang und beunruhigend verrucht, bis sie lachte und über das Ufer zur ebenen Straße hinaufschwankte. Mit einem deutlichen Schwenken der Hüften. Als hätte sie soeben entdeckt, daß ihr Geschlecht ihr eine gewisse Macht verlieh... ...bei einem gewissen selbstbeherrschten und ehrenhaften Narren. Das _Leben wird dich etwas anderes lehren, Mädchen_. _Nein, das Leben hat es bereits_ versucht,_ verdammt noch mal. Sie ist nicht zerbrechlich_. Er sah sie wieder nackt vor sich, als bleiche Tänzerin inmitten hellen Stahls, bedrängt von Schattengestalten. Gerüstet und blutbespritzt, die Leichen plündernd. Ihre Arme und ihr Körper an seinem... Wie sie sich versteifte und im unpassendsten Moment in Panik geriet... Und nun stolzierte sie in ihren nassen Kleidern mit einem betonten Schlenker ihrer deutlich sichtbaren Hüften umher. Ein Mädchen, das seine Weiblichkeit ausprobierte, das sich über deren Mysterien und das Aufhebens, das die Leute darum machten, zu amüsieren versuchte... Natürlich. Bei Taizu war entweder alles von tödlichem Ernst erfüllt - oder auch nicht. Tugendhaftigkeit war eine todernste Sache. Und absichtlich, dachte er, würde sie sich nicht über ihn lustig machen. _Ich bin nicht Eure Frau, aber ich habe Angst und will keine Angst haben, darum tue ich es, bis die Angst aufhört_... Narr. Das Mädchen hat dich gewarnt. Jetzt ist sie... ...ein verdammtes Flittchen. Sie ist... ...ein Kind. Ein verängstigtes Kind, das darauf vertraut, daß ich es anständig behandle. ..._Meister Shoka_... Er litt. Das war es. Er war vernünftiger als sie. Er sah, wohin sie gingen, und er sah voraus, daß sie irgendwann tot auf der Straße liegen würde, sah voraus, daß er Rechenschaft vor sich würde ablegen müssen über das Wespennest, in das sie stechen würden. Anschließend würde er selbst auf der Straße liegen. Und die Bauern aus der Gegend würden sagen: _Da liegt ein Narr_. Und die Adligen in Chiyaden würden seufzen und sagen: _Mit einem Bauernmädchen. Was hat er sich bloß dabei gedacht_? Und andere würden sagen: _Vielleicht hat ihn das einsame Leben auf dem Berg ein bißchen verrückt gemacht_. Gekochter Reis zum Abendessen, ein anständiges Feuer, ein gutes Mahl. Anschließend schlief Taizu ein - nickte einfach im Sitzen ein, mit dem Rücken am Fels, die leere Reisschale im Schoß. Es wäre sowieso nichts geworden, dachte Shoka; sie war so weit marschiert und so viel gerannt; und die Art, wie sie da saß, wirkte sie so verdammt unschuldig... Er rollte die Matten aus, sagte "Taizu", und weckte sie auf, ehe er sie in die Arme nahm - ganz behutsam. "Leg dich hin, sonst bekommst du einen steifen Rücken", sagte er und schlang die Arme um sie. Sie umarmte ihn, murmelte etwas und nickte an seiner Schulter ein. Verdammt noch mal! "Mm", machte sie später, regte sich und drehte sich um. Er schlief nicht, jedenfalls nicht ganz. An diesem Ort hatte er sich nicht getraut. "Ich bin mit Schlafen dran", meinte er benommen. "Kannst du eine Weile wach bleiben?" Sie fuhr mit den Fingern durch sein Haar. "Damit machst du mich nur munter", sagte er. "Tut mir leid", fauchte sie und schubste ihn weg. "Dann schlaft." Er blinzelte, stützte sich auf einen Arm und rieb sich die Augen. "Mitten in der Nacht darfst du von einem Mann keine tiefschürfenden Ausführungen erwarten. Was machen wir jetzt?" Vielleicht hatte er sie verlegen gemacht. Lange Zeit herrschte Schweigen. Verdammt, sie hatte gemeint, sie wäre verführerisch. Er tastete an ihrem Arm hinunter und fand ihre Hand. "Es tut mir leid." Sie ließ ihn gewähren, darum legte er ihr die Hand aufs Hemd, auf den Bauch, ganz freundschaftlich. Sie nahm seine Hand und schob sie hoch, zu ihrem Herzen. Was eine Zeitlang völlig reichte. Dann verschwand das Hemd; und seines ebenfalls; und auch die Hosen. Er ließ sich Zeit. Und als er neben ihrem Ohr zusammensackte, sagte er mit der perfekten Zeitabstimmung einer Kurtisane: "Werd meine Frau." "Himmel...", keuchte sie. Und dann, knapp und bündig: "Nein." Er murmelte einen soldatischen Fluch und ließ sich zur Seite fallen, enttäuscht, entmutigt, jedoch nicht geschlagen. Nach ein paar Atemzügen: "Ihr habt _gesagt_, ich wäre Eure Frau. Ich schlafe mit Euch. Was wollt Dir mehr?" Er kannte die Antwort. Für ihn war sie so klar wie Tag und Nacht. Sie einer feindselig gestimmten Frau zu sagen, fiel ihm jedoch schwer. Darum sagte er gar nichts. "Vermutlich das, was du jetzt auch tust. Ich habe es nicht geschafft, dich davon abzubringen." "Warum wollt Ihr dann, daß ich Euch heirate?" "Weil man dir", entgegnete er, "für das Tragen dieses Schwerts deine verdammte Hand abschneiden kann, wenn du es nicht tust!" "Ihr lügt bereits jetzt! Ich wüßte nicht, warum Ihr nicht auch den Magistrat anlügen könntet!" Er fühlte sich ertappt und sagte: "Vermutlich könnte ich das." "Dann müßt Ihr mich also nicht heiraten." "Ich _muß_ dich nicht heiraten." "Warum also? Was würde sich dadurch ändern? Daß Ihr mir dann sagen könntet, was ich zu tun habe?" Das fragte er sich selbst, und nicht zum erstenmal. "Ich würde dich nicht aufhalten." "_Warum_ dann also?" Er spürte einer an ihrer Schulter abwärts führenden Linie nach. Und fand es auch nicht leichter, als auf seine letzten Ausreden zurückgreifen zu müssen. "Weil es mir Freude machen würde. Weil..." _Weil ich nach zwei Kaisern und der Frau eines anderen gern jemanden hätte, der so zu_ mir _hält wie ich zu ihm_. Verärgert sagte sie: "Das ist Blödsinn! Ihr seid verrückt geworden!" Auch sie hatte ihre wunden Punkte. Das gestand er ihr zu. Seine eigenen schmerzten in diesem Moment, so empfindlich wie die alte Wunde, wenn sie weh tat, und er hatte nicht vor, sich in einen Streit verwickeln zu lassen. "Meister Shoka?" _Das_ tat weh. Er drehte ihr den Rücken zu. Sie jedoch packte ihn an der Schulter und beugte sich über seinen Arm. Er war so wütend, daß er sie in den Fluß hätte werfen können. Sie aber sagte: "Ich möchte es nun mal genau wissen." Vierzig Jahre der Selbstbeherrschung waren nötig, um ganz ruhig zu bleiben und zu antworten: "Weil es sich so gehört." "Was hat Anstand damit zu tun?" zischte sie. "Weil Meister Saukendar nicht mit seiner Schülerin schlafen mag, mit seiner _Frau_ aber schon?" Er atmete mehrmals tief durch. Er schlug sie nicht. "Ich will bloß wissen warum." "Es gehört sich so, daß Menschen einander Versprechungen machen und sie einhalten. Ich will..." _Daß mir einmal jemand etwas verspricht und es ernst meint_. "...schlafen. Ich bin müde." "_Ihr_ seid müde! Obwohl _ich_ das Gepäck trage!" Das Mädchen hatte keinen Sinn für Romantik. Nicht den mindesten. Sie schlang die Arme um seinen Hals, kniete sich hin und legte ihren Kopf an seine Schulter. "Ich bin ein Mädchen vom Lande", sagte sie. "Wenn Ihr die Damen in Chiyaden seht, wird Euch mein Anblick zuwider sein." "Bestimmt nicht." Er drehte sich um und schlug versehentlich gegen ihr Kinn. "Taizu, um Himmels willen..." Er berührte ihr Kinn. "Doch, so wird es sein." Er setzte sie zu sehr unter Druck, versuchte sie zu zwingen. Das war nicht gut. Es hatte nichts mit der Loyalität zu tun, die er sich wünschte. "Nein", sagte er. "Nein." Und seufzte und schloß sie in die Arme, entschlossen, endlich einzuschlafen. "Laß gut sein. Laß gut sein. Du glaubst mir nicht. Und damit ist das erledigt." "Was müßte ich machen? Tun, was Ihr sagt?" "Sei still und schlaf." "_Warum wollt Ihr mich heiraten_?" "Weil ich dich liebe", sagte er. Es war komplizierter. Aber es brachte sie für eine Weile zum Verstummen. Vielleicht dachte sie nach. Alles, was Taizu tat, war verwickelt. Irgendwann sagte sie: "Meint Ihr damit, ich müßte tun, was Ihr mir sagt?" "Nein", antwortete er, der endlosen Erörterung überdrüssig; jedoch geduldig. Geduld war bei Taizu auch nötig. Er _wußte_, was in ihr vorging. Sie würden reden, wenn sie in Hua wären. Lange Zeit schwieg sie. Er war halb eingeschlafen, als sie, den Kopf auf seine Brust gebettet, sagte: "Kann ich darüber nachdenken?"Er zauste ihr Haar. "Tu das." Und kämmte es zärtlich, denn es waren Blätter darin. "Schlaf nicht ein, ohne mich vorher zu wecken. Hast du verstanden?" "Mmmn", machte sie. Doch er erwachte vom Geräusch knackender Zweige und der Sonne, die ihm ins Gesicht schien. "Verdammt noch mal!" sagte er, wälzte sich mit pochendem Herzen herum und griff nach seinem Schwert. Sie jedoch brach im Morgengrauen Zweige fürs Feuer. Er legte den Kopf auf die Arme und beruhigte seinen Atem. "Ich habe nicht geschlafen", sagte sie. "Ich konnte nicht schlafen." "Wir haben heute einen verdammt langen Weg vor uns." Er stand auf, verschwand im Gebüsch, kam zurück und wusch und rasierte sich am Flußufer. Als er sich ans Feuer setzte, hatte sie das Frühstück fertig. Sie aßen, betrachteten das Ufer und das Licht auf dem Wasser, ebenso gedankenlos wie an den Morgen in der Hütte. Nur daß ihm die Hütte fehlte. Er wünschte, er wäre dort. Zusammen mit ihr. Er seufzte und fuhr sich durchs Haar. Und kämmte es geduldig und steckte es hoch, bevor er sich daran machte, den Schienbeinschutz anzulegen. Taizu hockte sich vor ihn hin, bekleidet mit Hemd und Schutzhose, die Arme zwischen den Knien. "Wißt Ihr noch, was Ihr in der Nacht gesagt habt?" fragte sie. "Was soll ich gesagt haben?" Sie biß sich auf die Lippen, im Begriff zu schmollen. "Ich meine", sagte er, "ich weiß noch verdammt gut, was ich letzte Nacht gesagt habe! Was erwartest du?" Verdammt, er hatte sie aufgebracht. Er war schon mal diplomatischer gewesen. Er warf seinen zweiten Schienbeinschutz zu Boden und sah sie an, eine verwirrte Taizu, die den Mund zusammenpreßte. "Ach, zum Teufel!" Schon wieder redeten sie aneinander vorbei. "Wir sind doch keine Kaufleute, die um einen Sack Salz feilschen. Das ist keine finanzielle Vereinbarung. Ich habe nichts, was ich dir geben könnte..." Zum erstenmal überlegte er, was aus ihr werden würde, wenn _er_ getötet wurde und sie übrigblieb, seinen Feinden ausgeliefert, und der Gedanke reichte aus, um ihm auf den Magen zu schlagen. "Nichts, was ich dir nicht schon gegeben hätte, verdammt noch mal." "Müßt Ihr denn immer fluchen?" "War keine Absicht. Die Götter sind mein Zeuge. Also gut. Versprich mir _nichts_." Er hob den Schienbeinschutz wieder auf und legte ihn an, begann die Knoten zu binden. "Das wird zu kompliziert. Ich werde dich nicht aufhalten." "Warum wollt Ihr mich dann heiraten?" "Gütiger Himmel!" Er legte den Kopf auf seine Hand. Blickte mit all der Ruhe und Geduld, die er aufzubringen vermochte, in zwei verwirrte, ernste Augen auf. "Ich will es _wissen_! Ihr wollt etwas von mir, ich will es wissen!" Kein Wunder, daß sie ihn nicht verstand, dachte er. Er verstand sich selber nicht, jedenfalls nichts von dem, was er lieber im dunkeln lassen wollte. "Was wollt Ihr von mir?" fragte sie. Er band Knoten. Er steckte seine Arme in die Armschienen und band die Schnüre über der Brust fest. Und sie sagte kein einziges Wort. Sie wartete bloß, die Arme auf den Knien. Wie ein Bauer. Und so konnte Saukendar den Klumpen aus seiner Kehle entfernen, sein Gleichgewicht zurückgewinnen und seine Würde teilweise wiederherstellen. Er _haßte es_, verhätschelt zu werden. Was nahe an das herankam, dachte er, worum er sie bat. Einmal im Leben. "Ich bin es gewohnt, _geliebt_ zu werden, Mädchen. Alle Welt hat mich geliebt. Liebe ist verdammt billig. Man bekommt sie auf dem Marktplatz _und_ bei Hof nachgeworfen." Sie schien schockiert. "Ich bin zu alt für dich", sagte er. "Ich war schon zu alt, als du geboren wurdest." Er erhob sich und spürte den alten, ständig anwesenden Schmerz, so wie er ihn bei jeder Bewegung spürte. _Ich kehre nicht mehr zurück_, dachte er wieder. _Diesmal nicht. Was sollen also die Gedanken an Dauer_? "Meister Shoka..." Vorwurfsvoll. Messerscharf. Er hob den Körperschutz auf und legte ihn an, dann holte er Jiro. "Ihr seid nicht alt!" schrie sie ihm nach. Und kam angerannt und packte seinen Arm, doch er wehrte sie ab und sah sie böse an, und sie war klug und respektvoll genug, von ihm abzulassen. Und so machten sie sich wieder auf den Weg, nicht anders als zu Beginn der Reise. _*13*_ Das Land wurde flacher, das Land wurde eben, und Reisfelder und Dämme kündigten die ersten Bau-ernhäuser an, die Ygotai tributpflichtig waren. Und zwischen den Dammstraßen eine Weide und ein paar recht ordentliche Pferde. "Die gehören dem Richter", sagte ein Bauer. "Bleib hier", sagte Shoka und nahm das Medaillon, das erbeutete Gold und die Münzen, die er zu Beginn ihrer Bekanntschaft törichterweise für Taizus Mitgift vorgesehen hatte. Er ließ Taizu mit dem Gepäck neben dem Damm zurück und ritt durch das Tor des Richters. "Mein Name ist Sengi", sagte er, stützte sich mit dem Ellbogen auf Jiros Sattelknauf und blickte auf den Torhüter hinab. "_Hauptmann_ Sengi, und ich möchte den Richter sprechen - wie ich höre, stehen seine Pferde zum Verkauf." Gottlob kannte er weder den Magistrat noch hatte er je von ihm gehört. Er war ein dicker alter Mann, den es nervös machte, daß ein Söldnerhauptmann vor seinem Tor stand; doch er lebte auf, als der Hauptmann mit einer schweren Geldbörse klimperte und verkündete, daß er sein Ersatzpferd einem Freund überlassen habe und ein brauchbares Tier suche - komplett mit Sattelzeug. Und so ließ er Jiro, der eine der Stuten des Richters lautstark begrüßte und so den Stallburschen einigen Kummer bereitete, im Schatten angebunden stehen und ging mit dem Richter zu der kleinen Weide hinaus, wo er sich mehrere edle Stuten ansah, ihre Feinheiten bewunderte, sich über Pferdezucht, eine Leidenschaft des ältlichen Richters, unterhielt und dessen Ansichten vollkommen zustimmte - wovon er sich eine Preisermäßigung erhoffte, die den Erwerb einer dieser Stuten für ihn erschwinglich machen würde. Anschließend setzte man sich im Garten des Richters in den Schatten, nippte am wundervoll zubereiteten Tee... ...und erinnerte sich an angenehmere Zeiten, spürte einen leichten Stich und fühlte, wie die Jahre in der Tiefe wie toll hin und her wogten... Ein Garten, ein Weg, Schatten und ein Teich mit einer geschwungenen Brücke. Sein eigenes Haus. Doch das war verloren. Beschlagnahmt. "Das ist alles, was ich habe." Shoka breitete das Goldmedaillon und die Ringe aus. Und legte ein paar Münzen dazu. "Ich weiß ein gutes Pferd zu schätzen. Ich fürchte, ich weiß nur allzu gut, was sie wert sind. Der Fuchs mit dem weißen Fuß..." "Eine Zuchtstute. Ihr hättet ihren Erzeuger sehen sollen." "Gewiß. Den Braunen könnte ich mir jedoch bestimmt nicht leisten..." Es dauerte den ganzen verdammten Nachmittag. Er stellte sich vor, wie Taizu sich draußen auf der Straße Sorgen machte und innerlich schäumte. Er stellte sich vor, daß ein ganzer Trupp kaiserlicher Gardisten vorbeikäme und Taizu Fragen stellte, die sie nicht beantworten konnte. An dem alten Mann, der ihn nach der Lage im Norden ausfragte, führte jedoch kein Weg vorbei. "Mein Herr, ich komme aus Medang. Ich habe keine Ahnung. Wie steht es in Hoishi?" Worauf der alte Mann ausweichend antwortete: "Es hat sich nicht viel geändert." "Und in Cheng'di?" "Ebenso. Wie ist es in Hoisan?" Gerissener alter Schuft, dachte Shoka. Und wünschte mit ganzem Herzen, er könnte ihm irgendwelche Neuigkeiten entlocken. Aber wenn er sich erkundigte, wie die Ernte ausgefallen sei, dann würde der alte Fuchs mißtrauisch werden - ein Söldnerhauptmann, der daherkam und Fragen stellte, mochte üble Absichten haben; und beim Dorfrichter weckte man besser keinen Verdacht. Darum trank er Tee und unterhielt sich lang und breit über Pferde. Er rühmte das Lieblingstier des alten Richters. Er sagte - was der Wahrheit entsprach -, er habe die Stallungen des Kaisers gesehen und - eine Lüge - dort habe es nichts Besseres gegeben. Er hatte jedoch kein Gold mehr, nur noch ein bißchen Silbergeld, das er zum Leben brauchte. Sie waren soweit, um das Sattelzeug zu feilschen. Schließlich drehte er seine Börse um und gab alles aus. Wenigstens hatte er Taizu eine kleine Reserve dagelassen. "Was Ihr da habt", sagte der Richter, "ist ein _sehr_ gutes Pferd. Ihr wollt Euch wohl nicht davon trennen?" Schließlich ritt er mit einer dreijährigen braunen Stute davon, einem Tier mit einem weißen Gesicht, einem Hinterfuß, der bis zu den Fesseln hinab weiß war, einem Vorderfuß, weiß bis zum Knie, einem breiten, starken Rumpf und einer kräftigen Brust. Nicht unbedingt das gewöhnlichste Pferd in der Provinz. Er hätte ein weniger auffälliges Tier vorgezogen, doch es war ein gutes Pferd, der Richter zögerte, es zu verkaufen, und er war darauf bedacht, den Hof schnell zu verlassen. Und Taizu, die ihm aus dem Graben und dem Gebüsch entgegenkam - wirkte genau so, wie er es erwartet hatte, außer sich vor Besorgnis und auf das Schlimmste vorbereitet; als sie aber näher kam, änderte sich ihre Haltung, und sie besah sich die Stute, die er ihr mitgebracht hatte. "Sie ist _wunderschön_! Aber..." "Sie ist so auffallend wie die Hure eines Flußschiffers", räumte er ein. Zwei Pferde hatten in der engeren Wahl gestanden, das eine davon in keinerlei Hinsicht bemerkenswert, einschließlich des Körperbaus. "Ich habe getan, was ich konnte. Sie ist gesund, sie ist stark, und sie ist ausgebildet für einen Soldaten. Mir wäre es lieber, du hättest sie im Notfall unter dir." Er reichte ihr die Zügel. "Steig auf. Probier sie aus." "Können wir uns das überhaupt _leisten_?" "Jiro hat den Handel besiegelt." "Jiro! Gütiger Himmel...!" "Unser ganzes Gold und Jiros Einsatz bei der braunen Stute des Richters." Er tätschelte Jiros Hals. "Armer alter Freund. Hat das letzte gegeben. Nicht wahr, mein Sohn?" Jiro war immer noch unruhig. Er bockte, tänzelte auf der Stelle und biß auf die Trense, während Taizu sich mit der rundnasigen, weißfüßigen Stute bekannt machte. Taizus Blick und ihre fiebrigen Hände hätten jeden Pferdenarren gerührt. "Steig auf!" sagte er. "Daß der alte Geizhals es sich nicht noch anders überlegt und uns seine Schutzgarde nachschickt. Machen wir, daß wir wegkommen!" Sie setzte den Fuß in den Steigbügel und saß auf, und die Stute, von Jiro nervös gemacht, tänzelte unter dem fremden Reiter zur Seite weg, aber Taizu beruhigte sie. Sie hatte eine sichere Hand. Eine gute Haltung. Eine verdammt gute Haltung. "Ich habe mir gedacht, daß du mit ihr zurechtkommen würdest", sagte Shoka. "Nach Jiro." Er ritt dicht an sie heran und reichte ihr ein Blatt Papier. "Der Kaufvertrag. Verlier ihn nicht. Falls wir getrennt werden, möchte ich nicht, daß man dich eine Pferdediebin nennt." "Ist die schön!" "Verdammt noch mal, Mädchen, _mir_ machst du keine solchen Komplimente." Er setzte Jiro in Bewegung, die Deichstraße entlang, und die Stute schloß zu ihm auf und ging brav nebenher, mit energischem Schritt und begleitet von viel Halsstrecken und Augenrollen und Tänzeln seitens des Hengstes und der Stute. "Paß auf!" "Männer", sagte Taizu. Ihre Stimme zitterte. Ein Beben, wie es einem Kampf vorausging. Ihre Augen leuchteten. Die Zügel hielt sie ständig unter leichter Spannung, während die Stute immer wieder auszubrechen versuchte und sie auf die Probe stellte, mit dem Hengst an ihrer Seite flirtete, um herauszufinden, daß ihr Reiter auf jede ihrer Bewegungen einging. Jiro seinerseits war höchst glücklich. _Glücklicher, als ich von mir behaupten kann_, dachte Shoka mürrisch und erinnerte sich an den Richter, verflucht möge er sein, der ihn rundheraus gefragt hatte, ob er in seine Dienste eintreten wolle, wo er gedient habe, in wessen Dienst er stünde... _Sengi, mein Herr, nein, aber mein Vater war aus Tengu, nun, wir haben unser Land verloren, Herr. Keinerlei Aussichten. Ich reite zurück nach Choedri, nach Norden, und hoffe, daß mich dort jemand anstellt. Vielleicht klappt es da. Wenn es sein muß, gehe ich nach Cheng'di. Ihr wißt nicht zufällig, wie dort die Aussichten für mich sind_? Verdammt gespenstisch, dachte er, verdammt gespenstisch, wie ihn der alte Mann angesehen und gesagt hatte: _Ich bezweifle nicht, daß Ihr dort eine Anstellung finden werdet. Woher kommt Ihr_? _Ich war Karawanenwächter, Herr. Aber ich hatte genug von der Fremde. Ich will nach Hause. Ich glaube nicht _- _daß sich dort in den letzten Jahren viel verändert hat_... _Nein_. Wieder dieser merkwürdige Blick. Und: _Ich will Euch eine Stute zeigen, die Ihr noch nicht gesehen habt_... Von der Anhöhe wieder zum Fluß hinunter. Der ganze Pferdehandel hatte dreimal soviel Zeit erfordert, wie er gedacht hatte, und als sie zur Brücke gelangten, dämmerte es bereits. "Ich möchte in Ygotai nicht anhalten", hatte Shoka vor dem Erwerb des Pferdes gesagt, und nun blickte er sich über die Schulter um und spürte ein immer stärker werdendes Prickeln im Nacken. Den Göttern sei Dank folgte ihnen immer noch niemand. "Was beunruhigt Euch?" "Ein neugieriger alter Mann." "Der Richter? Glaubt Ihr, er hat Euch erkannt?" "Ich weiß nicht." "Was hat er denn _getan_?" "Fragen gestellt. Zu viele Fragen. Und wie geht es _dir_? Können wir weiterreiten?" "Meinetwegen können wir die ganze Nacht lang reiten, es sind ja nicht meine Beine. - Was für Fragen?" "Wer ich sei, woher ich käme. Mein Name ist Sengi. Ich bin Karawanenwächter. Ein Hauptmann der Karawanenwächter. Ich war einmal ein Edelmann, du bist meine Frau, der Kaufvertrag ist gültig. Wir bleiben bei dieser Geschichte." "Ich habe Euch doch gesagt, daß wir uns nicht mit einem Richter einlassen sollten! Die stellen immer Fragen! Er hätte Euch erkennen können!" "Dorfrichter kommen nicht zum Hof. Ich bin diesem Mann nie begegnet!" "Vielleicht war er nicht immer ein Dorfrichter." "Kann schon sein." "Oder vielleicht..." Die Stute tänzelte ein paar Schritte seitwärts, und Taizu brachte sie zurück. "Vielleicht hat man beobachtet, ob Ihr den Berg verlaßt." "All die Jahre über? Das ist verrückt." Er blickte sich wieder um und bedauerte mehr und mehr, das auffällige Pferd dabei zu haben. "Ich bin ein Idiot. Ich hätte das verdammte Pferd nicht nehmen sollen." _Auffällig gezeichnet_, hatte der alte Mann gesagt. _Aber betrachtet mal ihre Linien, nicht die Zeichnung. Ich kann sie nicht für den Preis verkaufen, den sie eigentlich einbringen müßte. Kein Edelmann wie Ihr würde ein so... ungewöhnliches Pferd reiten wollen, und ich möchte vermeiden, daß sich diese Zeichnung weitervererbt... Doch für Eure Zwecke... für den Gefolgsmann eines Edelmanns_... "Gewöhn dich nicht an die Stute. Wir können sie unterwegs irgendwo verkaufen. Bis dahin machen wir Gebrauch von ihren guten Beinen, um eine gute Strecke hinter uns zu bringen." "Einverstanden", sagte sie und blickte sich um. "_Ihr_ macht das nichts aus. Wegen Jiro mache ich mir Sorgen..." "Wir alten Männer kommen schon zurecht, Mädchen." Er gab Jiro die Hacken, und Jiro fiel die Entscheidung leicht, zu laufen, wenn es die Stute tat. Und umgekehrt. Um Ygotai führte ein verschlungener Weg herum, hinweg über Erhebungen und Deichstraßen, entlang zwischen ein paar schäbigen Gebäuden am Stadtrand - eine Stadt von einigen tausend Seelen, wie Shoka von der Volkszählung des Kaisers her noch wußte; an das Ausmaß der baufälligen Gebäude konnte er sich jedoch nicht erinnern, und die Armut erschütterte ihn. "Damals gab es diese Leute noch nicht", sagte er zu Taizu, zwei Söldner im Elendsviertel der Stadt; und Menschen drängten sich unter geflochtenen Veranden um ihre Feuerstellen, unterbrachen ihre Mahlzeit und starrten sie mit leeren, kummervollen Augen an. Die Kinder liefen ihnen nicht nach, es _gab_ keine Kinder, abgesehen von einigen wenigen, die dicht bei ihren Eltern saßen. Es gab nur ein zudringliches Rudel Hunde, und diese sahen verhungert aus und jagten kläffend den Pferden nach, jedoch nicht weit. Die meisten Leute wirkten niedergedrückt und verängstigt. "Sie haben Angst vor uns", sagte Taizu leise. "Wir sehen aus wie Soldaten." Die Häuser waren so behelfsmäßig gebaut, daß ein starker Wind sie zum Einsturz bringen würde. Die Straße war voller Schlaglöcher, an manchen Stellen bestand sie aus getrocknetem Schlamm, anderswo war sie ein stinkender Morast, die Götter allein wußten, welcher Verkehr sich sonst darauf bewegte. Und ständig die Blicke, dieses verzweifelte, mißtrauische Starren. _Was stimmt hier nicht? Woher kommen all diese Leute_? _Was ist hier geschehen_? Wir sehen aus wie Soldaten. _Was, zum Teufel, soll das heißen_? "Hier bleibt uns nicht viel Platz zum Lagern", sagte er, als er über die Deiche und Reisfelder jenseits der Stadt blickte. Kein Problem für einen Jungen zu Fuß - jedoch allzu auffällig für einen Edelmann, seinen Gefolgsmann und zwei Pferde. "Wir würden die Bauern erschrecken", meinte Taizu. "Söldner." "So wie wir die Leute in der Stadt erschreckt haben", sagte Shoka, als sie in der Dämmerung über eine weitere Brücke ritten. "Am liebsten wäre mir, das läge schon hinter uns und wir wären wieder weit draußen auf dem Land." "Auf der Straße ist es sicherer. Bleibt mit dem Pferd von den Deichen weg, wenn wir rasten wollen." Sackgassen. Ein Labyrinth von Sackgassen. Das brauchte der Bauer dem Soldaten nicht eigens zu sagen. Und so landeten sie nach Einbruch der Dunkelheit in einem Maulbeerwäldchen, das an einem Plantagenweg ein wenig zurückgesetzt von der Straße lag, und bereiteten sich ein Lager unter den Bäumen, wo niemand sie sehen konnte. Der Himmel hatte sich gegen Abend bewölkt, ein bleiernes Grau, das selbst die Farben des Sonnenuntergangs erstickte, bis es erst einem zinnernen Zwielicht und dann einer sternenlosen Dunkelheit wich. Und mit der Aussicht, naß zu werden, teilten sie sich zum Abendessen Reisbällchen und Wurst und ein wenig Tee, den sie an einem kleinen Feuer aus gestohlenen Maulbeerblättern und Zweigen bereiteten. "Warum hatten sie Angst?" fragte Shoka irgendwann im trüben Licht des Feuers. "Sie hatten Angst vor _Soldaten_", meinte Taizu, als spräche sie eine simple Wahrheit aus und er sei schwer von Begriff. "Vor Soldaten." "Vor dem Kaiser." Er schüttelte den Kopf. "Du hast hier einen Mann vor dir, der über zwanzig war, als du geboren wurdest, Mädchen. Wer war denn im Exil, als du noch kaum etwas wußtest von der Welt? Zu meiner Zeit hatte man keine Angst vor Soldaten. Jedenfalls nicht in Städten und Dörfern, obwohl es in den Lagern schon mal hoch herging - das war schon immer so. Aber man hatte keine Angst vor ihnen." "Die Soldaten machen, was sie wollen. Und die Söldner. Sie haben Papiere vom Kaiser. Sie sind das Gesetz..." "Das Gesetz, meine Zuflucht. Die _Gerichte_ sind das Gesetz. Der _Kaiser_ heuert keine Söldner an..." "Die _Fürsten_ sind das Gesetz." "Auf ihrem Gebiet, ja. Die Stadtsteuern gehen an den Kaiser, die Streitfälle gehen an die..." "...Richter des Kaisers. Aber wenn Ihr kein Geld mehr habt, könnt Ihr die Abgaben nicht mehr zahlen und man nimmt Euch die Schweine weg; oder Euer Haus; oder vielleicht ist den kaiserlichen Soldaten auch danach, Euer Haus einzureißen und Euch zu töten. Niemand wird sagen, wer das war, niemand wird sich die Mühe machen, herauszufinden, wer das getan hat, wenn Ihr nicht irgendeinem Fürsten gehört - _er_ wird wütend werden und vors Gericht gehen, aber Ihr geht nicht vors Gericht, weil Ihr kein Geld habt..." Er hörte zu. Was sie da beschrieb, war nicht das Land, das er verlassen hatte. Doch es schien einleuchtend, wenn der Kaiser ein verdammter Narr war. "...weil nämlich dieser Richter entweder unehrlich ist oder Geld nimmt, oder er weiß, was mit _seinem_ Haus passieren könnte, wenn er sich mit den Soldaten anlegt. Genau so ist es hier draußen auf dem Land. So ist das Gesetz. Und wenn Ihr ein Bauer seid und jemanden habt wie Fürst Kaijeng, dann bürdet man ihm Steuern auf, bis er und die Fürstin den Palast kaum noch unterhalten können, und man verwüstet seine Ländereien und zieht all seine Männer zu Grenzkriegen ein, und zum Schluß kommen sie einfach und töten ihn, und glaubt bloß nicht, der Kaiser würde etwas dagegen unternehmen." "Tut der Kaiser überhaupt _irgend, etwas_?" "Ich weiß es nicht", gab sie zu. "Es heißt, der Kaiser tut dies und der Kaiser tut das, aber andere Leute sagen, er setzt bloß seinen Namen unter irgendwelche Dokumente und verbringt seine Zeit mit seinen Konkubinen und Vögeln." "Vögel." Käfige... Käfige voller exotischer Vögel, ein riesiger Garten, in dem die Vögel frei umherflogen, von feinen Netzen vom Himmel abgeschirmt. Pflanzen und Vögel, unter Lebensgefahr von namenlosen Orten importiert. Der Junge hatte viele Stunden seiner Kindheit dort verbracht, indem er den Waffenunterricht und seine höfischen Pflichten vernachlässigt hatte. Kein böser Junge. Ein verdorbener, egozentrischer, verwöhnter Junge, so kraftlos wie ein Sperling. Der gemordet hatte. Der sich kaltblütig mit Ghita verbündet hatte, um sich seiner Frau, seiner Ratgeber, seines Lehrers zu entledigen... Weil er ein verdammter _Narr_ war, dessen Wünsche und dessen Bedürfnis, nicht zu denken, realer für ihn waren als das blutige Ergebnis seiner Ränke... _Verflucht soll er sein_! Taizu hatte sich in Wut gesteigert. Er ebenfalls, nur mittels seiner Erinnerungen, aus anderen Gründen. Und so schwiegen sie lange, bis er wieder sprach: "Das ist also sein Ruf?" "Alle halten ihn für einen Narren. Verbringt seine ganze Zeit mit den Vögeln. Fürsten schenken ihm welche, wenn sie etwas von ihm wollen. Da war ein Vogel, der seinen Fürsten Tausende gekostet hat. Und innerhalb einer Woche starb er, und die anderen Vögel im Garten wurden krank, und eine Menge von ihnen starben. Der Kaiser behauptete, er sei vergiftet gewesen und habe den Rest angesteckt. Ghita ließ den Mann festnehmen, und man nahm ihm seine Ländereien ab - Tenei war sein Name, Fürst Tenei, aus dem Norden; ich glaube, aus P'eng." "Dieses verdammte Schwein..." "Als sie kamen, um ihn festzunehmen, beging seine Frau Selbstmord, er jedoch traute sich nicht, darum tötete sein Freund erst ihn und dann sich selbst." "Welche Fürsten kennst du noch? Kannst du mir ihre Namen nennen?" Sie lehnte sich an einen Maulbeerbaum, ein Schatten im Dunkeln, und zählte sie an den Fingern ab. "Ich weiß nicht, wer in Hua regiert, wenn es nicht Gitu ist. Er hat natürlich auch Angen bekommen. In Shangei sitzt Fürst Mengei..." "Du meine Güte." "Ich weiß nichts über ihn. Nur daß er Fürst Heisus Platz eingenommen hat." "Mendi ist ein willenloser Narr. Red weiter." "Yiungei..." In der Stimme aus dem Dunkeln war ein ängstliches Zittern. "Dort sitzt Fürst Baigi." "Ghitas Schoßhund. Das habe ich gewußt." "Im Distrikt Mengan in Yiungei, dort sitzt..." "Jeidi?" Es war sein eigener Distrikt, von dem sie sprach, sein eigenes Land. Sie schüttelte den Kopf. "Jeidi ist tot. Peiyan." "Nicht alle Banditen sind in Hoisan. Wer ist in Taiyi?" "Früher war es Riyen. Er ist gestorben. Jetzt ist es irgendein Cousin von ihm..." "Kegi." "Genau." "Für mich nur ein Name. Wer sind die besten Fürsten?" "Ich weiß nicht. Fürst Mura. Er war mit unserem Fürsten befreundet. Sein Name ist Meigin. Und Fürst Agin von Yijang, als Nachbar war er nicht schlecht." Zwei lebten noch. "Und Tengu?" "Ich bin mir nicht sicher. Ich... habe mich damals nicht besonders darum gekümmert. Aus Fürsten habe ich mir nichts gemacht. - Doch ich weiß, wer in Kenji herrscht: Mida." Noch jemand, den er kannte, kein tatkräftiger Mann, ein Gelehrter. "In Hoishi sitzt Fürst Reidi", sagte er, "das war das letzte, was ich gehört habe. Man hört wenig von ihm. Als Nachbar kann ich mich nicht über ihn beklagen, aber schließlich habe ich auch nie seine Grenze überschritten. Bis jetzt." Er schüttelte den Kopf und verspürte wieder die gleiche Art Verzweiflung, die ihn unterwegs begleitet hatte und die nur allzusehr seinem Gefühl von vor zehn Jahren glich. "Wenn Jiro kräftig genug wäre, dann würde ich vorschlagen, daß wir weiterziehen, aber ich will verdammt sein, wenn ich ihn zuschanden reite." "Ich möchte, daß Ihr umkehrt!" "Dafür ist es jetzt zu spät. Dort ist es nicht mehr sicher - weder für mich noch für irgend jemanden in meiner Nähe. Nicht einmal für das Dorf, wenn ich dorthin zurückkehre. So steht nur mein Kopf auf dem Spiel, alles andere ist denen egal. Hör mir zu! Hör mir jetzt genau zu, Taizu: falls wir von Soldaten angegriffen werden und es keinen Ausweg mehr gibt, dann läßt du mich allein und reitest, bis die Stute zusammenbricht, und dann steigst du ab und gehst zu Fuß weiter..." "Nein." "Du sollst mir _zuhören_, verdammt noch mal! Wenn man Soldaten auf uns hetzt, und ich sage nicht, _daß es_ dazu kommt - aber falls doch, dann deshalb, weil man _mich_ erkannt hat, nicht ein Mädchen aus Hua - und dann bleibt mir nichts anderes mehr übrig, als ihnen Ärger zu machen. Der Großteil würde bei mir bleiben - ein oder zwei könnten dir nachjagen - du kannst sie abhängen, du bist leichter, und das ist ein verdammt gutes Pferd, deshalb wollte ich es haben, von allem anderen einmal abgesehen. Du kannst ihnen entkommen. Ich habe keine Chance. Also laß uns vernünftig sein. Man kennt dich nicht, man weiß nicht, was du vorhast. Wenn _ich_ wieder im Reich bin, wird man nur in einer Beziehung Verdacht schöpfen, und du bist nur dann in Gefahr, wenn du in meiner Begleitung erwischt wirst. So sieht es aus. Wenn mir etwas zustößt, wird es eine Weile hoch hergehen. Du setzt dich ab, gehst nach Süden, versteckst dich, bis wieder Ruhe eingekehrt ist..." "Das denkt Ihr Euch so, aber das nützt nichts, weil ich es nämlich nicht tun werde. Ich verlasse Euch nicht!" Eine Weile saß er schweigend da und dachte: _Ich habe mir Loyalität gewünscht_. _Verdammt noch mal, tut sie immer nur dann etwas, wenn man es gerade nicht von ihr erwartet_? Er hatte Angst, größere Angst als je zuvor. Er hatte _gewußt_, daß die erste Karawane, die hinter ihnen von Mon nach Ygotai ginge, die Nachricht verbreiten würde, daß er die Grenze überquert hatte: das hatte er mit eingeplant, er hatte vorgehabt, diesem Gerücht vorauszueilen, es sogar für seine Zwecke zu benutzen: man würde erwarten, daß sich Saukendar gleich nach Norden, nach Cheng'di oder Yiungei wenden würde, nicht nach Hua. Was in Mon jedoch möglich erschienen war, war in Ygotai unwahrscheinlicher, und die Verzweiflung der Menschen und die Hinweise auf grundlegende Veränderungen im Land ließen seine Lage noch verzweifelter und schwieriger erscheinen. Und seit er in Mon den Frieden gebrochen hatte, war ihm die Rückkehr versperrt. "Ihr meint, der Richter könnte Soldaten rufen", sagte Taizu, "und sie nach meinem Pferd suchen lassen?" "Nach deinem Pferd, nach Jiro - nach einem großen Fuchs mit einem Mann, auf den meine Beschreibung paßt. Ich bin kaum weniger auffällig, und die Vögel des Kaisers dienen nicht nur dem Vergnügen. Eine Nachricht kann rasch von hier nach Cheng'di fliegen - verdammt rasch." "Dann reiten wir eben schnell, ganz einfach." "Wo ist der Richter heute abend? Wohin sind seine Boten geritten? Wo sind die nächsten Soldaten, und wie frisch sind ihre Pferde im Vergleich zu Jiro?" "Kennt Ihr die Antwort?" "Darum verstecken wir uns! Wir verstecken uns solange, bis man den Richter für verrückt hält." "Wo?" "Ich finde schon einen Ort. Es gibt Hecken. Es gibt Dickichte." "Wir haben zwei Pferde, um Himmels willen. Du hast selbst gesagt, wenn wir in die Reisfelder kommen, dann kommen wir nicht mehr..." "Jetzt hört mir mal zu, Meister Saukendar, Ihr aus der Himmlischen Stadt: _ich_ bin herausgekommen, nicht wahr? Wir sind hier auf dem Land. Ihr seht diese Pflanzung. Seht Ihr die Straße? Man kommt darauf nur langsam voran. Wir werden waten müssen. Aber ich wette, das tun die Soldaten nicht. Wir gehen durch die Reisfelder zur Provinz Taiyi zurück..." "Dort gibt es einen Fluß. Jiro schleppt seinen Panzer mit." "Wenn wir bei Nacht hinübergehen und das Gepäck aufteilen, und mein Pferd trägt die Hälfte..." Er saß da und dachte an seinen Ruf, an einen einzigen, heftigen Kampf auf der Straße, eine gute Gelegenheit für einen Mann, ehrenvoll und nicht ohne Genugtuung zu sterben... Seine Stimmung hob sich ein wenig, als er daran dachte, was Shoka der Narr in seiner Jugend getan hätte, was er, der keinen Ruf als Held zu verlieren hatte, alles riskiert hätte. Wie ein Fuchs hätte er sich einen Weg durch die Felder gesucht - wenn er einen verläßlichen Führer gehabt hätte... "Du glaubst, du würdest nach Taiyi finden?" "Ich weiß, daß ich's kann." "Man wird unsere Spur verfolgen. _Pferde_ trifft man auf den Deichen nicht allzu häufig." "Das macht nichts. Wasser deckt eine Menge zu. Pferde können genauso gut waten wie wir." "Dann laß uns im Dunkeln aufbrechen. Bevor es zu regnen beginnt." Als er sich erhob, herrschte einen Moment lang Schweigen. Ein jämmerliches Stöhnen, als Taizu sich hochrappelte. Von Jiro kam mehr Protest, er stampfte und scheute, als er gesattelt und beladen wurde - diesmal nicht mit einem Reiter, sondern mit den Rüstungen und ihrem Gepäck. Als sie den Hauptdeich erklimmen mußten, trug Shoka die Rüstungen. Er reichte sie Taizu, die sie auf dem Boden absetzte, kletterte seinerseits den Erdwall hoch und zog Jiro an den Zügeln nach. Worauf Jiro hochgestürmt kam und ihn umwarf. "Verdammt noch mal!" keuchte er, rücklings am Boden liegend, im Schlamm neben dem Deich. Und er drehte sich um, rappelte sich hoch und kletterte auf den Deich, während in seinem Bein ein heftiger Schmerz aufflammte. Taizu versuchte ihm das letzte Stück hochzuhelfen, ein dunkler Schatten, der über ihm aufragte. Er stieß sie weg. Sie stand ihm im Weg, er hatte Schmerzen, und er stieß sie weg. Und weil er wußte, daß er im Unrecht war, wurde er wütend. "Verdammt noch mal, steh mir nicht im Weg!" Es nieselte. Es war naß und rutschig. Jiro war erschöpft und schleppte sich keuchend durch den Schlamm, sie hatten auf mehr als einem Deich eine Spur hinterlassen, der kinderleicht zu folgen war, und ihre ständigen Kehrtwenden, jede Entscheidung zwischen verschiedenen Wegen, ihr Zickzackkurs zwischen den Deichen, manchmal einen langen Arm entlang, manchmal einen kurzen, manchmal einfach dort entlang, wo sie hochklettern konnten, wurde zu einem Alptraum mondloser, sternenloser Entscheidungen. Er hob seine durchnäßte Rüstung auf, die Taizu fallengelassen hatte, während sie ihre Ausrüstung aufhob und der Stute wieder über den Sattel legte. Sein Bein schmerzte, Himmel, tat es weh! Er häufte alles auf den Sattel und band es fest - dem Himmel sei Dank für die Schnur, die sie den Banditen abgenommen hatten. "Wir müssen wieder runter", sagte Taizu plötzlich mit heiserer, zitternder Stimme. "Was soll das heißen, wir müssen wieder runter? Wir sind gerade erst _hochgekommen_." "Wir sind auf dem falschen Weg. Wir gehen in die Irre. Ich weiß es." Er erstarrte, und der Wind peitschte gegen seine nassen Kleider. Der Schlamm hatte das Gewicht seiner Stiefel verdoppelt. Und bei jeder Kehrtwendung hatte es geheißen: _Ich weiß es, ich bin mir sicher. Ich weiß, wohin wir gehen_. "Hör zu", sagte er heiser, "hör zu, Mädchen, du hast keine Ahnung, wohin du gehst. Was hast du vor, willst du solange marschieren, bis sich eins der Pferde ein Bein bricht? Machen wir, daß wir von diesen verdammten Deichen runterkommen und ruhen wir uns aus, bis es hell wird, damit wir sehen, wohin wir gehen." "Wir sind richtig", sagte sie. "Wir sind nur dort hinten falsch gegangen, und wir müssen ein Stück zurück." "Wir wissen nicht, wo es langgeht, wahrscheinlich gehen wir längst wieder nach Norden - direkt zu der verdammten Straße zurück!" "Nein. Es geht hier lang." "Du siehst den Mond nicht, du siehst die Sterne nicht, _du kannst den Weg durch diesen Irrgarten nicht erraten_!" "Ich habe den Wind!" "Der Wind dreht sich, verdammt noch mal!" "Und mein _Gefühl_! So wie das Land ist, so wie die Deiche sind, weiß ich, was ich tue, verdammt noch mal, _ich weiß, wo Osten ist_!" "Gütiger Himmel", stöhnte er, als der Schatten, der Taizu war, wieder den Deich hinabkletterte. Er sollte das Miststück verlassen. Sollte sie doch ohne ihn ins Dunkel marschieren, bis sie merkte, daß sie allein war. Es war zu kalt, um anzuhalten. Er war fast soweit, mit den Zähnen zu klappern. "Dieses verfluchte Mädchen", sagte er zu Jiro, band das Gepäck und die Rüstung los und schulterte sie. Er hatte bereits solche Schmerzen, daß es kaum noch schlimmer kommen konnte. Um Jiros Beine machte er sich Sorgen - ein altes Pferd, das seinen eigenen Panzer trug und dessen Muskeln vor Kälte steif geworden waren. An der Böschung rutschte er aus; er fiel ins Wasser und in den Schlamm, und kurzzeitig bekam er weder Luft noch konnte er die Beine unter sich hervorziehen. Er hatte es geschafft. Es war die schlimme Seite. Verdammt, das war sie. Doch er rappelte sich hoch. Jiro stand unversehrt auf allen vieren. "Komm schon", sagte er und fand die Zügel. Und er ging weiter, bis zum anderen Ende, wo Taizu schwor, sie würden auf trockenen Boden kommen und könnten dem Weg ein Stück weit trauen. "Laßt mein Pferd das tragen", sagte sie. "Es geht ihm gut. Es geht ihm gut, Meister Shoka." "Mir auch", sagte er mit dem, was ihm von seiner Stimme noch geblieben war. Und fügte hinzu: "Aber Jiro ist dafür schon zu alt." Sie legten seine Rüstung über den Sattel der Stute. Taizu ging weiter. "Wir haben uns verirrt", sagte er zu ihrem Rücken. "Wir haben uns verirrt. Das weißt du." "Wir sind richtig. Wir kommen hier raus. Es kann nicht mehr lange dauern." Er antwortete mit einem Schwall von Flüchen und humpelte ihr nach. Die Sonne ging langsam am düsteren Himmel auf, als die Deichpfade einer Baumreihe wichen; und als sie zu der alten Weidengruppe gelangten... Ein unüberwindlich breiter Fluß. Taizu hielt an, als sie seiner ansichtig wurde - blieb einfach stehen. Ihre Schultern sackten herunter, und mit einem Ausdruck abgrundtiefer Verzweiflung wandte sie sich zu ihm um. "Wir sind richtig", sagte er. "Wir sind richtig. Wir sind wieder am Hoi angelangt. Du hast uns wirklich nach Osten geführt. Wir sind richtig." Ihre Lippen zitterten. "Der Fluß liegt zu unserer _Rechten_. Wir sind wieder am Ausgangspunkt!" "Nein", sagte er. "Nein! Wir haben den Hoi überquert, in Ygotai. Derselbe Fluß, der an Mon vorbeifließt. Es ist _unser_ Fluß, nachdem der Yan sich mit ihm vereinigt hat. Er führt bis nach Chaighin... _Karten_, Mädchen. Der Nutzen von Landkarten, weißt du noch? Der Hoi und der Chisei treffen sich am östlichen Ende von Hoishi... Taiyi liegt genau vor uns. Genau in unserer Richtung." Tränen liefen ihr übers Gesicht. Sie trat zu ihm, umarmte ihn und legte den Kopf an seine Schulter, stand einfach nur zitternd da. "Du hast uns richtig geführt", sagte er. "Du hast uns nach Osten gebracht. Wir sind die ganze Zeit nach Osten gegangen." _*14*_ Shoka putzte sich die Nase und trank zum Abendessen einen angenehm dampfenden Weidentee - die alte Mutterweide und ihre Schwestern gewährten ihnen einen Unterschlupf, ein Dach aus bis zum Boden reichenden Zweigen, das sie, die Pferde, einen ebenen, leidlich trockenen Erdwall und ein kleines Stück Flußufer schützte. Manchmal kamen Kähne und Boote vorbei, unterwegs von Ygotai nach Mandi an der Mündung, das beiderseits des Chaighin lag, der sich mit dem Hoi zum Großen Fluß vereinigte; dieser floß anschließend weiter nach Sengu und Medang, zu abgelegenen Vorposten, zu denen wilde Stämme kamen um zu handeln. Und manchmal kehrten diese Boote flußaufwärts zurück, vermutlich beladen mit Gütern für die Bazare von Mandi. Mandi war ein rauher, ländlicher Ort, ohne die Annehmlichkeiten der Kaiserstadt - jedoch wohlhabend geworden aufgrund des Handels, der über die sich vereinigenden Flüsse und über Land abgewickelt wurde. Es war eine seltsame Vorstellung, daß diese große Stadt gar nicht weit weg war, während sie in ihrem Weidenzelt saßen, niesend und hustend und dem Himmel sei Dank im Warmen, da Weidenholz nur wenig Rauch machte, so daß sie es nun wagten, hin und wieder ein winziges Feuer zu unterhalten, das sie vor dem Wind und dem Nieselregen schützte. "Eigentlich", hatte er zu Taizu an jenem ersten Morgen gesagt, "geht es uns doch recht gut. Laß die Aufregung sich erst einmal legen. Sollen sie sich ruhig den Kopf zerbrechen, wo wir sind. Anscheinend sind wir nicht in Gefahr, entdeckt zu werden, niemand geht am Ufer spazieren, alle fahren im Boot - einen besseren Ort kann ich mir im Augenblick gar nicht vorstellen." Und Taizu: "Hoffentlich ist der Fluß im Norden nicht so breit, sonst müssen wir umkehren..." "Das ist er nicht." Er nieste, putzte sich die Nase, und als er Taizus gedrückte Stimmung bemerkte, nahm er eine Weidenrute und zeichnete ihr das keilförmige Hoishi auf, zusammen mit den beiden wichtigsten Flüssen, dem Hoi und dem Chisei. Und Taiyi, auf der anderen Seite. "Der Chisei führt nie viel Wasser. Ein Soldat weiß über diese Dinge Bescheid. Sein Nachschub hängt davon ab. Ich habe deine Ausbildung in Landeskunde vernachlässigt, Mädchen; Landkarten sind die Basis jeden Feldzugs..." Ihm versagte die Stimme. Nachdem sie ihr Lager aufgeschlagen hatten, hatten sie die Pferde abgerieben und mit vor Kälte klammen Fingern und taumelnd vor Erschöpfung am Rande des Deichs Gras geschnitten, damit Jiro und die Stute zu ihrem Frühstück kamen. Dann hatte sie eine Pause eingelegt, hatten sich in die Decken eingewickelt, die in den Matten trocken geblieben waren, beide so kalt wie Leichen und sich gegenseitig umklammernd. Es wurde warm, ihre Leiber und ihre Glieder erwärmten sich, genug, um eine Zeitlang zu zittern, genug, daß Shokas Bein wieder anfing weh zu tun, ein Schmerz, der ihn wachgehalten hätte, wäre er nicht todmüde gewesen. So wie die Dinge lagen, biß er eben die Zähne zusammen, versuchte an etwas anderes zu denken und wartete darauf, daß seine Erschöpfung die Oberhand gewann, entschlossen, sich den Schmerz in Taizus Gegenwart nicht anmerken zu lassen. Sie jedoch wimmerte mit jedem Atemzug, bis er ihr nasses Haar streichelte und sie umarmte, erst dann bemerkte sie, was sie tat, und hörte damit auf. Armes Mädchen. Ihr fehlte die Kraft zum Durchhalten, dachte er; nur die einfältige, dumpfe Vitalität der Jugend, der es an der Erfahrung mangelte, um ihre Grenzen zu erkennen, trieb sie vorwärts. Und als er sie am Nachmittag wieder umhergehen sah, mußte auch er sich wieder bewegen und sich um seine Ausrüstung kümmern. Eigentlich war das Wäschewaschen ihre Aufgabe. Aber sie befanden sich nicht mehr auf dem Berg, sondern in freiem Gelände; ein Mann kümmerte sich um seine eigenen Sachen, wenn er keinen Diener hatte. Und er hatte keinen. Es war aussichtslos, all den Schmutz wieder aus den Kleidern oder vom Leder entfernen zu wollen. "Wir sehen bestimmt wie Söldner aus", sagte er, als sie mit einem Topf Ölseife ihre Ausrüstung und die Lederteile ihrer Kleider zu säubern versuchte. "Was für eine Schweinerei", sagte sie. "Das läßt sich nicht vermeiden." Der Schmerz in seinem Bein reichte aus, ihn von den übrigen steifen Muskeln abzulenken. "Ich glaube, irgendwas in meinem Knie ist gerissen. Ich bin mir nicht sicher, ob das gut oder schlecht ist." "Wir haben nur diese Lappen." Er blickte auf die öligen Lumpen, die sie über dem winzigen Feuer in einer winzigen Pfanne erwärmte; und der Schmerz war so stark, daß ihm die Sicht verschwamm, der Gedanke an das Gelenk ließ ihn lallend sprechen. "Wir können es versuchen." Es half. Es half so sehr, daß er sich zwischen den Weiden auf den Boden legte und die Augen schloß, und als er sie wieder öffnete, hatte sich die ganze Welt verdüstert. Es dämmerte. Taizu saß wartend neben ihm. Dann tranken sie Weidentee. Und er zeichnete Landkarten im verblassenden Tageslicht, und Taizu betrachtete die Linien mit nachdenklich gerunzelter Stirn und biß sich auf die Lippen, wie sie es immer tat, wenn sie verzweifelt war und sich Sorgen machte. Wenn sie Angst hatte. "Von hier aus stehen uns zwei Wege offen", sagte er. "Am Hoi entlang zurück, bis wir ihn überqueren können; oder zum Chisei. Nach Westen oder nach Osten. Wie du willst." "Wenn Ihr nicht bei mir wärt", sagte sie mit geballten Fäusten, "Meister Shoka, dann wäre ich schon nach Taiyi unterwegs." Er schüttelte den Kopf. "Du wärst tot, sobald du das Flußufer erreicht hättest. Eine Menge Banditen würden es dir danken. Aber du wärst tot." Er sah, daß ihr Kinn zitterte. Er dachte wieder an sein Zuhause auf dem Berg. Er dachte an die Mörder und Armeen, dachte an den schläfrigen Fürsten Reidi in Keido, der sich endlich gezwungen sehen könnte, etwas gegen den verbannten Fürsten Saukendar zu unternehmen, und sei es auch nur, daß er Nachricht nach Norden schickte. Er dachte an die Einwohner von Mon, die ihn all die Jahre über ernährt hatten, wie sie tot dalagen, nur weil sie ihm vertraut hatten. Er dachte an eine junge Närrin, die zuviel gewollt hatte und immer noch wollte und die, verflucht sollte sie sein, ihre Ausrüstung und ihre Rüstungen gereinigt und ihre Sachen gewaschen hatte und ihm Tee bereitete und jetzt die Unverschämtheit besaß, ihm vorzuhalten, er sei nutzlos und eine Belastung. Es mußte an seinen Schmerzen liegen. Seine Augen brannten, und er massierte sein schmerzendes Bein. Ihre Hand ruhte auf seiner. Sie beugte sich vor und legte ihren Arm um seinen Hals, ihre Wange an seine. "Laßt uns bitte nach Hause gehen. Laßt uns nach Hause gehen. Ich werde Euch heiraten." Er schob sie von sich. "_Warum_? Damit ich nicht dazu beitrage, daß du ins Verderben rennst?"Im letzten Tageslicht sah er Tränen auf ihren Wangen glitzern. "Was geschehen ist, ist nicht mehr wichtig", sagte sie. "Es ist nicht mehr wichtig. Ich werde Eure Frau sein. Laßt uns bitte nach Hause gehen." Was sie auch tat - stets tat sie es im falschen Moment. Noch einmal dachte er: stets war es das richtige Versprechen zum falschen Zeitpunkt. _Zur Hölle_ mit der Ehre und _zur Hölle_ mit dem Stolz, der aus Menschen Narren machte. Geh auf ihr Angebot ein. Führ sie über den Fluß in die Wildnis von Hoisan, such dir einen anderen Berg. Zeuge Söhne und Töchter. _Zur Hölle_ mit allem, was er sie gelehrt hatte, als er die Frau, die er liebte, dazu ermutigt hatte, den größten Wert auf Ehre, Stolz und all die Dinge zu legen, die aus Menschen Narren machten... Doch damit war sie schon ausgestattet gewesen, als sie zu ihm gekommen war. Und sie hatte ihn gezwungen, sie zu unterrichten. Und hatte an ihn geglaubt, trotz seiner üblen Laune am Morgen und seiner schlimmen Tage, seiner Lahmheit und all seiner Fehler... Sie war die Unverwundbare. Sie war jung. Das war sie. Und es hatte seiner Schwäche bedurft, um sie aufzuhalten und dazu zu bringen, daß sie ihn anflehte: _Bringt Euch nicht um. Ich halte es nicht aus, Euch dabei zuzusehen. Ich werde Euch heiraten_. Er berührte ihr Gesicht. Er sagte: "Habe ich dich das gelehrt? Nimm dich zusammen! Plane deinen Rückzug. Wenn du den Fluß überqueren und eine Weile nachdenken willst - dann können wir das tun. Aber ich sage nicht, daß du aufgeben sollst. Ich möchte nicht, daß du jemals aufgibst. Wir können für eine Weile zurückgehen. Auch das gehört zum Soldatenhandwerk. Man kundschaftet aus, man sammelt Informationen. Wir haben für einige Aufregung gesorgt, darum werde ich dir jetzt sagen, was wir tun: Wir gehen nach Hoisan zurück, wir warten, bis die Gerüchte die Hauptstadt erreicht haben, wenn es überhaupt soweit kommt; wir verbreiten - wie ich dir gesagt habe, weißt du noch? -, daß ich im Lande bin. Daß die Frau in meiner Begleitung einen Groll gegen Gitu hegt. Sollen unsere Feinde ruhig schlaflose Nächte haben. Die Zeit arbeitet für uns. Du und ich - wir können bei ihnen sein, wir können ihnen näher sein als ihre Frauen bei Nacht. So würde ich es machen." _Wie ich es immer schon gemacht habe. Allein die Götter wissen, ob es ihnen nicht egal ist_. Taizu stützte den Kopf auf ihren Arm und legte sich eine Hand ins Genick. "Einverstanden", sagte sie. In dem geschlagenen, erschöpften Ton, der so gar nicht zu ihr paßte. Der Morgen nahte mit einer leichten Feuchtigkeit in der Luft, einer herbstlichen Kühle in der Nähe des Wassers. Ein Boot fuhr vorbei. Die Stimmen der Schiffer und das Platschen von Rudern durchdrang die Stille. Sie lagen dicht beieinander unter den klammen Decken, aus keinem anderen Grund, als um sich zu wärmen, und Shoka versuchte seinen Husten zu dämpfen - um Taizu nicht aufzuwecken und um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Taizu hustete jedoch ebenfalls, und es dauerte lange, ehe sie beide aufstanden und ein Frühstück bereiteten, das zu genießen ihre Kehlen zu wund waren, bis sie Futtergras schnitten und die Pferde versorgten, um sich gleich wieder in feuchte Decken zu hüllen und ihre Lage zu bedenken - wieviel Proviant sie noch hätten, wie lange sie einer Entdeckung entgehen konnten. Jiro und die Stute machten sich miteinander bekannt - zuviel Lärm und zuviel Widerspenstigkeit für zwei fiebernde, erschöpfte Menschen; die Stute war noch zu nahe an ihrem Zuhause, um nicht Anlaß zur Sorge zu geben, sie könnte ausreißen - abgesehen von Jiros Anziehungskraft, der weniger geneigt schien, sie zu verlassen und zu den Deichen auszubüchsen, und der Tatsache, daß die Pferde ebenso mitgenommen und erschöpft waren wie ihre Besitzer, so daß sie bereit waren, auszuruhen und sich die Bäuche vollzuschlagen, während sich ihre Besitzer in Decken kuschelten, die nicht ganz trocknen wollten, und husteten und niesten, bis ihnen die Seiten weh taten. "In Shangei war es das gleiche", sagte Shoka mit dem, was ihm von seiner Stimme geblieben war, "in dem Jahr, als wir die Rebellen verjagen mußten. Es hörte einfach nicht auf zu regnen." "Welche Rebellen?" fragte Taizu mit der krächzenden Stimme eines Mannes. "Fürst Mendi hatte einen Neffen", sagte Shoka und versuchte ihr die Geschichte zu erzählen, doch er mußte husten und konnte erst damit aufhören, als Taizu Weidentee brühte und er etwas Warmes in die Kehle bekam. Er hustete beim Reden und sie ebenfalls, und meistens lief ihnen die Nase. Darum wärmten sie die Lappen auf, die sie dabeihatten, legten sie sich abwechselnd auf Brust, Rücken und Hals, tranken Weidentee gegen das Fieber und den wunden Hals und blieben meistens zugedeckt, während die Boote vorbeifuhren, der Regen auf die Weidenblätter prasselte und der Wind die Bäume wiegte und das Wasser herunterschüttelte, so daß ihre Decken feucht blieben und ihre Kleider nicht trocknen wollten. Am dritten Tag wurde es besser. Taizu fing am Flußufer ein paar Elritzen, machte sich einen Haken und benutzte einen Teil ihrer Sattelriemen; am Abend riskierten sie ein größeres Feuer als gewöhnlich und aßen sich satt an Fisch und Reis mit wilden Kräutern. Nach dem Essen schöpfte Shoka wieder Hoffnung und sagte: "Ich glaube, morgen abend können wir vielleicht nach Ygotai zurückreiten." Lange Zeit sagte sie nichts. Sein Herzschlag beschleunigte sich, weil er vermutete, daß sie nicht an Ygotai und den Süden dachte, sondern überlegte, ob sie sich des Nachts nach Norden absetzen und ihn, die Pferde und den ganzen Rest zurücklassen sollte. Doch sie sah nicht mehr wie ein Bauer aus. Sie hatte ihren Korb nicht mehr, um das Schwert zu verbergen, ihr Hemd war zu fein, ihre Figur nicht die eines Mannes; man konnte sie vielleicht für einen Bauern halten, solange sie angelnd am Ufer hockte und den Bootsleuten zuwinkte und sich in ihrer Verkleidung ganz behaglich fühlte, während er im Versteck litt... Jedoch nicht unterwegs, wenn man sie aus nächster Nähe sah. Er hatte genug Zeit zum Nachdenken. Beinahe hätte er seine Gedanken laut ausgesprochen, sie jedoch seufzte und sagte: "Ja. Das könnten wir tun." Ihre Zustimmung war nicht so eindeutig ausgefallen, wie er es sich erhofft hatte. Er wollte sagen: _Gut, aber was ist mit dir_? Dann würde sie bloß wieder zu streiten anfangen, und wenn sie sich stritten, würde sie womöglich nach Hua gehen. Darum nickte er milde, als hätte er nie etwas anderes gedacht. "Nach Monduntergang. In Ygotai könnten wir Schwierigkeiten bekommen. Aber wenn wir erst einmal über die Brücke sind, brauchen wir uns keine Sorgen mehr zu machen." "Wohin sollen wir gehen?" Er zuckte die Achseln. "Wohin es uns gefällt. Wie ich gesagt habe: sollen sich unsere Feinde ruhig Sorgen machen." Er hustete. Ihr Husten hatte sich noch nicht gebessert. "Hauptsache, der Ort liegt höher und ist trockener." Der Fisch reichte für den nächsten Tag. Sie hatten fast keinen Reis mehr, darum teilten sie sich den Rest ein. Und am Abend dieses sonnigen, warmen Tages sattelten sie die Pferde, legten ihre Rüstungen an und banden sich das Haar hoch: "Wir müssen ja nicht unbedingt wie Straßenräuber aussehen", meinte Shoka. "Es ist dunkel", sagte Taizu. "Wir verstecken uns. Ich dachte, niemand sollte uns sehen." "Wir brauchen uns auch nicht wie Straßenräuber zu _verhalten_", sagte Shoka und ließ sie schmollend stillstehen, bis er ihr das Haar gerichtet hatte. Dann drehte er sie um und ließ sie das Kinn heben. Sie blickte ihn wütend an. Ihre Auge glitzerten. "Wo ist dein Mittelpunkt?" fragte er sie ruhig. Einen Augenblick lang schwieg sie. Es war ein gefährlicher Augenblick. Alles konnte zerbrechen. Sie aber sagte: "Nächstes Jahr. _Nächstes_ Jahr, Meister Shoka." Also kein Ehemann. "Dann bin ich also geschieden?" Ein langer, tiefer Atemzug. "Nein." Ihre Stimme klang krächzend. "Ich halte meine Versprechen. _Alle_." Und sie ging zum Flußufer, setzte sich hin und wartete, bis es dunkel geworden war. Er ging ihr nach und setzte sich auf die Steine. Kraniche flogen in der Dämmerung. Von irgendwoher kam der Geruch nach Rauch. Doch das war nichts Neues. Vielleicht kam er von Ygotai, vielleicht von einem Bauernhaus, das sie bloß noch nicht entdeckt hatten. "Wir suchen uns einen Ort in Hoisan", sagte er, "und schlagen ein Lager auf wie die Banditen. Wir richten uns zum Überwintern ein. Wir brauchen nicht dort zu bleiben. Sollen sie uns ruhig suchen. - Ich sag dir was: du bist besser als die meisten, und du wirst vernünftiger." Sie sagte nichts. Sie starrte bloß auf das sich verdunkelnde Wasser, eine verschwommene Silhouette vor einem schimmernden Hintergrund. Er bemerkte, daß sie ihn ansah, und erwartete, daß sie irgend etwas sagen würde - doch plötzlich hob sie den Kopf, und ihr dunkles Gesicht zeigte Entsetzen über etwas, das hinter ihm lag. Seine Muskeln strafften sich. Er drehte sich nicht gleich um, da er meinte, daß dort jemand sei. Er wartete auf einen Hinweis von ihr, und sie sagte: "Meister Shoka, der Himmel..." Er drehte sich um. Hinter den Weiden, über den Deichen, wies der Himmel einen Rotstich auf wie kurz vor Sonnenaufgang. Und der Rauch war die ganze Zeit über dagewesen. Ein Feuer. Ein großes Feuer. "Richtung Ygotai", sagte er und erhob sich. Der Schmerz im Knie machte ihm immer noch zu schaffen, doch plötzlich war er nebensächlich im Vergleich zu dem eisigen Verdacht, es könnte sich eine Katastrophe ereignet haben. Taizu ging um die Weiden herum zum Ufer und kletterte auf den Deich. Er folgte ihr langsamer, denn er spürte die Steigung in seinem Knie, er glitt auf dem Gras aus und sah den Schein heller und heller werden, bis er die Anhöhe erreicht hatte und das Rot sah, dem der helle Rand eines nahen Feuers fehlte. Nicht Richtung Ygotai. _In_ Ygotai. Kein brennender Heuschober. Etwas Größeres, Bedrohlicheres. "Es liegt in der Stadt", meinte Taizu. "Komm", sagte er. "Wenn wir rüber wollen, dann sollten wir es jetzt versuchen." Sie folgte ihm den Abhang hinunter und durch die Weiden hindurch zu der Stelle, wo die Pferde standen. Sie führten die Pferde über die steile Böschung auf den Deich hinauf und saßen auf, die Gesichter dem Feuerschein zugewandt. Taizu stellte keine lauten Überlegungen an. Er ebenfalls nicht. Doch er trieb die Pferde zu schnellerer Gangart an, als er es sonst getan hätte, da er meinte, daß das Feuer, auch wenn es sich nur um einen Unfall handelte, um ein Kochfeuer, das auf ein Haus übergriffen hatte, dennoch die Soldaten anlocken konnte, die der Richter erwähnt hatte; und wenn sie früh genug dort eintrafen, konnten sie in dem Tumult vielleicht unbemerkt die Brücke erreichen und diese überqueren, solange die Stadt noch beschäftigt war. Abgesehen von dem Unglück, das es für den Eigentümer bedeuten mochte, war es für sie eine Gelegenheit, die sie nicht ungenutzt verstreichen lassen durften. Er fürchtete jedoch etwas anderes. Er fürchtete sich vor etwas schwer Greifbarem - vor Aufruhr und Vögeln... Je weiter sie ritten, desto heller wurde der Feuerschein, desto beißender der Rauch, bis am Horizont ein heller Streifen auftauchte und ihnen endgültig klar wurde, daß da mehr brannte als nur ein Haus oder eine Scheune. "Es muß die ganze Stadt sein", sagte Taizu. "Die ganze _Stadt_ brennt." Er dachte an einen Unfall. Er dachte an die bevorstehende Durchquerung des Orts. Und an die Brücke, die eine schmale Brücke war, und an den Weg, den alle, welche die Provinz nach Süden verlassen wollten, einschlagen mußten - wenn sie kein Boot hatten. Vielleicht sollten sie die Pferde aufgeben und versuchen, irgendwo am Flußufer Ygotais ein Boot zu stehlen. Sie könnten den Hoi überqueren und nur mit ihrer Rüstung und ihren Waffen nach Hoisan gehen. Jiro und die Stute aufgeben, in der Hoffnung, daß sie den Fallen, die man zwei Reitern gestellt hatte, entgingen... Was sein mußte, mußte eben sein, verdammt noch mal. Der alte Bursche würde hoffentlich den Weg zu den Stuten des Richters finden und keinen Söldnern in die Hände fallen. "Da sind Boote", sagte Taizu. Mehre Boote fuhren übers dunkle Wasser. Je weiter sie kamen, desto mehr wurden es, bis sie ebenen Boden erreicht hatten und Bäume zwischen sie und den Fluß traten. Vor ihnen waren Menschen, unberitten, ungepanzert, Menschen mit Körben und Bündeln, auf der Flucht vor dem Alptraum aus Feuer und beißendem Rauch. Als er um eine Kurve bog und sich plötzlich den Marschierenden gegenübersah, zügelte Shoka sein Pferd, und die Stute tänzelte unter Taizus Hand nervös vor und wieder zurück. "Das sind Stadtbewohner", sagte Taizu. "Auf der Flucht vor dem Feuer." Es war schlimmer, als Shoka gedacht hatte. Viel schlimmer. Das Feuer hatte Häuser und Scheunen erfaßt. Seine böse Vorahnung wurde zur Gewißheit. Diese _verfluchte_ Stute. _Esist unsere Schuld. Das ist unser Werk_. "Los", sagte er und ritt langsam vor. Die Menschen stoben vor ihnen auseinander, drängten sich zwischen die Bäume, schrieen und weinten. _Das waren die Soldaten_, hörte er rufen. _Das waren die Soldaten_. Und als sie in die Stadt kamen, sahen sie Männer vor den brennenden Häusern vorbeireiten; auf der Straße lagen Tote, bleiche Flecken auf dem feuererhellten Boden. _Das waren die Soldaten_. "Zur Hölle mit ihnen", sagte Taizu in einem heiseren, dämonischen Ton. "_Zur Hölle mit ihnen_!" Er zügelte Jiro, hob den Helm hoch, der bis jetzt nutzlos an sein Knie geschlagen war, setzte ihn auf und band ihn ordentlich fest, und Taizu tat es ihm nach. "Zur Brücke", erinnerte er sie schroff. Er zog sein Schwert und ließ Jiro gemächlich vorwärtsgehen, die Stute an seiner Seite. Die Klinge von Taizus Schwert wurde rasselnd aus der Scheide gezogen. "Los geht's, Mädchen!" Schneller jetzt, in gestrecktem Galopp, die ganze Nacht verengte sich auf den schmalen Ausblick durch die Vorderseite seines Helms: Feuer, Rauchwolken, eine hell leuchtende brennende Scheune, der dunkle Umriß eines verlassenen Wagens... Während sie an der linken Straßenseite entlangritten, warf er einen Blick nach rechts und konnte ihn aus dieser Richtung deutlich erkennen. "Meister Shoka!" Vor ihnen waren Reiter. Kaltblütig schätzte er ihr Tempo ab, das ihrer Pferde und das Jiros. Und das Taizus. "_Ha-ii_!" schrie er und versetzte Jiro einen Tritt, der dem alten Burschen wohlbekannt war. Jiro machte einen Satz nach vorn, und Shoka hieb wild um sich, warf einen, zwei, drei Männer aus dem Sattel, ehe einer an ihm vorbeikam. Nicht weit. Er hörte Taizu schreien. Vier, fünf, dann hatte Taizu ihn eingeholt, und sie brachen zum Flußufer durch. Es gab keine Boote dort, abgesehen von einem, das brannte und dessen Feuerschein aufs Wasser fiel: in seinem Licht konnten sie die vor ihnen liegende Straße erkennen. Und einen Trupp Fußsoldaten, der eine Barrikade bewachte. Er ließ Jiro scharf nach rechts schwenken, begleitet von einem Warnschrei: er hatte die Bogen nicht _gesehen_, doch er _wußte_, daß sie da waren - er riß Taizu mit sich, als sie gerade die Stute herumlenkte; und sie ritten weiter die unbefestigte Straße entlang, vorbei an brennenden Häusern. Vier Reiter vor ihnen. Er gab Jiro abermals die Hacken und schrie Taizu zu: "_Wir brechen durch! Bleib bei mir_!" Er warf zwei Männer aus dem Sattel, ohne merklich langsamer zu werden. Er schwenkte zu einem dritten herum und entfernte ihn von Taizus Rücken. "Nimm die Pferde!" brüllte er und drängte ein reiterloses Pferd gegen die Wand, doch das Pferd und Jiro kamen sich gegenseitig in die Quere, ein Zusammenstoß mit gebleckten Zähnen, der sie wertvolle Zeit kosten würde. Er ließ es stehen. "_Vergiß es_!" schrie er Taizu zu. "_Nichts wie weg_!" Sie hatte sich ein Pferd geschnappt. Bei dem Versuch, es festzuhalten, wurde sie beinahe aus dem Sattel geworfen, das Tier sträubte sich heftig und riß sich los. "Macht nichts!" schrie er ihr zu, und die Stute machte einen Satz nach vorn, als Jiro an ihr vorbeischoß. "Wohin reiten wir?" schrie Taizu. "Wohin reiten wir?" "Wenn ich das wüßte!" brüllte er zurück. "Über die Brücke schaffen wir's nicht. Weg von hier!" Vor ihnen standen Wagen auf der finsteren Straße. Als sie näher kamen, liefen Menschen davon weg. Ein Wagen wurde von Soldaten geplündert. "Bleib mit dem verdammten Pferd zurück", sagte Shoka zu Taizu und ritt den Soldaten allein entgegen. "Was macht ihr da?" fragte er sie. Und tötete sie beide. Als Taizu ihn einholte, erwartete er sie leidlich ruhig, ein wenig benommen, mit den Gedanken bei den Bogenschützen auf der Brücke, der zerstörten Stadt. "Wir können nach Westen gehen", sagte er. "Am Yan entlang. Richtung Dai, bis nach Muigan und dann den Fluß nach Süden überqueren." "Einverstanden", sagte sie mit dünner Stimme. Und dann krächzte sie: "Es tut mir leid wegen dem Pferd. Tut mir wirklich leid. Ich konnte es nicht festhalten." "Das war nicht deine Schuld", sagte er, ganz ruhig, ganz vernünftig. "Es war meine. Den besten Dienst erweisen wir diesen Leuten, wenn wir Hoishi möglichst weit hinter uns lassen. Und zwar möglichst auffällig." Einen Moment lang schwieg sie. Ihr Gesicht war eingerahmt von den metallenen Wangenplatten des Helms, der den fernen Feuerschein reflektierte. Kein Protest, keine Widerrede. Nur dieser ernste, großäugige Blick. Und ein Schniefen und ein diskretes Schneuzen. "Wahrscheinlich ist es gar nicht so schlecht, wenn du das Pferd behältst", sagte er. "Wir erregen möglichst viel Aufsehen. Wir versuchen hier rauszukommen. Ich gehe nicht wieder nach Mon zurück. Wir reiten geradewegs zur Grenze, und dann drüber." Er lenkte Jiros Kopf zur Straße, setzte ihn in Bewegung. "Wir schonen die Pferde für den Augenblick, in dem wir flüchten müssen. Und das wird uns nicht erspart bleiben." Es waren keine Soldaten mehr auf der Straße, nur Bauern aus Ygotai und weiß der Himmel woher noch - Menschen, die beim Anblick von Reitern ihr Hab und Gut aufgaben, es an den Straßenrand warfen oder ihre Handwagen stehenließen und flohen, ihre Kinder hinter sich herziehend oder sie tragend. Manche versteckten sich ganz in der Nähe der Straße, alte Leute vielleicht, außer sich vor Angst. Es dauerte jedoch nicht lange, und sie hatten all diese Flüchtlinge hinter sich gelassen, und vor ihnen lag die freie Straße, die durch flaches, unberührtes Land führte. Sie befanden sich auf der Straße nach Keido, vermutete Shoka. Im Westen waren Hügel, das würde die Verfolgung erschweren und ihnen eine Chance bieten - solange ihre Pferde gesund blieben: das war seine größte Sorge, und aus eben diesem Grund wollte er sich solange wie möglich an die befestigte Straße halten, solange sie auf die Hügel zuführte. Sie ritten in gemächlichem Tempo, ließen die Pferde ausruhen, wenn sie müde waren, und Shoka schätzte, daß sie nur eine minimale Entfernung zwischen sich und den Ärger legten, der von Ygotai nach Keido strömte. "Morgen wird ein schwerer Tag", sagte er, als Taizu sich darüber beklagte, daß sie zu oft rasteten. "Ruh dich jetzt aus." Er ließ sich neben ihr niedersinken, Jiros Zügel in der Hand, und stellte fest, daß sein Bauch leer war und schmerzte. "Wir machen es schon richtig. Keine Sorge." Sie hat Angst, dachte er, neben ihr im Dunkeln sitzend. Es war nicht leicht, Taizu in Angst zu versetzen, aber heute wurde sie mit einer Menge alter Erinnerungen konfrontiert. Er sehnte sich nach dem Tageslicht, das er zugleich fürchtete; und sah es nahen, als die Sterne verblaßten. "Schlaf", sagte er. "Kannst du?" Ein Seufzen neben ihm im Dunkeln. Sie lehnte sich an ihn, begleitet vom Knirschen ihrer beider Rüstungen, und sie legte den Arm um ihn. Kurz darauf erschlaffte sie, und er lehnte sich gegen die Böschung zurück, ins Gras, und versuchte, nicht seinerseits einzuschlafen oder die Pferde aus den Augen zu verlieren, die aufgezäumt grasten, während er die Zügel um die Hand geschlungen hatte. Es wäre so verdammt einfach gewesen. Und er war wirklich ein Narr, dachte er: die Jungen hielten viel mehr aus. Doch er wußte, wie man im Sattel schlief. Wenn sie ausgeruht war, konnte sie eine Weile aufpassen, während er ein Nickerchen machte. Sie konnten die Straße am Morgen verlassen und den Weg quer durch das felsige Hochland abkürzen - wobei sie Spuren hinterlassen würden, o ja, dank der noch nicht lange zurückliegenden Regenfälle, doch er _wollte_, daß man sie bemerkte, wenn auch nicht aus der Nähe; er vertraute darauf, daß die Bauern, die sich vor ihnen versteckt hatten, sie jedem beschreiben würden, der sich nach ihnen erkundigte. So würden sie ihre Verfolger von Mon ablenken. Hoffentlich. Irgendwann rührte er sich und stieß Taizu an. "Tut mir leid. Wir können nicht länger bleiben." Es dämmerte schon - graue Bäume und Steine traten hervor, im Osten war ein roter Saum, der nicht vom brennenden Ygotai stammte. Taizu bewegte sich und blickte umher. "Wie lange?" fragte sie. "Wie lange?" "Schon gut. Wir haben immer noch einen Vorsprung." Das sagte er so. Doch als er Jiros Zaumzeug überprüfte und in den Sattel stieg: "Verdammt noch mal." "Was ist?" fragte Taizu. "Reiter", sagte er. Da waren sie, drei von ihnen waren auf der vor ihnen liegenden Hügelkuppe zu sehen. Taizu saß hastig auf und sah sie nun auch. "Was machen wir jetzt?" Er wußte es nicht genau. Er betrachtete das Land vor ihnen, das unwirtliche Land zu beiden Seiten. Er setzte Jiro in Bewegung, in der eigenartigen, unirdischen Stille, wie sie Feindseligkeiten vorausging, zwei Parteien, die zu nahe beieinander kampiert hatten. Er wünschte, Taizu wäre nicht bei ihm gewesen. Er wünschte... Er war sich nicht sicher. Weitere Reiter kamen über die Anhöhe. Zwanzig, dreißig waren es inzwischen. "Gütiger Himmel", flüsterte Taizu. Er ritt jedoch weiter, und sie ebenso, ruhig und langsam. Die Straße nach Keido, dachte er. Fürst Reidis Heimat. Eine Stadt in Hoishi war von Söldnern niedergebrannt worden, und über die Straße, die nach Keido führte, näherte sich eine Armee. Das schien plausibel: der Fürst wollte wissen, was vor sich ging. Weniger einsichtig war, warum die Stadt überhaupt gebrannt hatte. Sie stellte einen gut Teil der Einkünfte von Fürst Reidi. "Ich habe keine Ahnung, was das bedeutet", sagte er. Im trüben grauen Licht konnte er die Fahnen sehen. Das Weiß war am auffälligsten. Wenn das tatsächlich Fürst Reidis Männer waren, dann mußte es sich um eine schwarze Lilie auf weißem Grund handeln; und das Weiß reichte dafür aus. "Taizu." "Ich gehe nirgendwohin, wo Ihr nicht hingeht." "Ruhig. Ganz ruhig. _Wessen_ Söldner waren das gestern? Was meinst du?" Eine Pause. "Ich weiß nicht." "Die Bauern ziehen Richtung Keido." Taizu überlegte kurz. "Wahrscheinlich ziehen sie in alle möglichen Richtungen. Aber wo sie es für sicher halten..." "Ich möchte, daß du etwas für mich tust. Bleib einfach auf der Straße stehen. Ich möchte ihnen einen Waffenstillstand anbieten." "Nein." "Sei still und tu, was ich dir sage. Einer von uns. Einer von ihnen. Wenn sie etwas anderes tun, dann kehre ich gleich wieder um. Bleib einfach mitten auf der Straße stehen und warte. Hast du mich verstanden?" "Das gefällt mir nicht. Machen wir, daß wir von der Straße wegkommen. Gütiger Himmel, da sind ja noch _mehr_..." Hinter der Vorhut waren weitere Reihen aufgetaucht. Es handelte sich um vorrückende Kavallerie. "Bleib hier", sagte er. "Mach schon. Du kannst deinen Bogen spannen - für alle Fälle. Aber nicht zu auffällig." Sie hielt an. Er tippte Jiro mit den Hacken an, und Jiro holte tief Luft und sammelte sich. Er zügelte ihn, zog sein Schwert und legte es sich quer über den Sattel. Dann langsame Annäherung. Er gelangte zu einer Stelle, die für beide Seiten in Schußweite der Bogen lag/hielt an und wartete. _*15*_ Fürst Saukendar", sagte Reidi, und sein runzliges Gesicht - das sich in all den Jahren gar nicht so sehr verändert hatte - verriet die Besorgnis, die man von einem Mann bei einer solchen Begegnung erwarten konnte. Nachdem sein Gefolgsmann ihm gemeldet hatte, um wen es sich handelte, kam er trotz seines Alters ohne Leibwache vorgeritten, während seine Gefolgsleute die Soldaten auf der Hügelkuppe rasten ließen. "Fürst Reidi", sagte Shoka und verneigte sich im Sattel. "Ich weiß Euer Entgegenkommen zu schätzen." "Euch geht es um mehr als um den Austausch bloßer Höflichkeiten, edler Herr." "Um freies Geleit. Um Eure Erlaubnis, unbehelligt weiterzuziehen. Vielleicht um Euren Rat." "Was für ein Rat sollte das sein?" "Was geht in Hoishi vor?" Shoka ruckte mit dem Kopf in die Richtung von Ygotai. "Welcher Wahnsinn regiert im Moment in Chiyaden?" Reidi starrte ihn an, als hätte er den Verstand verloren. "Ich sehe, ich habe eine dumme Frage gestellt", sagte Shoka. "Ist das meine Schuld?" "Mir liegt ein Bericht aus Mon vor. Ein weiterer von einem Richter - hinsichtlich eines Pferdes. Unglücklicherweise bin ich nicht der einzige, der davon erfahren hat. Es spricht sich bereits herum. Die Nachricht verbreitet sich nach Norden. Die Soldaten des Regenten haben Eure Spur verfolgt. Und offenbar haben sie _mich_ als Euren Verbündeten angegriffen." Shoka stieß den Atem aus. "Ihr wart ein guter Nachbar, Fürst. Ich wollte Euch keinen Ärger bereiten. Jetzt sieht es so aus, als hätte ich Schlimmeres angerichtet, als meine Gesellschaft Euch wert sein mag. Was ist mit den anderen Fürsten? Was ist mit Hainan und Taiyi?" "_Was ist mit meiner Stadt_, Herr? Was ist in Ygotai passiert?" "Jemand hat Feuer gelegt. Jemand hat zahlreiche Menschen getötet. Wer entkommen ist, befindet sich auf der Flucht. Ich weiß nicht, wer die Stadt in Brand gesteckt hat. Als ich das Feuer sah, bin ich hindurchgeritten - zusammen mit meiner Frau..." "Frau!" Fürst Reidi blickte ihm über die Schulter, den Mund verkniffen wie eine alte Schildkröte, ein Funkeln in den Augen. "Was tut Ihr uns an?" "Meine Frau hegt einen Groll gegen Fürst Gitu. Von Hua her. Verwandte. Ich habe mit einem ruhigeren Ritt gerechnet, nachts, über Nebenstraßen - ich wollte die Angelegenheit bereinigen, und dann nichts wie weg, ohne Hoishi Ärger zu bereiten. Bedauerlicherweise scheine ich mich geirrt zu haben. Darum bitte ich Euch nun um Rat - und ich biete Euch meine Hilfe an - wenn ich das irgendwie wiedergutmachen kann." "Ihr wißt nichts", sagte Reidi und schüttelte den Kopf. "Mein Fürst, das stimmt." Leise und ruhig. Vernünftig, während sein Herz wie verrückt pochte und er sich am liebsten bewegt hätte. "Würdet Ihr es mir erklären?" Reidi stützte sich auf den Sattel auf und seufzte. "Der Kaiser, Fürst Saukendar. Der Kaiser - und der Regent. Erscheint es Euch einsichtig, daß eine Regentschaft bis ins dreißigste Lebensjahr des Kaiser fortbesteht?" "Nein, Fürst." "Uns auch nicht. Den wenigsten von uns. Wir waren bereit, diese Bedenken vorzubringen - als Fürst Gitu über Yijang und Hua herfiel. Die uns wahrscheinlich beide unterstützt hätten. Eure... Frau... hat Euch nichts davon erzählt?" "Erzählt Ihr es mir." Fürst Reidi hob eine Braue, was die Neuanordnung einer Unzahl von Falten bedeutete. "Ich vertraue auf Eure Redlichkeit." "Das könnt Ihr, mein Fürst. Ich verlasse mich auf die Eure." Es entstand ein langes Schweigen. Reidis Pferd bewegte sich unter ihm. Das war alles. Dann sagte Reidi: "Gitu hat in den letzten zwei Jahren Tausende von Söldnern angeheuert - aus der kaiserlichen Schatztruhe. Aus Fittha und Oghin, während wir für ihre Interessen an der Grenze kämpfen. Während sie uns unsere jungen Männer wegnehmen, damit sie in der kaiserlichen Armee dienen. Und es gibt keinen Kaiser, um den man sich scharen könnte. Ghita hat sein letztes bißchen Verstand unterhöhlt. Ghitas Mörder haben Meigin gefangengenommen..." "Verdammt." Reidi starrte ihn wieder mit einem Auge an. "_Warum_ seid Ihr zurückgekommen?" "Alter schützt vor Torheit nicht." "In welcher Hinsicht, Fürst Saukendar?" "Vielleicht in der, daß ich mir Hoffnungen mache, etwas könne hier anders werden." "Es _gibt_ keinen Kaiser." "Tot?" "In der Tat. Es gab eine Möglichkeit. Wir wollten ihn auf den Thron bringen... Sein dreißigster Geburtstag schien die passende Gelegenheit zu sein..." "Hua. Vor zwei Jahren." "Hua und Yijang. Das im selben Monat Gitus Söldnern in die Hände fiel. Andernorts kam es zu Attentaten. Seitens gedungener Mörder. Söldnerbanden reisten unter kaiserlichem Befehl. Unter dem _Siegel_ des Kaisers und dem Befehl des Regenten. Was können wir dagegen tun? Wie sollen wir es verhindern - solange jeder zur Führerschaft befähigte Fürst verhaftet oder ermordet wird, solange man uns unsere Männer raubt, selbst Halbwüchsige von den Feldern - geht zu Saukendar, meinten einige. Geht zu Saukendar. Sie haben mich _gedrängt_, nach Euch zu schicken. Diesmal muß er auf uns hören, sagten sie. Aber wenn ich es getan hätte... und Ghita hätte es erfahren... versteht Ihr..." Reidi zuckte unbehaglich die Schultern. Sein Pferd bewegte sich wieder. "Ich habe nicht wirklich damit gerechnet, daß Ihr kommen würdet. Den Dörflern gegenüber habt Ihr angedeutet... daß Ihr nichts hören wolltet. Daß Ihr Euch jedem derartigen Ansinnen verweigern würdet..." "Ihr habt mich also beobachtet." "Es ist mein Dorf - wie der Regent mir immer wieder klargemacht hat, während er mir gleichzeitig mit dem Tod drohte für den Fall, daß Ihr den Berg verlassen wurdet. Natürlich habe ich von Eurem Aufbruch erfahren. Als ich erfuhr, daß Ihr Mon verlassen hattet, versuchte ich Euch einen Boten zu schicken. Ich nehme an, es hat Euch keiner erreicht." "Sie kamen zu spät, falls sie überhaupt durchgekommen sind. Eine Botschaft welchen Inhalts?" "Eure Absichten betreffend. Hat _Kaijeng_ Euch einen Boten geschickt?" _Hatte er das_? Auf einmal wurde ihm kalt ums Herz. _Taizu_? _Verdammt noch mal, nein_! "Seine Tochter?" fragte Reidi. "Nein, habe ich gesagt. Was habt Ihr von mir erwartet - daß ich Mon verlasse?" "Ich würde sagen - Fürst Saukendar -, daß wir Euch brauchen. Wir _glaubten_, Ihr wüßtet das. Wir glaubten, Ihr würdet zurückkommen und gegen Ghita und seine Partisanen kämpfen." Ihm war kalt, bis auf die Knochen. "Es gibt Männer, die bereit sind, Euch zu folgen, Fürst Saukendar. Es gibt Männer, die dafür ihr Leben aufs Spiel gesetzt haben... Wir kannten die Stunde nicht. Wir haben nur geglaubt. Nun seid Ihr zurückgekehrt, und wir haben einen Anführer, dem die übrigen Fürsten folgen werden..." Er ritt gemächlich zu Taizu zurück, deren Gesicht... Himmel, Reidis Vermutung konnte unmöglich wahr sein. Nicht bei diesem Blick, diesem verwirrten, besorgten Blick, mit dem sie ihn betrachtete, als er vor ihr anhielt. "Was haben sie gewollt, Meister Shoka?" "Sie wollen, daß ich ihnen helfe", sagte er. "Es scheint so, als hätte sich in dem Moment, als wir die Grenze überquert haben, das Gerücht nach Norden ausgebreitet, ich wäre zu irgendeiner Verschwörung _hinzugerufen_ worden, um einen Angriff auf die Hauptstadt zu leiten. Die mit Gitus Truppen bemannten örtlichen Garnisonen schwärmten aus, um mich abzufangen; inzwischen kann das Gerücht mittels Vögeln bei Ghita angelangt sein..." Vor seinem geistigen Auge sah er Blut und Gift: Ghitas Mörder: den Becher in Meiyas Hand. Ein mit Toten übersätes Chiyaden, die letzten Freunde, die ihm noch geblieben waren. Eine Art Taubheit ergriff seinen ganzen Körper "...und wenn das stimmt, dann liegen inzwischen Ghitas Befehle vor, die Garde geht gegen jeden vor, der gegen die Regierung eingestellt sein könnte - gegen Reidi und ein paar andere Fürsten - sie werden kämpfen. Sie haben sich schon viel zu sehr kompromittiert, um unschuldig zu erscheinen. Das ist das Problem. Sie wollen, daß ich nach Cheng'di gehe; und ich will, daß du - bitte, bitte hör mir zu: ich möchte, daß du nach Keido gehst und dort bleibst." "Nein." "Mädchen, wir haben es hier nicht mit Banditen aus Hoisan zu tun, sondern mit kaiserlichen Truppen, das bedeutet eine vollkommen andere Art von Kampf. Du wirst deine Chance schon noch bekommen, wenn das zu Ende ist. Aber nicht jetzt. Bitte, geh nach Keido. Fürst Reidis Frau wird sich..." "Nein." "Ich bitte dich darum. Du kannst dort von Nutzen sein." Sie schüttelte den Kopf. "Nein. Das habt Ihr selbst mir beigebracht." Sie hob den Kopf, die Zähne fest zusammengebissen. Er dachte: _Wenn sie nicht bei mir ist, dann folgt sie mir unterwegs auf den Fersen_... "Was habe ich dir beigebracht?" "_Ehrgefühl_, Meister Shoka." "Wann habe ich dich denn auf diese närrische Idee gebracht?" Ihr Kinn zitterte und beruhigte sich wieder. "Ihr wolltet _mich_ nicht alleinlassen. Jetzt wollt Ihr nicht mehr von Fürst Reidis Seite weichen und ihn allein gegen die Soldaten kämpfen lassen. So ist das." Sein Gedächtnis malte ihm grausige Szenen aus, furchtbare Todesarten. Er versuchte sie zu verdrängen. Aber er brauchte sich erst gar keine Hoffnung zu machen, sie werde so vernünftig sein, nach Keido zu gehen; im Grunde war er sogar dankbar dafür, daß sie nicht davon sprach, Gitu selbständig überfallen zu wollen. "Dann mußt du mir zuhören", sagte er, um ihr zuvorzukommen. "Taizu, ich bitte dich - überrasch mich nicht. Mach dich nicht auf eigene Faust an Gitu heran. Das kommt später. Ich vertraue dir. Von den Leuten, für die ich kämpfe, kann ich das nicht behaupten." Sie schien verwirrt und besorgt. Um so besser. "Sie werden mich auffressen", sagte er. Anders als einen riesigen Drachen vermochte er sie sich nicht vorzustellen. Sie wollten Saukendar; Saukendar würde sie retten; Saukendar war ihnen alles schuldig. Saukendar war alles, was sie wollten. Er war es immer schon gewesen. Shoka hatte den größten Teil seines Lebens im Bauch des Drachens verbracht. Jetzt wollte ihn der Drache wiederhaben, und nur das Mädchen hätte ihn davor bewahren können, indem es sagte: "Das ist Unsinn, Meister Shoka. Ihr seid ein Narr, Meister Shoka." Der Körper, der Saukendar war, konnte noch lange weiterkämpfen, nachdem Shoka verschwunden war: da war er zuversichtlich; Shoka jedoch konnte mit ihr gehen, Shoka hatte keinen anderen Grund zum Leben mehr; und Shoka war bereit, sie nein sagen zu hören und wegzugehen, ohne daß sie wußte, wen sie da mitnahm - das junge Mädchen, das sie war, und das den Mann nicht verstand, der, abgesehen von einigen Jahren des Friedens, niemals gelebt hatte. "Was meint Ihr damit?" fragte sie ihn. Es klang zu verrückt. Darum sagte er: "Bleib einfach bei mir." "Heißt das wieder - daß ich Euch heiraten soll?" "Nein", sagte er. "Es ist etwas anderes. - Außerdem dachte ich, du hättest es schon getan." Sie biß sich auf die Lippen. "Ich habe es getan, und ich gehe mit Euch. Ihr könnt Euch von mir trennen, wenn wir Cheng'di erreichen. Bis dahin werden Euch die Damen in Chiyaden nicht helfen können." "Wer redet denn von Trennung? Es war schon schwer genug, deine Zustimmung zu bekommen!" "Denkt an meine Worte." Sie biß die Zähne zusammen. Muskeln traten hervor und ließen ihr Kinn ungewohnt zerbrechlich erscheinen. "Wenn Ihr in Cheng'di seid, denkt daran." "Dann hältst du verdammt wenig von mir", sagte er. "Ich bin keine Dame!" "_Zum Teufel mit den Damen_!" zischte er in gedämpftem Ton. "Zum Teufel mit Saukendar, Frau. Tu mir das nicht an! Tu mir das um Himmels willen nicht an!"Sie starrte ihn mit großen, beleidigten Augen an. Reidi hatte sie für Kaijengs Boten gehalten. _Eine Verschwörung, um mich über die Grenze zurückzuholen und wieder in ihre Pläne zu verwickeln_? Der Gedanke ließ ihn kalt. Doch die Wunde, die sie entstellte, war wirklich. Ihre Wut war wirklich. Alles, was sie wußte, und alles, was sie tat, war wirklich. Er schwankte am Rande eines unermeßlichen Dunkels, und Taizu mit ihrem verwirrten, verletzten Blick - war der Faden, an dem sein Leben hing. In diesem Augenblick meinte sie, er habe den Verstand verloren, und war ziemlich wütend auf ihn. Gut, dachte er. _Gut für dich, Mädchen_. Als es vollständig hell geworden war, erreichten sie die ersten Flüchtlinge aus Ygotai, und diesmal, als die Leute die Fahne ihres Fürsten sahen, als sie begriffen, daß die müden, von der Reise erschöpften Reiter in seiner Begleitung Saukendar und seine Frau waren, war es anders. Shoka vernahm ihr Gemurmel, sah die Veränderung in den Augen der Leute, bemerkte den Respekt, den sie ihm entgegenbrachten. _Arme Narren_, dachte er. _Eure Häuser sind verbrannt; eure Nachbarn meinetwegen ermordet. Seht mich verdammt noch mal nicht so an_... Mit einiger Anstrengung ließen sich die Blicke jedoch ignorieren, man konnte sie an den Rand des Gesichtskreises drängen, man vermochte die alte Frau zu ertragen, die Jiro zu Tode erschreckte, als sie ihn anzufassen versuchte, und die irgendwelches Zeug über den alten Kaiser brabbelte und wie es früher einmal gewesen war und daß sie wüßte, daß Saukendar alles wieder in Ordnung bringen würde. Man konnte seine Sicht verschwimmen lassen und sein Herz verschließen und es ertragen, wenn es einem auch in der Seele weh tat. In Ygotai wurden sie dafür entschädigt, inmitten von verbrannten Balken und Schutt, der einmal eine blühende Stadt gewesen war. Sie entdeckten eine kleine Gruppe von Söldnern, womit Shoka gerechnet hatte: er hatte bereits dreißig von Reidis Männern in weitem Bogen um die Stadt herumgeschickt, um einen Hinterhalt zu legen, während er und Taizu mit Reidi und seinen restlichen hundert Soldaten durch die Stadt zu der Deichstraße ritten, welche die Garnison an der Brücke verbarrikadiert hatte. Es war erstaunlich einfach. Sie ließen die Söldner über die Hauptstraße aus der Stadt entweichen und jagten sie bis zum Hinterhalt an der Straße, wo sie einen Leichtverletzten hatten; und der eine Söldner, der im Begriff war zu entkommen, stürzte von einem Pfeil getroffen vom Deich. "Gut", sagte Shoka kalt und gelassen. "Das verschafft uns etwas Luft, bevor sich die Neuigkeiten herumsprechen. Fürst, Ihr sagtet, Ihr wolltet nach Norden; seid Ihr bereit, jetzt, in dieser Stunde, aufzubrechen?" Reidi wirkte grau. Sein weißes Haar wehte ihm in Strähnen um den Kopf. Das alles schien mehr, als er erwartet hatte. Doch er schöpfte wieder Atem und nickte. "Ja. Meine Frau... mit unserem Beförderungssystem... Wir können die anderen benachrichtigen. Die Vögel... wir züchten sie, wißt Ihr. Tauschen sie untereinander aus. So war es geplant. Wenn der Tag gekommen ist... wollten wir die Vögel freilassen... damit sie zu jedem hinfliegen." Sie nahmen die wenigen Pferde der Söldner zum Wechseln - einen guten walnußbraunen Wallach, um Jiro zu entlasten, und einen anderen Braunen als Ersatz für Taizus weißbeinige Stute. An der Fähre über den Chisei erwartete Shoka Ärger. Darum nahmen sie nicht nur die Pferde mit, sondern auch die Rüstungen und Habseligkeiten der getöteten Söldner, und als sie über die Straße zum Chisei gelangten, erblickten sie nicht Fürst Reidis Soldaten, sondern ihn persönlich in Begleitung seiner fünf besten Männer auf den Rücken von Söldnerpferden und in voller Ausrüstung sowie weitere fünfzehn Unberittene. "Du gehst nicht", sagte er kategorisch zu Taizu, als diese die Lippen spitzte und ihn anfunkelte. "Du bist nun mal zu _klein_, Mädchen, du bist zu auffällig, also halt den Mund und nimm Befehle an wie jeder andere in dieser Truppe." Daraufhin besserte sich ihr Verhalten. Und er führte den walnußbraunen Wallach zum Fluß hinunter, wo Fürst Reidis Männer die seilbetriebene Fähre über den Fluß zurückzogen. Man brauchte nicht lange zu überlegen, warum keine Fährleute anwesend waren. Wenn sie vernünftig gewesen waren, hatten sie das Weite gesucht; wenn sie Pech gehabt hatten, waren sie tot; und wenn am anderen Ufer keine Söldner waren, dann besaß der Feind keinen Verstand. Es ging langsam voran: die Männer, die Infanterie spielten, zogen am Seil, Shoka und die beiden anderen berittenen Hauptmänner beruhigten die Pferde. Sie konnten sich denken, warum die Fähre am anderen Ufer gelegen hatte und wie es den Bauern ergangen war, die nach Taiyi hatten fliehen wollen. Das Ufer war flach, von der Landestelle führte eine unbefestigte Straße hinauf; dahinter waren Büsche, eine kleine Ansammlung von Baumschößlingen - gelbe Erde, bleiches Gras, ein feiner Nebel, an dem nicht das Herbstwetter schuld war. Hinter dem Chisei lag das Herzland, dessen Ausleger Hoishi, Hoisan und Mendang waren. Pan'yei. Der Schoß des Himmels. Und die Luft war erfüllt von Brandgeruch. Keine schöne Heimkehr, dachte Shoka und schwang sich in den Sattel, als der Bug der Fähre ans Ufer stieß. Der Wallach rührte sich nicht vom Fleck. Shoka trat ihn fest in die Flanken, und das Pferd stieg hoch, stürmte mit polternden Hufen über die Planken nach vorn in den Schlamm. Die Böschung hoch, das war das mindeste, was man von einem energischen Mann erwarten konnte. Er sah die Söldner aus dem Gebüsch hervorkommen und ihm den Weg abschneiden; die Bogen hielten sie gesenkt und zögerten, sie abzuschießen. Das war ihr Fehler. Es dauerte eine Weile, hundert Männer und ebenso viele Pferde über den Fluß überzusetzen. Shoka legte seine geborgte Rüstung ab und setzte sich in den Schatten eines größeren Baums, während Jiro und die Stute mit geschlossenen Augen ausruhten und sogar aufs Grasen verzichteten. Ebensowenig interessierte er sich für das Essen, das Taizu ihm aufdrängte; doch er schluckte es hinunter und murmelte: "Ich bin geschafft, Mädchen", dann streckte er sich auf dem kalten Boden lang aus, mehr wollte er nicht. Vor allem pochte ihm der Schädel, das Bein tat ihm weh, und wenn er die Augen schloß, sah er Blut, schreckliche Dinge. Aber er wußte, wo er war. Sie war da, sie sagte ihm, daß sie nicht einschlafen würde, und solange sie im Hellen wachte, war er in Sicherheit und kannte den Rückweg in die Welt. Taizu, die mit dem Schwert zwischen den Knien döste, Taizu in ihrem seltsamen Lederpanzer, mit den Schleifen im Haar. Solange er sie vor Augen hatte, sah er nicht das Blut, und die Dunkelheit hielt sich von ihm fern. "Verschwinde", hatte sie einen von Reidis Männern angeschrieen, der ihn irgendwas hatte fragen wollen."Er hat seit gestern nicht mehr geschlafen, laß ihn in Ruhe!" Wer immer _es_ war und was immer er wollte, er wartete und würde weiter warten, dachte er, solange er an diesem dunklen Ort wandelte. Da waren Schatten. Er kämpfte mit ihnen. Der alte Kaiser war da. _Mein Sohn ist ein Narr_, sagte der alte Mann. _Das hat Euch alle Welt gesagt_, meinte er geduldig und respektlos. Er stolzierte ohne sich zu verabschieden aus der gewaltigen Halle hinaus. Aus irgendeinem Grund stellten sich ihm die Wachen nicht in den Weg. Er suchte nach seinem Vater, anscheinend schon seit langer Zeit, und ihm wurde immer bänglicher zumute. _Ich muß dir etwas zeigen_, würde er sagen. Doch als er meinte, er habe seinen Vater im Hof sitzend gefunden, verschwand sein Vater, und vor ihm befand sich eine schattenhafte Armee, und die Sonne schien ihm in die Augen. Und Taizu hockte vor ihm und sagte: "Meister Shoka. Meister Shoka. Ihr müßt jetzt aufwachen. Fürst Reidi meint, es sei Zeit." Er blinzelte sie an, beschattete seine Augen mit dem Arm und wußte einen Moment lang nicht, ob er wach war oder träumte, und empfand Besorgnis wegen der Männer - wie viele waren es? -, die auf ihn warteten. Wo? Wie lange schon? Wann? Sein Herz hämmerte, während er die Gegenwart von der Vergangenheit zu trennen und sich zu erinnern versuchte, ob er irgend etwas versprochen hatte, etwas, das ihm unbedingt wieder einfallen mußte. Doch es war nur Taizu, die sich zwischen ihm und der Sonne bewegte und ihm eine dampfende Schale Tee entgegenhielt. Er rappelte sich hoch, lehnte sich mit dem Rücken an den Baum, nahm mit zitternder Hand die Schale und trank. Während er geschlafen hatte, war der Schatten weitergewandert. Er blinzelte und versuchte sich darüber klarzuwerden, wo er sich befand, sah Fürst Reidi auf sie zukommen, die in ihrer Nähe lagernden Männer, die angepflockten Pferde. "Fürst Saukendar", sagte Reidi, am Rand des Sonnenscheins stehend, ein Schatten vor dem blendenden Licht. "Verzeiht mir, aber wir befinden uns hier in einer prekären Lage... hundert Männer... hier am Fluß... Die Söldner..." Der Kopf tat ihm weh. Er blinzelte, versuchte Reidi wenigstens die Höflichkeit zu erweisen, daß er ihn anschaute. Ein ängstlicher alter Mann. Ein alter Mann, der alles riskierte, indem er sich in eine Lage begab, der er sein Leben lang ausgewichen war. Shoka verspürte keinerlei Angst, er wünschte nur, er hätte etwas anderes empfunden als nur Erschöpfung, oder etwas anderes wäre ihm ebenso wichtig gewesen wie der Wunsch, noch eine Stunde stillzuliegen, oder der Wunsch, Reidi möge eine Handbreit zur Seite treten und die Sonne abschirmen. Er machte eine Bewegung mit der Hand. Reidi trat etwas zu Seite, verwirrt von dem profanen Ansinnen, und Shoka ließ seinen Arm herabfallen und lehnte den Kopf an den Baum. "Es wird uns nichts passieren", sagte er. "Ruht eine Weile aus, geht nach Choedri, hofft, daß Fürst Kegi zu Hause geblieben ist..." "Wir wissen nicht, wo sich die Söldner aufhalten", sagte Reidi. "Fürst Shoka, wir haben den Fluß nicht überquert, um nun mit dem Rücken zum Wasser dazusitzen..." Ein Soldat wie aus dem Lehrbuch. "Männer und Pferde brauchen eine Ruhepause, Fürst." Seine Stimme war heiser und brach, aber er hatte seinen Standpunkt klargemacht, fand er, wenn der alte Mann in seiner wachsenden Panik anderen Argumenten überhaupt noch zugänglich war. "Wir haben Deckung, sie wissen nicht, daß wir hier sind - wir sind bloß die Wache, die sie hier zurückgelassen haben. Laßt sie nur kommen. Wir ziehen im Dunkeln weiter." Das war nicht das, was Reidi hören wollte. Er stand da, biß sich auf die Lippen und sagte schließlich: "Wir sind hundert Männer, Fürst Saukendar." "Ihr habt gesagt, nach Choedri werden wir mehr sein." "Ich weiß es nicht. Wenn wir nach Keido zurückgegangen wären, wenn wir Ygotai besetzt hätten..." ..._wären meine Ländereien und meine Familie jetzt in Sicherheit, ich befände mich auf heimischem Boden_... "...würden sich die anderen um uns scharen..." "Und den Chisei zur Frontlinie machen." Wieder brach seine Stimme. "Näher bei Cheng'di wäre sie mir lieber. Aber werden sich die anderen Fürsten uns überhaupt anschließen? Die Offiziere aus der Armee? Werden die ausgehobenen Truppen für uns kämpfen - oder für den Regenten? Wenn Ihr daran irgendwelchen Zweifel hegt, Fürst Reidi, begeben wir uns am besten nach Süden und bleiben in Bewegung." "Während unser Land zugrunde geht." Shoka schloß die Augen. "Wir werden aufbrechen, Fürst, aber bei unserer Stärke ist es im Dunkeln besser. Wenn jemand übersetzen möchte, können ein paar Eurer Männer dabei behilflich sein und sich unter die Leute mischen. Es besteht kein Grund, irgendwelches Aufsehen zu erregen. Wenn sie jemand benachrichtigen sollte, kommen sie vielleicht nachsehen. Laßt einen Mann dort auf diesen Baum steigen. Gebt ihm einen Umhang, damit er nicht so auffällt, und laßt ihn die Straße beobachten. Ich werde eine Weile schlafen, und meine Frau desgleichen. Ich rate Euch und Euren Männern, es ebenso zu machen und Euch dabei abzuwechseln. Teilt die Ängstlichen als Wachposten ein. Die können sowieso nicht schlafen." So wie er ihn ansah, gehörte Fürst Reidi offenbar zu den Letzteren, dachte Shoka. "Wenn es dunkel wird", sagte Shoka, und Reidi verneigte sich knapp und entfernte sich. "Du solltest besser schlafen", sagte Shoka daraufhin zu Taizu; und Taizu kam und setzte sich zu ihm und kuschelte sich wortlos an ihn. Das arme Mädchen, dachte er. Er berührte ihre Wange. Es war die Seite mit der Narbe. Er lehnte seine Wange an ihren Scheitel, spürte, wie sie den Arm um ihn legte. Als er die Augen schloß, sah er die Hütte vor sich. Sah sie im Morgenlicht, in diesem verdammten übergroßen Hemd, wie sie mit dem Wassereimer den Hügel hochgestapft kam... "Fürst!" flüsterte jemand, und Shoka wechselte vom Schlaf ins Zwielicht über, Taizu war wach, und der Mann sagte etwas von Reitern, die zurückkämen. "Wie viele?" fauchte er. "Fünf, sechs..." "Dann kümmert euch um sie, verdammt noch mal!" Er rieb sich die Augen und kniete sich hin. "Verflucht, wo ist mein Panzer!" Es rutschte ihm einfach so heraus. "Hier ist er, Meister Shoka." Taizu, auf allen vieren. Während Pferde näher kamen und Männer an ihnen vorbeiritten. Und Bogensehnen sirrten, eine, zwei, ein Dutzend. Leiber stürzten zu Boden. Shoka tastete nach seinem Schwert. Doch es war schon vorbei. Reidis Männer fingen die Pferde ein. Shoka rappelte sich hoch und ging zu den verstreuten Körpern, stupste einen mit dem Fuß an. Mitten durch den Hals. Dieser Mann würde nicht mehr reden. Ebensowenig wie die anderen. Vermutlich waren Fürst Reidis Männer jetzt, wo sie sich als so tüchtig erwiesen hatten, in Hochstimmung. Wenigstens war keiner von ihnen entkommen. Manchmal wurde ihm von einem solchen Anblick übel. Im Moment war er noch schlaftrunken und wünschte, er wäre nicht so rasch aufgestanden und könnte um einen warmen Schluck bitten, ohne daß es unschicklich erschienen wäre. "Schon gut, schon gut", sagte er zu einem nervösen Fürsten Reidi. "Von denen hat keiner Krach geschlagen." _Krach geschlagen, gütiger Himmel. Ich will nach Hause, das ist alles. Ich will zum Berg, ich will, daß Taizu, ich und Jiro morgen dort in Sicherheit sind_. _Warum dann nicht gleich nach den Sternen greifen_? _Verdammt noch mal, ich will meine eigene Veranda und meinen Bach und die Aussicht aus der Tür_... Er ging zurück, setzte sich hin und legte die Schienbeinschützer an, diesmal seine eigenen, die ihm paßten, nicht die Ausrüstung des Söldners - während ihm Fürst Reidi folgte und von der Notwendigkeit plapperte, endlich aufzubrechen, von seiner Angst entdeckt zu werden, vom Risiko, das sie eingingen. _Ja, Fürst, nein, Fürst, zum Teufel mit Euch, wenn Ihr immer noch nicht wißt, wofür Ihr Euch entschieden habt_. "Schickt ein paar der Jüngeren los", sagte Shoka, "wenn Aussicht besteht, daß sie es schaffen. Zum Teufel mit den Tauben. Laßt sie die Neuigkeit verbreiten, wie es am wirkungsvollsten ist, nämlich persönlich, damit man Fragen stellen und Zusicherungen geben kann, und hoffen wir, daß Eure Verbündeten zu ihrem Versprechen stehen." Fürst Reidi tat, wie ihm geheißen. Er verknotete die Schnüre und legte den Armschutz an. Beim Körperschutz war ihm Taizu behilflich. Kein Wort von ihr, keine Klagen, nur ein grimmiges, verbissenes Schweigen. Er packte sie beim Arm und sagte dicht an ihrem Ohr: "Alles in Ordnung mit dir, Mädchen?" "Mir geht's gut." In gepreßtem Ton, zwischen den Zähnen hindurch. Er legte den Arm um sie, drückte sie einen Moment lang an sich, voller Sorge um sie und um sich. "Plant Euren Rückzug", flüsterte sie ihm ins Ohr. "_Plant Euren Rückzug_, ist das richtig?" "Ein verdammt guter Rat. Ein besserer könnte mir auch nicht einfallen. Ich wünschte nur, wir hätten genug Männer, um einen Trupp hierzulassen." _Also Geschwindigkeit... Geschwindigkeit und Lautlosigkeit anstelle von Soldaten_... Als es dunkel geworden war, waren sie wieder unterwegs, dank der Söldner mit einer reichlichen Anzahl von Ersatzpferden versehen. Keine Ruhepausen, hatte Shoka angeordnet. Die Handvoll junger Burschen, die Reidi ausgewählt hatte, waren mit Shokas Instruktionen im Ohr vor einer halben Stunde vorausgeritten, jedoch keiner nach Choedri. "Wir werden die Nachricht selbst überbringen", sagte Shoka. _*16*_ Die Sterne verblaßten, und der östliche Himmel verdunkelte sich über den flachen Hügeln, als sie die Furt am Tei erreichten: "Das Unangenehme an Straßen und Flüssen ist", flüsterte Shoka Taizu im Reiten zu, "daß die Straßen zu Furten führen, und daß der Feind einen an den Furten finden kann. Ich glaube nicht, daß wir zweimal Glück haben." "Es wird schon klappen", meinte Taizu. "Es gibt keinen Grund, warum es diesmal schiefgehen sollte." Das hoffte er auch. Insgeheim setzte er große Hoffnung auf die Handvoll junger Reiter, die über die Flußstraße nach Jendei in Hainan, nach Maijun in Feiyan und zu den Fürsten von Sengu, Medang und Taiyi sowie nach Mandi in Chaighin unterwegs waren. Drei von ihnen ritten zügig in diese Richtung, ein anderer eilte zurück nach Keido, um Reidis Gattin Aio über die aktuelle Lage zu unterrichten, damit sie mit ihren Vögeln zusätzlich Nachricht aussandte, einmal zu gewissen Freunden in Mura und Hua sowie nach Kiang im Norden, das am äußersten Rand des Kaiserreichs lag. Das alles gleich mehrfach, mit der Aufforderung, die Nachricht weiterzuverbreiten, denn es gab keine Garantie, daß eine einfache Botschaft durchkam, sei es nun per Pferd oder durch die Luft. Selbst wenn sie sonst zu nichts taugten - die jungen Burschen würden bei ihrem Ritt über die Nebenstraßen den Feind vielleicht davon überzeugen, daß zwei Flüchtende zu Pferd eine von einem halben Dutzend Richtungen eingeschlagen haben konnten; während ein großer, lärmender Trupp bunt zusammengewürfelter Reiter, der geradewegs über die Hauptstraßen ritt, womöglich fälschlicherweise für einen Söldnerhaufen gehalten wurde. Sie mußten in Bewegung bleiben, rasch vorrücken und dem Feind zu denken geben, während ihre Lage sich stündlich ändern konnte. Die Pferde bis zum Äußersten beanspruchen, dann allesamt die Pferde wechseln, die leichten gegen die schweren Reiter austauschen, ein Stück zu Fuß gehen und abkühlen, Atem schöpfen und wieder weiter... Er und Taizu tauschten am häufigsten, um Jiros willen, so daß der alte Bursche den größten Teil der Nacht über nur sein Sattelzeug zu tragen brauchte, aber schließlich hatte er auch den weitesten Weg hinter sich und war der älteste. Natürlich ritt er auch dann nicht den alten Burschen, als sie zur Furt gelangten, in bauchtiefem Wasser hindurchwateten und auf matschigem Boden das von Bäumen gesäumte andere Ufer erklommen. "Wer ist da?" rief ihnen von oben jemand aus dem Dunkel entgegen. "Aghi", flüsterte Taizu ihm zu, und er rief: "_Aghi_!" ohne zu wissen, ob dieser Name in der weiten Schöpfung überhaupt vorkam. "_Neue Söldner aus Hoisan! Wer seid Ihr_?" Für den Fall, daß jemand von ihnen Antworten wollte, die sie nicht geben konnten. Eine lange Pause. Dann rief der Posten herunter: "_Einer soll hochkommen. Zu Fuß_!" "_Und wer seid Ihr_?" "_Nicht_!" flüsterte Taizu ihm zu. "_Geht nicht dort rauf_." Als die Antwort erfolgte: "_Sachi_." "Gibt es diesen Namen?" fragte er Taizu. "Geht nicht dort rauf!" "Sei still. Wenn du auch nur in die Nähe der Kolonnenspitze kommst, dann setzt es was. - _Ist gut, ich komme_." Er stieg ab, reichte die Zügel Reidis Hauptmann und sagte: "Wenn Ihr mich rufen hört, kommt schnell wie der Blitz das Ufer hoch." Er ließ den Hauptmann mit den Zügeln in der Hand stehen, als wäre er sein Bediensteter: es blieb jedoch Zeit für eine kurze Unterhaltung. "_Wieso dauert das so lange_?" "_Ich komme hoch_." Jetzt spürte er, daß sein Herz rascher schlug. Noch keine Angst, die Dinge um ihn herum bekamen nur schärfere Konturen, Erinnerungen an diese Straße vor zehn Jahren, an ihren Verlauf, wenn er sie nicht mit ähnlichen Straßen verwechselte, wenn die Überschwemmungen und die Zeit sie nicht verändert hatten: eine Biegung erst nach rechts und dann nach links, und die Bäume dort oben. Er ging sie entlang, fand die Biegungen, an die er sich erinnerte, einen gewundener Anstieg unter den Bäumen. Bogenschützen, dachte er und hoffte, daß Taizu ihm glaubte. Vor sich machte er schattenhafte Gestalten aus, ein schwaches metallisches Glänzen. "Wer war vor Aghi euer Hauptmann?" "_Ich_ bin der Hauptmann dieses Trupps. Und _verdammt will ich sein_, wenn ich hier im Dunkeln stehen und Scherzfragen beantworten soll. Ich habe meine Befehle, ich habe meinen Paß, und du solltest deinen besser griffbereit halten und deinen Mund hüten, mein Sohn, _ich bin nämlich übermüdet und sitze schon zu verdammt lange im Sattel, um mich mit irgendeinem untergeordneten Dienstgrad abzugeben, der irgendwelche Spielchen mit mir spielen will_!" Er hörte, wie der Trupp den Abhang hochzuklettern begann. Er bemerkte die Verwirrung unter den Gestalten vor ihm, hörte den wachhabenden Offizier fluchen und einen Schritt zurücktreten... Er war bereits in Bewegung, rollte über den blätterbedeckten Boden, während Pfeile zischten; die Hände auf dem Schwertgriff, und schon kam die Klinge mit weichem Schwung aus der Scheide, während er sich aufrichtete und zu dem einzigen Ort vorstürmte, auf den die Bogenschützen nicht zielen würden - geradewegs auf ihre Offiziere zu, eins, zwei, drei, ein Kopf flog weg, ein Mann war kampfunfähig, und der dritte versetzte ihm zwei, drei Schläge, ehe er den Fehler machte, zurückzuweichen und über eine Baumwurzel zu stolpern. Shoka wollte einen Gefangenen. Für diesen blieb keine Zeit, solange Pfeile umherflogen und der Trupp beim Aufstieg beschossen wurde. Er trieb das Schwert durch eine Lücke in der Deckung des Mannes, traf ihn am Arm, am Hals: er war tot, noch ehe die Körperteile den Boden berührten. Pferde gingen durch, kamen krachend den Weg herauf, durchs Gebüsch, liefen kreuz und quer, während sich Bogensehnen dumpf entspannten, Metall gegen Metall schlug und Schreie ertönten - Schreie und ein schrilles Gebrüll, das er gut kannte. Er sprang ins Gebüsch und legte sich flach auf den Boden, denn die Hauptgefahr ging im Moment von seiner eigenen Seite aus. "Herr?" hörte er jemanden fragen, eine weibliche Stimme; darum antwortete er mit einem Pfiff, rappelte sich hoch und vernahm ein Geräusch in seiner Nähe; jemand, der durchs Gebüsch davonlief. "Packt ihn!" schrie er und hörte, wie sich ein Reiter an die Verfolgung machte, eine dunkle Gestalt, die unmittelbar an ihm vorbei durchs Gebüsch stürmte und dem Flüchtenden nachsetzte. Wer es auch war, er stieg ab und rannte dem Krach hinterher. "Taizu!" brüllte er, und aus dem Umkreis der Pferde wurde geantwortet: "Hier bin ich!" Dann fiel ihm ein, daß sie ein Pferd an der Leine mit sich führte - den Göttern sei Dank war es nicht Taizu, die durchs Gebüsch brach. Er gelangte wieder ins Freie, hörte jemanden stürzen, jedoch kein anderes Geräusch. Die weißbeinige Stute war sogar im Dunkeln auszumachen. Er fand Taizu, und Jiro war bei ihr. "Seid Ihr verletzt?" fragte Taizu. "Alles in Ordnung", sagte er und nahm ihr Jiros Zügel ab. Auf einmal wurde es still im Gebüsch, dort, wo ihr Mann gewesen war, und sie wußten, daß er es jetzt schlauer anfing und sich still verhielt, um zu lauschen, oder daß sie einen Mann verloren hatten. Beidesmal hatten sie jemanden entkommen lassen, der zu seinen Vorgesetzten laufen und Alarm schlagen würde. Er pfiff, das Signal für Reidis Männer, sich wieder zu sammeln - es war zu riskant und zeitraubend, im Dickicht einen Gegner zu verfolgen, der besser war als seine Kameraden; sie konnten nur gewinnen, wenn sie eine möglichst große Entfernung zwischen sich und das Söldnerlager brachten, wo immer es lag. Ein Pferd wieherte im Dunkeln, hinter dem Wald. "_Dort_ sind sie", sagte jemand. Ins Dunkel rennen, womöglich in einen Hinterhalt geraten, wo sie bereits einen Mann aus unbekannten Gründen verloren hatten? Verdammt. "Das hier war eine Art Kurier", sagte jemand, als er eine elfenbeinerne Spange aus der Tasche eines der Gefallenen zog. "Wenigstens eine Nachricht, die nicht durchkommt", sagte Shoka und schwang sich in Jiros Sattel. "Aber einer ist entkommen. Los. Wir haben jetzt keine Zeit, uns darum zu kümmern. Machen wir, daß wir wegkommen!" "Pei ist noch nicht zurück, Herr!" "Womöglich _kommt_ Pei nicht mehr! Das ist Peis Problem! Wir haben keine Ahnung, was dieser Mann anrichten kann. Brechen wir auf! Sofort!" "Fürst", protestierte Reidi unnachgiebig. "Das ist eben der _Krieg_, Fürst! - Los, Taizu, komm!" "Nicht so eilig!" sagte Reidi, während die Pferde durcheinanderwogten und seine Männer, die abgesessen waren, um die Toten zu durchsuchen, ohne seinen Befehl aufsaßen. "Einer meiner Männer ist..." "_Tot_, Fürst Reidi, oder er holt uns von selber ein! Kommt Ihr mit? Hört Ihr auf meinen Rat? Oder nicht?" "Verdammt noch mal..." "Kommt Ihr nun, Fürst?" "Schon gut", grollte der alte Mann. "Schon gut..." Shoka gab Jiro die Hacken, und Jiro stürmte in gestrecktem Galopp über die Straße; Taizu auf der weißbeinigen Stute war unmittelbar hinter ihm, und der ganze Trupp folgte. "Duck dich!" schrie er Taizu zu, als sie aus der Deckung der Bäume ins Freie gelangten. Vor ihnen lag jedoch nur das offene Land und ein erster roter Streifen am Horizont zu ihrer Rechten. Der Mann, den sie zurückgelassen hatten, holte sie nicht ein. Als sie zu einer langsameren Gangart überwechselten, ritt Shoka dicht an Fürst Reidi heran und sagte: "Gehen wir vom Schlimmsten aus. Mein Beileid und mein Bedauern, Fürst, wegen Eures Mannes, aber er hat nicht auf mein Signal reagiert, und wie es aussieht, liegt unser Schicksal in den Händen der Götter - ich würde mich allerdings lieber auf etwas Greifbareres verlassen." "Die Götter sind uns wohlgesonnen", erklärte Reidi kärglich. Wirre Religiosität. Er befand sich wieder in Chiyaden. Er verkniff sich eine beißende Bemerkung und sagte: "Das hoffe ich, Fürst, aber ich stelle ihren guten Willen nicht auf die Probe, indem ich mich in die Büsche schlage, solange sie uns die Straße anbieten, die wir brauchen, Fürst... Sie _nehmen_ sich ihre Opfer, und sie bitten uns, weiterzumachen..." _Frommer_ Blödsinn,_ alter Mann, man verliert Männer, das ist alles, und man gibt einen Befehl und hofft, daß derjenige, der loszieht, weiß, was er tut_, _Fürst, oder man verliert ihn_... _Wir haben keine Zeit. Keine Zeit_. Während die Sonne im bewölkten Osten aufging und die Pferde sich vorankämpften. Und auf dem Hügel tauchte ein Trupp Reiter auf. Im gleichen Augenblick, als er sie entdeckte, ertönten Warnschreie, und Männer zügelten ihre Pferde und brachten die Kolonne in Unordnung. "Ruhig, verdammt noch mal", sagte er; und vor allen anderen war Taizu an seiner Seite. "Du reitest zurück", sagte er. "Halte dich an den Bogen, in der hintersten Reihe. Du bist zu leicht." "Das sind Fahnen, mein Gemahl! Das da oben sind Fahnen, das ist ein Fürstenbanner!" Er sah es ebenfalls. Er hatte gehört, was sie zu ihm gesagt hatte. Sein Herz pochte im Rhythmus von Jiros Schritten. Ein weißes Bild auf rotem Grund; Blau mit Gold. Das Rot von Feiyan. Das Blau von Hainan. "Hoch die Fahnen!" befahl Reidi, und Shoka widersprach nicht. Das Schwarz und Weiß von Hoishi wurde hervorgeholt, entfaltete sich und flatterte im Wind. "Saukendar, mein Fürst", sagte Maijun von Feiyan, als sie sich gegenübertraten, umgeben von ihren Reitern und den flatternden und knatternden Fahnen. "Reidi, mein Fürst", unter Verneigungen und anderen Ehrbezeigungen seitens des korpulenten Lintai von Hainan, des Sohnes des alten Jendei. "Mein Vater wäre selbst gekommen", sagte Lintai, "wenn er noch reiten könnte. Hinter uns", erklärte er schüchtern, "sind vierhundert Männer, unberitten. Leicht bewaffnet. Sie kommen nach. Wir sind Euren Boten unterwegs begegnet. Wir waren bereits aufgebrochen. Sie sind weiter nach Yiungei." "Mögen die Götter mit ihnen sein", sagte Reidi fromm. "Brave Burschen." Vertrau lieber der Geschwindigkeit der Vögel, dachte Shoka: es war tatsächlich eine gute Nachricht, daß die Vögel überhaupt zwei Provinzen hatten mobilisieren können. Daß die Reiter nach Norden unterwegs waren, war ein weiterer Hoffnungsschimmer. Doch es war nicht genug. Fünfhundert Schwerberittene bei Maijun, vierhundert bei Lintai, vielleicht drei-, vierhundert Bauern irgendwo hinter ihnen, und mitten in der allgemeinen Hochstimmung der drei Fürsten und der Soldaten dachte Shoka: _Nicht genug, um die kaiserliche Garde zu schlagen, zu viele, um mobil zu sein_. _Genug, um sich nach Süden zu den Rücken freizuhalten und den Osten wachzurütteln, wenn sie Befehle annehmen_. Vernunft war noch nie Maijuns Stärke gewesen: Maijun aus Feiyan gehörte der Generation an, die er kannte; ein Mann, dessen Denken einzig und allein darum kreiste, seinen einmal gefaßten Entschluß zu rechtfertigen. Doch der Zeitpunkt war günstig, die Wogen der Begeisterung schlugen hoch, er hatte Maijuns Aufmerksamkeit, und Shoka sagte: "Edle Herren, Ihr hättet in keinem günstigeren Moment kommen können. Ich weiß nicht, wie es hinter uns aussieht, aber wir haben dort für einige Aufregung gesorgt. Ich werde mit einer kleinen Streitmacht weiterziehen - auf die _Geschwindigkeit_ und den Überraschungseffekt kommt es an, edle Herren, damit wir den Hisei überqueren, ehe sie wissen, wo wir sind -, die aussieht wie einer der Söldnerhaufen, und ihre Abwehrlinien direkt durchstoßen, wir die Schneide der Axt, mit Euch in unserem Rücken - als ob wir eine ihrer eigenen Gruppen wären, die sich vor Eurem Vormarsch zurückzieht, mit Staub und Getöse und allem, was dazugehört." "Gefährlich, Fürst Saukendar!" sagte Maijun von Feiyan. "So droht Euch Gefahr von unseren eigenen Partisanen wie von der Garde..." "Wir können nicht länger warten. Hoffen wir, daß diese Partisanen _dort_ sein werden, Fürsten." "Das werden sie, Fürst Saukendar. Die Befehle sind ausgegeben. Sie werden antworten." _Hoffentlich antworten sie. Das gefällt mir nicht. Ich habe mich noch_ nie _auf die Einschätzungen eines anderen verlassen. Ich bin noch_ nie _blind in etwas hineingestolpert. Verdammt, ich habe ein komisches Gefühl dabei. Aber Abwarten wäre schlimmer._ "Dann wollen wir annehmen, daß der Weg vor uns frei ist. Wer immer uns folgen kann." "Wenn Euch die Leute _sehen_, Fürst, wenn Ihr mehr als ein Gerücht für sie seid - die Leute müssen Euch _sehen_..." "Sagt Ihnen, _Ihr_ habt mich gesehen. Sagt ihnen, daß ich geradewegs über die Straße ziehe...", er deutete in Richtung Choedri, "...und daß sie genügend Hinweise finden werden, wo ich gewesen bin. Wenn sie sich beeilen, werden sie ihren Vorteil daraus ziehen. Wenn wir _schnell_ genug sind, meine Herren, können wir sie daran hindern, ihre Pläne neu zu überdenken, ehe wir sie an der Gurgel packen; bis dahin müssen Euer leichtbewaffnetes Fußvolk und die schwere Kavallerie dort sein. Wir befinden uns bereits in ihrem Umkreis. Wenn wir jetzt langsamer werden, können uns Ghitas Mietlinge einholen und von allen Seiten angreifen. Wenn wir nordwärts bis zum Hisei vorstoßen können, dann befinden wir uns in meiner _eigenen_ Provinz, die wir aus der Reserve locken können, außerdem sind da die Fürsten im Norden und die Truppen in Kiang; wenn wir die gewinnen, dann können wir den Regenten in die Zange nehmen. Er wird sich hinter den Chaighin zurückziehen, wenn wir ihm nicht die Zeit lassen, sich am Hisei zu organisieren. Geschwindigkeit, meine Herren, und Flexibilität. Im Augenblick sind wir ausreichend mobil, um dort einzufallen und wieder herauszukommen, falls er seine Verteidigung zu schnell aufbaut: das ist alles, worauf wir uns verlassen können. Aber es ist wichtig, daß Ihr in einem Tempo nachkommt, das Eure Infanterie nicht ermüdet. Wenn Ihr uns einen Gefallen tun wollt, dann wechselt uns ein paar unserer schwächeren Pferde aus." Zustimmung oder Ablehnung dieser Fürsten standen auf des Messers Schneide. Maijuns Blick wanderte zu Reidi, zur ganzen Versammlung und verweilte mit einem sonderbaren Ausdruck auf Taizu, ehe er wieder ihn ansah. "Tauben", sagte Maijun. "Des Kaisers eigene Vögel. Schneller als jedes Pferd, Fürst Saukendar. Wenn die Soldaten des Kaisers welche dabeihaben..." "Darauf würde ich wetten. Doch das bedeutet immer noch ein, kleineres Risiko, als wenn wir zu weit südlich in Kämpfe verwickelt würden, wo sich die Fürsten im Norden womöglich nicht zum Eingreifen gedrängt fühlen. Jeder Verbündete, den wir in diese Richtung hinzugewinnen, liegt ihnen viel mehr am Herzen, meine Herren, und solange sie nicht wissen, daß es sich bei dem Aufstand nicht bloß um Gerüchte handelt, werden sie sich ihm auch nicht anschließen. Die Leute sollen mich sehen, sie sollen _uns_ sehen, edle Herren, sie sollen den Regenten zurückweichen sehen, sie sollen sehen, wie wir ihn zur Hauptstadt treiben, so muß es kommen, oder wir werden verdammt einsam sein, umzingelt von Ghitas angeworbenen Truppen, und unsere Köpfe werden auf dem Block landen, meine Herren, Eure und meiner. Fürst Reidi, bis hierher war es ein schwerer Ritt; jetzt haben wir Unterstützung, ich würde nicht schlecht von Euch denken, wenn Ihr das Reiten Jüngeren überlassen und Euch diesen Herren anschließen würdet - das ist nicht ungefährlicher, aber ein ganzes Stück weniger anstrengend." Der alte Mann biß die Zähne zusammen. "Es geht mir gut, Fürst Saukendar." Shoka nickte; einerseits war er erleichtert, andererseits dachte er: _Ich hab's versucht. Armer, tapferer Narr_. "Dann sollten wir jetzt aufbrechen." Ehe jemand anfangen konnte, darüber zu diskutieren, die Götter seien ihnen gnädig; und ehe die Fürsten Einwände erheben und anfangen konnten, sich Gedanken zu machen, die Götter seien ihnen doppelt gnädig. "Können wir die Pferde haben?" fragte Shoka. "Ja, Fürst", sagte Maijun. "Habt Dank." Er verneigte sich vor den Fürsten, trat zwischen die Soldaten und sortierte die schlechtesten Pferde aus. "Das hier", sagte er bei einem Pferd, das hustete, "der Fuchs dort", bei einem, von dem er wußte, daß es immer hinterherlief. Er wollte die Großzügigkeit der Fürsten nicht überstrapazieren, indem er ihnen zuviel Ausschuß überließ, doch er wählte achtzehn Pferde aus, die Probleme hatten, und tauschte sie bei Maijuns Soldaten mit tiefer Dankbarkeit ein. Jiro jedoch behielt er; außerdem Taizus Stute: sie war gesund, und zum Teufel mit der auffälligen Zeichnung, sie wußte, worauf es in der Schlacht ankam, der alte Richter hatte die Wahrheit gesagt - kein Scheuen und kein Bocken, und das war mehr, als er von den Ersatzpferden erwarten konnte. Schließlich nahm er Taizu Jiros Zügel ab und saß auf, während es ihm die übrigen Männer nachtaten. Doch als ihm die Fürsten entgegentraten und sich deren Soldaten mit Fahnen und allem hinter ihnen versammelten, bemerkte er eine Besorgnis in ihren Blicken, die ihn die Zähne zusammenbeißen ließ. Als sich die beiden Kolonnen jedoch gegenüberstanden, Reidi und seine Männer und er, bemerkte er, daß sie nicht ihn anschauten, sondern die Gefährtin an seiner Seite. Eine Frau unter Waffen. Verständlich, daß sie das beunruhigte. Verständlich, daß sie zweimal hinsahen und sich fragten, ob das tatsächlich eine Frau war oder nur ein allzu weibischer Junge... Oder sie hatten schon von ihr gehört. Von Reidis Leuten, dachte Shoka und sagte unterwürfig: "Taizu, edle Herren. Meine Frau." Immer noch besorgte Blicke, die zwischen ihnen hin und her wanderten. Und respektvolle Verneigungen seitens der Fürsten und Geflüster unter den Soldaten. "Wir haben schon von ihr gehört", sagte Lintai allzu rasch, und Maijun biß die Zähne zusammen, mit größerer Diskretion, und verneigte sich. "Meine Dame." Bei dieser Anrede zuckte Shoka zusammen; und ihm wurde noch unbehaglicher zumute, als er die Zeichen der Soldaten beim Vorbeireiten sah, wie sie ihre Amulette berührten und die verstohlenen Blicke, die sie ihr zuwarfen. "Mach nicht so ein finsteres Gesicht", flüsterte er ihr zu, als die Fürsten außer Hörweite waren. "Lächle, verdammt noch mal." Sie lächelte. Sie wandte den Kopf, lächelte gezwungen, zeigte ihre Zähne und nickte den Vorbeireitenden zu, als beide Kolonnen sich in Bewegung setzten. Als sie sich wieder umwandte, funkelte sie ihn an. "Es ist von Mon bis hierher gedrungen!" "Sie haben es von Reidis Männern erfahren! Guck nicht so finster!" "Sagt ihnen, daß ich aus Hua bin!" "Ich hab's Reidi schon mal gesagt! Ich hätte es ihm noch mal sagen können. Würde das etwas ändern? Hat es bis jetzt etwas ausgemacht? - Fürst Reidi meinte, du wärst Kaijengs Tochter... Du wärst gekommen, um mich zum Kampf zu überreden..." "_Das ist eine Lüge_!" Ihr Flüstern war fast nicht zu hören. Sie sah aus, als wollte sie sich auf ihn stürzen. Ihre Entrüstung löste zumindest einige Knoten, die ihm, wie ihm jetzt bewußt wurde, zu schaffen gemacht hatten. "Glaubt Ihr das auch?" "Nein. Ich habe sogar aufgehört, deine Daumen zu untersuchen, wenn wir zusammen schlafen." "Das ist nicht komisch, verdammt noch mal!" Das war es auch nicht. Es war keineswegs harmlos, für sie beide nicht. Lange schwieg er, während sie dahinritten, während Reidis Männer ihre Fahnen zusammenrollten und wieder zu Söldnern wurden. "Du bist meine Frau. Dafür mußt du einen Preis bezahlen. Du sagst, warte, bis wir in Cheng'di sind, dann ändere ich vielleicht meine Meinung. Ich sage... daß du meine Frau bist, und bei den Göttern, ich wünschte, ich könnte alles wieder ungeschehen machen, ich wünschte, ich wäre nicht darauf gekommen..." "Worauf?" fragte sie nach kurzem Schweigen. "...das Gerücht _benutzen_ zu wollen. Ein bißchen Verwirrung zu stiften, es so aufzubauschen, daß niemand es glauben würde, daß der Hof es nicht ernst nehmen würde - oder daß uns irgendwelche Feinde bis nach Hause folgen würden, falls sie es glaubten - zur Hölle mit ihnen." "Dann sagt Ihnen eben die Wahrheit!" "Das _habe_ ich, glaub's mir. _Du_ kannst ihnen die Wahrheit sagen, aber es wird dir nichts nützen. Nichts kann die Leute davon abhalten, zu glauben, was sie glauben wollen." Er blickte in ihr entrüstetes Gesicht, das vor Aufrichtigkeit überquoll, und verspürte einen Stich ums Herz, "Ich bin ein Idiot. Ich dachte, du wüßtest das. Du hast es mir oft genug gesagt." "Das ist nicht komisch, Meister Shoka!" "Ich scherze nicht. Ich weiß, was das heißt. _Verdammt noch mal_, ich weiß, was das heißt." Er sah sie weggehen - sah sie ihn verlassen, selbst wenn sie überlebten... um sich zu retten; und selbst das würde zu neuen Gerüchten führen; und er würde zurückbleiben und wünschen, er wäre tot; vor Gram vergehen wie die verdammten Narren in den Balladen, aus denen er sich nichts machte. Doch auch ein lebendiges Herz konnte brechen, nach so viel Erlebtem und so langer Zeit. Er biß die Zähne zusammen und starrte auf die vor ihnen wogenden Hügel, die immer weiter nach Choedri hinunterführten - an dem sie schon bald und rasch vorbeireiten würden: Saukendars Gedanken, kälteste Vernunft, die Shoka-dem-Mann sagte, daß das, was er wollte und sich erhoffte, keinen Platz hatte in der Welt, und daß jetzt gewiß nicht die Zeit war für seine Sorgen. Die Gerüchte waren eine Waffe, er benutzte sogar Taizu, er umgab sich mit Angst, er schüchterte die Fürsten ein, weil sie sich irrten und er recht hatte, und es gab keinen anderen Weg als seinen, Saukendar kannte keinen Zweifel, keine Angst, kein Bedauern wegen der Dinge, die er tat. Außer wenn er das Mädchen an seiner Seite demütig sagen hörte: "Meister Shoka?" Er sah sie nicht an. Es tat zu sehr weh. "Herr? - Wie soll ich Euch anreden? Nichts paßt so richtig." "Ganz wie du willst", sagte er zu barsch. Seine Grobheit meldete sich wieder zu Wort. Außerdem überlegte er, kühl und distanziert, wie es wäre, wenn er vor Reidi und dessen Männern weinte, ob _dies_ ihr Vertrauen erschüttern würde. Doch die Kälte hielt ihn fest und würde ihn nicht loslassen. Nicht jetzt, flüsterte sie ihm zu, wo es um Menschen ging. (_Stirb, verdammt noch mal, und sie werden sagen, daß uns ein Dämon geleitet hat_...) Taizu blieb sehr lange stumm. Männer kamen in ihre Nähe. Sie hatten nicht die Ruhe, um miteinander zu reden. Doch als sie abermals die Pferde wechselten, tauchte sie neben ihm auf und berührte ihn am Arm. "Es tut mir leid", sagte sie. "Leid?" Er war verwirrt. "Weswegen, um Himmels willen?" Er verwirrte sie ebenfalls. Das merkte er. _Wir können in einer Stunde tot sein. Sie ist ein Kind. Ein Mädchen. Was hat sie hier eigentlich verloren? Warum habe ich sie nicht aufgehalten_? "Habe ich irgend etwas getan, was ich nicht tun sollte?" Um sie herum saßen Männer auf. "Stimmt das?" Es ging ihm zu Herzen. "Du solltest nicht hier sein", sagte er. Und es fiel ihm wieder ein, daß es für sie als Saukendars Frau keine Sicherheit gab. Nirgendwo. Niemals. "Verdammt." "_Was habe ich falsch gemacht_?" "Es ist meine Schuld." "Es ist _nicht_ Eure Schuld." Sie versuchte zu flüstern, dennoch schnappte ihre Stimme über. "Verdammt noch mal, Ihr seid nicht verantwortlich für mich, niemand ist verantwortlich für mich außer mir selbst. Was habe ich getan?" Er schaute sie an, ging das Gesagte Satz für Satz durch. Sie hätten wieder auf der Veranda sein können. Bei ihrer Hütte. Vor einem Jahr. Aus irgendeinem Grund spürte er, daß er sein Gleichgewicht wiedergewann, genau im Schwerpunkt. "Nichts", sagte er und nahm ihr Jiros Zügel ab. "Überhaupt nichts. Ich habe schon viel Schlechtere gesehen." _Verdammt, warum konnte er es nicht offen aussprechen_? "Nur wenige, die besser waren. Dein Hals gefällt mir einfach so lang wie er ist. Paß auf ihn auf. Hör zu. Wenn es schiefgeht... wenn ich getötet werde..." "Sagt das nicht..." "Geh aufs Land. _Schnapp_ dir Gitu. Laß den Schuft dafür büßen. Gefällt dir das?" Ein dunkles Feuer glomm in Taizus Augen. Sie hob ein wenig den Kopf und nickte, ganz leicht sehr selbstgewiß. Sie war nicht verrückt. Nein. Es war, als wäre eine Mauer eingerissen worden, die seit Tagen dagewesen war, und als blickten sie sich wieder an, ohne sich verstellen oder wegsehen zu müssen. Ein Pferd schnaubte. Überall um sie herum warteten Männer. Sie standen da wie Idioten. "Wir müssen aufbrechen", sagte er barsch, drehte sich um und kletterte auf Jiros Rücken, während Taizu sich auf die Stute schwang. Saukendar und seine Dämonenfrau, würden sie sagen. Sie hatte ihn bestrickt. Sie kam zu ihm auf den Berg, sie verhexte ihn, sie willigte ein, ihm gegen seine Feinde beizustehen, solange er sie als Frau behielt und sie zur Herrscherin über Chiyaden machte; und sie würde niemals ihre wahre Gestalt annehmen, es sei denn, daß er sie verriet oder daß etwas den Zauber brach... Er sah, wie die Männer sie anschauten. Er sah, wie sie Taizu aus dem Weg gingen, und einige starrten sie hinter ihrem Rücken an. Taizu mußte damit leben - Bosheit war es jedenfalls nicht, bei den Göttern. Niemand hatte Erfahrung im Umgang mit einem Dämonen, doch andererseits - wenn eine Fuchsfrau oder ein Dämon auf ihrer Seite stand, wenn er eindeutig auf Saukendar hörte und zu Wohlverhalten verpflichtet war - schließlich gab es gute wie böse Dämonen, und ein wohlgesonnener war ein ebenso wertvoller Verbündeter wie Saukendar. Vielleicht würde sie sich ihnen in Dämonengestalt zeigen, würde mit den Zähnen knirschen und mit einem Blick bewirken, daß sie weiche Knie bekamen, würde mit Doppelschwertern aus Blitzen und Doppelspeeren aus Feuer kämpfen und Wind und Sturm heraufbeschwören... Dies erwarteten sie, so wie sie Einhörner und Götter an einsamen Orten erwarteten; und sie brannten ihre Räucherstäbchen zum Wohle der Toten ab; und sie trugen ihre Glücksamulette, um sich vor Schaden zu bewahren. Warum also sollte sich ihr Dämon gegen sie wenden, wie konnte überhaupt etwas schiefgehen, wenn sie Saukendar wie einen Talisman mit sich führten, genau wie die Glücksbringer, die sie um Hals und Knöchel trugen? Verflucht sollten sie sein für ihren allzu großen Glauben und dafür, daß sie ihm diese Last aufbürdeten. Vor allem aber dafür, daß sie sie Taizu aufbürdeten. Die Felder im Umkreis von Choedri waren bestellt: das Land zeugte von Ordnung, von der Arbeit der Bauern, von denen sich keiner zeigte. Kein einziger Ochse, keine einzige Kuh war zu sehen - sie hatten sich von der Hauptstraße zurückgezogen, vermutete Shoka, und versteckten sich in den Hügeln, im Landesinneren, oder hatten sich hinter die Mauern der Festung von Choedri zurückgezogen. "Betet, daß die Nachricht durchkommt", sagte Reidi angesichts der gespenstischen Verlassenheit ringsum. "Auf Fürst Kegi können wir uns verlassen, wenn man ihn nicht überfallen hat..." "Dann hätte er doch wohl jemanden nach Süden geschickt", murmelte Shoka, der sich immer unbehaglicher fühlte. "Feiyan hatte wirklich ausreichend Zeit, uns zu erreichen." Zwei Männer ritten etwa eine halbe Stunde voraus, verkleidet als gewöhnliche Reisende, unbewaffnet und von unkriegerischer Erscheinung. _Seid ehrerbietig gegenüber jedem, den ihr trefft_, hatte Shoka sie angewiesen, _seien es nun Söldner oder Keigis Leute. Ihr seid Städter aus Ygotai. Ihr wollt die örtlichen Behörden um Hilfe bitten_. Er hoffte, die Männer würden sich daran halten. Er hoffte, die Menschen, die sich dort oben in den Klüften und kleinen Wäldern versteckt hielten, wären noch am Leben. Hin und wieder entdeckten sie einen Mehlfleck auf der Straße, womit ihnen die Kundschafter mitteilten, daß der Weg vor ihnen frei war. Doch da waren allzuviele kleine Hecken und Hügel. "Wieder ein Zeichen", sagte Shoka, dessen Besorgnis zunahm; beinahe wünschte er, zu Anfang eines bewaldeten Wegstücks, der weiße Flecken wäre nicht auf der Straße aufgetaucht. _Wenn ihr an eine gefährliche Stelle kommt, bleibt einer von euch aus Sicherheitsgründen zurück, bis der andere den Weg erkundet hat. Macht kein Zeichen, wenn ihr euch nicht sicher seid_. _Verdammt, das gefällt mir nicht_. "Teilt die Kolonne auf", sagte er zu Reidi. "Bleibt zurück. Wir reiten weiter. Legt Kegi eigentlich keinen Wert darauf, seine Durchgangsstraßen freizuhalten?" "Wir haben die Bepflanzung geplant", sagte Reidi. "Zu unserem Nutzen." "Das gilt auch für den Feind", sagte er barsch; und winkte Reidi zurück. Er dachte daran, Taizu zurückzuschicken, fand jedoch, daß sie, falls etwas schiefging, bei ihm besser aufgehoben wäre als bei der verwirrten Nachhut. Die Kolonne teilte sich auf, die eine Hälfte blieb zurück. Er trieb Jiro zu einer rascheren Gangart an. Die Hälfte des Trupps bewegte sich in flottem Tempo im Schatten des Waldes über die saubere, gepflegte Straße. Wieder ein Mehlfleck. Dann eine Biegung, und vor ihnen tauchte ein Zaun aus angespitzten Pfählen auf. Pferde scheuten, Schwerter wurden gezogen. "Absitzen!" schrie Shoka und lenkte Jiro zu einem der Bäume am Straßenrand. Als eine Handvoll Männer in den Farben von Taiyi an der Barrikade auftauchten, war er bereits abgesessen."Anhalten!" brüllte Fürst Reidis Leutnant, der mitten auf der Straße noch immer im Sattel saß. "Anhalten! Das ist Fürst Saukendar..." Es war an der Zeit, dachte Shoka, sich aus dem Gebüsch zu lösen, im Vertrauen darauf, daß Reidis Mann nicht jeden Moment einen Pfeil in den Bauch geschossen bekam. "Vorsichtig!" sagte Taizu mit schwankender Stimme. Sie glitt aus dem Sattel und duckte sich neben ihn, mit gespanntem Bogen und angelegtem Pfeil. Saukendar durfte jedoch nicht als Narr erscheinen, der sich im Gebüsch versteckte, darum verhielt er sich wie einer, überließ Taizu Jiros Zügel - er wollte nicht, daß der alte Bursche sinnlos angeschossen wurde - und trat zu dem anderen Narren auf die Straße hinaus. Es waren tatsächlich Fürst Kegis Männer. Bei ihnen waren die Kundschafter, was den Soldaten und nicht den verlegenen Kundschaftern zu verdanken war, die, nachdem man sie von ihren Fesseln befreit hatte, zu Fürst Reidis Leutnant traten und ihm die Angelegenheit erklärten; und Kegis Leute ritten pflichtgemäß zur Festung voraus, um Fürst Kegi mitzuteilen, daß es wirklich stimmte, daß Fürst Saukendar zurückgekehrt war und daß sich die Provinzen Hainan, Feiyan und Hoishi erhoben hatten, daß deren Fürsten mit ihrer Leibgarde aufgebrochen waren und sich ihre Soldaten auf dem Vormarsch befanden... Nun erfuhr Shoka auch von dem Drachen, der seine Rückkehr angekündigt hatte, ein riesiges Vieh, das nahe Ygotai aufgetaucht war und seine Spuren an den Deichen zurückgelassen hatte, gewaltige Abdrücke von Klauen, mit denen er seinen riesigen Leib in Schlangenlinien über die Reisfelder geschleppt hatte, Zeichen, die für jedermann sichtbar waren. Shoka blickte Taizu an und sah sie mit offenem Mund dastehen, als wollte sie im nächsten Moment alles abstreiten. Doch sie stand einfach bloß am Straßenrand da, mit Jiros Zügeln in der Hand, neben sich die weißbeinige Stute, und er sagte: "Taizu." Sie brachte ihm Jiro. Er nahm die Zügel, und sie stellte sich wortlos neben ihn. In Tengu im Norden waren Söldner. Die meisten befanden sich am Hisei bei Lungan. Also hatten Fürst Kegis Männer sie gewarnt. Schlechte Neuigkeiten, dachte Shoka. Er _wollte_ vorwärtsstürmen. Er _wollte_ soviel Strecke machen wie möglich, damit der Eindruck entstand, es handele sich um eine große Streitmacht - Täuschung und Verwirrung waren im Moment ihre besten Verbündeten. Aufgrund seiner Erschöpfung verschwamm ihm jedoch die Sicht, und seine Vernunft sagte ihm, daß es reiche: es konnte gut sein, daß sie hinter Choedri keine Gelegenheit mehr zum Rasten bekamen. "Kommt zur Burg von Choedri, Fürst", dränge ihn Kegis Garde. "Unser Fürst möchte Euch begrüßen." Shoka erwog das Angebot, er sehnte sich nach einem richtigen Bett und einer warmen Mahlzeit; der Gedanke, sich hinter jemandes Mauern zu begeben, jagte ihm jedoch Schauer über den Rücken. Reidi hatte versichert, daß ihnen Kegi wohlgesonnen war. Reidi hatte jedoch auch auf die Kundschafter geschworen. "Nein", sagte er. "Sagt Eurem Fürsten, es täte mir leid, aber ich habe das Gelübde abgelegt...", gütiger Himmel, was für eine gemeine Lüge! "...bis zum Hisei nirgends Obdach zu nehmen. Bittet Euren Fürsten, er möge so freundlich sein, sich heute abend mit uns vor seinen Toren treffen. Ich selbst - Fürst Reidi -, wir werden bis zum Einbruch der Dunkelheit auf dieser Seite des Waldes rasten. Es war ein verdammt langer Ritt bis hierher." "Fürst", sagten sie, "jawohl, Herr." Und der befehlshabende Hauptmann ordnete an, die Barrikade zu entfernen, schickte einen Boten zum Fürsten und geleitete Reidi und seine Männer, nachdem sie zu ihnen aufgeschlossen hatten und auf dem laufenden waren, bis zum Waldrand und zu einem Hang, der Ausblick bot auf die weite Ebene, in der Choedri lag. Zusätzlich bot er ihnen das wenige an Nahrung und Wasser an, das er mit sich führte, außerdem die Hälfte seiner Leute als Wachen, solange sie ruhten, da er meinte, die Straße hinter ihnen sei einigermaßen sicher. "Können wir ihm vertrauen?" fragte Taizu leise, als die Übergabe des Proviants begonnen hatte. Sie war heiser. Er stellte sich die gleiche Frage; es war, als ließe ihn nun, da keine unmittelbare Gefahr mehr bestand, die Vernunft im Stich und als wollte blankes Mißtrauen ihre Stelle einnehmen. Seine Zweifel waren unbegründet, sagte er sich. Es war der sicherste Hinweis, daß er nicht mehr klar dachte, wenn er allem mißtraute, jedem Geräusch, das er hörte, dem klaren Wasser, das man ihnen reichte, sogar einem vernünftigen, gut vorbereiteten Verbündeten, dessen Anführer mehr als fähig schien. "Ich glaube, es bleibt uns gar keine andere Wahl", sagte er. _*17*_ Nicht das Gefolge eines Fürsten näherte sich vor Einbruch der Dunkelheit über die Ebene, sondern eine Expedition mit Fahnen und Wagen rumpelte mit einem Lärm heran, der Shoka nach etwa einer Stunde Schlaf jäh erwachen ließ; einen Moment lang meinte er, ein ganzes Bataillon käme auf sie zu, doch die Fahnen waren die persönlichen Fahnen des Fürsten von Choedri, des Vasallen von Deigi von Taiyi. Die Wachen eilten umher, um ihren Fürsten zu begrüßen, und Fürst Reidi weckte sein Gefolge. "Es sind gar nicht so viele", sagte Taizu im Flüsterton, enttäuscht über ihre geringe Anzahl, und Shoka dachte das gleiche. "Proviant", erwiderte er. "Wahrscheinlich ist der Rest in der Stadt geblieben. Es wäre sinnlos, sie hier herauf- und dann wieder zurückmarschieren zu lassen." Der Schmerz in seinen Knochen war jedoch schlimmer als eben noch, als er sich hingelegt hatte, und kurzzeitig empfand er aus Gründen, die er nicht zu fassen vermochte, Verzweiflung - abgesehen davon, daß die Soldaten bei der Annäherung einen Höllenlärm vollführten. _Du bist ein Narr_, dachte er, _ein Narr, hier zu sein, ein Narr, daß du dieses ganze Durcheinander auf dich nimmst - und du hast nicht einmal genug Männer, um ins Feld zu ziehen, es sei denn, sie sind ein ganzes Stück besser organisiert, als es den Anschein hat_... _Geh allein, nähere dich dem Feind, durchbrich seine Abwehrlinien_... Wegen derart unbesonnener Überlegungen hatte er Taizu einen Narren gescholten. _Sieh mich an_, dachte er und stellte sich vor, daß sie in diesem Moment dieselben Gedanken hegte und sich deswegen tadelte, da sie meinte, Meister Saukendar habe irgendeinen geheimen Plan, wie es mit diesen Fürsten nun weitergehen solle, mit diesen Fürsten, die in ihren Burgen hockten, und die, abgesehen von Reidi und Maijun, alle Nachfolger der Männer waren, die er gekannt hatte - während Meister Saukendars Verstand vor Erschöpfung so verwirrt und mit ganz anderen Plänen und Überlegungen beschäftigt war, daß ihm keine andere Möglichkeit einfiel, als der Flut vorauszueilen, ehe die Würfel fielen und sich seine Weisheit in alle Winde zerstreute... _Plane deinen Rückzug_.... _Minimaler Aufwand_... _Überlegene Position_... Vor zehn Jahren hatten die Fürsten neuen Fürsten Platz gemacht, die sich nie im Feld hatten bewähren müssen, und der Himmel allein wußte, was sich an der Straße nach Cheng'di verändert und was überdauert hatte... Oder wo Ghita steckte und wie groß seine Macht war; oder wieviele Söldner sich mit den kaiserlichen Schätzen kaufen ließen... Der Fürst rumpelte mit seinem Troß heran - eindeutig _nicht_ der korpulente Fürst von Choedri, den er einmal gekannt hatte, sondern ein magerer Büchermensch, dem - Gütiger Himmel! - eine Schriftrolle aus dem Ärmel fiel und der beinahe mit dem Bediensteten zusammengestoßen wäre, der herbeisprang, um sie aufzuheben... Und nachdem dieser sie ihm gereicht hatte, sagte der vermeintliche Fürst Kegi, die Schriftrolle umklammernd, mit sorgenvoll gekräuselter Stirn: "Fürst Reidi! Fürst Saukendar! Ihr seid es wirklich..." "Ja", sagte Shoka und holte tief und entschlossen Luft: "Fürst, ich habe gehofft, daß Ihr kommen würdet." _Mit zehnmal soviel Männern... Die hoffentlich dort unten sind, Fürst_. _Die Bücher hättet Ihr Euch sparen können_. "Ich habe Proviant mitgebracht, Ersatzpferde, alles, was wir haben... Ruht Euch aus! Wir kümmern uns um alles, wir haben Euch ein gutes Abendessen mitgebracht, laßt die Pferde trockenreiben - mein Arzt hat eine Heilsalbe dabei..." Während die Bediensteten geräuschvoll die Wagen entluden, Kochtöpfe, Bündel und Krüge mit Nahrungsmitteln herunterzogen, ein Getümmel wie in einem Ameisenhaufen. Shoka stand blinzelnd da, während das Mahl zubereitet wurde und sich der Arzt und eine Handvoll Bedienstete um die Pferde kümmerten - ein wildes Durcheinander von Bediensteten und Köchen: _Die Götter stehen uns bei, Nahrung und Tüchtigkeit. Dieser Mann läßt hoffen_... Was ausreichte, um seine Knie weich werden und seine Sicht verschwimmen zu lassen, so daß ihm wieder einfiel, daß er erschöpft und mit seiner Weisheit am Ende war. "Fürst", sagte er in der Absicht, entgegenkommend zu sein, "entschuldigt mich. Ich überlasse Euch alles Weitere." Mit letzter Kraft; und er schleppte sich zusammen mit Taizu zu ihren Decken am Straßenrand. Kegi könnte sie alle ermorden, dachte er. Kegi, dem Reidi seit Jahren so vertraute, könnte ein Spion sein. Er war neu im Amt. Der Regent mußte seiner Ernennung zugestimmt haben. Alles konnte Täuschung sein, niemandem durften sie trauen, doch sie waren so weit gegangen, wie Fleisch und Knochen sie ohne Rast und Schlaf zu tragen vermochten. _Wenn wir diese Speisen essen, können wir ebensogut in seiner Burg schlafen. Reidi vertraut ihm. Taizu erhebt keine Einwände. Wenn es in Chiyaden keine ehrbaren Männer mehr gibt - warum sind wir dann überhaupt hier, welche Chancen haben wir dann überhaupt noch_? Worauf er ins Dunkel abglitt, dankbar dafür, eine Weile loslassen zu können. Unter den Lidern hindurch sah er jedoch undeutlich Kegis Männer umhereilen, sah sie stehenbleiben und starren und miteinander tuscheln... _Was gafft ihr denn so_? wunderte er sich. Ein Leben lang hatte man ihn angestarrt und hinter seinem Rücken getuschelt... Doch er vernahm das Wort _Frau_, und nun wußte er, worum es ging und was sie flüsterten und warum. Die Dämonenfrau, die Hexe: das Gerücht breitete sich noch immer aus, diesmal durch Kegis Boten. Sie sahen einen umstrickten Mann, sie tuschelten miteinander, sie spannen sich alles nach Gutdünken zurecht - und wenn Taizu sie hörte, so schwieg sie und beklagte sich nicht. Das gefiel ihm nicht. Es hatte ihm noch nie gefallen. Er verfluchte seine damalige Laune, den ganzen Wahnsinn, in den sie verwickelt waren... Die Götter allein wußten, wieviel sie davon mitbekam: von den halblauten Bemerkungen über die Narbe in ihrem Gesicht, von den Vermutungen, wo er sie wohl kennengelernt habe, wie weit die Bedeutung des Wortes _Gattin_ wohl ging - die Geschichte zog von Stunde zu Stunde, von Tag zu Tag weitere Kreise, die Leute tuschelten über sie - die soviel von sich erwartet und so wenig Kraft übrig hatte; und der es an der vierzigjährigen Erfahrung mangelte, mit der sie sich hätte wappnen können. "Ich weiß", flüsterte er ihr ins Ohr und schlang seine Arme um sie. "Ruh dich aus. Zum Teufel mit ihnen. Sie sind verrückt." "Sie werden uns töten", sagte sie, der erste Einwand, den sie erhob. Sie. Diese Leute. Und _uns_. _Niemand erreicht Vollkommenheit_, hatte Meister Yenan gesagt - wie oft? Auf dem Berg hatten sie jedoch daran gerührt. Auf dem Berg war alles besser gewesen als dies hier. Dort würde es immer besser sein. Doch der Berg schien in eine immer weitere Ferne zu rücken. "Geh nach Choedri", sagte er. "Warte, bis es vorbei ist. Das ist nicht deine Art zu kämpfen. Das habe ich dich nicht gelehrt." "Nein", murmelte sie, rückte näher und vergrub ihren Kopf an seiner Schulter, und er zog die Decke über sie, um ihr die Dunkelheit zu verschaffen, nach der sie suchte. "Nicht nach Choedri." Sie war dem Einschlafen nahe. Er auch. Sie hatten diese Unterhaltung schon so oft geführt. Er kannte die Argumente, jedes einzelne. "Wohin dann?" "Schlaft." Geduldig, müde, mit einem Seufzer, einem Druck ihrer Arme. _Die Pferde halten nicht mehr lange durch_, dachte er. _Zuwenig Ausrüstung. Zuwenig Männer. Hätte Reidi und seine Leute über den Fluß nach Hoisan zurückbringen sollen. Ich hätte alles von dort aus machen sollen_... _Wenn ich die Kraft hätte - wenn die Pferde durchhalten würden_... _Sie weiß Bescheid. Dazu hat sie zuviel von mir gelernt_... _Seit wir uns mit Reidi zusammengetan haben, hat sie kein Wort mehr gesagt. Seit ich sie gebeten habe, bei mir zu bleiben_... _Du Närrin, sag es! Verdammte Närrin_! _Ich hab's gewußt - ich hab's gewußt. Zu viele Wohlmeinende, zu viele Tapfere, ohne Sinn und Verstand_... _Zu spät, um das Ruder herumzuwerfen. Es stecken schon zu viele zu tief drin_... _Gute Absichten nützen gar nichts_... ..._hätte es wissen müssen, verdammt noch mal, hätte es wissen müssen, nach zehn Jahren ist das Land nicht mehr dasselbe, das Land hat zu lange geblutet, die Kämpfer sind tot_. Es _wird zu einer Katastrophe kommen_. _Solange wir nach Hunderten zählen und wir so nahe an Cheng'di sind, ist es aussichtslos_... Er schlief ein, während er eine Lösung zu finden versuchte... schlief ein, wie man von einem Steilhang rollt, er hatte gerade noch genug Zeit, sich darüber klarzuwerden, daß er fiel, ein Plumps, und schon war er weg, bis er Essensdüfte roch und bei Feuerschein erwachte, mit der gepanzerten Taizu an seiner Seite, und Reidis Hauptmann dicht in ihrer Nähe sagen hörte: "Fürst Saukendar, bitte, das Essen ist bereitet. Mein Herr meint, Ihr möchtet jetzt vielleicht aufwachen." Ein weiterer Moment Dunkelheit. "Fürst Saukendar?" sagte die hartnäckige Stimme. Saukendar wäre schon beim ersten Mal wach gewesen. Saukendar hätte sich nicht in so tiefem Schlaf überraschen lassen. Shoka zog seine müden Glieder in eine sitzende Position hoch, strich sich das Haar aus den Augen und rieb sich die vom Feuerschein und Rauchgestank brennenden Augen. Er hustete; das kam vom kalten Boden; und blinzelte wieder, als er feststellte, daß Taizu auch nicht schneller war - und daß der Boden unter ihm wankte, bis er sich wieder gefangen hatte. Eigentlich hätte er Angst haben sollen, dachte er. Er hatte sich beim Einschlafen Sorgen über ihre Lage gemacht, und eigentlich sollte er jetzt Angst haben, doch er konnte sich an die Einzelheiten nicht mehr erinnern und befand sich in einem Zustand von Benommenheit, in dem alles von gleicher Wichtigkeit war - Ghita, ihre zahlenmäßige Stärke, die Verfassung der Pferde, die Jahreszeit, seine Erinnerung an den vor ihnen liegenden Weg, der nach Lungan und zur großen Brücke führte... Er wunderte sich über seine Ruhe. Er saß da, wartete, daß sich seine Sicht klärte, und vermochte hinsichtlich ihrer Erfolgsaussichten noch immer nichts zu empfinden. Noch nichts war geklärt. Nichts ergab einen Sinn. Nichts war dringlich, es war, als wäre die Zeit um zehn Jahre zurückgedreht worden und als hätte er den Aufruhr in der Hauptstadt noch gar nicht bemerkt... Anders als Meiya - denn Meiya war in dieser Beziehung stets wachsam gewesen -, die sich in jener Nacht vielleicht darüber klargeworden war, daß seine Abwesenheit und die Tatsache, daß Ghita die Dienstzeiten dieses oder jenes Mannes im Palast verändert hatte, Schlimmes bedeuten könnte... Meiya hatte in dieser Nacht nach Heisu geschickt. Soviel wußte er. Und diese fadenscheinige Anschuldigung hatte Heisu das Leben gekostet; und sie hatte zum Becher Zuflucht genommen... "Herr." Taizus Stimme, Taizus Hand auf seiner. Er wollte nicht mehr an Meiya denken. Es war die Halle, die er um sie herum sah, auf die er seine Augen scharf zu stellen versuchte, die exakte Erinnerung an den Palast, an den er sich all die Jahre über nicht erinnert hatte. Er war dort, und draußen lag Cheng'di, das Land ringsum, die Straße in allen Einzelheiten... "Nicht", sagte er zu ihr. Es war alles ganz nah, er erinnerte sich ganz deutlich, an den Weg von Cheng'di nach Lungan, und an die Brücke dort... _Genau_. Er saß einen Moment lang da. Er baute das ganze Hafenviertel von Lungan in seiner Vorstellung auf, die große Brücke - die befestigte Garnison daneben an der Uferpromenade, die darunterliegende Straße, die durch eine Stadt der roten Ziegeldächer, braunen Mauern und blühenden Läden führte. Schmuckverkäufer und fliegende Händler, welche die Reisenden beschwatzten, die zum Tor des Himmels in Cheng'di unterwegs waren. Die Ausfallstraße, die durch wogende Hügel und fette Weiden führte... "Herr", hörte er jemanden sagen, doch Taizu war es nicht. "Laßt ihn in Ruhe", sagte sie bestimmt. "Er hat Euch gehört." Und weiter, indem er sich von der großen Brücke über den Hisei vorarbeitete, bis zum flachen, langsam fließenden Paigij, der praktisch an jeder Stelle überquerbar war, bis er sich mit dem Tei vereinigte, ein gutes Stück hinter Botai... "Die Furt am Paigji wird auf unserer Seite offen sein", sagte Fürst Kegi am Lagerfeuer über einem reichhaltigen Mahl aus Schweinefleisch, Reis und Honigkuchen, und Shoka hörte beim Essen zu. "Ich habe mir gedacht..." Kegi war ein leise sprechender, nervöser Mann, und die Schriftrolle, die Götter mögen ihm gnädig sein, waren die sechshundert Jahre alten Werke von General Bogi'in. Kegi hatte das Buch studiert: der alte Fürst war gestorben, sein Cousin Kegi war ihm in Choedri nachgefolgt, und obwohl sein Oberherr noch nicht auf Reidis mittels Vögeln übersandte Nachrichten reagiert hatte - und auch solange nicht reagieren würde, meinte Kegi, wie er sich nicht sicher war, daß noch andere mitmachten -, war Kegi mit nichts weiter als dieser moderigen Schriftrolle als Ratgeber in den Kampf gezogen, mit ihr und seinem Priester, seinem Koch, seinem Pferdedoktor und den Männern seiner persönlichen Leibgarde. Ständig hieß es Bogi'in hier und Bogi'in da: "Ich habe mir gedacht, nach allem, was ich gelesen habe - es kam mir durchaus einleuchtend vor -, Fürst Bogi'in jedenfalls meint, vor allem käme es auf die Straßen an, auf Straßen und Reis..." Shoka betrachtete den Mann voller Abscheu. Ein Unterrichtsraum fiel ihm ein und Meister Tagyan -_Straßen und Reis_ und der einlullende Gesang der Zikaden; die Beratungszimmer, die ernste und schneidende Stimme des alten Kaisers, mit der er über den Einfall von Plünderern aus Fittha sprach und die Sicherheit des fernen Feiyan... "Offen - auf unserer Seite der Furt. Wieviele Männer hat der Kaiser am anderen Ufer?" "Ständig vier oder fünf, auf beiden Seiten." Ein kalter Schauer durchlief ihn, als er sich vorstellte, wie die fünf am anderen Ufer aufgeschreckt die Flucht ergriffen und die ganze Gegend bis nach Cheng'di in Aufruhr versetzten. Damit würden sie nur erreichen, daß sie die Bauern erschreckten und der Verkehr überwacht wurde. Die Söldner konnten die Grenze unmöglich halten. Der Paigij war zu flach, die Übergänge zu zahlreich, um sie alle zu bewachen. "Ihr habt den Angriff befohlen", sagte Shoka. "Geheim", sagte Kegi. "Gütiger Himmel", meinte Reidi. "Fürst", sagte Kegi gereizt zu Shoka, "Eure Ankunft in Chiyaden ist bereits Gegenstand von Gerüchten. Und die Geschwindigkeit, welche die Straße ermöglicht, ist sicherlich das Risiko des Entdecktwerdens wert - die Fürsten werden sich um Euch scharen. Der Anschein von Stärke und Selbstvertrauen..." Als Shoka Reidi ansah, erblickte er das Gesicht einer Statue. Keine Panik. Eingedenk der Männer, die sich nur knapp außer Hörweite aufhielten, war der alte Mann zu diszipliniert und zu sehr Politiker, doch sein Leutnant saß mit im Kreis, und dieser runzelte die Stirn. "Wann wird der Angriff ausgeführt?" "Er sollte inzwischen erfolgt sein. Bei Einbruch der Dämmerung. Der Vorteil der zahlenmäßigen Überlegenheit..." Man atmete behutsam ein. Man nickte ruhig, zitierte Bogi'in und sagte: "Geschwindigkeit und Heimlichkeit. Wieviele Männer habt Ihr?" "Die Politik des Regenten", sagte Kegi, "in den Provinzen Truppen auszuheben... Fürst Reidi hat Euch gewiß schon davon erzählt..." Die Männer wurden zwangsrekrutiert und in die Grenzkriege geschickt, vor allem ins Grenzgebiet von Kiang - die Fürsten wurden aller Männer mit Ausnahme ihrer persönlichen Gefolgsleute beraubt, einschließlich der jungen Männer, die für die Feldarbeit unerläßlich waren, und der jungen Händler aus den Städten, die über keinerlei Kampfausbildung verfügten. Zum Wohle des Reiches, hatte der junge Kaiser gesagt. Während Gitu mit einem finanziellen Aufwand, der die Mittel, die einem Fürsten von Angen zur Verfügung stehen sollten, weit übertraf, eine Privatarmee anheuerte; und der Kaiser, dessen Hand Ghita fest leitete, heuerte weitere Söldner an - _um die Heimatstärke der Armee zu erhalten, wo so viele Männer in der Fremde weilen_... "Wie viele Männer habt Ihr, Fürst?" "Hundert Berittene", sagte Fürst Kegi. "Ich selbst habe meine Leibgarde. Fürst Jendei ist auf unserer Seite - ich bekam eine Nachricht von ihm, und Fürst Reidi..." _Mit all den Fürsten, die sich uns angeschlossen haben, mit dem ganzen Rest, verfügen wir über weniger als zweitausend Soldaten. Wo sind unsere_ Verbündeten, _Mann, wo sind die Rebellen, und was wissen sie, im Vergleich zu den Söldnern? Wo sind all die zwangsrekrutierten Soldaten der Garde, die sich uns hätten anschließen sollen - wenn es sich so verhält, wie Ihr behauptet_? _Die Leute wollen ihr Leben retten, darauf läuft es hinaus. Hat Bogi'in_ das _geschrieben, du Narr_? "Waffen", sagte Shoka. "Art und Anzahl. Was habt Ihr?" "Bogen", sagte Kegi. "Speere. - Sie haben den Großteil unserer Pferde mitgenommen, Fürst Saukendar. Die Söldner waren vor vier Tagen hier, sie haben jeden Mann zwischen sechzehn und vierzig weggeschleppt, mit Ausnahme derer, die ich mir als Leibgarde und Bedienstete erbitten konnte; sogar Halbwüchsige von den Feldern, und sie..." "Bis nach Lungan ist es ein weiter Weg", sagte Shoka ruhig. "Und man kann den Paigij praktisch an jeder Stelle überqueren. Die Brücke nach Lungan jedoch..." Um das Feuer herum entstand ein lastendes Schweigen, es war so still, daß einem das Knistern und Knacken des Feuers auf die Nerven ging. Kegi schwitzte. So klug war er jedenfalls. "Ich konnte es nicht verhindern", sagte Kegi. "Ich habe eine Nachricht nach Hoishi und Feiyan geschickt..." "Sie hat uns nicht erreicht", sagte Reidi. _Wir sind einfach zu schnell_. Der Satz hing im Raum, und jeder verstand ihn. _Ghita weiß Bescheid. Er versucht, uns unseren Rückhalt zu nehmen. Weiß er schon, wie nah wir sind_? _Und wie wenige wir sind_? "Der Hisei und der Chaghin", sagte Shoka. "Die beiden Drachen an den Mauern von Cheng'di, meine Herren. Eine Barriere und eine Falle. Wenn sie die Brücke abriegeln, und das ist ihnen zuzutrauen, dann müssen wir durch den Hisei hindurchschwimmen -oder eine Armee übersetzen, eine Armee, die wir nicht _haben_, meine Herren, deshalb dürfen wir uns darauf nicht verlassen." Er sah Taizus Hände, die mit weißen Knöcheln einen Zweig zerzupften. Er stellte sich ihren düsteren Gesichtsausdruck vor und wie sie sich auf die Lippen biß. _Du hast verdammt recht, Mädchen. Wir sitzen in der Patsche. Und dieser... Gelehrte... greift die Wache am Fluß an, um uns zu helfen_... "Behaltet Eure Leibgarde, Fürst. Pferde zum Wechseln wären mir lieber." "Fürst?" "Jiro hat eine verräterische Farbe. Er bleibt hier. Ich brauche etwa zehn Männer, braune Pferde, uneinheitliche Rüstungen, nichts Auffälliges:" "Neun", sagte Taizu halblaut. Ein vernünftiger Mensch hätte seine Frau nach Choedri _getragen_. Aber ein Glück für Choedri, dachte er, daß er an ihr festhielt. "Neun Männer", sagte er und sah Reidi und Kegi an. "Ich möchte mein Pferd später zurückhaben. Ich hänge an ihm. Das gilt auch für die Stute. Bringt sie nach Lungan." "Neun Männer..." Möglicherweise begriff Reidi, was er vorhatte. Vielleicht sogar Kegi. "Und ich möchte einen Vogel, Fürst Kegi. Einen der Vögel des Kaisers..." Der Taubenschlag, das Vogelhaus, der bäurische junge Kaiser, der seine Vögel jeden Morgen versorgte... höchstpersönlich. "Fürst?" "_Habt_ Ihr einen der Vögel des Kaisers, Fürst Kegi?" "Ja, Herr", sagte Kegi. "Und Schreibgerät?" Natürlich hatte Kegi das. Die Notwendigkeit von Aufzeichnungen. Bogi'in hatte diesem Thema ein ganzes Kapitel seines Buches gewidmet. Shoka rieb Jiros gewölbte Nase und bekam für seine sentimentale Anwandlung einen Stoß in die Rippen; doch es fiel ihm schwer, wegzugehen und sich vorzustellen - er schalt sich deswegen einen Narren -, daß das Pferd wußte, daß er es im Stich ließ, daß der alte Bursche es riechen und am Klang seiner Stimme erkennen konnte. Rasch nahm er die Zügel eines Ersatzpferdes und schwang sich in den Sattel - als letzter ihres kleinen Trupps. Er wünschte den Männern, die er zurückließ, rasch noch Glück und setzte sich in der Dunkelheit des Waldes und der Nacht an die Spitze der Kolonne. Abermals schalt er sich einen Narren, weil er sich so fern von allem fühlte, was er kannte, zu weit weg, um wieder dorthin zurückzukehren - zu verloren, um an sein Zuhause zu denken, zu sehr verändert, abgesehen von dieser Reiterin, die an seine Seite kam... Ein Narr, weil er sie mitgenommen hatte, ein Narr, weil er sie nicht zurückschickte, sie anlog, ihr irgendeine Aufgabe übertrug, die sie lange genug beschäftigen würde - doch von den Zehnen, die er hatte, war sie diejenige, die er bei sich haben wollte, war sie die eine, die ihm nie in die Quere kommen, keinen falschen Schritt tun, niemals irgend etwas dem Zufall überlassen würde... Nun waren sie also Söldner, schmutzig und abgezehrt und auf der Flucht vor der Katastrophe im Süden. Und nicht zur Furt des Paigij bei Choedri ritten sie, sondern zu der Furt weiter im Osten, abseits des Weges - unerreichbar für Wagen und Händler, aber flußauf und flußab gab es überall am sandigen Paigij solche Stellen, die ganze Grenze zwischen Taiyi und Tengu war ein löchriges Sieb, das Ghitas Männer ebenso leicht nach Süden durchqueren konnten, wie sie nach Norden hindurchschlüpfen konnten. Falls Ghita angriff - dann war Choedri nicht zu halten. Aber was Ghita dort suchen würde, wäre nicht dort. Reidi hatte es begriffen. Er hatte es Reidi erklärt. Sieben Tage, hatte er gemeint. Er hoffte, daß Reidi es begriffen hatte. "Ghita?" hatte Taizu nur gefragt, ehe er auch nur ein Wort erklärt hatte, und er hatte gewußt, daß sie ahnte, was er vorhatte. "Kein einziger Korb", hatte er gesagt. "Söldner. Wir brauchen die Pferde."Taizu hatte besonnen genickt und gesagt: "Und auch keine Schleifen." "Keine Schleifen", hatte er ihr unwillkürlich erheitert beigepflichtet. Wer dieser Unterhaltung zugehört hatte, mußte sie für verrückt halten. Schwert, Bogen und das gewöhnliche heruntergekommene Aussehen angeheuerter Soldaten; Taizu flog das Haar lose um die Ohren, einen Teil hatte sie zu einem barbarischen Schopf hochgebunden, um den Hals trug sie Amulette, ihr Gesicht war dreckverschmiert, und über dem Panzer trug sie das schmierige Schafsfell eines Söldners - Teil der Beute, die sie an der Fähre gemacht hatten: auf den ersten Blick würde niemand unter diesem Haarwust eine Frau oder etwas anderes als einen drahtigen kleinen Halbwüchsigen in der Gesellschaft ebenso anrüchiger Männer vermuten. Die Neun gehörten zu Fürst Reidis Männern, waren vertrauenswürdig und solide; und einer war Jian aus Choedri, den Kegi geschickt hatte: Er kennt den Weg, hatte Kegi gesagt. Und den Göttern sei Dank kannte Jian, der am anderen Ufer des Paigij ein Mädchen hatte, die Schleichwege und führte sie wie versprochen zu den Untiefen mit festem Untergrund, wo das Wasser den Pferden schlimmstenfalls bis zum Bauch, meistens nur bis zum Sprunggelenk reichte und wo sie am anderen Ufer gemächlich zu einem Wildpfad hochklettern konnten, der in die Provinz Tengu hineinführte. In der Marschordnung, die sie eingenommen hatten, ritten sie nicht geradewegs nach Norden, Richtung Lungan, sondern zur Fähre von Anogi, zwei Tagesritte flußabwärts am Hisei. "Ich möchte dich was fragen", sagte Shoka zu Taizu, als der Morgen anbrach und sie den Paigij bereits hinter sich gelassen hatten. "Da ich weiß, daß du nicht nach Choedri zurückkehren würdest - es gibt da einen Reitweg, der geradewegs nach Westen führt..." "Nein", antwortete sie. Er seufzte. "Es sei denn, Ihr wollt dorthin", sagte sie nach einer Weile. "Nein", sagte er instinktiv und dachte darüber nach. Wieder einmal. Doch die feige Ausflucht war ihnen beiden verschlossen. Und er wußte es. "Ein ganz schöner Schlamassel, Frau." "Nicht schlimmer als Hoisan", sagte sie. Seine Schülerin. Das Mädchen mit dem Korb, das sich mit Fallen ausgekannt hatte, bevor er sie unterrichtet hatte, eine Frau, die in einer Zeit großgeworden war, wo Schweinehirtinnen lernten, Hinterhalte zu legen und mit dem Bogen umzugehen. Er _sah_, was aus Chiyaden geworden war: er stellte sich vor, wie ein Bauernmädchen damals wohl aufgewachsen war. "Du hast in Hua gekämpft", sagte er. "Wie lange ist das her?" "Mindestens sechs Jahre", sagte sie nach kurzem Nachdenken. "Sieben, glaube ich. Alle versteckten sich, jedesmal wenn die Soldaten über die Grenze kamen. In Hua gibt es viele Berge. Bis die Soldaten anfingen, uns auszuräuchern. Dann meinte Fürst Kaijeng - meine Brüder waren meistens bei ihm -, wir sollten uns wehren, so gut wir können. Und wenn meine Brüder nach Hause kamen, brachten sie es uns bei. Als die Burg fiel, als Fürst Kaijeng starb, kehrten meine Brüder nach Hause zurück. Aber wir konnten nicht mehr viel tun. Niemand hatte die Verantwortung. Die Soldaten überrannten uns einfach." "Dazu waren sie gezwungen", meinte Shoka, als er daran dachte, wie Hua gelegen war, ein hügeliges Land, das an Angen grenzte und wie geschaffen war für Rebellen. "Andernfalls hätten sie Yiang, Sengu, Mendang und nicht einmal Taiyi halten können, und ohne Taiyi wäre die Lage für Hoishi aussichtslos gewesen - alles ist miteinander verknüpft, bis hinauf nach Yiungei, ein zusammenhängendes Gebiet, das sie nicht hätten halten können, wenn das kleine Hua ihnen Schwierigkeiten gemacht hätte. Ihr wart verdammt wichtig." Soviel zum Thema Landkarten. Vielleicht dachte sie darüber nach. Oder sie dachte an ihre Heimat. Nach einer Weile sagte sie: "_Gitu_ ist nicht so wichtig. Wovor sie damals Angst hatten, der Grund, warum sie uns überrannten - sie müssen doch auch heute Angst vor uns haben, nicht wahr, wenn sie uns nicht schnappen? Wenn sie die Fürsten und deren Leute im Süden angreifen - wir sind nicht dort. Aber sie werden erfahren, wo wir waren. Und nicht, wo wir sein werden. Sie werden versuchen, _Euch_ zu töten. Vorher haben sie nicht gewonnen. Deshalb führen wir sie die ganze Zeit an der Nase herum." "Ganz schön schlau. Verdammt raffiniert. Das ist das Kreuz mit euch jungen Denkern." Sie sah ihn an. Im Licht der Sterne, das auf ihrem Kopf und ihren Schultern lag, konnte er es erkennen. Sie hatte keine Fragen gestellt, hatte ihn vor Zeugen kein einziges Mal herausgefordert. Wahrscheinlich erstickte sie inzwischen an Fragen. "Wie fangen wir es also an?" "Wir bringen Ghita in Verlegenheit", sagte er. "Wir zwingen ihn zum Rückzug, wir machen ihn zum Narren. Das ist ein verdammt gefährliches Spiel. Hast du Angst?" "Die Leute _kennen_ Euch", flüsterte sie. "Sie reden, Meister Shoka, glaubt ja nicht, das täten sie nicht. Überall, wo Leute hingekommen sind, überall, wo die Vögel hinkommen. Heute nacht schläft Ghita nicht. Und Gitu oder der Kaiser auch nicht. Wir rauben ihnen heute nacht den Schlaf, wie Ihr gesagt habt. Und irgendwann werden sie eine Dummheit machen. Und die Leute werden aufhören, sich vor ihnen zu fürchten." "Ich sag dir was", meinte er, "wir sind zu viele, um heimlich zuzuschlagen, und zu wenige, um auf breiter Front anzugreifen, darum sind wir hier. Sie brauchen viel zuviel Zeit, um sich zu organisieren, und weiß der Himmel..." _Weiß der Himmel, was diese Männer in der Schlacht taugen_. Doch aus Rücksicht auf ihre Begleiter sprach er das nicht aus. "Ghita ist seit Jahren auf diesen Moment vorbereitet. Vielleicht allzusehr vorbereitet. Vielleicht macht er in der Eile einen Fehler. Vielleicht folgt er uns, wer weiß? Oder er ist dafür zu klug und tut etwas, womit wir nicht gerechnet haben. Das ist immer die Schwierigkeit, wenn man etwas plant." Wieder blickte Taizu ihn an, eine Schattengestalt, die sich Gedanken machte, die er nicht lesen konnte. Sie war nicht verrückt. Vielleicht hatte sie vor langer Zeit so gewirkt, und ihre Verrücktheit war nur die Art und Weise gewesen, als vernünftiges Mädchen mit einem Mann umzugehen, der in seiner Einsamkeit ein wenig irre geworden oder der schon immer ein bißchen irre gewesen war, als er noch dem einen oder anderen Kaiser diente. Bei ihm hatte sich der Eindruck verfestigt, daß der ganze Kurs falsch war, den sie eingeschlagen hatten, daß Taizu derselben Ansicht gewesen war, sich auf die Zunge gebissen und zugeschaut hatte, daß sie darauf _gewartet_ hatte, daß er ein Wunder vollbrächte oder zur Vernunft käme, ohne genau zu wissen, worauf sie eigentlich wartete. _Ich habe sie gelehrt, schlau zu sein. Ich habe sie einen Narren gescholten und ihr gezeigt, wie man einen ungleichen Kampf gewinnt. Sie hat es gesehen, verdammt noch mal, während ich Reidi und Kegi meinen Kurs bestimmen ließ; natürlich ist Kegi ein Narr, aber Reidi_... _Reidi wirkt so verflucht tüchtig, viel glaubhafter, er packt die Dinge an und bestimmt den Kurs_... _Aber von Anfang an war das Unterfangen mit Fehlern behaftet gewesen, alles beruhte auf einer falschen Beurteilung der Lage, auf der irrigen Annahme, verängstigte Menschen würden ihnen genügend Unterstützung zuteil werden lassen_... _Das ist nicht die Zeit für jemanden wie Kegi. Rechtschaffenheit ist ein verdammt schlechter Ersatz für fehlende Bataillone_... "Wer weiß?" sagte er. "Die Taube kommt vielleicht durch." _Vertraut Ghita nicht_, hatte er dem Kaiser geschrieben. _Rettet Euer Leben_. Und hatte die Nachricht ohne Schnörkel und Titel unterschrieben: _Saukendar_. _*18*_ Shoka setzte die Dolchspitze auf seinen Handrücken, und als das Blut hervorspritzte, verteilte er es auf dem Verband, der Taizus Wangen und Kiefer verhüllte. "Ah", machte sie, als das Blut durchsickerte. Sie verdrehte die Augen. Der Mund war verdeckt. Und der Verband nahm ein überzeugend abstoßendes blut-durchtränktes Aussehen an. "Du hast einen Pfeil durchs Gesicht abbekommen", sagte er. "Er hat dir ein paar Zähne ausgeschlagen und dir den Mund aufgerissen, du kannst nicht sprechen, bloß grunzen. Wir werden den Verband einmal täglich anfeuchten. Nach ein paar Tagen wird er richtig gut aussehen." Er wickelte sich einen Lappen um seine linke Hand und ließ ihn von einem von Reidis Männern festbinden. Auch durch diesen Lappen sickerte Blut. Die Männer, die Reidi ihnen mitgegeben hatte, waren Gefolgsleute eines Fürsten, steif und korrekt - in Gegenwart eines Herrn. Er unterwies sie in schlampiger Dienstauffassung und Zügellosigkeit, er brachte ihnen bei, wie man im Grenzdialekt _ja_ und _nein_ sagte, in der ländlichen Mundart von Hoishi, die ebenso weit am westlichen Rand beheimatet war wie Taizus im Osten und die in ihrer stärksten Ausprägung für einen Einwohner Chiyas unverständlich war, und erst recht für einen Fremden: _Sprecht Dialekt_, hatte er ihnen eingeschärft, so _breit wie ihr könnt. Die Fittha werden glauben, ihr wärt aus Oghin, und die Leute aus Oghin werden euch für Fittha halten _- Letzteres in passabel fremdländischem, nordwestlichem Dialekt, der ihm einen Blick von Taizu einbrachte. _Verwirrt sie_. Sie hatten einige wertvolle Dinge dabei - darunter das, was sie von den Söldnern am Ygotai und weiter nördlich erbeutet hatten. Das eine war eine elfenbeinerne Spange, das Abzeichen eines Kuriers. Einer aus Aghis Truppe, bedeutete es. Und sie verfügten über Namen. Taizu kannte sie: Die haben uns oft genug überfallen, hatte sie gesagt. Wir mußten schließlich wissen, mit wem wir es bei Gitus Leuten zu tun hatten. Ich weiß nicht, wer jetzt noch lebt und wer nicht, aber es sind echte Namen. Taizu saß auf einem Stein, das halbe Gesicht von einem blutigen Verband bedeckt, und trank etwas Tee, der auf den Verband Flecken hinterließ - um so besser. "Hier", sagte sie durch den Verband hindurch und bot ihm den Becher an, und er nahm ihn, dankbar für die Wärme nach dem Blutverlust. Seine Hand zitterte. Er hätte eines der Pferde nehmen sollen, dachte er. Aber sie brauchten all ihre Kraft: er hingegen konnte sitzen, zumindest den nächsten Tag über; und mit einer menschlichen Hand war es am einfachsten, das Blut an die gewünschte Stelle zu plazieren und einen Verband mit einem glaubhaften Muster zu tränken. Eine häßliche Verletzung. Eine ausreichend glaubhafte Erklärung für das Schweigen des wild blickenden Jungen im Schafsfell - und sein verhülltes, allzu glattes Kinn. Es war inzwischen vollständig hell geworden, und bis jetzt war ihnen auf den Nebenstraßen niemand begegnet. Eine kleine Pause, um heißen Tee zu trinken und den kalten Reis von gestern zu essen, dann hieß es wieder aufsitzen. Die Männer wirkten bei Tageslicht ernüchtert, sorgenvoll, unrasiert, vielleicht wurde ihnen nun klar, daß sie sich in eine andere Art von Gefahr hineinbegaben als ihre Kameraden, die mit Reidi und Kegi im Süden zurückgeblieben waren, eine Gefahr, die weniger unmittelbare Tapferkeit als vielmehr starke Nerven erforderte. Vielleicht, dachte Shoka, wunderten sich die Männer, warum Taizu sich mit blutigen Bandagen einwickeln ließ, anstatt ihre Gestalt zu verändern; doch niemand stellte eine Frage - was vermutlich bedeutete, daß sie sich ihre eigenen Erklärungen zurechtlegten, nach denen er sich lieber nicht erkundigen und die er sich auch nicht vorstellen wollte. Verdammt, die Glaubensfähigkeit der Menschen, wenn sie dazu gezwungen waren - wo sie ansonsten hätten wissen müssen, daß sie bei ihrem Ritt nach Anogi auf sich selbst gestellt waren und sich auf keinen von den Göttern Gesegneten oder besonderer Taten Mächtigen verlassen konnten, der sie an den Söldnern des Regenten vorbeizaubern würde. Vor die Wahl gestellt, hätte er selbst ein oder zwei Dämonen vorgezogen. Doch als zweite Wahl, in einer Notlage, in der es auf Klugheit ankam, konnte er immer noch auf Taizu zurückgreifen. Es war eine erschöpfte Handvoll von Söldnern, die sich den vereinzelten braunen Bretterhäusern und Fischerhütten unterhalb der Südstadt von Anogi näherte - Shoka hoffte jedenfalls, daß es das war, was die Stadt sah, elf Männer in bunt zusammengewürfelten, mit gelbem Staub bedeckten Rüstungen und Pferde, die einmal braun gewesen waren und die wie ihre Reiter eine gespenstisch gelbe Farbe angenommen hatten; ein Reiter mit einem bandagierten Gesicht, dessen Kleidung von Dreck und altem und frischem Blut verkrustet war und der inmitten der anderen, von denen einige kleinere Verletzungen aufwiesen, vor Erschöpfung im Sattel zusammengesackt war. Kein imposanter Anblick - die Aufmerksamkeit, die ihnen die Stadt Anogi zukommen ließ, als sie die Straße entlangritten, beschränkte sich auf einen gelegentlichen verdrießlichen Blick und das wiederholte leise Schließen von Fensterläden und Türen. _Klick. Bumm_. Durch die Stadt hindurch und an den Söldnern vorbei, die am Fluß Wache hielten - ein verkommenes Lager, um ein Lagerfeuer aus Brettern herum und vor der Hütte des Fährmanns verstreute Ausrüstung... "Dort ist die reine Hölle", sagte Shoka, der bei einem gelangweilten Söldneranführer hockte und ein bißchen Reis und Trockenfisch eintauschte, während seine Leute auf die Fähre warteten. "Hör mal, mach uns nicht arm. Das ist ein lausiges Stück." Der Mann warf ein abgebrochenes Stück Fisch auf den schmutzigen Sack, sah mit dem Mehr-gibt-es-nicht-Blick finster zu ihm auf. "Eins sag ich dir", meinte Shoka im Plauderton, "ich bin aus Bagoi, und ich würde lieber früher als später dorthin zurückgehen. Nichts als Lügen. _Die kämpfen nicht_, sagt der Hauptmann. Blödsinn. Sie haben uns niedergemacht. Sie haben uns im Süden regelrecht niedergemacht." "Wo nehmen sie Aufstellung?" "Überall und nirgends, das ist es ja! Die ganze Gegend wird von den Rändern her unsicher. Das gefällt mir nicht. Ich und meine Leute, wir würden uns am liebsten nach Mandi absetzen, machen, daß wir wegkommen, aber wir haben keine Bezahlung gekriegt, so war das, und es wird ein verdammt langer Winter..." "Dieser Saukendar - dieser Kriegsherr, der dort angeblich aufgetaucht sein soll. Habt ihr davon was mitbekommen?" "Ich nicht. Keine Ahnung, was da los war. Wir haben nichts gesehen, und da, wo wir unsre Leute treffen sollten, da waren sie, und ich weiß bloß, daß der Hauptmann tot war, es gab keine Bezahlung, und ich sagte zu meinen Leuten, wir reiten nach Norden, so war das - nach Norden, über den Fluß, irgendwohin, wo wir Geld kriegen, verdammt noch mal. Wo wir genug Geld im voraus kriegen, damit wir nach Hause kommen, wenn's schiefgeht..." "Glaubst du das?" "Keine Ahnung, Mann, keine Ahnung." Mit Erleichterung sah er die Fähre aufs Ufer zukommen. Er faltete den Sackfetzen um den Fisch zusammen, stopfte ihn in seinen Beutel und erhob sich. "Ich sag dir was - ist gar nicht so verkehrt in diesen Zeiten, wenn man sich ein Hintertürchen offenhält. Von jetzt an verausgaben wir uns nicht mehr. So seh' ich das." Der Söldner schaute ihn besorgt an. "Sie sind geradewegs nach Norden hoch", sagte Shoka. "Nach Lungan, würde ich meinen; dort setzen sie über, greifen gleich die Hauptstadt an, und dann sehen sie zu, wie der ganze Mist auseinanderfällt. Reguläre Soldaten sind mir lieber als irgendwelche Bauern, die einen aus dem Gebüsch abstechen, das kannst du mir glauben. Aber hier tut sich nichts... bestimmt nicht..." Da legte die Fähre an. Elf Reiter und elf Pferde: eigentlich hätten jetzt am Morgen Städter und Bauern mit der Fähre übersetzen sollen, doch niemand schloß sich ihnen an. Die Pferde gingen ängstlich das kleine Holzpier zur Laderampe hinunter und mußten festgehalten werden, als sie schwankenden Boden unter den Füßen spürten (selbst nach all den Jahren hätte Jiro die Fähre mit hochmütiger Geringschätzung betreten), doch dem Himmel sei Dank gab es an Deck drei massive Verschläge, sonst wäre mindestens eines der Pferde ins Wasser gesprungen, wahrscheinlich der schwarzfüßige Braune mit der zernarbten Brust. (Wenn Shoka an den Ritt zurückdachte, wäre er das Pferd am liebsten losgeworden. Als er ihm den Kopf fest an den hohen Pferch gebunden hatte, beruhigte es sich jedoch.) Während die Fährleute die großen Ruder bedienten, rückte die eigentliche Stadt Anogi langsam näher - diesmal war es eine freibewegliche Fähre (der Hisei war zu breit und zu befahren, als daß man ihn an Seilen hätte überqueren können), ein flacher Flußkahn, der von einem Ufer zum anderen einen sichelförmigen Kurs beschrieb, ein Kompromiß mit der Strömung, während größere und kleinere Boot flußabwärts vorbeifuhren, Fischerboote, Lastkähne und dergleichen. Wenigstens hatte der Handel nicht aufgehört; der Fluß wirkte so normal, als wäre im Süden überhaupt nichts passiert - andererseits, wer vom Handel lebte, mußte auch handeln, und Soldaten aßen Reis und brauchten Stoffe und Eisen. Und die Fischer mußten fischen: die Welt mochte aus den Fugen geraten sein und am Rande einer Katastrophe stehen, aber die Boote mußten ausfahren, solange das Wetter es zuließ. "Ihr solltet nicht mit ihnen reden", murmelte Taizu. Sie hielten sich in der Nähe der Verschlage auf und beruhigten die Pferde, als die Fähre im Kielwasser eines vorbeifahrenden Lastkahns schwankte. "Ihr seid ein Risiko eingegangen. Ihr habt immer gesagt, geh kein..." "Ich habe günstig einen halben Fisch erstanden", sagte Shoka. "Ich finde, das war ganz schön raffiniert von mir." "Ihr sollt Euch nicht lustig machen! Es sind zu viele!" "Es wird schon klappen. Mach nicht so ein sorgenvolles Gesicht." "Ich soll mir keine Sorgen machen! Was anderes..." Ein Bootsmann kam auf dem Weg zum Bug vorbei, und Taizu verschluckte den Rest ihres Satzes. Sie liefen ins eigentliche Anogi ein, das in Reihen angeordnet über dem Flußufer aufragte, schräg gegenüber der anderen Hälfte der Stadt - doch dorthin trieb die Strömung die Fähre, und so waren die beiden Hälften gewachsen. "Armer Junge", sagte Shoka. "Du solltest lieber nicht reden. Das wird schon wieder." Taizu funkelte ihn an. "Vertrau mir", sagte Shoka und legte ihr eine Hand auf die Schulter. "Es wird schon klappen. Bestimmt." "Aber nicht, wenn Ihr weiterhin mit Soldaten redet!" "Aber ich _war_ mal einer", sagte Shoka. "In dieser Hinsicht brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Ich möchte bloß wissen, wo die verdammten Söldner aus Choedri stecken. Vielleicht in der Garnison von Anogi. Vielleicht in Lungan oder dahinter. Danach kann ich mich nicht so ohne weiteres erkundigen, ohne zuviel zu verraten. Aber ich hatte meine Informanten in Lungan. Wir werden ja sehen, ob noch jemand davon da ist..." "Und wenn sie genügend Angst vor Ghita haben..." "Das Risiko müssen wir eingehen. Es gibt immer ein Risiko. Die Menschen verändern sich. Loyalitäten ebenfalls. Glaub ja nicht, ich hätte mir darüber keine Gedanken gemacht." "Mit wem wollt Ihr sprechen?" flüsterte sie; und verschluckte alles weitere: der Bootsmann kam wieder, kehrte im Zuge des Anlegemanövers ans Heck zurück. "Mit alten Bekannten", sagte Shoka im Flüsterton und hielt Ausschau über den Bug der Fähre, der nordwärts auf Anogi zeigte. Er dachte an den alten Mann und gleichzeitig an Lungan. Er fragte sich, ob Jojin wohl noch lebte - ob der alte Grammatiker zu politisch gewesen war, um überlebt zu haben; oder ob Jojins Verbindungen zum Priesterstand ihm den Hals gerettet hatten. Zwei Tage unterwegs, und er hatte von dem Fährwächter am Ufer von Tengu nichts erfahren, was er nicht schon gewußt oder geahnt hätte. Die allgemeine Lage bestand schon zu lange, um darüber zu klatschen, die aktuellen Details waren zu verwickelt, um bei jemandem, der einen allgemeinen Alarm auslösen konnte, blindlings danach zu bohren - aus diesem Grund hatte er es aufgegeben, Neues in Erfahrung bringen zu wollen, und war um den heißen Brei herumgeschlichen. Darum war er ganz schnell wieder auf den Fisch zurückgekommen und hatte versucht, nichts zu sagen und möglichst viel aus Andeutungen zu erraten. Was Saukendar betraf: ja, die Söldner nördlich des Flusses wußten, daß er unterwegs war. Was den Aufruhr im Süden und die Möglichkeit anging, er könnte ins Chaos abgleiten: dies beunruhigte sie, und es fiel ihnen leicht, daran zu glauben. Was den Söldnertrupp anging, der ohne seinen Hauptmann nach Norden unterwegs war; alles, was er behauptet hatte, nämlich einem Nachtangriff entgangen und nach Norden gekommen zu sein, um Bericht zu erstatten, war ihnen glaubhaft vorgekommen. Den Göttern sei Dank. Zwei von sieben Tagen waren um. Und er war Lungan noch nicht so nahe gekommen, wie er es sich gewünscht hätte. Nichts war so weit gediehen, wie er es sich gewünscht hätte. Er hatte einen der Vögel mitnehmen wollen. Wenn ihm eine Erklärung dafür eingefallen wäre, warum ein Trupp gewöhnlicher Soldaten einen Taubenkäfig mitschleppen sollte, dann hätte er es getan. Doch es konnte zuviel schiefgehen dabei, das Risiko war zu groß, daß ein solcher Vogel entkam oder mit der falschen Botschaft freigelassen wurde. Darum die simple Vereinbarung mit Reidi und ein Zeitplan, der eingehalten werden mußte. Stoßt nicht blindlings nach Lungan vor, hatte er gesagt. Stellt euch darauf ein, zu improvisieren. Haltet euch nicht auf Biegen und Brechen an eure Anweisungen. Er vertraute darauf, daß ein Mann, der im Lauf der Jahre schon so vieles bewerkstelligt hatte, über die geistigen Fähigkeiten verfügte, in einer Krise zu improvisieren: er vertraute dem Mann vollkommen, er hoffte, daß Reidis körperlichen Kräfte der Belastung standhalten würden, er hoffte, daß Reidi die moralische Kraft besaß, sich gegenüber Narren wie Kegi und Meijun zu behaupten. Das waren große Hoffnungen, die er in einen alten und bislang seßhaften Herrn setzte, und einen wirren, närrischen Augenblick lang hatte er sogar überlegt, ob Taizu als Befehlshaber zu dieser Art Urteilskraft fähig wäre - es mangelte ihm an Talenten, und sie hatte das, worauf es ankam, dachte er, sie besaß die nötige Vorstellungskraft und das Gespür, um in jeder Lage, von der Taktik auf dem Schlachtfeld einmal abgesehen, die richtige Entscheidung zu treffen, wenn sie nur über die nötige Lebenserfahrung verfügt hätte, um Feigheit und Gier und das Haschen nach Ruhm bei sich zu erkennen. Sie lernte schnell. Er hatte das Glitzern in ihren Augen gesehen, er hatte gesehen, wie sie bei Beratungen lauschte, mit zusammengepreßten Lippen und stumm, er hatte die winzigen Regungen in ihrem Gesicht bemerkt, wenn jemand in ihrer kleinen Runde einen Vorschlag machte, den er selbst zurückweisen mußte - _sie_ wußte Bescheid. _Ganz ausgezeichnet, Mädchen. Bis jetzt lief alles ganz ausgezeichnet_. _Ich sollte sie jetzt gehenlassen_. Dann wurde ihm klar, daß er ans Sterben dachte. _Plant Euren Rückzug, Meister Shoka_... Er spürte den Schmerz in seinem Bein, den alten Schmerz, der ihn während des langen Ritts nie ganz verlassen hatte. Er erinnerte sich ans Holzhacken, an Taizus skeptischen Blick. An diesen Blick dachte er, als die Fähre ans Ufer stieß und der Offizier der diesseitigen Wache herbeikam und sich nach ihren Namen und ihrem Anliegen erkundigte. Sein Herzschlag beschleunigte sich daraufhin; und er konzentrierte sich darauf, ein Sengi zu sein, ein Söldner aus Aghis Schar, der eine elfenbeinerne Kurierspange trug und der dem ganzen Ärger vorausgeeilt war. "Ich sollte Bericht erstatten", sagte er zum Wachoffizier; und dann, indem er es darauf ankommen ließ: "Es hieß, ich sollte besser mit den hohen Tieren sprechen, wenn wir was wissen, dann werden sie's hören wollen. Wo sollen wir hin?" "Die sind alle in Lungan", sagte der Wachoffizier. "Alle sind sie dort." "Irgendwo wollen _die_ hin", murmelte Shoka und verstaute die Spange wieder in seiner Gürteltasche. "Schnell. Sie reiten geradewegs nach Norden, haben von Westen her Verstärkung bekommen. Eine ganze Menge. Waren wahrscheinlich von Anfang an dabei, und es sind einfach zu viele, überrennen alles. Dort unten schießen die Gerüchte ins Kraut - in Taiyi soll's angeblich einen Drachen geben. Und einen Dämonen in Saukendars Armee. Die sind verrückt, wenn Ihr mich fragt." "Hat ihn jemand gesehen?" Der Hauptmann sah aus, als käme er aus Fittha. Seine Rüstung war mit Amuletten behängt, und an den Handgelenken trug er geflochtene Talismane aus Roßhaar. "Was für ein Dämon soll das sein?" "Wenn ich's nur wüßte. Wenn's dort einen gab, hab' ich ihn nicht gesehn, ist mir auch lieber so. Da müssen die Priester ran. Die sollten besser mal was unternehmen und ihre Räucherstäbchen anzünden, verdammt noch mal, also ich werd' mich hüten und nach ihm suchen, ich nicht." Der Hauptmann kratzte sich und rieb an einem seiner Talismane. "Und was macht die Truppe im Süden?" Shoka zuckte die Achseln. "Keine Ahnung. Ich weiß nicht, wer sich da rumtreibt, ich hab' nichts gesehn. Was im Dunkeln über uns hergefallen ist, war verdammt schnell, und wir kamen mit dem Leben davon, das ist alles. Wir wissen bloß, daß Hoishi verloren ist. Von dort haben wir Berichte bekommen; Hoishi gehört zu den Rädelsführern, und im Westen haben wir Fahnen gesehn. Also, ich weiß bloß, daß niemand was weiß, aber ich schätze, jemand sollte Bescheid wissen, bevor das Vieh über'n Hisei kommt. Ich mach' mich besser mal auf den Weg." "So etwas können wir hier nicht gebrauchen", sagte der Wachhauptmann und nickte in Taizus Richtung, die ihr Pferd an Land gebracht hatte und mit allen Anzeichen von Erschöpfung aufsaß, während das Pferd scheute und sich solange im Kreis drehte - _du meine Güte, von hinten! _-, bis Taizu torkelnd herumsprang und sich in den Sattel zog, während das Pferd dem Hauptmann die Sicht auf ihr weibliches Hinterteil versperrte. "Den solltet ihr besser in einem Lazarett lassen." "Mein Vetter", meinte Shoka. "Hab' ich ihm auch gesagt. Aber er will nicht. Hat Angst, er könnte von uns getrennt werden. Und ich hab' seinem Vater versprochen, ich würde ihn wieder nach Hause bringen." Shoka saß auf und zog die Zügel straff. "Lungan. Wir werden's schon schaffen. Würde am liebsten hierbleiben. Ist viel sicherer hier..." Das Pferd wollte sich bewegen. Er tippte es mit den Hacken an, und die anderen folgten ihm, klapperten den steinernen Landeplatz hoch und auf die Straßen von Anogi hinaus. _Alle sind in Lungan_. _Auch Ghita_? _Wo, zum Teufel, ist der Kaiser zur Zeit_? _Oder diese verdammte Taube_. Taizu schloß zu ihm auf. Sie sagte nichts. Fast wäre ihm das Herz stehengeblieben, als sie vor den Augen des Hauptmanns hatte aufsitzen müssen. "Der Mantel ist nicht lang genug", sagte Shoka. "Sei vorsichtig, wenn ein Mann hinter dir ist." "Ich hab's gemerkt", sagte sie mit zusammengepreßten Zähnen. "Meint Ihr, er hat was gesehen?" "Du hast es überspielt. Hoffentlich." Um sie herum breiteten sich die Straßen Anogis aus, der Markt am Fluß, eine Straße, die zum Stadtrand führte, und sie beschleunigten etwas das Tempo und rückten zusammen, passierten im Gänsemarsch einen Wagen und sammelten sich wieder, während sie am Ufer entlangritten, vorbei an vertäuten Lastkähnen und kleinen Handelsbooten. Dabei ging ihm nicht aus dem Sinn, daß es nicht klappen würde, daß die Wachen sich über Taizus Eigenheiten Gedanken zu machen oder daß sie sich an seinen Akzent erinnern und Verdacht schöpfen würden. Nicht weniger nervös als die Männer an seiner Seite rechnete er ständig damit, verfolgt zu werden, und er wagte nicht, sich häufiger umzuschauen, als von jemandem, der seine kleine Schar auf einer Stadtstraße zusammenzuhalten versuchte, zu erwarten war. Doch da kam schon das Stadttor - ein bloßes Wahrzeichen, da sich Anogi längst über seine alten Grenzen hinaus ausgedehnt hatte, so daß man in die Mauer Häuser und Geschäfte hineingebaut hatte und das bogenförmige Tor zu einem Unterschlupf für Bettler geworden war. Schrecklich viele Bettler gab es, Lahme und Verstümmelte, von denen einige zweifellos einmal Soldaten gewesen waren. Oder Bauern. Bei diesem Gedanken wurde er wütend. Er sah ihre Anzahl - er sah die Wunden, die Art Wunden, die Schwerter schlugen, er sah den Haß, der ihnen entgegenschlug, als sie durch den Schatten ritten... ...Haß auf Fremde, auf angeworbene Soldaten, auf zehn Jahre Unterdrückung. Taizu fiel ihm ein, wie sie zu ihm auf die Veranda heraufgeblickt hatte. _Gerechtigkeit, Meister Saukendar_. Und voller Schmerz dachte er: _Junge Närrin, ich kann dir nicht helfen_... Doch bis nach Lungan oder zum Regenten war es nicht mehr weit. Und im Moment war er tatsächlich wütend und empfand einen Zorn, den erst Taizu nach vielen Jahren wieder in ihm wachgerufen hatte. Aus dem Schatten ins Licht, und vor ihnen lagen die Ausläufer der Stadt, Menschen gingen ihren Geschäften nach, wichen den Söldnern auf der Straße einfach aus, so lebten die Menschen - abgesehen von den wenigen jungen Männern auf den Straßen. Unter den Bettlern waren junge Männer gewesen, und es gab ein paar in den gelben Roben der Mönche... Das waren auch schon alle. Und die Frauen verhüllten sich mit Kopftüchern und formlosen Mänteln, sie sahen müde aus, abgehärmt und freudlos, sogar die jungen. Die Gespenster lachender Mädchen huschten durch seine Erinnerung, helle Farben, lockende Augen, tanzende Schritte... Die Frauen von Chiyaden, die jungen Frauen, die mit gebeugtem Rücken verängstigt am Flußufer entlanggingen... Taizu am Fuße der Verandatreppe: _Unterrichtet mich, Meister Saukendar_... Taizu, im Regen auf den Baum einschlagend, Taizu im Dreck liegend, während Blitze zuckten... Taizu mit dem dämonischen Gesichtsausdruck, bleich und naß und schrecklich... Die neben ihm ritt, so unbeugsam, wie er es niemals gewesen war: _Gerechtigkeit, Meister Saukendar_... Er war sich nicht sicher, was für eine Art Gerechtigkeit am Hof von Cheng'di herrschte, doch er hatte eine Vorstellung davon, welche Art Gerechtigkeit er den Narren zuteil werden lassen würde, welche die Jugend Chiyadens in Grenzkriegen verschlissen, ihr eigenes Land ausplünderten und ihre Macht mit Söldnern aufrechterhielten... Welche die jungen Männer aus den Provinzen als Münze benutzten, mit der sich Bündnisse kaufen ließen, indem sie den einen Barbarenkönig unterstützten, den anderen bekämpften - was sie dann Staatsgeschäfte nannten... Wenn diesem Monster der Kopf abgeschlagen wurde, war die Schlacht erst zur Hälfte gewonnen: die restlichen Glieder reichten in jede einzelne Provinz Chiyadens; sie würden einen schweren Tod sterben und Tod und Vernichtung säen, so weit die Macht der Söldnerbanden reichte. Doch das wäre auch nicht schlimmer als das, was er um sich herum sah. Es war unmöglich, das Land von dieser Bestie zu befreien; und Gnade den Menschen, wenn sie ihr den entscheidenden Schlag versetzten. Gnade den Menschen, wenn sie es nicht täten. So dachte er mit jedem Schritt, den die Pferde vorwärts taten. In fünf Tagen würde Reidi sich aus der Deckung begeben und mit ihm alle Hoffnung auf einen Umsturz von Ghitas Regime. In fünf Tagen sollte die Brücke von Lungan besser offen sein. Es war aussichtslos, von dieser Seite des Flusses aus einen der Männer rechtzeitig zu Reidi zurückzuschicken, um ihm mitzuteilen, daß er seine Pläne ändern mußte, und genau das hätte er liebend gern getan, denn nach allem, was er von dem Fittha gehört hatte, nahm er an, daß Ghita vorgewarnt und darauf vorbereitet war, an der Brücke von Lungan eine Front zu errichten. Das verriet etwas über den Norden, nämlich daß Ghita die kaiserliche Provinz unter Kontrolle wähnte, so daß er Lungan tatsächlich halten zu können meinte, ohne sich Sorgen machen zu müssen, daß ihm jemand in den Rücken fiel. Soviel zur Hoffnung, die kaiserlichen Truppen in der Provinz könnten meutern oder die Rebellion könnte von der Grenze überschwappen oder wenigstens genügend Unruhe bewirken; in diesem Fall hätte Ghita sich bis hinter Cheng'di und über den Chaighin zurückgezogen, auf sein eigenes Land in Kenji und Angen, von wo aus er Ayenden, Shangei, P'eng und Yiyang, wo der Großteil seiner Söldnertruppen stand und wo seine Anhänger Fürstentümer innehatten, praktisch abschneiden könnte - ein langwieriger, häßlicher Krieg, aber immer noch besser, als ihn im Herzen von Chiyaden auszufechten. Doch offenbar waren die kaiserlichen Truppen nicht abtrünnig geworden, und Ghita hatte den Hisei, nicht den Chaighin, zu seiner Abwehrlinie auserkoren, und der Kaiser und die Hauptstadt waren fest in Ghitas Hand. Eindeutig nicht das, worauf er gehofft hatte. Die wenigen Leute, die auf der Straße nach Lungan unterwegs waren, wirkten hoffnungslos; ein paar Händler, furchtsame Adlige in reichverzierten, mit Blumen bemalten Kutschen, Landvolk mit schlichten Bauernwagen oder einfach nur arme Städter, die mit Körben und Bündeln daherkamen. Wenn sie Soldaten sahen, fuhren sie an den Straßenrand und bewegten sich nur noch im Schrittempo vorwärts oder blieben gleich ganz stehen und verneigten sich respektvoll, ohne überhaupt aufzusehen. Taizu ritt kaltblütig an ihnen vorbei, wachsam, ständig auf der Hut, wie er es sie gelehrt hatte, und beobachtete mit scharfem Blick über die Maske ihres schmutzigen Verbands hinweg, während die Männer, jedenfalls einige von ihnen, schweigend daherritten und es vermieden, die Leute anzusehen; aus Scham, dachte Shoka; oder weil ihnen der Anblick zu sehr zu Herzen ging. Er selbst - er versuchte, sich über seine Empfindungen klarzuwerden, und wurde das Gefühl nicht los, er hätte früher herkommen und alles besser planen sollen, dann hätte er von diesen Leuten auch mehr Unterstützung bekommen - wenn sie überhaupt willens waren, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Er war sich nicht sicher, ob er sie in ihrer Gesamtheit liebte oder ob er ihnen Gewalt antun wollte; oder ob er einfach nur wegreiten und zusehen wollte, wie sie sich aus der Katastrophe herausredeten, so wie sie den Kaiser auf den Thron und Ghita an die Macht und ihn in Ungnade geredet hatten, um dann eine Kehrtwendung zu vollziehen und ihn zu vergöttern, wodurch sie ihm diesen Schlamassel eingebrockt und sein Leben zum Spielball des Volkes gemacht hatten. Er mußte sich beherrschen, um ihnen nicht das zukommen zu lassen, was sie verdienten... ...von Taizu, die eine der ihren war, einmal abgesehen. Das konnte er nicht vergessen, wann immer er irgendeinen armen Kerl mit einem Korb oder einem Bündel sich vorwärtsschleppen sah, mit allem beladen, was ihm wertvoll war, was er von dem ein Leben lang Erarbeiteten hatte retten können. Die Fürsten kämpften, die Fahnen wehten, und die grauen Kolonnen verzweifelter Menschen wanderten durchs Land, mit ihren armseligen Habseligkeiten auf dem Rücken. Seit sie ihn kannte, war Taizus Glauben an die Götter erschüttert. Sie verstand allmählich, woraus die Helden des Volkes gemacht waren - aus Übertreibung, verzweifelten Wünschen und Aberglauben -, und dennoch blieb sie bei ihm, gefangen im selben Netz, während er im Grunde seines Herzens fürchtete, sie könnte eines Morgens zur Vernunft kommen und einen gewöhnlichen, lahmen, vierzigjährigen Mann mit einer häßlichen Veranlagung und zuwenig Geduld mit anderen Menschen vor sich sehen. Macht über andere Menschen zu haben war ihm zuwider. Zutiefst verhaßt. Und manchmal haßte er sie, weswegen er sich aufrichtig schämte, er haßte sie, weil sie all die Tugenden, die sie bei irgendeinem armen Idol bewunderten, abwarfen und aufhörten, um sie sich selbst abzuverlangen. Er wünschte, er hätte tatsächlich ein oder zwei sichtbare Götter gehabt, auf die er alles hätte abwälzen können - aber wenn die Götter für menschliche Nöte empfänglich waren, dann war es nur recht und billig, ihnen nicht dasselbe anzutun, was er bei anderen beklagte: besser war es, er hielt den Mund und tat, was in seiner Macht stand. Dann waren die Götter vielleicht eher zufrieden mit ihm und sprangen ihm notfalls bei. Das war die Quintessenz seiner religiösen Überzeugungen, und an diesem Nachmittag, unterwegs, sie alle zu töten, machte er sich ernsthaft Gedanken darüber. _Also, großer Himmelsfürst, ich bin mir nicht sicher, ob es einen Ausweg aus diesem Schlamassel gibt. Ghita hat die Fremden ins Herz seines Reiches eingelassen. Er ist ein Narr. Natürlich helfen ihm die fremden Könige, während die Armee von Chiyaden in ihren Kriegen kämpft. Aber es sind viel zu viele, nicht wahr, Ghita hat sich in eine Sackgasse manövriert, worüber er sich inzwischen im klaren sein muß - zuviel Unruhe, um der Armee die Heimat anzuvertrauen, darum braucht er die Fremden, um die Ordnung aufrechtzuerhalten, und bestimmt weiß er auch, daß es kein Grenzkrieg bleiben wird, wenn sie einen eigenen Führer finden. Darum muß er den Grenzkrieg weiterführen, nicht nur um die Armeeoffiziere beschäftigt zu halten, sondern auch damit die Unruhe bestehenbleibt, so daß seine ausländischen Verbündeten die Armee von Chiyaden brauchen. Das hält er nur solange durch, bis das ganze Kartenhaus zusammenfällt. Chiyaden wird bezahlen für das, was er im Lauf der Jahre getan hat. Wir haben den Barbaren zuviel über uns verraten. Sie kennen unsere Narrheiten. Bring_ das _in Ordnung, Fürst des Himmels, und rette uns vor unserer eigenen Kurzsichtigkeit: alleine schaffen wir das nicht_. Dies war die erste Unterhaltung, die er seit zehn Jahren mit den Göttern geführt hatte; doch an diesem Nachmittag war ihm danach zumute. Er hatte noch immer keine Ahnung, wie es weitergehen sollte, was auf sie zukam, welche Vorbereitungen ihr Gegner getroffen hatte... Und ständig begegneten sie Leuten, die über diese Informationen verfügen mochten, die aus Lungan oder dessen Umgebung kamen. Die Flüchtlinge, dachte er, die Leute, die ihnen auf der Straße auswichen - sie wußten etwas, das für sie von lebenswichtiger Bedeutung war; und könnten, wenn er ihnen einfach die Wahrheit sagte, das Gerücht zu den Söldnertrupps in ihrem Rücken weitertragen. Er beobachtete einen Wagen auf dem Weg in die Katastrophe, ein Mädchen mit einem Säugling, ein Junge, ein alter Mann - die Wagenräder quietschten unter dem schlecht verteilten Gewicht des Hausrats, und das alte Pferd stapfte schwerfällig voran. Aus einer plötzliche Regung heraus versperrte er dem Zugpferd den Weg, und als er die Panik der Flüchtlinge bemerkte, verneigte er sich im Sattel, höflich und ohne sie zu bedrängen, dennoch schlossen seine wachsamen Begleiter dicht zu ihm auf. "Keine Angst", sagte er im Söldnerdialekt und zeigte seine leeren Hände. "Wir möchten euch nur ein, zwei Fragen über die Wegstrecke stellen. Kommt ihr aus Lungan?" Allgemeines Kopfnicken. "Hält sich der Regent in Lungan auf?" Entsetzte Blicke. "Wo ist Fürst Ghita?" Die Augen blinzelten kaum. Nur das Pferd bewegte sich unruhig unter der überlasteten Deichsel. "Antwortet, verdammt noch mal!" "In Lungan, Herr. In Lungan." Der Großvater, der jeden Moment zusammenzubrechen drohte. "Die Soldaten sind alle dort." "Befestigt?" "Ja, Herr, befestigt." "Wo?" "Im Lager, Herr. Rund ums Lager." Zu verängstigt. Zu unwissend. Alles, was sie sagten, konnte gelogen sein, sie würden alles bestätigen, was er ihnen in den Mund legte, nur um ihm zu Gefallen zu sein. "Fahrt weiter", sagte er und machte ihnen den Weg frei. Aus Mitleid fügte er hinzu: "An eurer Stelle würde ich Anogi weitläufig umfahren und das weitersagen. Dort gibt es eine Garnison. Ich würde einfach nicht in der Stadt sein wollen, wenn sich die Lage zuspitzt. Die Söldner werden wahrscheinlich plündern und geradewegs nach Mandi weiterziehen. Sagt das weiter. Umfahrt Anogi im Norden, haltet euch an die Landstraßen. Dort ist es viel sicherer für euch." Noch immer starrten sie ihn mit geweiteten Augen an. Der Säugling weinte, und das Mädchen legte ihm eine Hand auf den Mund, drückte ihn an sich. "Fahrt weiter", sagte er. Sie trieben das Pferd an. Der Wagen rollte vorbei. "Und werft ein Drittel von dem ganze Mist weg!" schrie er ihnen durch das Quietschen der Räder hindurch nach. "Ihr werdet das Pferd vielleicht noch brauchen." Es bestand kaum Aussicht, daß sie seinen Rat beherzigen würden. Er starrte der unaufhaltsamen Katastrophe hinterher. "Man kann ihnen nicht trauen", sagte Taizu, zu ihm aufschließend. "Sie haben zuviel Angst. Sie würden niemals mit einem Soldaten reden." "Verdammte Narren." Eigentlich wußte er es besser. Er war wütend auf sich selbst, wütend auf sie, aus zu unterschiedlichen und verworrenen Gründen, als daß sie einen Sinn ergeben hätten. _Wenn Ihr dort wärt_, hatte Taizu vor langer Zeit einmal zu ihm gesagt, _dann würdet Ihr schon für Ordnung sorgen_. _Bestimmt würde ich das_. Als kletterte man einen Steilhang hoch. Die Blicke nach unten waren es, die einem auf den Magen schlugen, die plötzliche Erkenntnis, wo man war und was man tat und was einem noch bevorstand. Ein Stück weiter die Straße entlang, in Gedanken versunken, während er die Menschen, denen sie begegneten, mit den Augen nach Waffen absuchte. Aber von den Wagen und Kutschen, von den Menschen, die dem drohenden Unheil zu entkommen suchten, die in Panik einer Gruppe Berittener auswichen, die sie für Söldner aus Oghin hielten, ging keine Bedrohung aus. Sehr wenige junge Männer, sehr wenige; abgesehen von einem gelegentlichen Bediensteten eines Fürsten oder einem Leibeigenen, dem Sohn einer Witwe - alles Grunde, von der Einberufung befreit zu werden. Und seitens dieser wenigen nichts als gesenkte Köpfe und ausweichende Blicke, als hätten sie Angst, jeden Moment könnte das Auge eines Soldaten auf sie fallen und die Befreiung widerrufen. Natürlich wurden junge Männer zwangsweise aus den zentralen Provinzen rekrutiert, vor allem aus der Umgebung der Hauptstadt, aus den Landflecken und Städten, wo Unzufriedenheit gärte und sich junge Männer in Tavernen und Teehäusern versammelten. Und diejenigen, die übriggeblieben waren, würden ihre kostbare Befreiung bestimmt nicht aufs Spiel setzen. Darum würden sie nichts tun, nichts wagen; doch die Gefahr bestand, daß sie bei der Annäherung von Soldaten in Panik gerieten, daß sich herausstellte, daß sie eine Waffe mit sich führten. Darum ritt er plötzlich auf eine der Frauen zu, als sie wieder einmal auf eine Gruppe Flüchtlinge trafen - auf die hinterste, die unter einem viel zu großen Bündel einherstapfte und keine Möglichkeit zum Davonlaufen hatte. Als er vor ihr anhielt, sah sie hoch. Sie hatte ein recht hübsches Gesicht. Oder zumindest war es einmal hübsch gewesen, wenn man vom Dreck und dem Schweiß und der Angst einmal absah. "Mädchen", sagte er, beruhigte sein tänzelndes Pferd und bemerkte aus den Augenwinkeln, daß der vorletzte Nachzügler der kleinen Schar zurückgeblieben war, ein alter Mann mit einem Karren, der aussah, als wollte er irgendeine Verzweiflungstat begehen - und als sei er sich über den Wert einer moralischen Handlungsweise nicht ganz im klaren. "Nur ein paar Fragen, Mädchen." Diesmal mit einem kultivierten Akzent, in ausgesprochen höflichem Ton. "Ich will dich nicht aufhalten, ich werde dir nichts tun. Wer hat in Lungan das Kommando?" "Fürst Ghita", stammelte sie. "Ist er persönlich anwesend?" Ein entschiedenes Nicken mit dem Kopf. Ein furchtsamer Blick, jedoch verbunden mit einer Neueinschätzung. _Wer seid Ihr_? bedeutete dieser ängstliche Blick, jedoch auch die plötzliche Erkenntnis, daß sie keinen Söldner vor sich hatte. "Wer greift ihn an?" "Herr?" "Wer greift Lungan an?" Ein Zögern. Das Pferd zerrte an der Kandare, und er hielt die Zügel straff, wartete auf die Antwort. "Die Fürsten aus dem Süden, heißt es." "Wer führt sie an?" "Fürst Saukendar, sagt man. Man sagt, sie hätten Dämonen dabei. Man sagt..." "Was, Mädchen?" "Sie würden ihm helfen." Ein rasches Schlucken, als hätte sie schon zuviel gesagt. Ihr Mund zitterte, und sie preßte ihn fest zusammen, ziemlich bleich im Gesicht. "Wo befindet sich der Kaiser zur Zeit, weißt du das?" Eine verzweifelte Bewegung mit dem Kopf. _Nein_. Sie sah auf seine Hände, dann wieder in sein Gesicht. Und der alte Mann schlich immer noch am Rand seines Gesichtsfelds herum. "Der alte Mann dort drüben scheint dir helfen zu wollen. Kennst du ihn?" Ein wilder Blick. "Nein. Nein. Tu ich nicht." "An deiner Stelle würde ich mich an ihn halten. Er scheint was wert zu sein." "Herr?" Er jedoch gab dem Pferd die Zügel frei, es ging weiter, und die wartende Gruppe schloß ebenfalls im Schrittempo zu ihm auf; nach einem langen Tag waren die Pferde müde. "Ghita ist in Lungan", sagte er, "und man weiß, daß ich im Süden meine Hand mit im Spiel habe. Die Gerüchte haben den Norden erreicht." "Jawohl, Herr", sagte der Anführer. Das war schon die ganze Unterhaltung, die er für gewöhnlich mit den Männern führte. Aber sie waren verläßlich, und keiner von ihnen war schwer von Begriff. Nicht einer von ihnen machte mal einen Vorschlag. Wenn sie nebeneinander ritten oder eine Pause einlegten, unterhielten sie sich in gedämpftem Ton, manchmal warfen sie ihm oder Taizu Blicke zu. Manchmal wirkten sie ernsthaft besorgt. So wie jetzt. _Ob sie sich wohl fragen, was wir vorhaben_? dachte Shoka. _Ob sie sich fragen, wie wir nach Lungan hineinkommen sollen, was wir dort machen werden und weswegen sie mitgekommen sind_? Das _tue ich auch. Ich denke immer noch drüber nach. Oder vielleicht habe ich auch einfach nur eine Vorliebe für Frauen mit Körben_. Mit dem letzten Rest Tageslicht fanden sie eine Mauer und eine Hecke, wo sie sich unterstellen konnten, ein alter Schrein, den die Männer für ein gutes Omen hielten; sie opferten etwas Reis, ein wenig Wein und erwiesen den Göttern und Ahnen mit größerer Inbrunst ihren Respekt, als man von Fremden eigentlich erwarten sollte. Vielleicht baten sie die Götter um Unterstützung. Oder sie beteten für das Wohlergehen ihrer Frauen und Eltern, die sie vielleicht nicht wiedersehen würden. Es war jedoch niemand da, der sie hätte sehen können; mit Einbruch der Dämmerung hatte die Zahl der Flüchtlinge stark abgenommen, und niemand wollte in ihrer Nähe sein. Keine Flüchtlinge und keine Anzeichen von anderen Einheiten, was seine größte Sorge gewesen war - nämlich auf irgendeine andere Gruppe von richtigen Söldnern zu treffen, die nach Lungan unterwegs war oder von dort kam. Bis jetzt war es gutgegangen, und entweder hatten sie das richtige Tempo vorgelegt, um niemandem zu begegnen, oder es waren nur noch sehr wenige Truppen nach Lungan unterwegs und niemand kam mehr heraus. Also gab es ein einfaches, nahrhaftes Mahl und ein Lager, wo man in Ruhe sitzen und wieder Atem schöpfen konnte, anstatt auf der Stelle einzuschlafen. "Wir könnten etwas Zeit gewinnen", hatte Shoka zu ihnen gesagt, als sie angehalten hatten, "aber ich kenne die Straße, und bei den Göttern, ich kenne Lungan. Wir können jetzt rasten, ein bißchen schlafen und morgen gegen Mittag dort sein, und wenn der Verkehr dorthin nicht ganz eingeschlafen ist, kann uns das nur nützen. Ich würde lieber keine Fragen beantworten, wenn es sich machen läßt; wenn wir aber dazu gezwungen werden, dann tun wir's besser ausgeschlafen. Trinkt ein bißchen Wein. Was immer euch zur Ruhe kommen läßt. Alles klar?" "Jawohl, Herr", sagte der Anführer. Sein Name war Chun. "Ich glaube, ich hatte noch nie bessere Leute als euch", sagte Shoka nach einer Weile; die Männer schienen einen Moment lang verwirrt, dann taten sie es Chun nach, verneigten sich und murmelten: "Jawohl, Herr." In den Blicken, die sie ihm im Schein ihres kleinen Feuers zuwarfen, lag inbrünstige Hingabe. Gewöhnlich waren ihm solche Mienen zuwider. In diesem Augenblick allerdings nicht. Es lag an beiden Seiten, dachte er. Das war der springende Punkt. Chun. Eigi. Jian. Panji und Nui, beides Vettern. Liang und Wai-chen, Yandai und Wengadi. Dem Himmel sei Dank, daß sie keine Wunder von ihm erwarteten, nur vernünftige Befehle. Und sie strengten sich an, sie strengten sich wirklich an - vielleicht weil eine Frau bei ihnen war, und sei es ein Dämon. "Hm", machte er nach einer Weile, räusperte sich, stand auf und ging weg. Am liebsten wäre ihm gewesen, er hätte gar nichts gesagt. Es war eine Falle. Sie hatten keinen Grund, von ihm beeindruckt zu sein. Er hatte kein Recht dazu, sie zu benutzen. Verdammt noch mal, er vergaß das wenige, das er inzwischen gelernt hatte, nämlich sich von den Menschen fernzuhalten, nicht ihre Aufmerksamkeit zu erregen, sie nicht zu seinen Werkzeugen zu machen. Sich nicht gebrauchen zu lassen und andere nicht zu gebrauchen. Und alles zu vermeiden, was sie dazu brachte, ihn zu lieben. Verdammt noch mal. _Warum lerne ich nichts dazu? Was treibt mich dazu, solche Dinge zu tun_? Taizu stand neben ihm. Taizu berührte seinen Ärmel. "Meister Shoka." Das traf. Er entzog ihr seinen Arm. "Meister Shoka." Wieder die Berührung an seinem Arm, die ihn in das Dunkel bei der Hecke drängte. Er ließ sich mit ihr davontreiben, hinein ins Dunkel, und blieb dort stehen, ohne sich mit ihr zu unterhalten, ja, ohne sie auch nur ansehen zu wollen. "Ist alles in Ordnung?" "Natürlich ist alles in Ordnung." Er hatte flüsternd gesprochen. _Ich habe keine Ahnung, was ich überhaupt tue. Ich habe keinen Plan. Ich habe keine Ahnung, wo der Feind steckt. Ich habe euch alle in die Patsche hineingeritten und finde nicht mehr heraus. Sicher, alles ist bestens_. Doch das hätte Taizu Angst gemacht, und wenn sie Angst hatte, würde sie womöglich einen Fehler machen, und ein Fehler konnte tödlich sein. Nirgends war man mehr sicher. Sie hakte sich bei ihm ein. Sie legte den Kopf an seine Schulter. Das war alles. Und er dachte an die Brücke, ging die in seinem Gedächtnis aufgespeicherten Bilder durch, jede einzelne Überquerung der Brücke von Lungan, jedes Kontruktionsdetail, an das er sich noch erinnern konnte, und überlegte, ob Ghita so weit gehen würde, sie unpassierbar zu machen -zumindest das Mittelstück. Oder wie viele kaiserliche Truppen Ghita wohl zur Verfügung standen und wie weit hinunter er die Offiziersränge mit eigenen Männern besetzt hatte... "Können wir zusammen schlafen?" fragte sie. Er sog den Atem ein und dachte an die Männer dort hinten, an Menschen, die ihm zu nahe waren, die ihn auseinanderrissen. Taizu klammerte sich an seinen Arm. Seit den Weiden hatten sie keine Gelegenheit mehr dazu gehabt. Sie hatten beieinander geschlafen, das ja - stinkend nach Blut und Schmutz und Pferden und Rauch, so erschöpft, daß sie zwei Atemzüge, nachdem sie sich hingelegt hatten, das Bewußtsein verloren und in derselben Position steif wieder erwachten; und heute war er nicht minder erschöpft gewesen, bis sie es gesagt und er reagiert hatte - auf eine Frau, die bis zur Nasenspitze in blutverkrusteten Bandagen und einer verschwitzten Rüstung steckte. Er zog sie an sich, und es war, als umarmte er einen Stein. Und sagte, ihr übers staubige, wirre Haar und eine bandagierte Wange streichelnd: "Das bekommen wir nicht ab. Wir würden den Dreck nicht wieder draufbekommen." "Tun wir's einfach." "Angst?" "Nein." Kurz und bündig. Sie zitterte in seinen Armen. Heftig. Verdammt noch mal. Diese Reaktion war ihm bekannt. Er hielt sie einen Moment lang fest. Dann führte er sie an der Hecke entlang, in den tieferen Schatten eines Maulbeerbaums und der alten Mauer. Er ließ sie los, und sie begannen Knoten zu lösen. "Alles kriegen wir nicht runter." "Das macht nichts", sagte sie, und: "Verdammter Mist", als ihr Armschutz und Panzer in den Weg kamen. "Einfach eine Frage der Taktik. Geduld. Nur mit Geduld kommt man ans Ziel, das hat mein Meister immer gesagt..." Sie verzichteten auf jede Art von Finesse. Es war kurz und schnell, und hinterher flatterte ihm der Puls, und das Flüstern der Blätter war ein dünnes, unwirkliches Geräusch vor dem Hintergrund von Taizus schwerem Atmen. Er spürte ihre Berührung an seiner Wange. Falls ihnen keine Zeit mehr bliebe. Weil es den Körper wärmte, den Geist beschäftigte und alles auslöschte. Und sie war zu klug, um sich beschwichtigen zu lassen. Oder um ihn zu beschwichtigen. Sie war einfach da, und er hätte wieder denken können, wenn er nicht zu erschöpft gewesen wäre. Er schloß die Augen. Er war wieder daheim. Die Blätter über ihm flüsterten wie der Regen auf dem Hüttendach. "Erinnerst du dich noch an den Winter?" flüsterte er ihr ins Ohr. "An den Affen und die Tochter?" "Ich erinnere mich." Vom Verband gedämpft, mit schlaftrunkener Stimme. "Ich wünschte, ich könnte dir sagen, daß ich einen Plan habe. Ich habe keinen. Wir müssen uns erst noch einen zurechtlegen. Deswegen bist du mit von der Partie." Eine Zeitlang schwieg sie. Dann: "Wir können Ghita kriegen." Klipp und klar, auf einen einfachen Nenner gebracht. Neun Männer, deren Leben entbehrlich war - Hände und Rückgrate und Schwerter, wenn sie gebraucht wurden. Und sie beide - eine winzige Streitmacht, jedoch optimal ausgewogen. Vorausgesetzt, sie kamen durchs Tor. _*19*_ Das Tor von Lungan war das Nadelöhr, durch das sie hindurchmußten. Während des langandauernden Friedens hatten sich die Städte über ihre Stadttore hinaus ausgebreitet, wenn sie überhaupt welche besaßen; Lungan jedoch mit seiner Brücke war das Tor nach Pan'tei und Cheng'di, dem eigentlichen Zentrum des Reiches, und in seiner Rolle als oberster Bauherr hatte der alte Kaiser zu seines Vaters Zeiten angeordnet, die Tore zu erneuern und zu verstärken und die Mauern zu erhöhen, und er hatte den umfriedeten Markt bauen lassen, der im Bedarfsfall auch als Brückengarnison diente, außerdem das Pförtnerhaus an der Straße nach Anogi, falls diese einmal bewacht werden mußte. Das wurde sie nun. Unübersehbar. Sie wurden langsamer und wählten sich ihre Begleitung für den Durchgang durch das schmale Tor aus -einen Schweinehändler mit zwei verschnürten Tieren und einen herauskommenden Güllewagen, die sich am selben Punkt trafen, und Shoka lenkte sein Pferd um den Wagen herum, in der Hoffnung, auf diese Weise den Fragen der Torwachen ausweichen zu können. Einer der Wachposten versperrte seinem Pferd jedoch mit dem Speer den Weg. "Wohin?" fragte der Mann. Wahrscheinlich ein Fittha, der sie für Söldner aus Oghin hielt und ihnen Ärger bereiten wollte. Shoka hatte die Kurierspange. Er ließ seine kleine Schar mitten im Durchgang anhalten, was eine Straßenblockade zur Folge hatte; nicht weit hinter ihnen folgte eine Herde Ziegen. "Geht nur den Hauptmann was an, kommen tun wir von Anogi." Der Mann untersuchte die Spange. Verdammt wollte er sein, wenn der Soldat sie lesen konnte. Er brachte sie seinem Vorgesetzten, während sich die meckernden Ziegen zwischen die nervösen Pferde zu drängen begannen. Der Offizier kam zurück, während die Kolonne auf Anweisungen wartend vor und zurück wogte, was auf die Unruhe der Pferde zurückzuführen sein mochte, jedoch zur Folge hatte, daß der Durchgang durchs Tor versperrt wurde. Ziegen meckerten, Hunde bellten, und der Güllewagen war wahrscheinlich irgendwo mittendrin. "Macht das Tor frei!" brüllte der Offizier, gefolgt von einem Schwall unverständlicher Worte. "Aghi!" brüllte Shoka zurück und deutete auf die Spange, ohne mit seiner Schar zurückzuweichen. "Schwein!" schrie ihn der Fittha an. "Meldet euch im Lager, zweite Straße links, dann geradeaus, los, beweg deinen Arsch, Schweinekopp!" Und er hielt ihm die Spange hin. Shoka nahm sie und ritt rasch weiter. Seine Leute folgten ihm. _Halte dich im Hintergrund_, hatte er Taizu gewarnt. _So_, _wie die Dinge liegen, bist du zu verdächtig_. Doch sie schloß wieder zu ihm auf, während sie über die Straße klapperten und um die zweite Ecke bogen, vorbei an einem Teehaus mit eingestürzten Zwischenwänden und einem Haufen Kunden, die vor ihnen hastig an die Mauern zurückwichen. Offenbar daran gewöhnt, Soldaten auszuweichen. Ein Trupp Soldaten kam ihnen entgegen, und vorübergehend ritten sie im Gänsemarsch. Wir gehen rein, hatte er Taizu und den anderen die Punkte aufgelistet, finden heraus, ob Soldaten auf der Straße unterwegs sind, und suchen nach einer Möglichkeit, in die Stadt vorzudringen, ohne daß wir uns bei Ghitas Kommando melden müssen oder im Lager eingeschlossen werden. Während sie weiter über die Straße auf die Brücke zuritten und feststellten, daß Soldaten hier keinen ungewohnten Anblick darstellten, verlangsamte Shoka das Tempo und bog schließlich in eine Gasse mit billigen Gasthöfen ein. Es stank nach minderwertigem Bier, überlasteten Kloaken und der Ausdünstung der Viehhöfe. "Ein Platz ist so gut wie der andere", meinte Shoka, hielt an und saß ab. Taizu ließ sich neben ihm auf die Füße hinuntergleiten, und etwas Stinkendes spritzte auf, als der Rest absaß und sich um sie scharte. "Essen und Trinken, eine Unterstellmöglichkeit für die Pferde..." Sein Blick hinauf zu den Schildern der Gasthöfe und weiter eine wacklige Treppe hoch. Es gab bestimmt bessere Absteigen. Offiziere würden in feineren Gasthöfen logieren. Gewöhnliche Soldaten würden in Zelten hausen, im Lager, wo sie eigentlich hätten hinreiten sollen. Aber Söldner waren nun einmal Söldner, sie kamen und gingen, wie es ihnen gefiel, und die Offiziere verließen sich auf den Zahltag, wo man sie auf die Einschreibungslisten setzen und zählen konnte: so war es vor zehn Jahren gewesen, nicht die offizielle Verfahrensweise, aber die praktizierte. Da der Raum zum Zelten beschränkt war, drückte man eben ein Auge zu, wenn irgendwelche Söldnertrupps in Gasthöfen abstiegen, solange der Stadtmagistrat keine Beschwerden an die höheren Stellen richtete. Jedenfalls hoffte er, daß Ghitas Offiziere die Armee auf diese Weise führten, als er in die schmuddelige Gaststätte voranging. Ein am Lagerfeuer zubereitetes Essen war besser als das ölige, nach Knoblauch schmeckende Gericht, das ihnen in der _Pfingstrose_ aufgetischt wurde. Sie stocherten darin herum, pickten sich die genießbaren Bissen heraus, aßen den Reis, tranken den billigen Wein und hielten kollektiv die Luft an. Drei Räume, Ställe, Essen für sie alle. "Der Gastwirt wird sich bestimmt freuen", sagte Shoka. "Als ich mich nach Zimmern erkundigt habe, war er besorgt. Ich meinte, wir wären ganz ruhig, ich würde nicht zulassen, daß sich meine Leute betrinken, und ich wies ihn darauf hin, daß er mit den vielen Soldaten in der Stadt froh sein könnte, wenn wir den Platz hier in Beschlag nehmen, wir wären ein Gewinn für ihn - sorgten für Sicherheit und alles." "Was ist mit dem Lager?" fragte Taizu. "Wir werden einen Spaziergang dorthin unternehmen. Ich habe mit dem Gastwirt gesprochen - mich ein bißchen kundig gemacht -, schließlich sind wir neu in der Stadt. Ghita ist tatsächlich hier und hat sich in einem der großen Häuser einquartiert. Die Frontsoldaten sind im Lager untergebracht, aber es gibt eine Menge Quartiere über die Stadt verteilt, für die, die es sich leisten können, hauptsächlich Kavallerie, viele Schäden - eine verdammt lockere Disziplin. Ich habe ihn gefragt, ob er schon mal Soldaten hier hatte, und er meinte, sondern eigentlich nicht, meistens Arbeiter aus den Schlachthäusern und der Gerberei weiter die Straße hinunter, die wären an den Gestank gewöhnt, und die meisten anderen Teehäuser hätten was gegen ihren Geruch..." Die Männer hatten den ganzen Ritt über seine Leichtfertigkeit nicht verstanden, doch diesmal sahen sie mit scheuer Belustigung zu Boden. Nur Taizu - der Falte über ihrer Nase nach zu schließen - lächelte nicht. Sie aß und trank, indem sie den Verband mit den Fingern einer Hand auseinanderzog, um das Essen in den Mund zu bekommen, wobei sie den dreckigen Verband noch weiter beschmutzte. Ungeduldig. Besorgt. Während ihre Augen bei jeder Bewegung im Raum umherhuschten. Er stupste ihr Bein an. "Ganz ruhig." Sie atmete hörbar ein. "Zeit", sagte sie mit dem gutturalen Murmeln, das sie in der Öffentlichkeit benutzte. "Es klappt doch prima." Sie verdrehte besorgt die Augen. Er stellte sich den Rest ihres Gesichts vor, wie sie die Lippen schürzte. _Ihr lügt, Meister Shoka_. Er schwang sein Bein über die Sitzbank. "Na komm, Junge! Machen wir einen Spaziergang. - Ihr bleibt hier. Eßt zu Ende. Schlaft euch aus." "Wohin gehen wir?" fragte Taizu, als sie über die verwinkelte Pflasterstraße gingen, vorbei an Teehäusern, Pfefferverkäufern und Geschäften mit aufgehängtem Geflügel und Knoblauchzöpfen. Passanten schlenderten vorbei. Ein Krieg stand bevor, doch die Geschäfte gingen weiter. Frauen schleppten Vorräte. Männer schleppten Reissäcke. Die auf den Tafeln vor den Läden mit Kreide angeschriebenen Preise waren erwartungsgemäß hoch. "Das Lager... wir nehmen eine..." Er sah, wie ihr Blick zu einem vorbeikommenden Karren hinüberschoß. "Was um Himmels willen ist bloß mit dir los? Hör auf, bei jeder Gelegenheit zusammenzuzucken!" "Ich zucke nicht zusammen!" "Du bist so nervös wie..." _Eine Jungfrau im Hurenhaus_, lautete der Ausdruck. "Beruhige dich, verflucht noch mal!" Wieder verschoß sie einen Blick, diesmal zu einem Mann mit einer Ladung Holz auf dem Rücken. "Tut mir leid." "Nimm's leicht. Willst du, daß man uns Fragen stellt? Ich nicht." "Es sind einfach zu viele Leute!" Er sah sie an, packte sie bei der Schulter und eilte mit ihr über die Straße, wobei er den gelben Rinnsalen auswich, die über das Pflaster liefen. "Das macht eine Stadt nun mal aus, meinst du nicht?" Ihre Panik war ansteckend. In ihr war eine Schwäche, die er niemals bei ihr vermutet hätte. Verdammt, sie war noch nie in einer Stadt gewesen, die größer war als Ygotai; sie hatten nur den Stadtrand von Anogi betreten, zu Pferd, und dann hatten sie gemacht, daß sie wieder weggekommen waren. Unterwegs hatte sie die Leute mit der gleichen Aufmerksamkeit betrachtet, ohne sich eine Bewegung entgehen zu lassen. Wahnsinnig gefährlich, würden die Leute meinen. Im Wald hatte er sie gelehrt, auf jede Bewegung und jedes unbekannte Geräusch zu achten, doch hier war alles für sie fremd, und es war zuviel, zu schnell, alles stürzte auf einmal auf sie ein. "Verschließ deine Ohren", sagte er. "Sei blind. Vertraue meinen Augen. Du beobachtest zuviel, zu angestrengt. Achte einfach auf meine Zeichen. Wie beim Üben. Beherrsche deine Reaktionen." "Ja", sagte sie leise. Ihr Gang veränderte sich, wurde entspannter. "Einfach nur eine Menge Leute. Zivilisierte Leute. Die beißen dich nicht. Nicht am hellichten Tag. Machen auf diesen verdammten Pflastersteinen bloß eine Menge Lärm. Die Wände werfen den Schall zurück und verwirren deine Sinne. Ein neuer Ort, neue Sinneseindrücke. Du wirst dich dran gewöhnen." _Besser, du beeilst dich damit_, dachte er. Vielleicht sollte er sie zum Teehaus zurückbringen, sie bei Chun und den anderen lassen... _Sie verkraftet das alles nicht. Sie wird einen Fehler machen und sich auf den Erstbesten stürzen, der sie erschreckt_. _Ein Berserker. Genau das ist sie_. Taizu im Dunkeln, eine nackte Gestalt inmitten der Banditen, mit blitzender Klinge... _Außer mir ist jeder ihr Feind. Von Hua bis hierher, ein einziges Sichverstecken und Weglaufen - davor zwei Jahre, in denen sie gelernt hat, das Gras wachsen zu hören, meine Schritte im Dunkeln zu erkennen, im Matsch, auf der Veranda_... _Alle anderen - jeder, den sie nicht identifizieren kann - tot. Reagieren ist alles, was ich ihr beigebracht habe_... _Es ist ein Fehler, daß sie hier ist, wir sollten jetzt umkehren und zurückgehen_... Hinter ihnen näherten sich Reiter. Sie sah sich nicht um. Sie lebt sich ein, dachte er. Natürlich lebte sie sich ein, sie hatte noch nie versagt, in keiner Hinsicht. Sie herumführen, ihr die Brücke zeigen, sie sich an die Stadt gewöhnen lassen, ein paar Fragen stellen, zum Teehaus zurückgehen und etwas trinken und sich mit ihr auf dem Zimmer unterhalten. Das war das Vernünftigste. Es roch nach dem Fluß, noch ehe sie zum Markt gelangten, und die Masten der Flußkähne, mochten es auch nicht viele sein, hoben sich vom blassen Grau des Wassers ab. Ein Mädchen aus Hua mußte bei einem solchen Anblick einfach stehenbleiben und staunen. Ein Junge aus Yiungei hatte dasselbe getan, als er versonnen über die weitgespannte Brücke geritten war. Später war ihm das Wunderbare dieses Bauwerks bewußt geworden, hatte er erfahren, wie viele Arbeiter umgekommen, von der Strömung weggespült worden waren, wie viele Versuche gescheitert waren, wie oft die Fundamente nachgegeben hatten und alle Arbeit umsonst gewesen war, wie die kaiserlichen Baumeister unter der Leitung des damaligen Prinzen die tückischen Fluten erst mit einer Pontonbrücke überspannt hatten, dann mit von Kähnen getragenen Steinen bis zu dem einzigen Entgegenkommen der Natur, der unter Wasser gelegenen Insel in der Mitte, und darüber hinaus, indem sie die einzelnen Abschnitte aus Stein bauten und sie mit Geröll auffüllten - bis der gewaltige Hisei fügsam zwischen den steinernen Bögen hindurchfloß, während ganze Boote darunter hindurchpaßten. "Der alte Kaiser wollte über sämtliche Flüsse Brücken bauen", sagte Shoka, "aber heutzutage - weiß der Himmel, ob das klug wäre." "Zwei Wagen passen gleichzeitig aneinander vorbei!" "Das tun sie. Und dazwischen bleibt noch Platz." "Was werden wir tun?" In ihrer Stimme schwang ein Anflug von Panik mit. "Mach dir wegen der Brücke jetzt noch keine Sorgen. Das ist nicht der springende Punkt. Noch nicht. Bleib ganz ruhig." Er führte sie weiter, dorthin, wo die Brückenstraße auf den alten Markt mündete, der für ein Bauernmädchen eigentlich eine vertraute Umgebung darstellten sollte. Das Lager lag zu ihrer Linken und überragte die Wände aus braunem Stein, welche die Promenade bis zum Flußufer hin abschlossen. Dorthin noch nicht, dacht er, als er die fernen Zeltgassen entlangblickte, welche die gepflasterte Uferpromenade füllten, die zu Friedenszeiten ein Volksfest von Jongleuren, Schmuckverkäufern und Artisten gewesen war, inmitten einer Unmenge von Getränkeverkäufern und Kuchenbäckern. Jetzt nicht mehr. Der ganze Basar war verlagert worden. Am besten wanderte man ein wenig umher und ließ die Stimmung auf sich wirken. Wenn dieser Tage jemand völlig verzweifelt war, so waren es sicherlich die Händler, zwischen deren Auslagen gelangweilte, dienstfreie Söldner wandelten. Er und Taizu zogen Blicke auf sich - so mitgenommen, wie sie wirkten, auch wenn sie sich den Staub abgewaschen hatten, als sie die Zimmer inspiziert hatten, doch die Spalten zwischen den Platten und den gewebten Teilen seiner Rüstung hatten der Säuberung standgehalten; und die Panzerkleidung hatte eine Art von trüber Patina aus Schmutz und Fett angenommen. "Wir sollten uns ein bißchen saubermachen" hatte er zu seinen Leuten gesagt. "Den Staub von unterwegs abwaschen." Was seine Schar richtig verstanden hatte. Nur Taizus Verband war der Säuberung entgangen - und Taizu mit ihrem schmutzigen Schafsfellmantel, dem Haarknoten und dem Verband, der inzwischen von Essen, Staub und einer erschreckenden Menge altem Blut und einem kleinen Flecken neuen Blutes verschmutzt war, war gewiß die Schmutzigste gewesen - Eidi hatte das Blut am Morgen beigesteuert, als sie aufgebrochen waren, damit die Wunde frisch wirkte und niemand auf falsche Gedanken kam. Die Blicke jedoch, die sie auf sich zog, stimmten ihn nachdenklich - eine häßliche Verletzung, ein Soldat von der Front. Die Leute schreckten davor zurück und starrten sie aus anderen Gründen als Angst vor Diebstahl an, und zweifellos tuschelten sie miteinander, wenn sie vorbei waren. Kriegsängste auch hier, genau wie in der Gerbergasse. Und eine _Menge_ Soldaten, die den Zugang zur Brücke bewachten. _Was werden wir tun_? fragte er sich an Taizus Stelle. Mittlerweile fühlte sie sich sicherer, so als hätte sie wieder Tritt gefaßt. Während sie am Kai entlanggingen, umgab sie von allen Seiten Lärm und Durcheinander. Jemand in ihrer Nähe stritt sich mit einem Mädchen, und Taizu sah zu ihnen hin - doch das hätte auch jeder andere Soldat getan. Im nächsten Gang bedrängte sie eine Hure. "Nein", fauchte Shoka, und die Hure schrie ihnen irgend etwas Obszönes nach, als er Taizu mit sich fortzog. Ein Bonbon an einer Bude in der Mitte des Markts, ein Becher Wein an einer Stelle, wo der Geruch nach Fisch und Geflügel schwächer war. Taizu nippte durch ihren Verband hindurch am Becher, brachte ihn dem Verkäufer zurück. Reiter kamen vorbei, keine Söldner. Die Fahne von Angen, ein roter Kreis auf schwarzem Grund. Gitu. Taizu erstarrte. Sie zuckte nicht einmal. Dann bewegte sie sich wieder natürlich und stellte den Becher ab. "Fertig?" Eine Männerhand griff danach, vier, fünf Soldaten näherten sich dem Getränkestand. Shoka hielt den Atem an, sein Herzschlag beschleunigte sich, doch Taizu nickte gelassen, und bevor er sie wegziehen konnte, fragte jemand: "Woher kommst du?" "Aus dem Süden", griff Shoka ein, der Taizus Gesichtsausdruck unter dem Verband zu erraten versuchte, voller Angst, sie könnte bei der ersten Gelegenheit, die sich ihnen bot, lebenswichtige Informationen zu erhalten, einfach weitergehen und in der Menge untertauchen. Er legte ihr eine Hand auf die Schulter und spürte ihre Anspannung. "Sind von Taiyi raufgekommen." Die Söldner waren ganz Ohr. "Schlimm dort unten?" "Kann man wohl sagen." Mit einem Achselzucken. "Haben die halbe Truppe verloren." "Ich geb' euch einen aus", sagte der eine, schüttete seinen halbvollen Becher aus, stellte ihn zurück und deutete zu den Weinbuden am Rand des Marktes. Was bedeutete, daß er und seine Kameraden erfahren wollten, welche Gerüchte im Umlauf waren. "Haben unser ganzes Geld verloren", sagte er über einem Becher heißem Wein, zu besorgt, um den Alkohol zu spüren, den er zum Mittagessen und danach getrunken hatte, den Göttern sei Dank, daß er wenigstens ein Mittagessen gehabt hatte. Taizu war es, um die er sich Sorgen machte; doch wenn die Sorgen den Alkohol verbrannten, dann hatte Taizu vermutlich genug davon, um die doppelte Menge zu verbrennen, und sie war so nüchtern, wie er es sich nur wünschen konnte - ihre Hand, die den Becher hielt, zitterte nicht, sie schüttete den Wein nicht in sich hinein, sondern nippte nur daran. "Treibe mich schon seit zwanzig Jahren in der Gegend rum", sagte Shoka. "Aber früher war's anders. Hab' persönlich bei einem Fürsten angeheuert. Ich war noch ein halbes Kind, so alt wie Juni hier. Bin mit einer Karawane gereist und kam nach Ygotai, dachte, das ist mal 'ne richtige Stadt." Nicht zu schnell zu vertraulich werden. Er streute die Bruchstücke aus, die er sich zurechtgelegt hatte, Grund genug für einen Söldner, sich rückhaltlos auszusprechen. "Mann, Lungan heutzutage - ich kam rauf, um eine Anstellung zu suchen, ich meine, heutzutage hat man nicht mehr viele Möglichkeiten, aber ich bekam einen Posten bei diesem alten Herrn - mußte mich bloß um die Pferde kümmern. Nicht lange, und ich gehörte zur Leibwache. Zehn Jahre war ich bei dem alten Herrn. Dann das. Der Hauptmann getötet, keine Bezahlung mehr... Darum bin ich hergekommen, ich sage nur, was ich weiß. Kriege ich denn Geld dafür, daß ich meinen Hals riskiert habe? Ich hätte mich nach Mandi absetzen sollen, nichts wie _weg_, bevor alles zusammenbricht..." "Wie war's denn da unten?" Shoka holte tief Luft und schüttelte den Kopf. "Ich weiß zuviel." "Zum Beispiel?" "Ich kann nicht. Darf nichts sagen." Er schwang ein Bein über die Bank und nahm sein Schwert. "Komm, Juni. Wir machen uns besser wieder auf den Weg." "Wir bezahlen, und ihr setzt euch. Was habt ihr gehört?" "Ich hab's nicht gehört, ich hab's _gesehen_." Er setzte sich wieder und beugte sich vertraulich über den Tisch. "Die wollen nicht, daß sich das rumspricht... Und keinen lumpigen _Heller_ gibt's dafür!" Köpfe beugten sich vor. Shoka blickte sich um. "Der ganze Süden kommt hier rauf. Jede verfluchte Provinz hat sich mit Rebellen eingelassen, und jetzt sind sie _auf dem Vormarsch_, die haben mehr Leute mobilisiert, als man im ganzen Süden vermuten würde - ich habe sie gesehn. Ich habe Dinge gesehn..." Er senkte die Stimme und blickte sich um, als ein Aufwärter vorbeikam. "Wir sitzen in dieser verdammten Stadt fest - wißt ihr eigentlich, wer Saukendar ist?" "Ein Kriegsführer. Hat sich mit dem Regenten entzweit." "Er ist verflucht beliebt. Die Leute sind nicht glücklich. Eins sag' ich euch, nach zwanzig Jahren in diesem Land weiß ich Bescheid, ich weiß, daß mir etwas in dieser Stadt eine höllische Angst einjagt. Das ganze verdammte Land brodelt um uns herum - genauso fühl' ich mich, als würden mich die verdammten Straßen und jedes einzelne Fenster beobachten. Ich war damals bei dem Aufstand in P'eng mit dabei..." Sie rutschten unruhig auf den Bänken hin und her. "Als auf der Straße ein Wagen vorbeikam, bin ich zusammengezuckt. Die Leute dort oben in P'eng, ich habe gesehn, wie sie dieses arme Schwein von Soldaten mit Mistgabeln getötet haben..." Beim Weggehen schwankten sie. Shoka hatte Taizu eine Hand auf die Schulter gelegt, zwei Betrunkene konnten sich gegenseitig stützen. "Du hast dich gut gehalten", sagte er und drückte ihre Schulter. "Hast dich gut gehalten, Junge." "Ich habe ja gar nichts _gemacht_..." "Eben deshalb." Wieder drückte er ihr die Schulter. "Gut. Ich bin stolz auf dich." "Mir geht's _gut_." "Das weiß ich doch. Wir gehen zu unserem Quartier zurück und versuchen, nicht wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses aufgegriffen zu werden." "Schnappen wir ihn uns heute?" "Nach Einbruch der Dunkelheit werde ich mal nachsehen." "Wir." "Nicht >wir<. Du fällst zu sehr auf. Ich mach das, ich werde alles für dich erkunden. Wenn es ernst wird, bist du dabei." "Ich vertraue Euch nicht!" "Was soll denn das heißen?" "Ihr seid der beste Lügner, den ich kenne!" Darüber dachte er den ganzen Rückweg über nach, während sie an den Reihen der Stände und den Gaststätten vorbeigingen, zweifellos der beste Weg für zwei betrunkene Soldaten, um sich wieder unters Stadtvolk zu mischen. Geradeaus die Gasse entlang und um die Ecke, wo sie plötzlich einem fremdländisch aussehenden Mann mit einer pelzbesetzten Kappe gegenüberstanden. Dessen Augen sich weiteten. "Nein, nicht!" Shoka packte den Mann und drückte ihn an die Wand, hielt ihn an einer Handvoll kostbarem Shin-Brokat fest, dachte an Mord, an ein Messer in den Bauch und hinterher Stille - gleichgültig, ob er mit diesem Mann Tee getrunken und am Feuer gesessen hatte. Meister Yi dachte offenbar das gleiche. Er zitterte und klapperte mit den Zähnen. "Ich kenne Euch nicht", sagte er. "Ich schwöre, daß ich Euch nicht kenne!" Er war ein Narr, den Mann nicht zu töten. Das wußte er. Ein verdammter Narr, von dem Tausende von Menschenleben abhingen. Doch es war ein alter Mann, ein verängstigter Mann, der kraftlos an seinen Händen zerrte und aussah, als würde er sterben vor Angst. Er stieß den Händler hinter einen Wagen, wo er vor den Blicken zufälliger Passanten besser geschützt war. Meister Yi schnappte nach Luft, und dabei hielt er ihn nicht einmal besonders fest. "Meister Yi!" sagte Taizu mit ihrer weiblichen Stimme, in zu hohem Tonfall. "Ich habe Euch nie gesehen!" protestierte Meister Yi. "Ich weiß nichts, ich schwör's, ich will nichts wissen..." "Wie ist mein Name?" fragte ihn Shoka. "Sagt mir meinen _Namen_, Meister." Heftiges Kopfschütteln. "Ich schwöre, ich kenne ihn nicht!" Jemand näherte sich, entschied sich jedoch für eine andere Gasse. "Ihr kennt ihn, Meister Yi." "Sollen wir ihn töten?" fragte Taizu. "Nein, nein, nein", sagte Meister Yi. "Ich schwöre, ich schwöre!" Shoka betastete die vergoldete Borte und den Pelz von Meister Yis Mantel. Meister Yi rührte sich nicht. "Ihr wißt, daß wir es uns nicht leisten können, daß Ihr Lügengeschichten verbreitet", sagte Shoka. "Wie ist mein Name, Meister Yi? Ich bin mir sicher, daß Ihr uns gefolgt seid. Ich bin mir sicher, daß Ihr die plötzliche Abwesenheit von Banditen bemerkt habt. Wir haben Euch einen Gefallen getan. Und jetzt verbreitet Ihr Gerüchte über uns." "Ich habe Euch Gastfreundschaft gewährt!" "Das könnte etwas wert sein. Die Wahrheit ebenfalls. Ihr seid Händler. Ich traue Euch zu, daß Ihr erkennt, wann sich die Nachfrage ändert." "Jawohl, Herr!" "Wer?" "Wie immer ich Euch nennen soll, Herr." Seine Augen huschten von Shoka zu Taizu und wieder zurück. "Ich bin Untertan seiner Majestät von Shin. Ich kümmere mich nicht um Politik..."Shoka packte ein ordentliches Stück vom teuren Pelz. "Ihr habt doch die Gerüchte gehört. Nicht wahr? Ihr habt alles gehört, was man sich so erzählt. Laßt Euch eines gesagt sein, Fremden wird es hier nicht gut ergehen, gar nicht gut. Wißt Ihr, was hinter der Brücke ist?" Kopfschütteln, aufgerissene Augen. "Eine Armee, Meister Yi. - Und wißt ihr, was auf _dieser_ Seite der Brücke ist?" Ein Flüstern: "Söldner, Herr." "Etwas _anderes_, Meister Yi." "Was, Herr?" "Das _Volk_, Meister Yi, das Volk. Und meine Agenten, hier, dort, überall, wo sie gebraucht werden, in der ganzen Stadt. Ihr wißt doch, wie gefährlich es werden kann - für einen Fremden. Andererseits könnte ein Fremder, der sich als Freund erwiesen hat... _kaiserliche_ Gnade finden." "Bitte." Schweiß strömte dem Händler übers Gesicht. "Was wollt Ihr?" "Warum gehen wir nicht an einen ruhigen Ort?" Wachposten kamen und gingen, patrouillierten gemächlich vor den Mauern und dem Tor. Geschwungene, elegante Dächer ragten in Reihen angeordnet auf, die Portale wurden von Laternen erhellt. Wachposten auch hier. "Es ist fast so groß wie eine Festung", flüsterte Taizu. "Fast", sagte Shoka, der die Mauer mit den Augen vermaß. Und einen Schmerz im Bein verspürte, der von der kalten Nacht kam, vom vielen Reiten und Laufen. Angesichts dieses Hindernisses und der Wachen verzweifelte er vorübergehend. Zu hoch, zu groß, zu gut bewacht. Er zog Taizu mit sich in die Dunkelheit der verwinkelten Gasse zurück, die ihnen Ausblick auf das Anwesen der Lieng bot und wo Meister Yi in einem viel ärmlicheren Eingang auf sie wartete. "Was habt Ihr vor?" flüsterte Yi. Vom Markt in die Stadt geschleppt, um das Hauptquartier des Regenten auszuspionieren... Meister Yi war gar nicht glücklich. Was auch für andere zutraf, dachte Shoka mürrisch und beruhigte sich mit einem Blick auf Taizu. Keine Panik. Voller Vertrauen darauf, daß Meister Shoka am Ende doch noch einen rettenden Einfall haben würde. Abgesehen davon, daß Meister Shoka keine Mauer mehr überklettern konnte. "Was habt Ihr vor?" wiederholte Yi in höherem Tonfall. "Immer mit der Ruhe. Ich weiß, was wir brauchen. Gehen wir." "Ihr wollt dort einbrechen." Er drehte sich um und legte Meister Yi ganz sachte die Hand auf den Ärmel. "Meister Yi, Ihr wißt, was wir vorhaben. Und Ihr wißt auch, welche Alternativen Ihr habt. Falls Ihr uns Ärger bereiten solltet, dann sehe ich keinen Grund, warum wir die Rolle, die Ihr bei alledem spielt, nicht hervorheben sollten, wenn die Behörden uns Fragen stellen. Versteht Ihr mich, Meister Yi?" Ein stummes Nicken. "Gut. Gut. Ihr kennt doch bestimmt jemandem auf dem Markt, der euch einen Karren leihen würde, wenn Ihr ihn darum bittet." Es war gar nichts Ungewöhnliches, was da die Gasse hinter der _Pfingstrose_ entlangrumpelte und vor dem Gasthof anhielt, nur ein Karren mit zwei großen, festverschlossenen Fässern. Ein Mann schob den Karren, ein Helfer schnaufte nebenher: es war nichts Ungewöhnliches dabei, daß ungefähr zur gleichen nächtlichen Stunde wie der Güllewagen auch zwei müde Soldaten eintrafen. "Das ist gut", sagte Shoka zum älteren der beiden. "Ihr seid fertig." Vielleicht eine etwas unpassende Wortwahl. Er klopfte Yi auf die Schulter und hob das Bündel hoch, das neben den beiden Fässern auf dem Karren lag. "Ich stehe in Eurer Schuld." "Ich will bloß wieder zurück!" "Taizu!" Die Klinge kam heraus. Yi und sein Diener sahen in die Richtung und hoben die Hände, die sie in keiner Weise vor einem Langschwert hätten schützen können. "Geht einfach die Treppe hoch, Meister Yi. Dort seid Ihr in Sicherheit - in der Obhut meiner Männer. Ich will jetzt bloß kein Theater. Verstanden?" Chun beobachtete sie von der Treppe aus. Chun kam mißtrauisch herunter, und als er ihm zunickte, zog Chun sein Schwert und trat auf die Gasse. "Hauptmann?" "Bloß ein alter Freund, auf den ihr ein paar Stunden aufpassen sollt. Gebt ihm Wein und etwas zu essen. Er ist weit gelaufen. Sein Begleiter ist ein ganz angenehmer Bursche. Aber ich würde aufpassen, daß er sitzenbleibt. Ich habe dem Wirt versprochen, wir würden uns nicht schlagen." Die Treppe hoch. Und wieder hinunter, diesmal mit einem langen Bündel, zwei in Lumpen gekleidete Güllemänner, die das Bündel auf dem Karren verstauten und wieder davonfuhren. Es war nicht verboten, daß zwei Soldaten mit einem Bogen herumliefen, zumal jedermann die volle Ausrüstung trug und mit Schwertern rasselte, doch in einer so furchtsamen Stadt und in der Nachbarschaft des Regenten konnte einem eine solche Waffe durchaus argwöhnische Blicke einbringen. Güllemänner dagegen nicht. "Das ist etwas, was niemand wahrhaben will", hatte Shoka gemeint. "Sie kommen und gehen. _Besonders_ bei den großen Häusern. Des Nachts, damit der Herr ja nichts mitbekommt." "Nicht schlimmer als Schweine", hatte Taizu erklärt. "Ich habe schon eine Menge Mist geschippt." Rumpelnd und klappernd über das Pflaster, durch halb Lungan. "Verdammte Schlaglöcher", sagte Shoka, als der Karren unter seinen Händen schaukelte und ruckte. Als sie in die Straße am Wohnsitz der Lieng einbogen, war er bis zum Handgelenk taub, und sein Bein schmerzte. Unter den Lumpen waren sie in voller Montur, Taizu ohne den Verband, das Gesicht mit einer Kappe und einem schmutzigen braunen Halstuch verhüllt, das Schutz bot gegen die schneidende Kälte vom Fluß, Shoka mit einem dicken Halstuch und mehrlagigen zerschlissenen Kleidern - die ausgesprochen bequem gewesen wären, hätte er nicht darunter die schwere Rüstung getragen und den klapprigen Karren geschoben, der mit zwei Fässern beladen war, die es ihm unmöglich machten, die unebenen Stellen im voraus zu erkennen. Schweiß strömte ihm übers Gesicht. "Über die Straßen des Regenten läßt sich auch nicht viel Gutes sagen." "Es könnte auch regnen und matschig sein", sagte Taizu munter - sie hatte sich den ganzen Weg über frei wie ein Vogel bewegt, und jetzt, wo die Straßen leer waren, ging es ihr erheblich besser. Dann und wann begegneten sie einer Streife, anderen Karren oder einem Betrunkenen; und vereinzelt auch Leuten, die in nächtlichen Geschäften unterwegs waren, überwiegend in Gruppen. Diese Straße jedoch wurde auffällig stark bewacht, war auffällig menschenleer und von Laternen erhellt, ein langer, verlassener Weg bis zu der Gasse, die sie als Dienstboteneingang ausspioniert hatten. An der Abbiegung waren Soldaten. _Nimm niemanden zur Kenntnis_, sagte Shoka. _Wenn du unsichtbar werden willst, ist das eine zweiseitige Angelegenheit. Unsichtbare Menschen sehen niemanden an, wenn jemand in der Nähe ist; dann werden sie auch nicht bemerkt_. Darum hielt er den Blick auf den Karren gesenkt und hüllte sich in einen stillen kleinen Nebel, genau so, wie er es Taizu erklärt hatte: Es _gibt eine Zeit, wo man alles sieht. Es gibt eine Zeit, wo man nichts sieht. Niemand wird uns ohne Vorwarnung angreifen. Wer würde zwei armen Güllemännern so etwas schon antun? Wir sind zu armselig und zu uninteressant, um von Soldaten angesprochen zu werden, erwarte so etwas nicht einmal, bis wir am Hintereingang angelangt sind_. Kein Anruf von den Wachposten an der Ecke. Er blickte an den Fässern vorbei und lenkte den Karren mit rumpelnden und rasselnden Rädern mitten durch die Gasse. Bis zum Tor. "Einen guten Abend, Herr", sagte Shoka. Drei Wachposten, von denen einer näher trat, um sie zu inspizieren. "Du bist neu", sagte der Wachposten. "Hat sich den Fuß angeschlagen", sagte Shoka. "Er hat mich gebeten, seine Schicht mit zu übernehmen." Der Posten brummte etwas und öffnete das Tor. "Wartet hier. Das Zeug wird herausgebracht." _Verdammt_. "Das macht uns nichts aus, Herr, wir können's holen." "Gegen die Bestimmungen." Der eine Wachposten wandte ihm den Rücken zu. Und segelte an die Mauer. Der zweite und dritte näherten sich und zückten ihre Schwerter. Shoka wich einem aus, wirbelte vorbei und traf einen mit Knie und Ellbogen, der Mann klappte zusammen, und Shoka reichte ihn an Taizu weiter, während er abermals herumwirbelte und den dritten Mann auf den Karren warf. Der erste Mann schrie. Shoka trat ihn, riß sein Schwert aus dem Bündel auf dem Karren, und Taizu packte ihren Bogen und Köcher. In den Hintereingang hinein, so schnell sie laufen konnten, und eine Treppe zu einer Gartenterrasse hoch. "Es tut mir leid!" flüsterte Taizu, hockte sich neben eine eingetopfte Pinie und legte einen Pfeil an. "Verdammt, ich bin weich geworden. Bleib hier!" Er rannte über die Terrasse, durch die Schattenäste und das Laternenlicht von dem darübergelegenen Balkon. Der Lärm und das Geschrei breiteten sich aus. Rufe hallten von den Mauern wider und verloren sich in der Richtung der Balkone. Er kannte Ghita. Immer nur das Beste. In der Mitte des Hauses, im ersten oder zweiten Stock, in fürstlicher Ruhe und erlesener Pracht. Ein schwerer Fehler, daß er die armen Kerle draußen am Tor nicht erstochen hatte. Damit hätten sie etwas Zeit gewonnen, nicht viel, aber etwas. Eine Holztreppe hoch, während über ihnen Laternen aufflammten. Er duckte sich und hechtete von der Treppe in einen Wacholderbusch, als Wachen über den Weg zum Dienstboteneingang polterten. Man brauchte nicht lange zu überlegen, um zu wissen, daß Ghita inzwischen wach war. Ein Gutes hatten die Wachen jedoch: sie machten soviel Krach auf den Holzveranden, daß er seinen Lauf nicht zu zügeln brauchte. Er kletterte auf die Treppe, auf die Veranda und _Klirr_! durch eine zerbrechliche Fensterfüllung, geradewegs in die Halle im ersten Stock. Wachen rannten auf ihn zu, versuchten ihn aufzuhalten. Sie verteilten sich. Das war ein Fehler. Eins, zwei, drei, vier und fünf - eine Blutfontäne spritzte auf ein Fresko, das Berge im Nebel darstellte. Er rannte die Halle entlang, stieß die Türen an deren Ende auf. Noch mehr Wachen in einem erleuchteten Gang, ein verwirrter Haufen schreiender Frauen, denen keine Zeit blieb, ihm auszuweichen. Er erwischte den einen Wächter, dann der anderen, der kampfunfähig und brüllend zu Boden ging... Vor ihm ein Mann. Ein Gesicht wie eine Maske des Entsetzens; ein Brokatgewand, das Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Nicht Ghita. Er _kannte_ den Mann, und im nächsten Moment erkannte er den Jungen hinter dem verweichlichten, plumpen Gesicht. Der Kaiser persönlich. Beijun. "Shoka!" keuchte der Kaiser, begleitet vom Getrappel eintreffender Wachen. Aus dem darunterliegenden Saal. Eine stattliche Anzahl. "Shoka, helft mir!" Er erstarrte, mit erhobenem Schwert, in einem Raum ohne Ausgang. Und wirbelte herum und griff im letzten Moment an, schlug nach rechts und links um sich, ohne die Getroffenen anzusehen, nur immer geradeaus. Sein Bein brannte, während er lief, nur die Götter konnten seinen Schmerz ermessen. Er rannte, packte eine Ecke, schwang sich zu einer Treppe herum, rollte mit der Hüfte über die Fensterbank und sprang mit einem Salto auf die Holzveranda. Fürst Lieng hatte keine Angst vor Einbrechern. Von der Veranda gleich wieder in den Wacholder, dem Himmel sei Dank, daß er den Panzer anhatte. Er bahnte sich einen Weg zum niedrigen Holzzaun, schwang sein Bein hinüber und stürmte über die Terrasse, das Schreien der Wachen im Ohr und plötzlich auch das scharfe Zischen von Pfeilen, die an ihm vorbeiflogen. Sie war da, sie erwartete ihn im Schutz der Mauer, und hinter ihm starben Wachen. "Zieh das aus!" keuchte er, als er sie erreicht hatte. Er legte die Lumpen ab, zog eine Bambusnadel aus einem Panzergurt, formte sein Haar rasch zu einem Knoten und steckte ihn fest. Sie warf den Bogen weg, ließ den Köcher fallen, die Lumpen und den Hut, und eilte mit ihm zusammen die Treppe hinunter in Richtung Dienstboteneingang. Soldaten tauchten im offenen Tor auf. "Dort drüben!" schrie Shoka ihnen zu und deutete mit seinem Schwert in die Richtung. "_Bewegt_ euch, verdammt noch mal, dort sind sie! - Du und du, kümmert euch ums Tor!" Die Soldaten strömten an ihnen vorbei. Die Bezeichneten wandten sich um, wollten das Tor schließen. Und starben ohne einen Laut. "Verdammt", sagte Shoka und trat über die Leiche, die den Durchgang versperrte, auf den Weg mit dem Karren hinaus. Einer der Verletzten bewegte sich schwach. Einer war verschwunden. Einer rührte sich nicht. Sie gingen bis zur Ecke, an der ein Posten Wache hielt. "Einer ist entkommen!" sagte Shoka barsch. "Hab' nichts gesehen!" meinte der Wachposten. Shoka deutete mit dem Schwert hügelan, jenseits der Lichter. "Wir sehen dort mal nach!" So leicht war es, sich durch die Gasse zu entfernen, die Schwerter einzustecken und im Labyrinth der Straßen von Lungan unterzutauchen. Doch dann mußte er Taizu sagen: "Ich habe ihn nicht erwischt. Ich bin nicht soweit gekommen. - Statt dessen bin ich über den Kaiser gestolpert." "Hier!" Sein verweichlichtes, erschrockenes Gesicht. _Shoka, helft mir_! Als sein Arm im Begriff gewesen war zu morden. _Helft mir_! _Gütiger Himmel, daß er es wagte! *20*_ Chun?" fragte Shoka, als er mit Taizu durch die Tür zur Diele im oberen Stockwerk der _Pfingstrose_ trat. "Hauptmann", ertönte die gedämpfte Antwort von der anderen Seite, und ein Riegel hob sich und klackte. Chun öffnete die Tür. Die Männer waren schon auf den Beinen und blickten ihnen besorgt entgegen; ebenso Meister Yi und sein Begleiter, doch Jian zückte ein Schwert, und Meister Yi samt Begleiter setzten sich wieder hin. Chun schloß die Tür. Shoka verschränkte die Arme, lehnte sich an die Wand und starrte Meister Yi an, anhaltend und wohlüberlegt finster, während die Männer ihn mit Fragen bestürmten, auf die er keine Antwort gab. "Meister Yi", sagte er, als die Fragen verstummt und in tiefes Schweigen gemündet waren, "ich bin sicher, Ihr versteht - daß es hier um Leben und Tod geht. Ich habe eine Menge Unannehmlichkeiten auf mich genommen, um Euch hier Unterschlupf zu gewähren. Ein anderer an meiner Stelle hätte Euch einfach die Kehle durchgeschnitten. _Versteht_ Ihr mich, Meister Yi?" "Ja, Herr", stammelte Yi. "Ihr könnt gehen." "Bitte..." "Ihr braucht Euch keine Sorgen zu machen, Meister Yi. Weder Ihr noch Euer Begleiter. Es sei denn, die Soldaten des Regenten spürten irgendwie den Karren oder die Fässer auf. Im Augenblick befindet er sich an keinem günstigen Ort, fürchte ich. Wir werden uns darauf verlassen müssen, daß Ihr ihn mit Eurem Freund versteckt. _Ich_ würde ihm sagen, daß ihn jemand gestohlen hat. Ich glaube nicht, daß er mehr wird wissen wollen. Und Ihr wohl auch nicht." "Nein, Herr." Ein Flüstern, in einem Zimmer, in dem man eine Stecknadel hätte fallen hören. "Ich würde dafür sorgen, daß man ihn nicht findet, Meister Yi. Ihr seid ein kluger Mann. Ihr kennt die Polizei. Es tut nichts zur Sache, ob Ihr mit uns unter einer Decke steckt oder nicht. Ihr habt den belastenden Karren besorgt. Euer Freund weiß das. Ich schlage vor, daß Ihr _ihm_ sagt, wie gefährlich _es_ wäre, ihn als gestohlen zu melden - ich würde Euch nämlich nur ungern im Gefängnis sehen, ein Fremder, dem man Fragen stellt, die er nicht beantworten kann. Unwissenheit ist der sicherere Weg - weil wir Euch nämlich beobachten werden, Meister Yi. Darauf könnt Ihr Euch verlassen. Ihr seht, wir haben Euch am Leben gelassen. Und so soll es auch bleiben. _Wir_ vergessen einen Freundschaftsdienst nicht. Sie schon. Denkt darüber nach, Meister Yi." "Das werde ich. Das werde ich, Herr." "Bringt Euren Freund dazu, daß er Euch glaubt, Meister Yi. Sagt ihm, wie gefährlich es ist. Sagt ihm, in was er da verwickelt werden kann. Wenn Ihr jetzt geht, bleibt Euch genügend Zeit. Ich verlasse mich darauf, daß Ihr für das Schweigen Eures Begleiters einstehen könnt." "Gewiß doch, Herr!" "Dann _geht_, Meister Yi." Meister Yi zögerte einen Moment und sah die Männer an, die ihn umstanden. Dann erhoben sich er und sein Begleiter, und Shoka gab die Tür frei. Chun öffnete sie, und Meister Yi eilte sich verneigend hindurch, seinen Begleiter hinausdrängend. "Er ist uns entwischt", sagte Shoka, als sich die Tür geschlossen hatte. "Wir mußten weg. Aber wir haben den Kaiser gefunden."Auf den Gesichtern zeigte sich Verblüffung. "Im Vertrauen gesagt", meinte Shoka. "Wir sind ihm begegnet. Helft mir, hat er gesagt. Und dann kamen die Wachen. Ich hatte keine Zeit mehr, ihn zu fragen, wobei. Ich vermute, daß Ghita sich Sorgen macht, was er anstellen könnte, wenn er allein in der Hauptstadt zurückbleibt - daß er die Macht an sich reißen könnte. Ich weiß es nicht. Jetzt müssen wir erst mal diesen Ort verlassen." "Ja, Herr." Shoka blickte Chun an. "Hauptmann", fügte Chun hinzu. "Verschwinden wir von hier", sagte Shoka. "Ist die Unterkunft bereit?" "Zwei Straßen nördlich von hier, Hauptmann", antwortete Eidi. "Der Gasthof nennt sich _Glückseligkeit_." Aufgeweckte Burschen, Reidis Männer. Ein Wort hatte genügt, als sie sich umgezogen und Meister Yi unter Arrest gestellt hatten, und alles hatte sich verändert, Geld hatte den Besitzer gewechselt, Eidi war in aller Stille losgezogen und hatte ihnen ein anderes Schlupfloch besorgt, während sie dieses weiterhin bezahlten. Der Besitzer der _Pfingstrose_ machte bei seinen Gästen nicht die Betten; und in dieser Gegend war es unwahrscheinlich, daß er die Zimmer doppelt vermieten oder die Pferde stören würde, da er es nicht wagen würde, sich mit ihresgleichen anzulegen. "In Zweier- und Dreiergruppen", sagte Shoka. Die Gasse runter. Nur das Allernötigste. Ich fürchte, die Matten müssen wir hierlassen, nur die Decken. Wir wollen ja nicht auffallen." Etwas Heißes landete auf Shokas Rücken: er biß die Zähne zusammen und spannte die Arme an, mit dem Gesicht auf dem Boden, während Taizu Lappen aus dem Topf fischte und sie ihm bestimmt nicht ohne eine gewisse Genugtuung auflegte. Gott sei Dank war es bei der Flucht bergab gegangen. Ein weiterer Lappen. Zischend stieß er den Atem aus. "Tut's weh?" fragte sie. "Nein." "Tut mir leid. Das war der von ganz unten." Sie hatten das Zimmer mit dem kleinen Ofen und dem Kochtopf, dem einzigen Luxus der _Glückseligkeit_. Chun und seine Kameraden hatten das andere Zimmer und schliefen ein wenig beengt: Macht nichts, Hauptmann, hatte Chun gemeint. Wenn der Wirt wußte, wie sie die Zimmer aufgeteilt hatten, dann bauchte man nicht lange zu überlegen, um seine Gedanken zu erraten. "Ihr habt hier einen bösen Bluterguß", sagte Taizu. "Ein Glück, daß es nichts Schlimmeres ist." Er wußte, von welchem sie sprach. "Die verdammten Büsche." "Wie geht es jetzt weiter?" Er wollte tief Luft holen. Der Schmerz war zu groß. "Erkunden. Noch einmal. Wir haben uns bewegt. Wir müssen in Erfahrung bringen, was Ghita jetzt unternimmt. Ich weiß nicht, in welcher Lage sich der Kaiser befindet, aber eines steht fest, man bringt den Kaiser nicht aufs Schlachtfeld. Er hat sich _verändert_. Es geht ihm nicht gut..." "Er kann Euch doch unmöglich leid tun!" Ein weiterer Seufzer. Nichts paßte zusammen. _Ich habe versucht, ihm etwas beizubringen. Ich weiß nicht, ob ich meine Sache hätte besser machen können. Hätte ich mehr Geduld gehabt, dann_... _Unschuldige Menschen sind für ihn gestorben. Es werden noch mehr sterben, um seinetwillen. Verdammt noch mal, warum habe ich gezögert? Warum habe ich bloß gezögert_? Er sah Beijuns Gesicht vor sich, bleich, verschwollen, verängstigt - aber nicht vor ihm hatte er sich, gefürchtet. Nicht vor ihm, trotz des Schwertes. Als hätte er in ihm seinen Retter gesehen. Taizu berührte ihn am Rücken, legte ihm die Hand auf die Schulter. Um nicht mehr Beijuns Gesicht sehen zu müssen, öffnete er die Augen und blickte starr auf die braunen Bretter, die schmuddligen gelben Mauersteine, den Pfosten, der das Dach daran hinderte, ihnen auf die Köpfe zu fallen. "Ghita!" zischte Taizu. "Das hattet Ihr gesagt!" "Verdammt richtig." Er stützte das Kinn auf die Hand. "Die Frage ist nur, ob wir in der Stadt herumerzählen sollen, daß der Kaiser hier ist. Es besteht die Möglichkeit, daß man ihn heute nacht umbringt." "Und Euch dafür verantwortlich macht." "Wenn Ghita weiß, daß ich es war, dann wäre die Versuchung für ihn groß. Und sobald sich herumspricht, daß ich hier bin - wird es gefährlich. Ein paar Leute in der Stadt haben mich aus der Nähe gesehen. Ghita wird sich bestimmt über nichts wundern, was ich tue, aber ich wette, daß er mit dem Kaiser heute ein ernstes Wörtchen reden wird. Ein sehr ernstes Wörtchen." "Er könnte zum Beispiel wissen wollen, ob der Kaiser mit Reidi unter einer Decke steckt?" "Mit Reidi und mit mir." Schweigen. Dann, ganz leise: "Verdammt." Er drehte sich um und sah sie an, sah ihr finsteres Gesicht. "Was, verdammt?" "Ghita und Gitu und der Kaiser und alle, die auf ihrer Seite stehen! Sie bringen Menschen um und brennen ihre Häuser nieder und kommen ungestraft damit durch, und Ihr habt auch noch Mitleid mit ihnen!" "Ich hatte zwei Schüler. Der eine warst du." "Der andere war der Kaiser?" "Er dachte, ich wäre ihm zu Hilfe gekommen." _Als hätte er all die Jahre über gewartet. Als hätte er wie Meiya am Fenster geglaubt, daß ich komme_. _Worauf hatte sich der junge Tor da bloß eingelassen_? _War er tatsächlich zu Ghita gerannt_? Ein ruhiger Morgen. Sehr ruhig - während die Gespräche im Speiseraum der _Glückseligkeit_ verstummten, wenn Söldner die Treppe herunterkamen, während sich Soldaten auf der Straße versammelten und miteinander redeten. "Was geht hier eigentlich vor?" fragte Shoka eine kleine Gruppe in der Nähe der _Glückseligkeit_. Er war allein. Taizu war im Zimmer geblieben, was nicht ohne Streit abgegangen war, aber die Lage spitze sich zu, so hatte er argumentiert; sie trug einen frischen Verband (einen unscheinbaren, fast blutfreien), und sie war zu auffällig für einen Morgen wie diesen, an dem Fragen gestellt wurden. Was ihm erhobene Brauen und einen abschätzenden Blick einbrachte, ehe ein Fittha in gesenktem Ton antwortete: "Heut nacht wurde ins Hauptquartier eingebrochen." Der Söldner spuckte seitlich aus. "Zwanzig Tote. Es heißt, der Regent habe oben geschlafen. Die ganze Zeit durchgeschlafen." _Den Teufel hatte er_. Shoka machte ein verwirrtes Gesicht. "Wie sind sie hineingekommen?" "Durch den Dienstboteneingang." "Jemand muß ihnen geholfen haben", meinte ein anderer. "Mist", sagte Shoka und ging kopfschüttelnd davon. Zu einer anderen Gruppe, draußen vor der _Pfingstrose_, sagte er barsch, in strengem Befehlston: "Hat jemand was vom Regenten gehört?" "Was?" fragte ein Offizier, der ihn mißtrauisch beäugte. Shoka nickte zur Seite des Gebäudes hin und zog den Offizier mit sich. "Einer meiner Männer hat gehört, der Regent sei tot. Angeblich verschweigt man es, aus Angst, es könnte zu Unruhen kommen." "_Wer_ hat das gesagt?" Shoka kratzte sich unter seinem stoppeligen Kinn. "Ein Oghin. Drüben in der Blumenstraße. Hast du noch nichts gehört?" "Nein." "So was. Ich hör' mich bloß um. Meine Leute fragen _mich_. _Es_ heißt, die Rebellen hätten einen Verbündeten im Führungsstab. Vielleicht ein richtig hohes Tier. Das Ganze sei eine Intrige." "Mist." "Ja. Was hast _du_ gehört?" "Nur daß sie durch den Dienstboteneingang kamen, das Tor öffneten und mit zwanzig, dreißig Mann eindrangen. Aber es heißt, so viele Leichen gab's nicht. Aber alle gehörten zur Besatzung." "So was. Und wie viele sind noch übrig, laufen rum und suchen nach den Mördern?" "Wir nicht. Ich stehe bei der Garde unter Sold." "Aha. Wir kommen aus Taiyi, wurden völlig auseinandergenommen. Die Hälfte meiner Leute ist tot. Ich hab keine Front gesehen, und das Hauptquartier kann sich nicht mal selbst verteidigen, was soll also der Unsinn?" Der Fittha kratzte sich und hielt sich an einem seiner Amulette fest. "Sie zahlen." "Stimmt", sagte Shoka. "Bis jetzt. Ich hoffe, er ist am Leben. Was wird sonst aus uns?" Das Gesicht des Fittha verdüsterte sich. "Warum sagen sie nichts, verflucht noch mal?" fragte Shoka. "Das ist es, was mich nervös macht. Man weiß nicht, was diese verdammten Schweine vorhaben. Die sollten besser mal ein paar Patrouillen losschicken..." Und indem er einen gelbgekleideten Mönch in einer Gasse nahe der Bäckerstraße am Kragen packte: "He, du! Kennt Ihr einen alten Mann, einen Schurken namens Jojin?" Der Mönch verzog angewidert das Gesicht. "Nein." Einen Moment lang war er vollkommen durcheinander, von dem verständlichen Entsetzen darüber, an der Kehle gegen eine Mauer gedrückt zu werden, einmal ganz abgesehen. "Wenn du ihn siehst, sag ihm - im Kloster zum Himmlischen Licht, wenn er dort ist -, daß es dem Jungen, der die Pflaumen geklaut hat, leid tut und daß er sich in der Stadt aufhält. _Vergiß das nicht_!" "Ich werde es nicht vergessen." Der Mönch war um die Fünfzig, alt genug, um ein frommer Mönch zu sein, keiner von der Sorte, die ihre göttliche Erleuchtung im Soldatenalter bekamen. Und er war neugierig genug, Shoka in die Augen zu sehen. "Dann geht", sagte Shoka. Es war nicht schwer, am Markt eine ganze Karawane zu finden - in einer Stadt, die niemand ungehindert verlassen durfte. Viel Betrieb auf dem Markt, wenig Geschäfte, aber eine Menge kleiner tratschender Gruppen, die rasch einmal hinsahen und dann verstummten, wenn ein Soldat vorbeiging oder stehenblieb und auf der heruntergeklappten Theke eines Wagens teure Waren betastete. Ebenso leicht war es, die Aufmerksamkeit eines Händlers zu erregen, der in der kleinen Menschentraube in der Nähe stand. Noch leichter, als der Händler ihn erkannte. "Ihr seid es?" Der Händler eilte herbei. "Wo steckt Yi?" Der Mann wollte ihm offenbar darauf keine Antwort geben. "Ihr tätet gut daran, ihn zu suchen", sagte Shoka."Es ist mir egal, was er Euch gesagt hat. Ihr solltet ihn holen. Sagt ihm, hier ist ein Freund von ihm." Der Mann stürzte davon. Shoka schaute sich um, hob ein Schmuckstück für Taizu auf. Und wanderte an den Wagen entlang nach hinten, beobachtete, wohin der Mann ging, die Treppe zum mittleren Wagen der kleinen Kolonne hoch. Er folgte ihm über die Treppe, bis ins düstere Innere, wo ihm zwei Händler erschreckt entgegensahen. "Sieh an", sagte er, verschränkte die Arme und lehnte sich an die Wand. "Verschwindet!" sagte Meister Yi. Nicht zu ihm. Zu seinem Kollegen; und dieser eilte zum Eingang und verschwand. Shoka näherte sich der Nische am Vorderteil des winzigen Wagens, wo Yi auf seinen Kissen saß und sich mit den Ellbogen auf den Knien vorsichtig verneigte - das Schwert hinter seinem Rücken stand weitergehenden Höflichlichkeitsbekundungen im Wege. Ebenso der Bluterguß auf seinem Rücken. "Wie geht es Euch heute?" Yi starrte ihn an. "Ich habe mir gedacht, ich schaue einfach mal vorbei", sagte Shoka. "Habt keine Angst. Ich verlasse mich darauf, daß Ihr alles geregelt habt. Wie geht es Eurem Freund?" "Er hat Angst!" sagte Meister Yi unwirsch. "Dann ist ja alles bestens", meinte Shoka und klaubte ein Bonbon vom niedrigen Tisch. "Mm. Macht Euch keine Sorgen. Der eigentliche Grund für mein Kommen: ich würde Euch raten, ein Schlupfloch bereitzuhalten. Mietet Euch einfach irgendwo in der Stadt eine Wohnung, nehmt ein paar der hübscheren Sachen aus den Wagen mit..." Yi sah ängstlich aus. Unvermittelt räusperte er sich und rieb sich die Hände. "Sehr rücksichtsvoll von Euch, Herr." "Ich hab's Euch ja gesagt. Ich zeige mich erkenntlich." Er klaubte eine weiteres Bonbon aus der Schale. "Mm. Also habt Ihr mich unterwegs erkannt. Ich glaube allerdings nicht, daß Euch die Leute aus dem Dorf von mir erzählt haben." "Ich wußte es, als wir nach Ygotai kamen, als wir über die Banditen sprachen... alle tot..." "Ja, diese Nacht hatte es in sich. Also verbreitet Ihr überall Gerüchte über uns." "Nein, Herr! Wir waren nicht die einzige Karawane. Überall gab es Gerüchte." _Tauben_, dachte Shoka. Und er sagte: "Nennt mich einfach Hauptmann. - Was für Gerüchte?" "Daß Ihr zurückkehren würdet, Herr. In dem Moment wußte ich, daß wir Euch begegnet waren. Inzwischen waren wir aber schon zu weit gekommen, konnten nicht wieder nach Süden - wir hatten Angst vor dem, was wir dort vorfinden würden, darum, zogen wir weiter. Wir hatten gehofft, in Lungan wäre es sicher." "Da habt Ihr Euch getäuscht. Und ich glaube nicht, daß man Euch nach Anogi wird weiterziehen lassen." Yi schüttelte den Kopf. "Wir sitzen hier fest. Ich bin nicht der einzige. Man hat unsere Pferde beschlagnahmt, man gab mir ein Papier, das mir Entschädigung verschaffen soll - aber ohne unsere Pferde können wir die Wagen nicht bewegen." "Ein schreckliches Durcheinander." "Ich möchte meine Frauen wiedersehen, Herr, _alle_ Frauen, wir denken an nichts anderes mehr, als wie wir hier weg und wieder nach Hause kommen, verflucht sei diese Reise! Ich will nichts mehr damit zu tun haben! Stellt mir keine Fragen mehr!" "Hauptmann." "Hauptmann, He..." Yi verschluckte den Rest. "_Bitte_ fragt mich nichts mehr." "Sagt es einfach weiter: erzählt Euren Männern, was ich Euch gesagt habe. Wir sind zahlreich. Das könnt Ihr jedem sagen, der Euch verläßlich erscheint. Die Kämpfe werden innerhalb der nächsten paar Tage beginnen. Und Ihr tätet klug daran, Euch aufs Westufer zu begeben und dort zu bleiben, wenn es soweit ist. Macht Euch wegen des Ausgangs keine Sorgen. _Wir_ haben Unterstützung." "Ja, He..., Hauptmann." "Aus dem Norden wird gemeldet", sagte Shoka träge und nahm sich ein weiteres Bonbon, "die Armee befinde sich auf dem Heimweg. Auf _unserer_ Seite. Das könnt Ihr ebenfalls weitersagen. Das Volk soll es nur wissen. Und die Söldner können es ebensogut erfahren wie das Volk. Ihr versteht." Er wählte sich noch ein paar Bonbons aus. "Habt Ihr Papier? Meine Frau würde sich freuen. Ihr habt doch nichts dagegen, oder?" "Nein. - Nein, natürlich nicht." Yi reichte ihm ein Tuch. "Bedient Euch nur." "Sie freut sich so über kleine Aufmerksamkeiten." Shoka leerte die Schale in das Tuch, blickte in Yis Augen und sah kalte Angst darin. "Wirklich. Man sollte es nicht meinen. Ich war mir anfangs nicht sicher - na ja, ich war mir nicht sicher, ob ich sie würde _zufriedenstellen_ können, versteht Ihr." Er räusperte sich und wickelte die Süßigkeiten ein. "Kam eines Abends einfach so hereingeschneit. Gütiger Himmel! Fast hätte sie mich umgebracht. Scheint mich beobachtet zu haben, damals im Gebirge. Hatte wohl diesen persönlichen Groll auf Gitu vor Angen, und ich sollte sie hierherbringen." Meister Yis Augen waren vollkommen rund, seine Zähne in der Unterlippe vergraben. "Ich war mir nicht sicher", sagte Shoka, "ob ich die Ehre überleben würde. Aber in vielerlei Hinsicht ist sie eine verdammt gute Ehefrau. Vergnügt. Ein richtiger Dickkopf, fürchterlich launisch - aber _verdammt_ gut im Bett. Wie Ihr Euch vorstellen könnt." Was Meister Yi offenbar tat. "Es ist etwas Besonders, mit ihr zu schlafen. Besonders bei Gewitter." Shoka zuckte mit dem Schultern. "Aber bei einer solchen Unternehmung ist sie ein guter Verbündeter. Ich möchte zur Zeit nicht in Gitus Haut stecken. Ihr vielleicht?" "Nein", flüsterte Meister Yi. "Auge um Auge", sagte Shoka. "Mit so einer legt man sich besser nicht an." "Was hat er ihr angetan?" Shoka zuckte die Achseln. "Hatte was mit Schweinen zu tun." "Mit Schw..." Shoka hob eine Braue. "Sie kommt vom Land, wißt Ihr. Ich habe eine Vereinbarung mit ihr. Sie hilft mir hierbei, und sie und ich - Ihr wißt schon. Ich glaube, sie ist halbwegs in mich verliebt. Sei's drum. Sie ist verdammt gut im Bett, und ich habe mich an... ihre kleinen Eigenheiten gewöhnt." Meister Yi starrte bloß. "Äh, ja", meinte Shoka. "Ich erkläre Euch das, weil Ihr sie kennengelernt habt und weil Ihr... gewisse Dinge wißt. Ich würde mich ihr _wirklich_ nicht in den Weg stellen - wenn es erst einmal losgeht. Falls Ihr Euch in einer solchen Lage befinden solltet." "Nein", sagte Meister Yi. "_Nein_, Herr." "Ihr sagt es weiter, Meister Yi. Sie läßt sich äußerst schwer in Schranken halten. Manchmal weiß sie einfach nicht, wo sie aufhören muß. Darum sollten sich nur unsere Feinde auf den Straßen aufhalten. Sie könnten gewisse Dinge zu sehen bekommen - Ihr wißt schon." "_Ja_, Herr." "Fensterläden zu. Das ist am sichersten. Bleibt einfach drinnen und schaut nicht raus." Er stopfte sich das Tuch hinter den Gürtel. "Das wird ihr _bestimmt_ gefallen. Ich werde ihr sagen, von wem es ist." "Ein Spaziergang um den Block!" schrie Taizu auf dem oberen Korridor der _Glückseligkeit_, in Anwesenheit von Chun und den anderen. "Meine Güte, wo seid Ihr _gewesen_?" Soviel zu Taizus Zurückhaltung vor Männern, die ihm, seit der Tumult begonnen hatte, strenge, besorgte Blick zuwarfen. "Ich sagte doch, du solltest dir keine Sorgen machen." Er ließ das Tuch in Taizus Hand fallen. "Iß was Süßes." "Ihr habt gesagt..." "Frau..." Taizu funkelte ihn über den Verband hinweg an, schlug das Tuch auf und steckte sich ein Bonbon in den Mund, vielleicht um sich im Zaum zu halten, als Chun die Tür zu dem Zimmer öffnete, das sich die Männer teilten. "Beruhige dich", sagte er. "Ich werde dir sagen, was ich erfahren habe." Die Männer und Taizu setzten sich. Das Tuch mit den Süßigkeiten wurde herumgereicht, von Mann zu Mann. Und bis zum Nachmittag hatte Jian, der in gewöhnlicher Kleidung im Gemeinschaftsraum der _Glückseligkeit_ herumlungerte, eine Reihe von Gerüchten aufgeschnappt. Das eine lautete, Ghita sei von mehreren Dämonen wechselhafter Gestalt getötet worden, die zehn bis fünfzig Mitglieder der Leibwache abgeschlachtet hätten; oder von zwanzig bis dreißig Mördern, angeführt oder unter dem Befehl von Saukendar; oder durch eine Verschwörung unter den Offizieren der kaiserlichen Garde, die entweder tot waren, sich versteckten, insgeheim die Macht ausübten oder Geheimverhandlungen mit den aufständischen Fürsten im Süden führten - die mit zehn bis hundert Legionen südlich des Flusses stünden, verbündet mit einem bis fünfzig Dämonen, den Banditen von Hoisan, Söldnerhaufen und ein bis drei Drachen, die abwechselnd der Geist des Alten Kaisers, die Wächter des Hoi, des Chaghin und des Hisei waren, oder einem Bergdrachen, der von den Dämonen aufgeschreckt worden war, mit denen Saukendar seit zehn Jahren Umgang hatte. Das zweite Gerücht besagte, Ghita sei am Leben und Saukendar sei bei dem Überfall umgekommen, oder er sei entwischt oder befände sich derzeit auf dem Weg zur Hauptstadt oder sei gefangengenommen worden und befinde sich im Gewahrsam des Regenten oder laufe mit zwanzig bis zweihundert Rebellen und mehreren Dämonen wechselhafter Gestalt frei in der Stadt herum. Drittens hätten einige Priester erklärt, der Drachen bringe dem Regenten Glück; gewisse andere hätten jedoch gehört, er sei ein schlechtes Omen. Viertens hätte die gesamte Rebellenarmee als Söldner, Bauern und Händler verkleidet die Brücke überquert und warte auf irgendein Signal, um das Lager oder das Hauptquartier anzugreifen. "Schön war's", sagte Shoka mit aufgestütztem Kinn, als er den Bericht aus der Gaststube vernommen hatte. "Aber unwahrscheinlich. Ich habe einen Blick drauf geworfen. Sie passen höllisch auf, wer rüber-geht." "Ich könnte es versuchen", sagte Taizu und hob, wieder munterer geworden, eine Braue, während sie den Berichten über Dämonen und Drachen mit finsterer Miene gelauscht hatte. Wenn er sie so ansah, dann wußte er, daß sie es tun würde und dabei an den Korb dachte. Wahrscheinlich hatten die Männer noch fantastischere Pläne. "Wir schaffen es auch so", sagte er. "Wir werden schon wissen, wann es soweit ist." Sogar hier in ihrer geschützten Abgeschiedenheit hüteten sie sich, Namen und Details zu nennen - weil schlechte Angewohnheiten, hatte er den Männern erklärt, einen sonst in der Öffentlichkeit zu tödlichen Versprechern verleiteten. "Ich gehe heute abend zur Brücke." "Wir gehen", sagte Taizu. "Du bist zu auffällig, verdammt noch mal." Taizu hielt sich eine Haarsträhne über die Oberlippe. Er blickte sie finster an. "So ein Schnurrbart paßt nicht zu einem Jungen." Sie ließ das Haar fallen. "Der Korb", sagte sie. "Hüte dich." "Ich bleibe jedenfalls nicht hier!" Sie hatte sich mühelos an den Umgang mit den Männern gewöhnt. Nun schmollte sie, das konnte er trotz des allzu verräterischen Verbands erkennen. "Du bist zu leicht zu beschreiben, Frau. Oder wollt ihr eure Köpfe über dem Tor von Lungan hängen sehen?" Sie sagte nichts. Sie sah ihn bloß an. Und dann bekam er Angst, als er sie im Geiste hinter sich über die Straße gehen sah. "Es wird uns schon was einfallen", sagte er. Schon die bloße Vorstellung, sie allein in der Stadt zu wissen, beunruhigte ihn - Taizu mit ihrer Angst vor Städten, mit ihrer Unerfahrenheit beispielsweise in so einfachen Dingen, wie man sich durch den Verkehr bewegte. Was sie alles nicht abhalten würde, wenn sie es sich einmal in den Kopf gesetzt hatte. Nichts hatte sie je abgehalten. "Da ist jemand auf dem Korridor", sagte Jian. Ein Brett auf der Treppe hatte geknarrt, und sie vernahmen eilige Schritte. "Eidi", sagte Chun, während Jian zur Tür sprang: Eidi hatte die Wache. Ein Pochen an der Tür, eine leise Stimme: Jian schob den Riegel zurück und ließ Eidi ein. "Hauptmann", japste Eidi und verneigte sich. "Es heißt, der Regent werde eine Rede halten, im Lager, um zu beweisen, daß er am Leben ist. Daß sich alle dort einfinden sollen. Daß wir - daß die _Rebellen_ am anderen Flußufer aufgetaucht wären. Daß der Kaiser eingetroffen sei und mit dem Regenten zum Lager kommen werde." Letzteres überraschte ihn: daß Beijun am Leben war. Daß der Regent sich zu diesem Schritt entschlossen hatte... "Ghita ergreift die Initiative", murmelte er und massierte sich unter seinem fettigen Haarschopf den Hals. "Und unsere Freunde könnten einen Tag zu früh gekommen sein; oder Späher könnten ihr Lager entdeckt oder sie angegriffen haben; oder Ghita weiß genau, wo sie sind, und er hofft, uns mit einer Falschmeldung dazu bewegen zu können, daß wir die Initiative ergreifen und uns zu früh offenbaren." Besorgte Blicke ringsum. "Was machen wir jetzt?" fragte Taizu. "Ich denke nach", sagte er. In der Tat zerbrach er sich den Kopf - saß mit den Armen auf den Knien da, starrte an die grauen Bodenbretter und überlegte, wie er mit Reidi Kontakt aufnehmen könnte. Trockene, altersgraue Bodenbretter. "Wir sind am Zug", sagte er selbstgefällig - er konnte nichts dagegen tun. Die Dinge entwickelten sich erstaunlich gut, wenn man bedachte, daß er ständig improvisierte. _Und_ er hatte den Gegner gezwungen, seine Deckung zu verlassen. Vielleicht, dachte er, erwachten nun, da Chiyadens Schicksal auf dem Spiel stand, die Götter aus ihrem Schlaf. Oder vielleicht holte sie ein gewisser alter Mönch mit seinen Gebeten aus dem Bett. In seiner frömmeren Jugend hätte er sich wegen eines solchen Gedankens Sorgen gemacht. Der Strom der Soldaten mit ihrer Ausrüstung und den Schlafmatten, der sich am späten Nachmittag ins Lager ergoß, wirkte wie eine Parade; Gruppen zu Fuß und Gruppen zu Pferd - doch für eine Parade, dachte Shoka, fehlten die winkenden Zuschauer. Die wenigen Bürger, die auf der Straße waren oder aus den Fenstern und von den Läden aus zuschauten, starrten die Soldaten, die demonstrativ für sich blieben, nur düster an. Sie hatten den verbliebenen Bogen dabei - Chun trug ihn, ebenso wie den Köcher, eingerollt in die eine Schlafmatte, die ihn auch auf dem Weg von der _Pfingstrose_ zur _Glückseligkeit_ verhüllt hatte. Ansonsten hatten sie nur Decken dabei: alles andere war noch in der _Pfingstrose_. Es war eine armselige Schar, die in der nachmittäglichen Menge durch die Straßen zog. In der Ferne schepperte ein Gong. Überall auf der Straße sahen Soldaten von ihren Unterhaltungen und Beschäftigungen auf, die Köpfe der Städter wandten sich um, jeder in der Stadt horchte auf diesen einen Laut. "Das muß Ghita sein", sagte Shoka, und ein paar Schritte weiter: "Sie bringen den Kaiser ins Lager. Wo er für Attentäter erreichbar ist. Oder für _uns_. Das ist eine Falle. So oder so ist es eine Falle - die uns aus der Deckung hervor und in Ghitas Reichweite locken soll." Wieder ein paar Schritte. "Was machen wir also?" fragte Taizu. Einberufen zum Lager. Mit dem Kaiser als Köder. Verdammt. _*21*_ Eine schmale Gasse mündete nahe dem Markt auf die Straße, eine Gasse wie zahllose andere auch, abgesehen von dem Durcheinander aus Abfall und zerbrochenen Fensterläden. Sie führte in die allgemeine Richtung des Lagers, und ein Teil des Stroms von Soldaten, die zum Appell unterwegs waren, mochte durchaus diese dunklere, gewundene Abkürzung hinter den Gebäuden am Flußufer nehmen. Shoka blickte sich auf der Straße um und sah, daß ihnen noch ein paar Gruppen folgten, daß der Betrieb jedoch bereits abnahm. Also schlugen sie diesen Weg ein. Und er vergewisserte sich, daß niemand mehr hinter ihnen war, als sie erst in eine Gasse einbogen, die wieder nach Norden führte, dann in einen gewundenen Kanal von Straße, der sie weiter nach Süden und am Ende in die Nähe des Lagers führte. Die Männer waren offensichtlich beeindruckt. Dabei wußte er nur, wie die Stadt angelegt war, erinnerte sich von den Karten her, die er vor Jahren einmal gesehen hatte, daß die Straßen auf eine Diagonale zuliefen und daß der Alte Kaiser in seiner Jugend eine Reihe von Lägerhäusern an der Hafenfront beschlagnahmt und deren Fenster und hafenseitig gelegenen Türen hatte zumauern lassen, was billiger kam, als eine dreißig Fuß hohe Mauer zu errichten. Und jede Straße in diesem Viertel, mit Ausnahme der Durchgangsstraßen, stieß gegen diese Barriere, die Nordmauer der quadratischen Einfriedung am Fluß, die in Friedenszeiten als Markt und in Zeiten der Bedrängnis als Brückengarnison diente, und diese Mauer war identisch mit der versiegelten Vorderfront ehemaliger Lagerhäuser und Bordelle. Die ehemaligen Mieter waren jedoch zurückgekehrt - zumindest galt das für die Lagerhäuser. Die Armen der Stadt hausten in den Ruinen der angrenzenden Hurenhäuser. "Da ist die Mauer", sagte Shoka und nickte zu der dreißig Fuß hohen Backsteinfassade hoch, die das Ende der Straße zwischen zwei windschiefen, verfallenen Mietshäusern abschloß und hinter einem Durcheinander von zum Trocknen aufgehängter Wäsche und gesetzwidrigen Anbauten entlangführte, ehe sie wieder zur Rückwand dieser Gebäude wurde. Während auf der anderen Seite Pauken und Trompeten einen pompösen Auftritt ankündigten und die armen Leute auf dieser Seite der Mauer, wo sonst keine Soldaten hinkamen, ängstlich zu einer bunt zusammengewürfelten Gruppe von Soldaten schauten, ins Freie stürzten, Kinder packten und Türen und Fensterläden zwischen sich und dem Ärger schlossen. "Schnappt euch die Tür", sagte Shoka, als ein Mädchen mit einem Säugling im Arm auf eine Tür zulief, die eine Frau offenhielt. Chun und Wengadi sprangen über das Geländer des Treppenaufgangs und schlugen der Frau die Tür aus den Händen, während Shoka die Treppe hochkam. "Bitte", sagte er mit nördlichem Akzent und verneigte sich mit vollendeter Zuvorkommenheit vor der verängstigten Frau. "Wir würden gern Eure obere Etage benutzen." Die Augen der Frau weiteten sich. Noch immer lag Entsetzen darin, aber auch noch ein anderer Ausdruck. "Ihr seid Saukendar..." Als sei das gar nicht so schlecht. "Hier." Taizu schloß die Hand um ein goldenes Amulett, das sie trug, Teil des Söldneraufzugs, und zog es sich über den Kopf. "Nehmt das! In unserer Nähe könnt Ihr getötet werden! Lauft weg! Verschwindet! Verschwindet alle miteinander!" "Komm schon, verdammt noch mal!" Shoka folgte Chun und Wengadi die schmale Treppe hinauf, vorbei an wackligen Balkonen und erotischen Zeichnungen, bis zum obersten Stockwerk, wo eine dünne Tür in ein dunkles kleines Loch führte, irgend jemandes Wohnung; ein stinkendes Durcheinander von Gerümpel, eine niedrige Decke mit Vogelnestern auf den Sparren und ein schwacher Lichtschimmer, der durch die Ritzen zwischen den Dachziegeln fiel. Verdammter Mist. Irgendein bettelarmes Großmütterchen würde mit von der Partie sein, wenn die Soldaten suchen kamen. _Reidi, hoffentlich bist du dort drüben am Leben_! "Los", sagte er, und Jian und Wengadi packten ein Brett, das als Tisch gedient hatte, lehnten es ans Mauerwerk und kletterten hoch, um Dachziegel wegzuschlagen, worauf blendendes Licht von oben einfiel. Jian und Wengadi schwangen sich von den niedrigen Dachbalken herunter. Dann kam der gefährliche Teil. "Ich mach's!" sagte Taizu. "Ich wiege nicht soviel!" "Du weißt nicht, worauf du zielen mußt", sagte Shoka. Er legte sein Schwert, seine Montur und seine Schlafrolle ab, stieß das Hindernis aus dem Weg, holte tief Luft, rannte das schräge Brett hoch und packte die staubigen Sparren. Von dort aus schob er sich weiter vor und kletterte auf die Sparren, streckte den Kopf ins verblassende Tageslicht hinaus, die Brust auf Höhe des mit Ziegeln gedeckten Daches. "Die Dachziegel sind morsch!" drang Chuns Stimme zu ihm herauf. "Seid vorsichtig!" Er jedoch blickte über das unordentliche Lager hinweg, das sich am Fuße der Mauer ausbreitete, die dieses Dach beschirmte - blickte jenseits des Lagers, zur flußseitigen Mauer, über den Hisei hinweg, dorthin, wo sich die Brücke spannte, zu den in der Ferne verschwimmenden Hügeln, wo Reidi sein sollte... falls Reidi gekommen war. Und dann in die Tiefe, dreißig Fuß unter sich, zu nahe, als daß er, nur mit Kopf und Schultern über den Ziegeln, das Tor hätte sehen können, das auf die Brücke hinausging, oder die Zelte am Fuß der Mauer, doch die weiter entfernten Zelte breiteten sich zwischen den frei gelassenen Gassen für die Soldaten und Pferde inmitten eines Wirrwarrs von Führungsseilen und Zelträndern aus, keine ordentlichen Gassen, sondern eine bunt zusammengewürfelte Stadt aus Leinwand und Schafsfell und allen möglichen anderen Materialien, welche die Söldner mitgebracht oder erbeutet hatten. Piraten und Banditen, die sich dort eingenistet hatten, wo einmal die exakt ausgerichteten blassen Zelte der kaiserlichen Truppen gestanden hatten, wenn der Kaiser die Stadt besucht hatte; oder häufiger die Streifen und hellen Farben des Marktes von Lungan, in besseren, ruhigeren Zeiten - ein sicherer, umfriedeter Basar, in dem eine Handvoll Polizisten und starke Tore einen ehrlichen Handel und ein Minimum an Taschendieben und Gaunern zu garantieren vermochten. Da waren die zum Appell angetretenen Soldaten -eine dunkle Ansammlung von Menschen rund um helle Fackeln und Laternen, die man vor der hereinbrechenden Nacht entzündet hatte; da waren Fahnen und das Podium, von dem aus Ghita sprechen würde. Die Prozession war bereits vorbeigezogen. Auf dem Podium standen Gestalten herum, klein und glitzernd vor Gold. Er stemmte sich schwungvoll hoch und vertraute sein Gewicht den alten Ziegeln und dem alten Holz an. "Verdammt gute Aussicht." "Hier!" sagte Chun von unten. In der Öffnung tauchte sein bespannter Bogen auf. Er versuchte, ein Knie unter sich zu bekommen. Dachziegel knirschten und gerieten unter seiner Hüfte ins Rutschen. Er legte sich flach hin, und das Rutschen hörte auf. "Hauptmann?" "Halt den Mund! Nichts passiert." Mit schwankender Stimme, einem dreißig Fuß tiefen Absturz knapp entronnen, angesichts des feindlichen Lagers unter ihm. Er entspannte sich wieder, horchte auf das Knirschen von Ziegeln, verlagerte sein Gewicht behutsam auf ein Knie und wartete einen Augenblick lang ab, dann beugte er sich vor und nahm die beiden Pfeile, die Chun ihm hochreichte. Im Knien vermochte er die Zelte und die Gasse unter sich ebenso einzusehen wie die weiter entfernten Teile des Lagers. Ein recht heftiger Wind traf beinahe rechtwinklig auf seinen Rücken, ein wenig nach links versetzt. Er verschaffte sich mit Fuß und Knie einen festen Halt, dann spannte er den Bogen, berechnete seinen Schuß und feuerte ihn im hohen Bogen ins Lager. Ein Fernschuß. Er sah den Pfeil kurz vor der gegenüberliegenden Mauer niedergehen, wobei ihm der Wind und die Schußhöhe zustatten kamen. Den zweiten Pfeil brauchte er nicht mehr. "Mach schon!" flüsterte er in die dunkle Öffnung an seiner Seite. Worauf Licht aufflammte und ein dritter Pfeil hochgereicht wurde, diesmal einer, dessen Spitze mit einem brennenden Lappen umwickelt war. Gut getränkt: er flackerte und zischte im Wind, als er ihn anlegte und den Bogen für einen hohen und weiten Schuß spannte. Eine schwerere Spitze. Er würde rascher sinken. Eine Feuerspur flog durch die Dämmerung, schwächer als die Fackeln. "Hier!" sagte Chun. Ein weiterer Pfeil, und noch einer, in die Zelte hinein. Während der erste sich zu einem Brand auswuchs. In einem dichten Durcheinander von Leinwand. Bei einem kräftigen Nordwind, der das Feuer bis zur entgegengesetzten Mauer treiben und brennende Stoffetzen durch die Luft wirbeln würde, innerhalb von vier hohen Mauern, während die Feuer ein gutes Stück von den beiden Wassergräben entfernt waren. Er sah, wie sich die Soldaten zerstreuten, er hörte dünne Stimmen Befehle rufen, während Rauch emporquoll, erhellt von dem sich ausbreitenden Feuer. Solange Pfeile nachgereicht wurden, schoß er Feuerspuren über den Himmel, solange bis Chun hochgeklettert kam und seinen Kopf durch die Öffnung streckte, um einen Blick auf das um sich greifende Feuer zu werfen, dessen greller Schein von den Mauern und vom Rauch zurückgeworfen wurde, auf rennende Soldaten, die soviel wie möglich von ihrer Ausrüstung und ihren persönlichen Habseligkeiten zu retten versuchten. Sie waren Söldner. Ihr gesamter Besitz befand sich in den Zelten. Doch im Lager gab es acht, neun Brandherde, und zwei von ihnen faßten das Tor ein. Pferde wieherten. Reiter bemühten sich, das Tor zu erreichen. Er nahm einen gewöhnlichen Pfeil und feuerte ihn auf die laufenden Männer unter ihm ab. "Kommt _runter_, Fürst!" flehte Chun. Zeit zu verschwinden, dachte er. Er wollte zurückkriechen, aber die Ziegel gerieten in Bewegung, rutschten knirschend auf die Dachkante zu. Doch es packte ihn eine Hand und zog ihn in einem Hagel von Ziegeln durch die Öffnung, durch die er auf ein zusammenbrechendes Polster aus Händen und Leibern fiel. "Verdammt noch mal!" schrie Taizu. "Wir haben ihn, wir haben ihn", keuchte Chun, und Shoka rappelte sich inmitten des Durcheinanders auf die Knie hoch und erkannte, das ein Teil des Problems vom Bogen herrührte, den er immer noch festhielt. Er ließ ihn los, packte einen Pfosten und zog sich hoch. "Alles in Ordnung", sagte er. "Wird allmählich Zeit, daß wir hier verschwinden" - während er sein Schwert und seine Montur unter den zerbrochenen Ziegeln hervorzog. Er wollte den Bogen wieder an sich nehmen, doch Taizu hob ihn auf, entspannte ihn und wickelte ihn zusammen mit dem Köcher in die Matte, in der sie ihn zuvor versteckt hatten, während Wengadi den Kochtopf und die restlichen Beweisstücke aufsammelte. Die Treppe hinunter, an immer noch geschlossenen Türen vorbei; und wieder hinaus auf die Straße, eine andere Gasse entlang. Und über die Hauptverkehrsstraße hinüber, auf der sich verwirrte Menschen versammelten, unter einem vom Feuerschein erhellten, rauchverhüllten Himmel. Man entdeckte sie, und die Gaffer zerstreuten sich eilig. Jian wurde jedoch von einem Stein an der Schulter getroffen. "Verdammt noch mal!" schrie Jian. "Nieder mit dem Regenten!" rief jemand. "Weiter!" sagte Shoka, als Chun sich umdrehen wollte. "Nichts wie _weg_ hier!" Er packte Chun und begann zu laufen, während Steine aus dem Dunkel heranflogen und auf das Pflaster prasselten. Reiter bogen vor ihnen um die Ecke, Soldaten hasteten Hals über Kopf vom Fluß und dem Lager heran... ...auf der Suche nach der Ursache der Ziegel und des Feuers, vermutete Shoka, nur um die Rebellion in schönster Blüte vorzufinden. Auf einmal war die Straße hinter ihnen leer, bis auf die Steine und die Ziegel und die Soldaten, die den Rebellen nachsetzten. "Wir können ihnen nicht helfen!" sagte Shoka. "Sie sind auf sich allein gestellt! Los, weiter! Zurück zur _Pfingstrose_, auf die Pferde!" "Hauptmann", japste der Gastwirt, der ihnen zum Stall folgte. "Ich habe sie für Euch aufbewahrt, sind noch alle da..." "Gut", erwiderte Shoka über die Schulter. "Dann geschieht Euch nichts. _Geht wieder hinein_, Wirt!" "Was ist da eigentlich los? Was ist los, was brennt da in der Stadt? Wird gekämpft?" "Bald; verschließt einfach Eure Türen und haltet Euch raus, Mann!" Chun holte das Sattelzeug aus dem Küchenschuppen des Besitzers, und Waichen und Liang warfen bereits Decken über die Pferde, die nach zu langer Untätigkeit im Stall steif und gereizt waren. "Ich war immer gut zur Armee!" "Haltet endlich den Mund, Wirt!" Shoka nahm Chun sein Sattelzeug ab, drehte sich um und funkelte den Wirt drohend an. "Ihr solltet Euch besser mal überlegen, auf welcher Seite Ihr steht! Sie kommen über die Brücke!" Der Gastwirt verstummte. Die Tür schlug. Shoka streifte seinem Pferd das Zaumzeug über und sattelte es zügig, ohne Hast, aber auch ohne irgendwelche Mätzchen. Taizus Pferd stand in der benachbarten Box. "Achte auf dein Gleichgewicht", sagte er. "Taizu, hörst du mich? Werd nicht übermütig." "Bis jetzt habe ich mich gut gehalten", ertönte ihre gedämpfte, weibliche Stimme. "Findet Ihr nicht?" "Wir haben es mit einem Haufen..." Pöbel, hätte er beinahe gesagt. Alte Gewohnheiten, altes Denken, "...mit einem Haufen Narren zu tun, die nicht die Seiten auseinanderhalten können, also bleib um Himmels willen in meiner Nähe. Wir gehen über die Brücke, wir setzen auf Schlauheit, Helden können wir nicht brauchen." Seine Hände, die mit dem Sattelgurt beschäftigt waren, schwitzten. Er hatte die Schienbeinschützer angelegt und die Panzerhandschuhe und den Helm dabei, diese unhandlichen Teile hatten sie von oben aus ihrem Zimmer geholt, zusammen mit den anderen beiden Bogen und den Köchern. Eines mußte man dem Besitzer der _Pfingstrose_ lassen - ein Dieb war er nicht, lediglich verängstigt und besorgt... _Das ist schließlich sein gutes Recht, verdammt noch mal, wer bin ich denn, ihm einen Vorwurf daraus zu machen_? Er führte das Pferd rückwärts aus der Box heraus, stieg in den Sattel und ließ es im Kreis herumgehen, während Taizu, Wengadi und Nui ihre Pferde sattelten. "Nehmt euch dort draußen in acht", sagte er zu den Männern. "Die Leute wissen nicht, mit wem sie es zu tun haben. Vergeßt das nicht. Wir reiten dort raus, überqueren die Brücke, wenn wir können, und wenn ihr abgeschnitten werdet, steigt ab, legt euch hin, bis alles vorbei ist; wenn euch _das_ nicht gefällt, dann denkt ans Osttor und lauft, so schnell ihr könnt. Wir haben unseren Teil geleistet. Versucht einfach, lebend rauszukommen." Chun stieg in den Sattel. Taizu und Nui taten es ihm nach, während Wengadi sein Pferd zum Tor führte und es öffnete. Der Wind führte Rauchgeruch mit sich. Gegenüber den Laternen der _Pfingstrose_ verblaßte der Feuerschein im Süden. Wengadi hielt das Tor auf, und sie warteten, während Wengadi aufsaß und das Tor der _Pfingstrose_ gegen den Pfosten schlagen ließ. Dunkle Gestalten waren im Laternenlicht auf der Straße der Gerber zu sehen, kleine Gruppen, die sich nicht an die Gehsteige hielten und die einer Ansammlung von Reitern unangenehm viel Aufmerksamkeit schenkten. "Nichts wie weg hier", sagte Shoka, setzte sein Pferd zur Ecke hin in Bewegung und ritt die gepflasterte Straße entlang, die im Licht der wenigen .Laternen unter einem geröteten Himmel verlassen dalag. Dunkle Gebäude, geöffnete Fensterläden und nirgends ein Licht. Nur die Laternen machten jeden, der sich auf der Straße aufhielt, zur Zielscheibe, und südlich der Gerberstraße lagen herausgerissene Pflastersteine und eine Leiche am Boden. Er ließ die Gruppe so schnell reiten, wie er es auf dem unebenen Untergrund gerade noch für statthaft hielt. Das Klappern der beschlagenen Hufe wurde rechts und links von den Wänden zurückgeworfen und übertönte die dünnen Rufe in der Ferne. Reiter kamen ihnen entgegen und bogen vor ihnen in eine Seitenstraße ab. Patrouillen. Rollkommandos. Deserteure oder Plünderer. Das wußten allein die Götter. Er riskierte einen Blick nach hinten auf seine eigene Gruppe. Sie ritten eng beieinander, dicht hinter ihm, nicht in der Mitte der Straße, sondern am Rand, wo sie zumindest zeitweise Deckung hatten und wenigstens für die eine Hälfte der Straße ein weniger leichtes Ziel abgaben. Zwei Blöcke noch bis zur Promenade und zur Brücke. Auf einem Balkon, der quer über die Straße führte, zeigte sich eine schattenhafte Gestalt. Verzerrte Echos, wurden von dort und von irgendwo anders her zurückgeworfen. Noch mehr Leichen auf der Straße, Pflastersteine waren am Boden verstreut. Eines der Pferde strauchelte und geriet ins Stolpern, ließ ein Stück Dachziegel über die Straße in den Rinnstein schlittern. Auf einmal prasselten überall um sie herum Steine herab, und vom Balkon fiel eine Lampe herunter und zerschellte, brennendes Öl breitete sich auf dem Pflaster aus, erhellte die Szenerie, ließ die Pferde scheuen. "Mach schon!" schrie er, gab seinem Pferd die Hacken und ritt weiter. Irgend etwas traf ihn am Rücken. Der Wallach machte unter ihm einen Satz, verlor auf dem Öl den Halt und glitt aus, während um ihn herum ein Hagel von Steinen niederging, die ihn trafen und auch das Pferd, das sein Gleichgewicht zurückzuerlangen versuchte und wieder ausrutschte. "Verdammt noch mal!" schrie er, als es scheute, während Wurfgeschosse heruntergeflogen kamen und um sie herum zerschellten. Ein Pferd lag am Boden - es war Eidis. Er versuchte wieder aufzusitzen, während es sich hochrappelte, und konnte sich gerade noch festhalten, als das Pferd in Panik vor dem Steinhagel floh. Dann stürmten vom Flußufer her weitere Reiter heran, mitten hinein ins Getümmel, und noch mehr Pferde glitten aus. Eidi hatte sein Pferd zum Stehen gebracht. Chun war durchgekommen, zusammen mit Wengadi und Jian. Taizu tauchte aus dem Durcheinander auf, zusammen mit Liang und Waichen. Dann Nui und Yandai; Panji klammerte sich an seinem Sattel fest und lief nebenher. "Geh in Deckung!" schrie er Panji zu. "Ihr kommt nicht beide durch, geh in Deckung!" Weitere Reiter kamen ihnen entgegen, auch Leute zu Fuß, eine Woge, die sich ihnen entgegenstemmte, während sich die Straße mit Soldaten füllte, die Fensterläden abzureißen versuchten, um eine Barrikade zu bauen. "Was, zum Teufel, macht ihr da?" brüllte Shoka, der unter ihnen anhielt. "Sie kommen über die Brücke!" erwiderte ein Offizier. "Du hältst unsere eigenen Leute auf, du Narr! Befehl vom Hauptquartier! _Haltet diese Straße offen_!" "_Den Teufel werd' ich_..." Shoka zückte sein Schwert, schlug zu, und der Offizier taumelte schreiend zurück. "Macht das weg!" brüllte Shoka und trieb sein Pferd mitten ins Gedränge. "Ihr schneidet unseren eigenen Leuten den Weg ab, ihr verdammten Idioten, macht das _weg_!" Er war jetzt nicht mehr allein. Chun war bei ihm und Eidi drängte sich mit seinem Pferd hinzu, um den Druck auf die Soldaten zu verstärken, welche die Barrikade zu bauen versuchten, während von der anderen Seite immer noch Menschen hinzuströmten, die Bretter beiseitefegten und die Pferde anrempelten, bis die Barrikadenbauer ihr Vorhaben aufgaben, die Fensterläden fallenließen und sich dem allgemeinen Rückzug über die Straße anschlossen. Shoka trieb sein Pferd vorwärts, um möglichst viel Boden gutzumachen. "Lauft!" schrie er den zurückweichenden Soldaten zu, bis ihm die Stimme versagte. "Zum Osttor, los, los!" Er konnte nicht erkennen, wo die anderen waren. Er blickte sich um. Er sah Liang. Er sah Taizu durchs Gedränge kommen, immer noch zu Pferd. Dann zur Ecke, hinein in den Feuerschein am Fluß und die Rauchschwaden brennender Boote, das Holzwerk der Brücke, von der sich Hunderte von Reiter ergossen, vom Feuer scharf hervorgehoben. Er hielt an, lenkte sein Pferd zu den Fenstern eines Gasthofs, Holz knackte, als das Pferd rückwärts ging. Eidi tauchte neben ihm auf, und Chun. Liang. Er sah Waichen über den Köpfen rennender Soldaten, sah Yandai und Nui am Ufer entlang auf die Brücke zureiten. "Wo steckt Taizu, verdammt noch mal?" Während er die Trommeln hörte und die Fahnen auf der Brücke sah, das Rot und das Weiß Feiyans, den schwarzweißen Lotus von Hoishi inmitten des Feuerscheins. "Herr!" schrie Chun, seinem Pferd die Sporen gebend. "Bleibt hier!" "Den _Teufel_ werd' ich!" Er gab seinem Pferd die Hacken und drängte sich an Eidi vorbei, der ihn festzuhalten versuchte, bog um die Ecke wieder in die Straße ein, in das Gedränge zurückweichender Soldaten. Von Taizu war nichts zu sehen. Auch nicht von Panji oder Wengadi. Vielleicht war Wengadi abgedrängt worden und in die Seitenstraße geraten, und Taizu mit ihm. Vielleicht hatte sie die Strömung mitgerissen, die zum Mob geworden war, zum wilden Pöbel, mit stürzenden Pferden und Menschen, die von ihnen zertrampelt wurden... "Herr!" schrie Eidi und drängte sich zu ihm durch. "Kommt zurück, kommt zurück, um Himmels willen, wir dürfen Euch nicht verlieren!" Er lenkte das Pferd herum und gelangte wieder in den Schutz des Eingangs, hielt dort an, während die Flut an ihm vorbeirollte und zur Vorhut der Kavallerie von Feiyan wurde, begleitet von wehenden roten und weißen Fahnen... _Himmel, auf den Boden, Mädchen, steig vom Pferd runter und versteck dich_! _Gütiger Himmel, wo steckt sie_? "Fürst Saukendar!" schrie Chun. Reiter näherten sich ihnen, das Lotusbanner von Hoishi, Fürst Reidis Leute - Fürst Reidi selbst, sein weißes Haar wehte im qualmbeladenen Wind. "Fürst Saukendar", sagte Reidi, während seine Männer absaßen und sie umringten, "wir sahen Euer Signal vom Hügel aus. Wir ritten schneller zum Südufer von Lungan, als ich es je für möglich gehalten hätte. Die Söldnerhaufen... sie wichen zurück und zerstreuten sich, Fürst - die Barrikaden auf der Brücke waren praktisch unbemannt..." Er vernahm Reidis Stimme, die ihm Dinge mitteilte, die ihn unter anderen Umständen gefreut hätten. Er hätte sich auch jetzt gefreut, wenn nur ein kleinwüchsiger Reiter um die Ecke gebogen wäre. Er drängte sein Pferd vor, um besser sehen zu können. "Mein Fürst Saukendar..." "Meine Frau ist weg", murmelte er. Er drängte sich um die Ecke, vorbei an Männern, die ihn behinderten, und sah eine Straße, auf der sich die Kämpfe weit in die Gassen hinein ausgebreitet hatten, um im Schatten und im sporadischen Laternenschein ihren Abfall an Leichen und Wurfgeschossen zurückzulassen. "Herr." Es war Chun, der ihm im Näherreiten ein Gewand anbot, das im Halbdunkel golden und silbern schimmerte. "Zieht das an, damit unsere Leute keinen Fehler machen..." "Such sie, Chun! Du und Eidi, sucht entlang dieser Straße! Sie kennt eure Stimmen." "Nehmt es. Bitte, Fürst." _Sucht euch eine Deckung, geht zum Osttor_... _Das würde sie bestimmt nicht tun. Nicht, wenn sie vom Rest abgeschnitten und ganz auf sich gestellt war_... _Gitu suchen. Das sähe ihr ähnlich_. _Aber wo ist er_? _Im Hause Liang... im Hauptquartier. Dort würde das_ Gold _sein, nicht im Lager - und ohne Geld wäre er erledigt. Keine Soldaten, keine Aussichten_... _Und Beijun, in Ghitas Hand - Ghitas einziger Anspruch auf Legitimität_... "Herr..." "Ich brauche eine Handvoll Männer. _Du_ bleibst hier und hältst die Augen auf! Wenn du sie findest..." Er lenkte sein Pferd ins Freie, wo er unter Reidis Gefolge die freie Wahl hatte, und rief über die Schulter zurück: "... dann findest du mich im Hauptquartier! Es war mehr als nur eine Handvoll Männer, die ihn begleiteten. Schwarzweiße Fahnen sorgten auf ihrem wilden Ritt durch die Straßen für freie Bahn, während von den Wänden das Echo der Hufe widerhallte und isolierte Gruppen von Aufrührern vor ihnen auseinanderstoben. "Das ist Hoishi!" schrieen die Menschen von den Balkonen. "Das sind die Rebellen!" Und auf den Straßen wurde gerufen: "Nieder mit dem Regenten!" Lungan schüttelte die Bestie von seinem Rücken ab. Lungan brach die Türen der Weinläden auf und erschuf seine eigene Bestie, die im Laternenschein tanzte, in den Trümmern der Nachbarschaft, die durch die von Steinen übersäten Straßen zog und sich mit den Waffen der Toten bewaffnete. "Fallenlassen, fallenlassen", kreischte jemand von oben, "das sind die Rebellen!" Und ein quer über die Straße gespanntes Seil erschlaffte vor ihren Pferden, die Hufe trampelten darüber hinweg. Sie bogen in die Straße ein, die vom Markt aus nach Norden führte. Dort lagen tote Männer und tote Pferde, von Pfeilen getroffen; und Shoka führte sie zu der Gasse und nahm dort Aufstellung. Auf Reidis Drängen hin hatte ihn dessen Stellvertreter begleitet - Reidis Stellvertreter und ein Teil von Reidis Leibgarde samt deren Hauptmann, der vorreiten und die Lage sondieren sollte, damit Reidi nachfolgen konnte, sobald er das Gros seiner Streitmacht organisiert hatte - der alte Herr hatte eine praktischere Vorstellung davon, wie man zu einem raschen Gegenschlag ausholte, als in sämtlichen Büchern Kegis zu finden war. Zwei Worte von Reidi, und weg waren sie, ohne Fragen zu stellen, ohne Verzögerung und ohne daß bei seinen Männern irgendwelche Verwirrung entstanden wäre. "Das ist das Haus der Lieng", sagte Shoka, "kennt es jemand von euch?" Nein, anscheinend keiner. "Hinter dieser Gasse, einen halben Block weiter im Norden, führt nach Westen ein Weg zu einem kleinen Dienstboteneingang, eine Sackgasse; die Hauptstraße führt am Tor vorbei. Ich habe keine Ahnung, was wir dort vorfinden werden. Wenn es gut aussieht, dann möchte ich, daß mir jemand nachsetzt und ein paar Schüsse abgibt, die gut genug sitzen, um überzeugend zu wirken. Verstanden? Wenn es zu schwierig wird, dann macht kehrt und holt Reidi hierher. Aus dem Dienstboteneingang kann man nicht rausreiten, der Platz reicht nur für ein oder zwei Handkarren aus, und auf dem Hof können sie sich unmöglich in ausreichender Stärke sammeln - die Wahrscheinlichkeit, auf der Gasse draußen eingeschlossen zu werden, ist zu groß. Wenn sie auszubrechen versuchen, dann durchs Haupttor und in nördlicher Richtung. Aber ich werde versuchen, den Dienstboteneingang zu öffnen. Sagt das Reidi. Ihr könnt ihn sicher hierherführen. Habt Ihr mich verstanden?" "Ja, Herr", sagte der Leutnant - Reidis Männer waren allesamt in ihren korrekten Farben gekleidet, mit eigenen Wimpeln... ...und er selbst trug das Narrenkostüm eines Söldners. Er wendete sein Pferd, gab ihm die Hacken und ließ es mit einem Satz davonrennen, bis zum Ende der Gasse und um die Ecke auf die Straße hinaus, ehe er die Soldaten hinter sich herdonnern hörte. Auf der Straße brannten Freudenfeuer, aufgehäufter Müll, der die nahen Hauswände grell beleuchtete, und es lagen genug Tote herum, um ihn zu warnen. Darum überquerte er die Straße, als Reidis Leute an ihm vorbeikamen, und hielt an der Mauer des Anwesens neben dem der Lieng an, taub gegenüber dem Zischen von Pfeilen inmitten des Hufgetrappels, als Reidis Männer das Haupttor weiter die Straße hinunter angriffen und dann wieder zurückwichen, wobei ein Mann und zwei Pferde liegenblieben... Verdammt noch mal. Während er zögerte... Heftiger Widerstand - keine Frage. Sie hatten genug Leute da drinnen, ob sie nun ihren eigenen Hals zu retten versuchten oder ihren Herrn verteidigten. Eine niedrige Mauer, eine einfache Befestigung für den Garten eines Reichen, der von den Balkonen des Hauses aus geschützt wurde, von Männern, die sich auf Terrassen und hinter hohen Fenstern eingenistet hatten. Wenn Ghita sich hinter diesen Mauern befand und nicht schon auf der Straße nach Cheng'di, dann hatte er riskiert, in eine Falle zu geraten - um sich herum der Mob, während die Fürsten aus dem Süden durch die Stadt vorrückten... Das Anwesen konnte in Brand geraten, Ghita, der Kaiser, alles konnte in einem Freudenfeuer aufgehen... Ghita hatte jedoch triftige Gründe, sich hier ins Chaos zurückzuziehen - um den Sold der Söldner an sich zu nehmen und die verbliebenen Mitglieder seines Stabes und die Kerntruppen seiner Leibgarde um sich zu sammeln, diese verläßliche Schar, die das Hauptquartier wohl während seines Umzugs bewacht hatte. Ghita tat verdammt recht daran, weder diese Soldaten noch das Geld im Stich zu lassen. Die handverlesenen Kommandeure der kaiserlichen Garde und das Geld für die Söldner hatten ihn an die Macht gebracht, das Geld hatte sie ihm erhalten, das Geld, Gitus Offiziere aus Angen und die Elite von Gitus Mietlingen. Und wenn sie lange genug ausharren konnten oder es schafften auszubrechen - da waren immer noch die großen Söldnergarnisonen bei Anogi und Cheng'di, Garnisonen, die Lungan in die Zange nehmen konnten... Wenn es einen lebenden Regenten gab, um den sie sich scharen konnten und der ihnen Bezahlung versprach. Shoka biß sich auf die trockenen, von Bartstoppeln eingerahmten Lippen und starrte zu der Ecke hinüber, wo die Gasse zum Dienstboteneingang abzweigte. Sollte er das gleiche zweimal versuchen? Der Himmel allein wußte, wie Taizu sich verhalten hätte. Oder ob sie überhaupt hierhergekommen und die Hinterhalte auf den Straßen überwunden hatte. Aber er wollte verdammt sein, wenn er im Falle einer Belagerung das Risiko einging, daß sie dort drinnen war. Dort würde es Tote geben, dort wurde der Kaiser als Geisel gehalten, wenn Ghita überhaupt anwesend war, und die Chancen dafür waren mehr als ausgeglichen... Nicht, daß die Fürsten aus dem Süden Beijun zurückgewollt hätten. Aber da waren die Priester, da waren die Fürsten aus dem Norden, durch Blutsbande an die Dynastie gefesselt und ausgestattet mit Privilegien, da waren die politischen Folgen für jeden, der für den Tod des Kaisers verantwortlich war. Ein Nachfolgekrieg drohte - noch mehr Blut, noch mehr Wahnsinn, während die Barbarenkönige ihre Söldner ins Herz Chiyadens hineinschickten und immer unersetzlicher wurden, während die Armee in Grenzgefechte mit den Feinden eben dieser Könige verwickelt war... Dieser verdammte, zügellose Narr... _Helft_ mir, Shoka. Er war allein auf der Straße - nur er, die Toten und die wartenden Bogenschützen beider Seiten. Doch nun hallte ein neues Geräusch durch die Straßen - das ferne Donnern von Kavallerie. _Reidi? Oder Meijun oder Kegi, die von Osten einfielen_? _Von Norden. Gütiger Himmel. Die Söldner haben die Stadt im Norden umgangen und kommen nun zu ihrem Hauptquartier zurück - irgendein Hauptmann, der seinen Sold wert ist_... _Oder Gitu. Mit dem Gold, um sie hier, im Hauptquartier, zu bezahlen_... Im Vertrauen auf diese Ablenkung trieb er sein Pferd voran, glitt vor der Ecke auf die abgeschirmte Seite des Sattels und duckte sich, wobei er hoffte, daß ein zufälliger Beobachter von oben und von der anderen Straßenseite nur ein reiterloses Pferd sehen würde. Auf diese Weise überquerte er die Straße. Er setzte die Füße auf den Boden und führte das Pferd an der Mauer entlang, sich in dessen Deckung haltend. Er versuchte sich an die andere Seite zu erinnern, wo die Terrassen und Bäume waren. Kein Karren, der ihm diesmal über die Mauer helfen würde. Er brachte das Pferd zum Stehen, kletterte auf den Sattel und kniete sich hin. Das Pferd bewegte sich. Er zog die Zügel straff, verlagerte sein Gewicht und schaffte es, daß das Tier für den Augenblick ruhig stand. Die Mauer war gar nicht so hoch. Es war gar nicht so schwierig, wenn das verdammte Pferd nur aufgehört hätte, sich unter ihm zu bewegen. _Bleib stehen, verflucht noch mal_! Er sah hoch, zog wieder am Zügel und paßte eine Sekunde der Stabilität ab. Er richtete sich in dem fast starren Panzer weiter auf, suchte einen Halt für seinen Fuß, verfluchte die Schienbeinschützer und brachte das Pferd mit den Zügeln vorübergehend wieder zum Stehen. Und stieß sich mit dem Fuß ab und sprang von einem erschreckten, scheuenden Pferd, um mit dem Bauch auf der Gartenmauer zu landen. Er rollte sich sogleich ab und plumpste in die Tiefe. Nicht aus derselben Höhe wie auf der anderen Seite. Das wurde ihm im Moment des Fallens klar. Tiefer. _Wumm_! Auf eine gepflasterte Terrasse, zwischen zwei eingetopfte Kiefern. Einen Moment lang blieb er reglos liegen, schöpfte Atem und versuchte herauszufinden, ob seine Schulter gebrochen war. Dann stemmte er sich mit Händen und Füßen hoch und blickte über die Terrasse zum Haus, in Richtung des Dienstboteneingangs. Dort lagen Tote, wie Pfützen aus Dunkelheit. Er kroch eilig die Böschung hinunter, wobei er die Küche und die Schuppen dort im Auge behielt, rückte an der Mauer vor und wollte das Tor entriegeln. Es war bereits offen. Verdammtes kleines _Luder_! _*22*_ Shoka kroch an der Mauer entlang zurück, zur nächsten Terrasse, auf inzwischen vertrautes Gelände. Neben die eingetopften Kiefern und weiter hoch, jedoch nicht zum Haus mit seinen Balkonen und Bogenschützen. Der Haupthof mußte sich in der Nähe des Haupteingangs befinden, und dies vor Augen, vermochte Shoka sich das Vordertor von innen vorzustellen, Männer, die in dem Moment, da die Wachposten ihnen auf der Straße eine Bewegung meldeten, zu den Pferden eilen und ihre Verteidigungspositionen einnehmen würden. Es konnte durchaus sein, daß sich die Verteidiger dazu entschlossen, das Hauptquartier zu räumen und mit ausreichend starken Kräften zum Nordtor durchzubrechen, um sich den Weg nach Cheng'di freizukämpfen - mit dem Gold, mit dem Kaiser, mit ihren Verbindungen zu ausländischen Königen - jeder einzelne Punkt würde für das Reich eine Katastrophe bedeuten. Und irgendwo auf dem Gelände trieb sich ein närrisches Mädchen herum und versuchte einen der beiden Männer, von denen alles abhing, umzubringen. Zum Teufel mit seiner Entscheidung, die dazu geführt hatte, daß Taizu seinen Bogen und Wengadi und Panji die anderen beiden hatten, zum Teufel mit seiner eigenen Kurzsichtigkeit, sich nicht für mehr gerüstet zu haben, als eine Närrin aus einer Todesfalle herauszuholen... Schlecht überlegt, schlecht vorbereitet, von Anfang an verfahren. Er war angeschlagen und erschöpft und von der Sprunghaftigkeit seiner eigenen Verbündeten verwirrt. Sein Verstand versagte, er war _müde_, verdammt noch mal, und Menschen, die auf seiner Seite standen, trieben ihn immer wieder vorwärts - für alles gab es eine Grenze. Er wußte, daß er sie bereits überschritten hatte. _Wie, zum_ Teufel, _ist sie bloß durch die Straßen gekommen_? _Wie, zum_ Teufel, _ist sie hier hereingekommen, ohne einen Alarm auszulösen? Sie ist zu klein für das, was ich getan habe_. _Wenn ich wüßte, wo sie hereingekommen ist, dann wüßte ich vielleicht auch, wo sie steckt_. _Nein, diese Gedanken waren nutzlos. Finde Ghita, finde Gitu, dann findest du auch sie_. _Wenn die sie nicht zuerst fänden_. Kein Bogen, auch keiner bei den Toten am Tor; also kam es auf Feinarbeit an, und das bedeutete, er mußte sich unter die rund ums Haus verteilten Söldner mischen. Er mußte dicht genug heran, um an Ghita herankommen zu können, der sein Gesicht ebenso kannte wie Beijun, darauf konnte er Gift nehmen; und vorher mußte er eine närrische Halbwüchsige schlagen. Er überquerte geduckt die Terrassen, ließ sich von der Mauer der höchsten auf eine sanfte Böschung im Schatten der Kiefern fallen, huschte einen Weg hinunter und um eine gewundene Hecke herum. Hinter der Ecke des Hauses hörte er Pferde, und dort, wo die Hecke endete, sah er Laternen, das vordere Tor und den großen Hof des Anwesens, wo das Tor auf einen gepflasterten Platz mündete, der den Hunderten von Pferden Platz bot, die dort versammelt waren, bis hinauf zu den anmutigen Hängen des Gartens - überall, wo ein Tier stehen konnte. Männer liefen zu den Toren. Wer immer da gekommen war, um sich ihnen anzuschließen, war an der Vorderfront eingetroffen und hatte auf der Straße für eine Menge Aufregung gesorgt, doch ein Angriff war es nicht. Es waren schon zu viele Pferde im Innern, als daß weitere Reiter hineingepaßt hätten, aber das Tor öffnete sich einen Spaltweit, und sie begannen dennoch hereinzuströmen, Reiter, die sich auf dieser Seite des Hofes zusammendrängten. Die meisten blieben im Sattel. Bereiteten sich also auf einen unmittelbar bevorstehenden Ausfall vor. Von Reidi war immer noch nichts zu sehen. Ghitas Leute nahmen Aufstellung, zweifellos wollten sie auf die Straße hinaus, um die umliegenden Gebäude von aufständischen Bogenschützen zu säubern, die ansonsten hätten Schwierigkeiten machen und Reidi und dessen Männer unterstützen können - und die Gruppe, die umgekehrt war, um Reidi zu holen, hatte keine Ahnung, daß Verstärkung eingetroffen war. Wenn Reidi nur mit seinen eigenen Leuten kam... _Wosteckten eigentlich Feiyan und Hainan? Waren sie in den Straßen aufgerieben worden, saßen sie fest? Hetzten sie irgendwelchen Pöbel über die östliche Straße? Wie konnten sie nur einen ganzen verdammten Flügel entblößen, um hierher zurückzukommen_? _Verdammter Mist, wo stecken sie bloß? Sie hätten diesen Haufen von hinten her aufreiben sollen_. _Kegi. Verdammt noch mal, Kegi jagt bestimmt nach Cheng'di, Ghita hat ihm einen Köder hingehalten, und er ist wahrscheinlich heiß darauf. Ghita ist verflucht gerissen. Hat ihnen einen leichten Kampf und einen Gegner präsentiert, der sich über die Brückenstraße, durchs Nordtor und weiter nach Osten zurückzieht_... _Während er Lungan nach einem Ausfall über diese Straße zurückerobert, bis zu unseren schwächeren Einheiten an der Brücke, dann überquert er sie und hält den Süden, während die Garnisonen von Cheng'di und Anogi eingreifen, um uns von drei Seiten in die Zange zu nehmen_... _Gar nicht so übel, alter Fuchs. Aber du täuschst dich über die Duldsamkeit der Bevölkerung. Oder wenn du darauf spekulierst, eine Bedrohung von außen würde dich zum kleineren Übel machen_. _Oder daß der Kaiser bei den Priestern und im Norden deine Sicherheit garantieren könnte_. Reiter ritten dicht an die Hecke heran, so eng wurde es auf dem Hof. _Sie verbergen, was hier drinnen vorgeht, für den Fall, daß es zum Angriff kommt_. _Halten möglichst viele Männer von der Straße fern, während sie das Gold und die Akten aufladen - ich würde wetten, daß es Akten gibt, die Ghita nicht aus den Augen läßt - Namen und Listen, Erpressungsunterlagen - oder Arbeit für seine Mörder. Von denen wird er sich bestimmt nicht trennen. Dafür ist er zu schlau und zu vorsichtig_. _Reidi, schick um Himmels willen Kundschafter vor, bevor du angreifst_. Er richtete sich auf. Er trat ins Freie, nur eine Schattengestalt inmitten der Pferde und Reiter, so hoffte er, ein Soldat mehr, der umherwanderte, vielleicht einer der Erstankömmlinge, dazu eingeteilt, die Randbezirke zu sichern. Er klopfte dem Pferd eines Soldaten auf den Rumpf, um sich bemerkbar zu machen, ging an ihm vorbei und weiter die Böschung hinunter. Wenn Reidi jetzt über diese Straße käme, dann würde er eine zahlenmäßig relativ kleine Kavallerie sehen, welche die Straße draußen hielt. Womöglich würde er sie fälschlicherweise für die Streitmacht des Regenten halten, die Aufstellung genommen hatte, um das Hauptquartier zu verteidigen... und er jagte sie am Tor vorbei, um anschließend seinerseits von vorn und von hinten angegriffen zu werden. Er konnte nicht länger warten. Reidi war überfällig, er konnte jederzeit eintreffen, je nachdem wie schnell er eine Streitmacht hatte aufstellen und die nötigen Befehle an andere Einheiten weitergeben können. Um geradewegs in eine Falle zu tappen. Er schritt über die hohe Seite der Böschung und versuchte, über die Pferderücken hinwegzusehen, was jetzt, da die Soldaten aufsaßen, um so schwerer fiel. Von Ghita und Beijun nichts zu sehen, was bedeuten konnte, daß sie nicht... Doch in der Nähe der Terrasse, vor dem Haupteingang des Hauses, stand ein Wagen. Ein guter, robuster Wagen und ein doppeltes Pferdegespann. Dort mußte bald etwas geschehen - die Berichte und das Gold mußten im Wagen sein, und die Offiziere und die Mannschaft, die den Wagen sichern sollten, waren wahrscheinlich auch nicht weit. Die Elitegarde, die Kaiserlichen oder die Eingeborenentruppen aus Angen würden ihn bewachen, damit nicht irgendein Söldnerhaufen nach allem, was schiefgegangen war, auf die Idee käme, sich selbst auszuzahlen und den Kommandanten und Chiyaden zum Teufel zu schicken. "Da ist das Gold", flüsterte er einem anderen Unberittenen zu. "Darauf möchte ich wetten. Würdest du nicht lieber _da drauf_ aufpassen?" "Kannste vergessen", sagte der Mann wehmütig und spuckte aus. "Brauchst bloß in die Nähe zu kommen, und schon biste tot." "Wo ist der Kommandant?" "Muß draußen sein. Keine Ahnung, was die da drinnen machen." "Warten auf die Rebellen. Ich hab' die Schnauze voll vom Warten. Ich hab' mein Zelt verloren, den ganzen verdammten Mist..." "Ich auch." Erneutes Ausspucken. "Viel war's nicht." "Eine Masse Gold dort unten." "Sag das nicht. Schon auf den Gedanken steht der Tod." "Tu ich auch nicht. Ich denke gar nicht. Wenn ich nachdenken tät', dann war ich nicht hier." Er ging weiter, schlenderte die Böschung hinunter, zwischen die Pferde - und sah auf, als sich die Türen öffneten und Licht herausströmte, während die Schattengestalten von Gardisten und einer Anzahl von Würdenträgern auf die Terrasse traten. "Schafft Platz!" schrie ein Offizier, und Gardisten gingen hinunter, um den Umkreis des Wagens zu räumen und um einzelne Pferde dicht an die Treppe heranzubringen. Sie hatten es eilig. Shoka drängte sich näher an die Kette, welche die Gardisten bildeten, und behielt das Portal im Auge. _Plant Euren Rückzug, Meister Shoka_. _Die Treppe hoch, ein paar Kehlen durchschneiden und Hals über Kopf die Terrassen runter bis zum Dienstboteneingang - wenn das Bein noch mitmachte_. _Der verdammte Eingang ist eine Sackgasse. Muß mich bis zur Straßenecke beeilen_. _Wo steckst du, Mädchen? Um Himmels willen, wo steckst du_? Er blickte wieder zur Terrasse hoch, als weitere Männer ins Freie traten, außerdem ein kleinwüchsiger Mann in Gewändern, der von anderen gestoßen wurde. Und ein hochgewachsener, hagerer Mann in einem schlichten Panzer, mit einem goldbestickten Umhang darüber und einem Helm, der noch reicher verziert war als der Umhang. Das alles war unwichtig. Er kannte Ghitas Gesicht und seine Bewegungen in allen Einzelheiten. "Du da!" schnauzte jemand vom Kopf der Treppe herunter, und er sah besorgt auf, genau in das Gesicht eines kaiserlichen Gardisten. "Packt ihn!" schrie der Gardist. Und vom Portal strömten Gardisten herunter, während die Soldaten auseinanderstoben - während Shoka das Schwert zog und den ersten und den zweiten Angreifer erledigte und aufs Portal zustürzte, ohne für etwas anderes Augen zu haben als sein Ziel, das sich hinter seinen Leibwächtern versteckte. Auf einmal wieherten Pferde, Räder krachten gegen die Vortreppe, Holz splitterte, dann rückten sie vor. Shoka verschaffte sich etwas Raum und taumelte zurück, als sich ein Pferd zwischen ihm und den Gardisten aufbäumte, während Pferde außer sich vor Angst nach einem Ausweg suchten, über die Terrassen stolperten, Geländer niedertrampelten, durch Hecken brachen... Er wich vor nachsetzenden Gardisten zurück, wurde von einer Pferdeschulter herumgewirbelt und tauchte unter im allgemeinen Chaos aus scheuenden und sich aufbäumenden Pferden und um ihr Gleichgewicht kämpfenden Reitern. Dann sah er das Feuer, sah eine Feuerspur durch die Luft fliegen und vom Rumpf eines Pferdes abprallen, worauf das Feuer zu Boden fiel und andere Pferde in Panik versetzte, als es unter ihren Füßen weiterbrannte. "_Taizu_!" Er sah das Außentor aufgehen, sah Männer auf die von Laternen erhellte Straße hinausrennen. Pferde stürmten ins Freie. Von irgendwo aus der Höhe ertönte eine dröhnende, widerhallende Stimme. "_Verflucht sollst du sein, Gitu_!" heulte sie, weiblich und mächtig. "_Verflucht soll auch dein Cousin sein! Ihr Halunken, ich werde eure Augen den Schweinen vorwerfen! Ich lasse euch in der Hölle schmoren, und eure Knochen hänge ich mir um den Hals! Und wer euch beisteht, den werde ich mit Krankheit schlagen, mit Pest und Pocken, euer Leben lang sollt ihr mit kalten Betten und kalten Füßen und kalten Knochen geschlagen sein, bis ihr zur Hölle fahrt und ich euch zum Mittagessen verspeise, jeden einzelnen von euch_!" Menschen, die ebenso verängstigt waren wie die Pferde, rannten im Feuerschein zum Tor, über die Terrassen, die Beete, schwangen sich auf Pferde und flüchteten, wenn sie konnten. Ghita starrte bloß, blickte zu den Balkonen hoch, und Shoka sprang zum Portal, schwang sich über das Geländer, bahnte sich durch entsetzte Gardisten und Bedienstete hindurch einen Weg und hatte zwei Hiebe ausgeteilt, bevor Ghita begriffen hatte, wo er war, und hinter zwei Priestern Deckung suchte, die nichts mit ihm zu tun haben wollten. "Du verdammter Hund!" schrie Shoka und schlug ihm den Kopf ab, während Bedienstete ins Haus rannten und Gardisten herbeieilten, um einen Toten zu beschützen. Eins, zwei, drei starben sie, ehe der geistesgegenwärtige Vierte die Lage richtig einschätzte und sich ihm mit einem Salto rückwärts über das Geländer entzog. In der überdachten Vorhalle kauerte Beijun. Irgendwo dort oben auf den Balkonen war seine Frau, und die Entscheidung fiel ihm nicht schwer. Auch wenn er sich in der Tiefe seines Herzens fragte, ob es vielleicht tatsächlich Dämonen gab und ob er sich dem Anblick, der ihn dort oben erwartete, wirklich stellen wollte. Er stieg die Wendeltreppe an der Ecke hoch, eine Windung nach der anderen, während abwechselnd der von Feuerschein erhellte Hof und Dunkelheit an ihm vorüberzogen und er die gepflasterte Fläche sich leeren sah, den brennenden Wagen, die zum Tor stürzenden Reiter, und .er die Rufe und Flüche jenseits und diesseits der Mauern hörte. Als er zu einem Balkon an der Spitze des Gebäudes gelangte, mehrere Stockwerke über dem Hof, sah er sich einer weißen Dämonengestalt gegenüber, und ein Pfeil zielte auf sein Herz. "Taizu!" Die Erscheinung wirbelte herum und schoß den Pfeil durchs Geländer, mehrere Stockwerke tief in den Hof hinunter. Und blickte sich wieder nach ihm um, mit weißem Gesicht, weißem Panzer, mit weißem wehendem Haar. Er starrte sie an. Atemlos sagte sie: "Das ist Mehl." "Du verdammte _Närrin_, Frau!" "Ich dachte mir, daß Ihr kommen würdet." Sie zog einen weiteren Pfeil aus dem Köcher und sandte ihn zielsicher in das Chaos hinunter. "Wie bist du hier reingekommen?" "Zusammen mit Ghitas Haufen." Sie holte einen neuen Pfeil heraus. "Ich ritt herein, saß im Dunkeln ab und öffnete den Dienstboteneingang. Und holte mir etwas Mehl, Kohlen und ein paar Sachen aus der Küche. Dann stieg ich hier rauf." Wieder ein Schuß. "Den Hall hat der Kessel gemacht. Ich wollte warten, bis das Tor geöffnet wurde, aber dann hörte ich Lärm und dachte mir, das könntet Ihr sein. - Habe ich Euch geholfen?" "Das hoffe ich doch sehr! Aber mit Sicherheit läßt sich das nicht sagen. Komm schon, komm, verdammt noch mal!" Er stürzte zu ihr und packte sie beim Arm, zog sie zur Treppe. "Wirf den verdammten Bogen weg!" "Er gehört Euch!" "Wirf ihn weg, verdammt noch mal!" Er zog sie die Wendeltreppe hinunter, im Laufschritt, zum Teufel mit den Schmerzen im Bein. Wie gewöhnlich hörte sie nicht auf ihn. Der Bogen schlug gegen das Geländer und die Stufen, während sie mit ihm Schritt zu halten versuchte und alles mit Mehl bestäubte. "Der Kaiser ist unten. Er _war_ unten. Ich wollte dir das _Leben_ retten! _Wirf den verdammten Bogen weg_!" Als sie auf dem ersten Stock anlangten, hatte sie ihn noch immer. Unter ihnen brannte alles, der Hof war verlassen, der brennende Wagen war zerstört und pferdelos gegen den Rand der Terrasse gekippt. Eine Kiefer hatte Feuer gefangen und brannte wie ein Kerzendocht. Immer noch rannten herrenlose Pferde durch den Garten und über den Hof, galoppierten in wilder Panik hierhin und dorthin, ohne das offene Tor und die Sicherheit der laternenerhellten Straße zu beachten. Er bog um die letzte Windung, spürte die Erschütterung der Stufen und stand im nächsten Augenblick heraufstürmenden Gardisten gegenüber. Er brüllte. Taizu brüllte. Sie brüllten. Er erledigte den ersten, der schreckensstarr dastand, woraufhin die letzten drei Fersengeld gaben. Der zweite erwachte zum Leben, als er über die Leiche stolperte. Ein Schwert zischte an seinem Kopf vorbei und spaltete im Niederfallen das Geländer: er konterte in der gleichen Richtung, und der Mann und sein Kopf folgten dem Geländer in die Tiefe. Shoka rannte, ging auf die restlichen Gardisten los, versuchte den Schwung beizubehalten, an Boden zu gewinnen - er wußte nicht mehr, wo was war, abgesehen von der Terrasse und dem Tor, das gleichbedeutend mit Sicherheit war; und der Stelle, an der er Beijun hatte stehenlassen. Die Gardisten rannten weg, eilten um die Ecke, stießen gegen die Geländer und ließen sie im alleinigen Besitz des Portals und des brennenden Wagens zurück. "Beijun!" rief er in die erhellte Vorhalle - so wie er den jugendlichen Thronerben vor zwanzig Jahren gerufen hatte. "Beijun, verdammt noch mal!" Ungeachtet der verstrichenen Jahre und der Titel. "_Beijun_!" "Shoka!" schrie der Kaiser - und taumelte neben der Tür hervor, in verrutschten Gewändern, verloren in dem Gewicht des Brokats und des Goldes. Genau wie die verrückten Pferde, die sich in einem brennenden Gebäude versteckten, obwohl das offene Tor vor ihnen lag. "Meister!" schrie Taizu hinter ihm. Er wandte sich um, warf sich zur Seite, während sich ein Dutzend Männer durch sein Gesichtsfeld drehten, schlug mit den Schultern auf dem Boden auf, kam wieder hoch und griff die Männer an, die sich ihm vom Hof her näherten. Es war aussichtslos, dachte er, während er das Schwert schwang, es waren zu viele, und er steckte in der Falle. Er vertraute darauf, daß Taizu Beijun vom Portal wegschaffte, daß sie ihm zum Tor folgte, und er hoffte, daß er nicht bloß weiteren von ihnen den Weg frei gemacht hatte. Dann hörte er auf zu denken. Er tötete, alles und jedes, das sich ihm in den Weg stellte. Das war alles und das äußerste, was er tun konnte, mit einem Knie, das zu versagen drohte, während seine Lunge brannte und seine Schulter von der Anstrengung und den wiederholten Stößen taub wurde. Er mußte das Tor erreichen. Den Weg frei machen. Für Taizu und Beijun... Jemand rief ihn von hinten an. Anhalten ging nicht. Das war _ihre_ Angelegenheit. Er wurde von zwei Seiten angegriffen, verausgabte sich völlig, um einen Mann kampfunfähig zu machen, dessen Kameraden zu erledigen, zurückzuspringen und nach dem Mann zu schlagen, der ihm die Kniesehnen durchtrennen wollte... Aus der Bewegung heraus wirbelte er herum, sah aus den Augenwinkeln Beijun und Taizu vor einer Gruppe Männer herrennen, die um die Ecke des Portals bogen. Er wirbelte weiter herum, duckte sich wieder und tötete seinen Mann mit einem verzweifelten Verlegenheitsschlag, vollkommen aus dem Gleichgewicht geraten. Er fand es wieder, als er sich mit einem rasenden Schmerz im Bein drehte, während Beijun ihn packte und sich an ihn hängte und Taizu zusammen mit drei Gegnern zurückblieb, die ihr vom Portal nachstürzten. Um Taizu von hinten anzugreifen. Er rannte und schrie, doch sie wandte sich bereits um - mit einer Parade fing sie einen Angriff mit der Klinge ab, jedoch ohne festen Stand zu haben. Sie ging zu Boden - und führte diesen verdammten Konterstoß aus, von unten geradewegs unter das Panzerhemd ihres Gegners. Shoka erledigte den nächsten, mit kaum größerer Anmut. Und den nächsten. Auf der Terrasse lagen vier tote Männer. Ihr Werk. Er taumelte zu Taizu und packte ihre Schulter, während sie sich hochrappelte und den Mann beobachtete, der sich auf dem Boden wand. "Gitu", sagte sie und schüttelte seine Hand ab. Und trennte dem Wesen, das immer noch leben wollte, mit einem simplen Schlag den Kopf ab. Shoka hielt den Atem an, packte sie beim Arm. Reiter näherten sich, Hufe auf Pflastersteinen, Schattengestalten erschienen im Tor und strömten herein. "Beijun!" brüllte Shoka und stieß Taizu auf den Garten, aufs Dunkel und den Dienstboteneingang zu. Sie hielt sich an seinem Ärmel fest, zerrte daran, weil sie wollte, daß er mitkam. Die Fahnen der Eindringlinge waren jedoch schwarz und weiß. Reidis Lotus-Wappen. Shoka ließ seinen Schwertarm herabsinken, entspannte die Finger. Das Gehen überforderte ihn, er konnte nur noch dastehen, doch er ging weiter, verneigte sich vor seinem Kaiser, verneigte sich vor dem Fürsten Reidi, alles in tadelloser Haltung. Reidi saß ab und verneigte sich ehrerbietig. Beijun plapperte irgend etwas über Fürst Gitu, über Verrat und den Affront gegen seine Person. Das Feuer und die Schatten verschwammen in Shokas Augen, und er gestattete sich nur kleine, vertraute Bewegungen, schlug sein Schwert ab, wischte das Heft sauber und steckte es in die Scheide. Gütiger Himmel, wie blutig er war. Und Taizu - weiß, mit dunklen Flecken gesprenkelt... Ein brennendes Geländer fiel auf der Terrasse krachend in sich zusammen, und alle schreckten auf. Eine Säule folgte. Reidi befahl einer Abteilung, Eimer und Äxte zu besorgen und die weitere Ausbreitung des Feuers zu unterbinden. Beijun kam und bedankte sich bei ihm: "Sie haben mich gezwungen, sie zu begleiten", sagte er, "sie haben mich belogen - Shoka, glaubt mir..." Er wollte ein Bad nehmen. Er wollte sich setzen. Er wollte irgendwo anders sein. Als sich ihm die Gelegenheit bot, den Blick schweifen zu lassen, ohne den Kaiser zu beleidigen, sah er sich um. Taizu war nicht mehr dort, wo er sie stehengelassen hatte. Er schwitzte, sagte sich, daß sie sich wohl hingesetzt hatte, an irgendeinem versteckten Ort im Garten, um sich das Machtgerangel und den flüchtigen Dank zu ersparen. "Entschuldigt mich", sagte er nach einer Weile, ohne noch etwas darum zu geben, ob er jemanden beleidigte. "Entschuldigt mich, meine Frau muß hier irgendwo sein..." Auf den Straßen war noch immer kaum Betrieb. Der Rauchgeruch hing noch in der Luft, und eine Frau auf dem Weg nach Choedri hatte Grund zur Sorge, sogar eine zerlumpte Bäuerin mit Mehl im Haar; Taizu jedoch hatte ihr Schwert in Reichweite, sie trug es in ein Bündel Lumpen gewickelt auf dem Rücken, nur das umwickelte Heft ragte heraus, damit sie es gegebenenfalls rasch ziehen konnte. Nicht, daß sie sich wegen der Behörden hätte Sorgen machen müssen. Nur ein paar Soldaten waren unterwegs. Letzte Nacht war ihr eine Gruppe gefolgt, und sie hatte sich Sorgen gemacht. Sie machte sich auch jetzt Sorgen, als sie sich umsah und Reiter näher kommen sah. Doch als sie sie erreicht hatten, sagten sie: "Fürstin, Ihr mußt die Fürstin Taizu sein." "Ich bin eine Bäuerin", sagte sie mürrisch. Es waren Männer aus Taiyi. Kegis Männer. Sie blickte sie finster an. "Ich gehe nach Hause." Sie entfernten sich, doch einer blieb, ritt ihr knapp außer Sprechweite nach. Manchmal wartete sie und schrie ihm Verwünschungen zu, und schließlich blieb er weiter zurück. Doch am Abend tauchte ein anderer auf, ganz in Rot und Gold gekleidet, auf einem roten Pferd und mit einer auffällig gezeichneten Stute an der Leine. Sie ging weiter. Sie ging auch dann noch weiter, als er sie eingeholt hatte. "Taizu", sagte er. Es tat weh, seine Stimme zu hören. Sehr weh. Sie ging weiter, schaute auf die Felder, die im Abendlicht glitzerten, und er hielt an. Und saß ab und ging neben ihr her. Das Pferd, auf dem er gesessen hatte, war natürlich Jiro. Und es war ihre weißbeinige Stute, die er mit sich führte. "Nach Hause?" fragte er. Sie zuckte die Achseln und sah ihn an, doch in seinem Blick war ein so starkes Funkeln, daß es ihr in den Augen weh tat. Jiro jedoch war immer noch Jiro; und als sie stehenblieb, stupste er sie an, um zu sehen, ob es wirklich sie war, und um sich unter dem Kinn kraulen zu lassen. Sie kam sich dumm vor. Das ganze verdammte Land tanzte nach Shokas Pfeife. Sie hatte ihn gesehen - schon von weitem. Das ganze Glitzerzeug. Sie hatte sein Rufen gehört. Er war ihr den ganzen Weg von der Brücke von Lungan bis hierher gefolgt. Ein Fürst konnte sich das erlauben. "Was glaubst du eigentlich, was du da machst?" fragte er. Zum dritten Mal zuckte sie die Achseln. Die Leute wollten eine Geschichte. Das war alles. Sie wollten Saukendar und den Dämon. Ihr Aufbruch war Teil der Geschichte. Dämonen zogen sich zurück, wenn die Kämpfe beendet waren. "Haßt du mich?" fragte er. Sie schüttelte den Kopf. Er setzte sich wieder in Bewegung, in ihre Richtung, wobei er Jiro und die Stute am Zügel nachzog. "Ich würde dir ja dein Pferd geben, aber ich will dir nicht hinterherjagen müssen." "Das müßtet Ihr tatsächlich." "Was, zum Teufel, ist eigentlich mit dir los? Seit zwei Tagen lasse ich dich suchen..." Sie biß die Zähne zusammen. "Beijun hat Reidi zu seinem ersten Berater ernannt", sagte er. "Ich bin zurückgetreten." Das überraschte sie kaum. "Ich wünschte, Beijun wäre tot", sagte sie. "Dann würde man Euch zum Kaiser machen. Das würden sie bestimmt." "Den Teufel würden sie tun. Ich habe Reidi gesagt -er meinte, sie würden den alten Baigi oben in Yiungei in Stücke hacken. Ich meinte, das wäre eine Verschwendung, sie sollten den alten Halunken bloß absetzen und jemand anderen an seine Stelle setzen. Da hat Reidi mir Yiungei angeboten. Meine alten Besitzungen. Ich habe abgelehnt." Sie hörte zu. Er klang wie ein Narr. "Sagt nicht, ihr bekommt Hua." "Sie wollen mich an der Grenze haben. Sie wollen, daß ich mit Shin einen Vertrag schließe, daß ich versuche, die Grenze zu sichern. Das war früher Reidis Aufgabe. Ich sagte, ich würde lieber unten in Hoishi für ihn einstehen. Als der Stellvertreter des Lordkanzlers. Als Gouverneur des Südens. Was weiß ich." Sie blickte ihn an. Sie mußte das Gesicht sehen, das solchen Unsinn von sich gab, mußte sehen, ob so etwas vielleicht doch möglich war. Er war es tatsächlich, in all seiner Pracht. Dieselben Augen, derselbe Mund. Ein Ränke schmiedender Schuft. "Also gehe ich dorthin", sagte Shoka. "Keido ist Reidis Familiensitz. Ich möchte nicht dort leben. Nur ein kleines Anwesen in den Bergen von Mon. Die Grenze etwas erweitern. Zwei oder drei Berge weit. Eine kleine Garnison am Fluß errichten, ein paar gute Männer wüßte ich schon... Reidi geht es vor allem darum, mein Ansehen dort unten auszunutzen. _Und_ das meiner Frau. Die Banditen verjagen, die Straße freihalten. - Wo willst du hin?" Sie blickte ihn finster an und biß sich auf die Lippen. Ein Dämon! Da lachten ja die Hühner. "Würdet Ihr mir jetzt die Zügel geben?" Er reichte ihr die Zügel der Stute. "Hab Nachsicht mit uns alten Männern. Jiro ist für ein Wettrennen zu alt." Sie schnaubte, warf der Stute ihr Bündel über den Rücken und band es fest, erst links, dann rechts, nur das Schwert holte sie heraus und hängte es sich um. Er kletterte in Jiros Sattel. Sie schwang sich auf die Stute und blickte ihn lange, lange Zeit tief in die Augen. "Ihr lügt mich doch nicht etwa an?" Er schüttelte ernst den Kopf, so unschuldig wie ein Knabe. "Nie und nimmer", sagte er. _*Zusammenfassung*_ Nach dem Tod des alten Kaisers brechen für Chiyaden harte Zeiten an. Der legitime Thronfolger Beijun ist noch ein halber Knabe, zudem charakterlich für das Amt denkbar ungeeignet. Beijun verbündet sich mit dem Fürsten Ghita und eliminiert mit dessen Hilfe den von seinem Vater eingesetzten Regenten. Fortan steht Ghita hinter Beijuns Thron und führt mit seinem Cousin Gitu ein hartes Regiment. Auch Shoka, ehemals Saukendar genannt, der frühere Schwertlehrer des jungen Beijun und Fürst der Provinz Cheng'di, wird ein Opfer der Wirren und vom Hof verbannt. Er zieht sich vor den Häschern Ghitas über die Reichsgrenze ins Gebirge zurück, wo er in einer bescheidenen Hütte lebt und von den Bewohnern des Dorfes Mon versorgt wird. Alle jungen Männer, die bei ihm in die Lehre gehen wollten, hat er abgewiesen, doch nach neun Jahren Einsamkeit nähert sich ihm das als Junge verkleidete Bauernmädchen Taizu, dessen ganze Familie Gitu zum Opfer gefallen ist. Durch Hartnäckigkeit bringt sie Shoka dazu, sie als Schülerin anzunehmen. Zwischen dem mürrischen vierzigjährigen Shoka und dem sechzehnjährigen Mädchen entspinnt sich eine konfliktreiche Beziehung, in deren Verlauf Taizu sich seinen Respekt und schließlich seine Zuneigung erwirbt. Ihre Angst vor Männern läßt es allerdings nicht zu, daß sie auf sein Werben eingeht. Ganz erfüllt von ihrem Wunsch, sich an Gitu zu rächen, entwickelt Taizu sich zur hervorragenden Schwertkämpferin. Shoka ist ihr zunächst nur Mittel zum Zweck. Als sie meint, genug gelernt zu haben, und Shoka verlassen will, beschließt er, sie wider besseres Wissen zu begleiten. In der Nacht vor dem Aufbruch schläft sie mit ihm, um ihre Angst vor Männern zu überwinden. Während des abenteuerlichen Ritts zur Stadt Lungan, wo sich Söldnertruppen, Gitu, Ghita und zu ihrer Überraschung auch Beijun aufhalten, gewinnt Shoka die Fürsten aus dem Süden als Verbündete. Diese bleiben mit ihrer kläglichen Streitmacht zurück, während Shoka und Taizu zusammen mit einer kleinen Gruppe von als Söldnern verkleideten Soldaten in die Stadt gelangen. Durch riskante Aktionen und das Ausstreuen von Gerüchten gelingt es ihnen, Verwirrung zu stiften. Schließlich greifen sie das Hauptquartier an, die kaiserlichen Truppen fliehen in Panik. Gitu wird von Taizu getötet, auch Ghita kommt um, der Kaiser Beijun bekommt einen neuen Regenten zugeordnet, der Shoka mit einer Grenzprovinz betraut. Nun folgt auch Taizu endlich dem Ruf ihres Herzens und begleitet Shoka als dessen Frau. - 123 -